1. Einleitung. Die Suche nach Demokratie

1. Einleitung. Die Suche nach Demokratie Über die Zukunft entscheidet nicht die Entscheidung, sondern die Evolution. Niklas Luhmann1 Aber der Kampf ...
Author: Hilke Engel
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Einleitung. Die Suche nach Demokratie

Über die Zukunft entscheidet nicht die Entscheidung, sondern die Evolution. Niklas Luhmann1 Aber der Kampf um die Lösung ist über die traditionellen Formen hinausgewachsen. Die totalitären Tendenzen der eindimensionalen Gesellschaft machen die traditionellen Mittel und Wege des Protests unwirksam – vielleicht sogar gefährlich, weil sie an der Illusion der Volkssouveränität festhalten. Herbert Marcuse2

Der Herzschlag der Revolution, der das universalistische Projekt der Demokratie, von Marx als das „aufgelöste Rätsel aller Verfassungen“3 gefeiert, einst in Gang setzte, scheint endgültig asystolisch geworden. Die vor unseren Augen sich ereignende Weltgesellschaft hält ihrem Beobachter eher, als dass sie von der emanzipierenden Idee der Volkssouveränität sich erreichen lässt, ein aus kaum fassbaren Bildern und Zahlen des Elends geprägtes Szenario vor4. Muss nicht angesichts der Tatsache, die diese Zahlen und Bilder zu beschreiben versuchen, alles Reden von Demokratie sich dem Nachweis der Möglichkeit unterordnen, die Weltgesellschaft halte überhaupt Bedingungen bereit, die diesem Elend ein Ende setzen könnten? Denn es sind nicht raffinierte Modi der Repräsentation, mit der die Idee der Volkssouveränität seit der Französischen Revolution von 1789 unvergessen bleibt. Diese Revolution setzte noch vor institutioneller Ausgestaltung des sich organisierenden Gemeinwesens die Gewissheit, dass „zum Gelingen der politischen Revolution notwendig die Verfügung über ihre sozialen Voraussetzungen“5 gehört. Der souveräne Wille des Volkes bedeutet „nichts weniger (…) als die Quelle und der Maßstab der diesseitigen Gerechtigkeit“6 und es muss sich daher die Möglichkeit der Demokratie an der Verbesserung der Lage derer, die im Dunkeln stehen, messen lassen. Diese Messung fällt, da die Weltgesellschaft gegen jede Hoffnung auf Ge-

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Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1093. Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, 266. Karl Marx, „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Kritik des Hegelschen Staatsrechts“, 231. Siehe etwa den eindringlichen Beitrag des damaligen UNO-Sonderberichterstatters für das Menschenrechtauf Nahrung: Jean Ziegler, Das Imperium der Schande. Der Kampf gegen Armut und Unterdrückung. Ulrich K. Preuß, Revolution, Fortschritt und Verfassung, 33. Ebd., 35.

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rechtigkeit ein globales „Substrat der Geächteten“7 setzt, unendlich schlecht aus. Diese weltgesellschaftliche Lage stellt sich noch beklemmender dar, wenn man in Rechnung stellt, dass selbst der gute Wille zuweilen sich zynisch gibt. Erinnert sei an das 1996 in Rom von der FAO organisierte World Food Summit, auf dem 186 Staaten die Halbierung des Hungers bis zum Jahre 2015 als gemeinsam zu erreichendes Ziel benannten. Mit diesem Ziel, an dessen Erreichen kaum je ernsthaft geglaubt wurde, wird eben auch die andere, finstere Hälfte befestigt, nämlich die Zahl der Hungernden, die nicht vom Elend befreit werden sollen und das Zugrundegehen derer, die nicht so lange durchhalten. Bevor jedoch die bloße Beobachtung der Weltgesellschaft die Idee einer globalen, materiell wirksamen Volkssouveränität als schlechte Utopie denunzieren kann, lohnt sich ein Blick zurück auf die Begeisterung des jungen Marx für die Demokratie. Marx kann in seiner Kritik am Hegelschen Staatsrecht mit der Demokratie noch die emphatische, aber auch etwas eigentümliche Hoffnung verbinden, nach der „die Verfassung nicht nur an sich, dem Wesen nach, sondern der Existenz, der Wirklichkeit nach in ihren wirklichen Grund, den wirklichen Menschen, das wirkliche Volk, stets zurückgeführt und als sein eigenes Werk gesetzt“ 8 sei. Das Besondere dieser Marxschen Definition, das sich durch den Zugang der Demokratie zur Wirklichkeit auszeichnet, verwundert angesichts der Ideen der Volkssouveränität nicht. Normativ lassen sich diese Ideen kaum anders wenden, als dass sie das wirkliche Werk des wirklichen Volkes hervorbringen. Denn „(i)m Volk befindet sich“, so Kant, „ursprünglich die oberste Gewalt, von der (…) alle Rechte der Einzelnen (…) abgeleitet werden müssen“9. Demokratie verlangt demnach nichts anderes als die „Faktizität der Beteiligung aller Rechtsunterworfenen an der Rechtserzeugung“10 und mündet so „in der strikten Identität von Herrschaft und Beherrschten“11. Weil „sie die Einbeziehung ausnahmslos aller vom Gesetz betroffenen Menschen in den Prozess der Gesetzgebung“12 verlangt, lässt sich Demokratie, in kaum zu überbietender Schlichtheit, die die Stärke dieser Idee auszeichnet, als diejenige Form feiern, in der das Legitimationsprinzip es erfordert, „die Stimme eines jeden/einer jeden im demokratischen Diskurs angemessen zu repräsentieren“13, sollen Entscheidungen gerecht genannt werden. Freilich fällt es aus weltgesellschaftlicher Perspektive schwer, daran anknüpfenden Optimismus nicht argwöhnisch gegenüberzustehen. Hat doch die historische Erfahrung gezeigt, „dass bislang nur der parlamentarisch regierte Nationalstaat die Instrumente hervorgebracht hat, die es ermöglichen, undemokratische Herrschaft

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H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, 267. K. Marx, „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, 231 (Hervorhebung im Original). Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, 464. Ingeborg Maus, Die Aufklärung der Demokratietheorie, 156. Hauke Brunkhorst, Solidarität. Von der Bürgerfreundschaft zur globalen Rechtsgenossenschaft, 105. Ebd. Albrecht Wellmer, „Menschenrechte und Demokratie“, 278.

aufzuheben“14. Doch bleibt diese Erfolgsgeschichte der nationalstaatlich verfassten Demokratien ambivalent. Denn für den Nationalstaat gilt neben dem nicht gering zu schätzenden, wie immer auch relativen Erfolg in der Verbannung von Ungleichheit und Unrecht, dass „Nationalstaaten (…) sich nämlich nur auf Dauer zu normativ effektiven Verfassungsregimen entwickeln“ können, „wenn es ihnen (…) gelingt, Ungleichheit erfolgreich auszuschließen, nationale Gleichheit also durch internationale Ungleichheit abzusichern“15. Die wohlfahrtsstaatlichen Demokratien taugen demnach allenfalls als Vorbild für ein anzustrebendes funktionales Äquivalent, dass diese Leistung des Staates in die Weltgesellschaft herüberrettet. Sie stehen aber nicht länger als Lösung bereit, da es nicht in der Macht einzelner Staaten steht, die Internationalisierung von Ungleichheit aufzuheben. Und angesichts der Tatsache, dass man sehr lange suchen müsste, um eine im Staat, sei er demokratisch verfasst oder nicht, getroffene Entscheidung zu finden, die nicht gleichzeitig auch immer Nichtbürger an allen Orten der Welt mit betrifft, verspürt so mancher in Hinblick auf das demokratische Betroffenenprinzip gar „einen leichten Schwindel“16. Die durch Staaten unterschiedenen Mengen der Bürger setzen Recht zwar nach wie vor in durch diese Unterscheidung sich ergebenden stati activi, der Menge der Menschen kommt jedoch fühlbar eine neue Qualität zu: „Alle Normadressaten im status negativus sind (…) spätestens seit der Globalisierung nicht mehr nur virtuell (…) sondern auch faktisch alle Menschen“17. Genau das war am Anfang, als die Französische Revolution für alle Zeitgenossen sichtbar als das „Geschichtszeichen“, welches sich nicht mehr vergisst (Kant), die Weltbühne betrat, unbestritten: Menschen und Bürger treten in der Revolution nicht auseinander. Die Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers von 1789, die der ersten Verfassung von 1791 vorangestellt war, geht in ihrer Präambel davon aus, „dass die Unkenntnis, das Vergessen und die Mißachtung der Menschenrechte die alleinigen Ursachen des öffentlichen Unglücks und der Verderbtheit der Regierungen sind“18. Die „öffentliche Macht“, die laut Artikel XII zur Verbürgung von Menschen- und Bürgerrechten erforderlich ist, soll daher nicht nur zum Wohle aller Bürger oder aller Franzosen eingesetzt werden, sondern schlicht zum Wohle „aller“19. Es ist dieser „theoretisch-doktrinäre, steil von oben aus der Lehre vom Gesellschaftsvertrag deduzierte Charakter“20, der jede vordemokratische Feststellung der Menge der Bürger verhindert. In der Déclaration sind alle Menschen kraft ihrer Vernunftnatur „nichts anderes als Menschen im Gesellschaftszustand. (…) Am 3. 14 15 16 17 18 19 20

H. Brunkhorst, „Kritik am Dualismus des internationalen Rechts – Hans Kelsen und die Völkerrechtsrevolution des 20. Jahrhunderts“. H. Brunkhorst, „Die Legitimationskrise der Weltgesellschaft. Global Rule of Law, Global Constitutionalism und Weltstaatlichkeit“, 92 (Hervorhebung: T.P.). So etwa: A. Wellmer, „Bedingungen einer demokratischen Kultur“, 76. H. Brunkhorst, Solidarität, 105. Zit. n. Marcel Gauchet, Die Erklärung der Menschenrechte. Die Debatte um die bürgerlichen Freiheiten 1789, 9. Vgl. Art XII, ebd. 12. H. Brunkhorst, Solidarität, 92f.

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September 1791, als die Verfassung in Kraft trat, waren alle Menschen zu Franzosen geworden“21. Von vornherein gilt also für die Ideen von 1789 und damit für die Demokratie ein Anspruch auf Einbeziehung ausnahmslos aller Menschen. Damit kommt gleichzeitig eine Spannung zwischen exkludierender Konkretisierung des Rechts und dem, zunächst dem Papier überlassenen, Anspruch auf Inklusion ins Spiel. Es ist diese Spannung zwischen Universalismus und Partikularismus, von der das masochistische Bewusstsein der Demokratie herrührt, stets und unweigerlich hinter die eigenen Ansprüche zurück zu fallen. Und dieses Zurückfallen lässt naturgemäß nicht auf sich warten: „Schon am Morgen des 4. September war klar, dass die Zahl der Menschen (…) bei weitem die der Franzosen überstieg“22. Denn auch eine Verfassung, die die Emanzipation aller Menschen expliziert, muss sich gleichwohl auf ihre performative Gesetzeskraft verlassen können, „ohne die es keine Verfassung gibt, die mehr wert wäre als das Papier, auf dem sie steht“23. So wird zwar eine Partikularisierung der Repräsentationsleistung des demokratisch verfassten Staates erzwungen. Doch tilgt das nicht den Überschuss über jeden Partikularismus aus der Verfassung. Für diesen Überschuss sorgen die positivierten Menschenrechte. Sie sind der „Platzhalter demokratischer Legitimität“24, der jede nur partikular verwirklichte Rechtsordnung daran erinnert, dass sie die Einbeziehung aller Anderen nicht aus den Augen verlieren darf. Derart als Teil eines demokratischen Projekts verstanden, sind Menschenrechte mehr als „Honorierung und Ratifikation von Vorgaben, die mit der `Natur des Menschen´ gegeben sind“25. Menschenrechte sind nach Niklas Luhmann die Garantie des gesellschaftlichen Immunsystems Recht, das darauf reagiert, „dass nicht vorausgesagt werden kann, in welchen Sozialkontexten wer was zu sagen oder sonst wie beizutragen hat“26. Aber sie gehen auch über diese stabilisierende Funktion des Gesamtsystems Gesellschaft hinaus, die immerhin die Vermeidung der schlimmsten Kollateralschäden der funktionalen Differenzierung zu verhindern sucht. Denn neben dieser – in den Augen Luhmanns vor allem funktional wünschenswerten – Leistung als Immunsystem, ist die Verwirklichung und Interpretation der Menschenrechte auch vom Drang der Gestaltung angetrieben. Damit entziehen sich die Menschenrechte nicht nur jeder Feststellung27, sondern können im Prozess einer unaufhörlichen Interpretation auf neue Kollisionslagen der Exklusion eingestellt werden und institutionelle Lernprozesse verwirklichen. In den Worten Rawls: „The same equality of the Declaration of Independence which Lincoln invoked to condemn slavery can be invoked to condemn the inequality and oppression of woman“28. Und es ist das gleiche Verständnis nicht festgestellter Menschenrechte, welches auch in der Lage ist, auf die 21 22 23 24 25 26 27 28

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Ebd. Ebd., 93f. Ebd., 194. Ebd., 108. N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1075. Ebd. Dazu aufschlussreich: Marcelo Neves, „Die symbolische Kraft der Menschenrechte“. John Rawls, Political Liberalism, XXIX.

postnationale Konstellation zu reagieren, indem der Begriff der Menschenrechte das von ihm unterschiedene – die Bürgerrechte – selbst verwirklicht, als Menschenrecht auf Demokratie.29 Damit bleiben die Menschenrechte der Ausgangspunkt für das unvollendete Projekt der Moderne (Habermas), das sich zum Ziel setzt, die Versprechen von 1789 in the long run umzusetzen. Die Weiterführung dieses Projekts als demokratisches Projekt in den Bahnen von 1789 kann auf den ersten Blick vom Ankommen der Moderne in der Weltgesellschaft profitieren, scheint es doch, als könnte sowohl Habermas Ahnung eines möglicherweise entstehenden „Bewusstsein(s) kosmopolitischer Zwangssolidarität“30 – Stichwort: Klimakatastrophe31 – als auch das viel ältere Wort Kants, nach dem es in der „durchgängig überhand genommenen (engeren oder weiteren) Gemeinschaft so weit gekommen ist, daß die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird“32, in der Weltgesellschaft zunehmend an Bedeutung gewinnen. Denn die Moderne hat sich von einer immer schon verwobenen Moderne33 längst vollständig zu einer strukturell und normativ integrierten Weltgesellschaft entwickelt. Der Erdball ist längst vom einen Prinzip der funktionalen Differenzierung erschlossen. Jeder hängt als vereinzelter Einzelner (Marx) auf Gedeih und Verderb in seinen materiellen Lebenschancen von Markt, Rechtssystem und Schulerfolg ab. Jeder soziale Akteur, ob Individuum, Organisation oder Staat, wird zudem durch eine überall sich angleichende individualistische, säkulare, von bestimmten Rationalismen durchdrungene und von menschenrechtlichen normativen Erwarten geprägte Weltkultur34 (einschließlich der überall gleichen Disziplinierungsmächte (Foucault): Wohnblocks, Gefängnisse, Kasernen, Krankenhäuser usw.) in seinen Motiven geformt: Ob der Akteur will oder nicht, ob er gegen die Weltkultur protestiert oder nicht, ob er ihre Normen verletzt oder nicht, er bestätigt und befestigt sie. Gleichzeitig werden alle Akteure als Rechtssubjekte durch globales Recht in ihren Erwartungen stabilisiert und gegen Erwartungsenttäuschungen immunisiert. Erst auf dieser Basis der funktionalen Differenzierung erwächst ein Überbau an be29

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Zu dieser vierten Generation von Menschenrechten, das emerging right to democratic governance, siehe jetzt: H. Brunkhorst, „Kritik am Dualismus des internationalen Rechts – Hans Kelsen und die Völkerrechtsrevolution des 20 Jahrhunderts“, 54ff., mit Bezug auf: Thomas Franck, „The Emerging Right to Democrtatic Governance“ und auf Susan Marks, The Riddle of all Constitutions, die ein Völkerrechtsprinzip demokratischer Inklusion diskutiert (ebd. bes. 109-118). Jürgen Habermas, „Die postnationale Konstellation“, 168. Wie Rainer Forst bemerkt, ist diese Bewusstseinserweiterung in der Tat ohne drastische Krisen kaum zu haben: „How such a change can come about is a difficult question, but the idea of `forced solidarity´ indicates that it has to be accompanied, if not triggered, by a problem conciousness and sense of crisis that calls for drastic changes in the existing order, be they economic or ecological crisis”, (R. Forst, “Towards a Critical Theory of Transnational Justice”, 183 (FN)). I. Kant, Schrift zum ewigen Frieden, 216f. Vgl. Shalini Randeria, „Verwobene Moderne: Zivilgesellschaft, Kastenbindungen und nichtstaatliches Familienrecht im (post)kolonialen Indien“. John W. Meyer, Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen.

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drohlichen Ungleichheiten, Klassenlagen, ethnisch geprägten Konflikten, Fundamentalismen und hegemonialen Politiken. Mit dieser Einsicht in die Unhintergehbarkeit der Zusammenhänge verpflichtet sich das demokratische Projekt zum ersten Mal tatsächlich auf ein Menschheitsprojekt. Gleichzeitig sind es gerade die katastrophalen Verhältnisse der Weltgesellschaft, die die Chance bieten, jenen repressiven Partikularismus aufzuheben, der Demokratie zu einer Veranstaltung weniger Wohlfahrtsstaaten degenerieren ließ.

1.1.

Die unerreichbare Gesellschaft

Das wären immerhin leidlich gute Nachrichten in einer schlechten Weltgesellschaft, wenn nicht genau diese Diagnose der Chancenentfaltung des demokratischen Projekts von 1789 mit einer Theorie der Weltgesellschaft konfrontiert wäre, nach der ein projekthafter Charakter der Gesellschaft nicht länger fruchtbar argumentiert werden kann. Denn im Blick systemtheoretischer Analysen erscheint der Bezug der Weltgesellschaft auf die Ideen von 1789 als anachronistisch. Die Französische Revolution stellte, so vermutet Niklas Luhmann, einen „Blankoscheck auf die Zukunft“35 aus, dessen Strahlkraft es vermochte, so der daran anschließende Verdacht, die prinzipielle Uneinlösbarkeit universalistisch gestaltender Versprechen im Unsichtbaren zu lassen. Dies war allerdings möglich „nur so lange die moderne Gesellschaft nicht voll erkennbar war“36. Erkennbar ist sie mit dem systemtheoretischen Begriff der Weltgesellschaft, den Luhmann gegen aufkommende Intentionen schützen will, er sage etwas über eine zusammenwachsende, sich dabei emanzipatorisch integrierende Welt aus. Weltgesellschaft, von Luhmann bereits 1971 in Abgrenzung sowohl von Wallersteins Welt-Systemtheorie37 als auch von Parsons Modernisierungsparadigma eingesetzt, entledigt sich des teleologischen Zuschnitts, den Parsons sich noch von Weber hatte vorgeben lassen. Sah Weber den Weg der Modernisierung in ein „stahlhartes Gehäuse“38 auf einem bestimmten Wege der Vergesellschaftung sich vollziehen39 und diese universalgeschichtliche Ausgestaltung des okzidentalen Rationalismus zur „schicksalsvollsten Macht“40 mindestens ambivalent41, so 35 36 37

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N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1073. Ebd. Zu Luhmanns Argument gg. Wallerstein siehe auch: N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 158ff. Zu den Mängeln der Wallersteinschen Theorie siehe jetzt ebenso: Lothar Hack, „Auf der Suche nach der verlorenen Totalität. Von Marx´ kapitalistischer Gesellschaftsformation zu Wallersteins Analyse der `Weltsysteme´?“. Max Weber, Die Protestantische Ethik I, 188. Vgl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Zur Unterscheidung von Gesellschaft und Vergesellschaftung: Klaus Lichtblau, „Von der `Gesellschaft´zur ´Vergesellschaftung´“. Weber, Max, Die protestantische Ethik I, 188. Wenn nicht gar tief pessimistisch, was in den Thesen vom Sinn- und Freiheitsverlust der modernen Gesellschaft gipfelt. Dazu aufschlussreich: J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns Bd.1, 225-366.

hat Parsons „Zielgerichtetheit“42 im System moderner Gesellschaften diese Ambivalenz zurückgenommen. Luhmann hingegen pocht auf die schlichte Tatsache der kommunikativen Erreichbarkeit, mit der die funktional differenzierte Gesellschaft nicht, wie bei Parsons, in Mustern der „Avantgarde-Gesellschaft“ und der ihr dankbar folgenden „Nachhut“ differenziert werden darf. Denn wie Hauke Brunkhorst feststellt, „mehr oder minder moderne Gesellschaft (…) gibt es auf der evolutionären Skala der Gesellschaften nicht“43. Stattdessen erzwingt der die Gesellschaft formende Kommunikationsbegriff ihre Gleichzeitigkeit als Weltgesellschaft. Denn für Luhmann „folgt aus der kommunikationstheoretischen Grundlegung des Begriffs eines selbstreferentiellen, sinnhaften Systems, dass die Extension des Gesellschaftsbegriffs kongruent mit der weitestgehenden Extension von Kommunikation überhaupt ist, und das bedeutet empirisch gesehen weltumspannende Ausdehnung“44. Für die Möglichkeit, über Demokratie auf Ebene der Weltgesellschaft nachzudenken, wird dieser systemtheoretische Gesellschaftsentwurf zum Probierstein. Denn mit ihm wird zum einen der Versuch, die Gesellschaft auf sich selbst als Projekt zu verpflichten, äußerst fragwürdig und zum anderen expliziert er neue und dramatische Formen der Entfremdung des Menschen von der Gesellschaft. Ein demokratisches Projekt in den Bahnen von 1789 müsste sich stets an eine erreichbare und damit gestaltbare Gesellschaft wenden können. Wenn man aber gleichzeitig unterstellen muss, dass die Weltgesellschaft ein funktional differenziertes System ist, „das seine eigene Leistungsfähigkeit der Autonomie von Funktionssystemen verdankt“, dann ist sie „mit keiner Art von Zentralsteuerung zu vereinbaren“45. Und selbst wenn ein demokratisches Projekt nicht auf Zentralsteuerung aus ist, bleibt immer noch die Frage, wie es die im je eigenen Code sich selbstreferentiell reproduzierenden Funktionssysteme mit seinen Programmwerten, die auf Freiheit, Gleichheit aber doch vor allem Gerechtigkeit aus sind, überhaupt zu beeindrucken vermag. Habermas jedenfalls erntet mit seiner durchaus vorsichtig formulierten Definition der Moderne, nach der diese „ohne Möglichkeit der Ausflucht an sich selber verwiesen“ und deren „Dynamik der ruhelos bis in unsere Zeit fortgesetzten Versuche, sich selbst `festzustellen´“, einer „Irritierbarkeit des Selbstverständnisses“46 ausgesetzt sei, umgehend den Widerspruch der systemtheoretisch informierter Lesart Armin Nassehis, nach der die bloße Möglichkeit der Feststellungsversuche in Zweifel zu ziehen sei. Solche Versuche müssten, so Nassehi, unweigerlich scheitern. Denn die Gegenwart verliere „ihren gestaltenden Charakter. Sie ist als Handlungsgegenwart stets zukunftsorientiert, und sie kann die Zukunft aufgrund der Dynamik, Risikohaftigkeit und v.a. wegen des ungeheuren Potentials an Gleichzeitigem, worauf die gegenwärtige Handlungssituation keinen Zugriff hat, nicht präformieren. (…) Die Beobachtung zweiter Ordnung

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Talcott Parsons, Das System moderner Gesellschaften, passim. H. Brunkhorst, „Kapitalismus und Religion in der Weltgesellschaft“, 4. Joachim Renn, Übersetzungsverhältnisse, 57. N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1084 (Hervorhebung: TP). J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 16.

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zwingt zu der Diagnose, daß die moderne Gesellschaft keinen Standpunkt kennt, von dem her Risiken allgemeinverbindlich wahrgenommen, geschweige denn steuernd vermieden werden können.“47

Aus dieser Sicht droht mit Annahme eines in der Weltgesellschaft aufrecht erhaltenen demokratischen Projektes soziologische Gegenaufklärung. Denn es wird, so ließe sich dieser Verdacht benennen, ein Selbstverständnis der Moderne performativ mit der Beobachtung der Weltgesellschaft vermengt. Die Normativität, auf die sich eine soziologische Theorie, die das Apriori der Demokratie mit sich führt48, immer berufen muss, verleite demnach zu Ausblendungen. Ein Gesellschaftsbegriff, der nach wie vor und von vorneherein davon ausgehe, „dass sich die sachlich, also durch funktionale Differenzierung auseinanderstrebenden Momente der Moderne in der Sozialdimension bündeln, aufeinander beziehen und womöglich integrieren lassen“49, laufe Gefahr „harmonistisch“ zu werden. Das sei er dann, wenn er meine, mit seinen „ausschließlich politischen Kategorien“ der Teilnehmerperspektive, wie Partizipation und Verständigung, die „Dynamik des Gesellschaftlichen“ erfassen zu können. Was eine Gesellschaftstheorie, die „die Bedingung normativer Integration der empirischen Gestalt der Gesellschaft vorordnet“ mit ihrer „Lichtmetaphorik“ nicht wahrnehmen könne, sei die ungeheure Vorstellung, dass ihre Verfehlungen und Katastrophen nicht Ausnahmen und Pathologien seien, sondern die unheilbare „dunkle Seite“50. Damit entzieht sich die Weltgesellschaft allen normativ anspruchsvollen Versuchen, gestaltend auf sie einzuwirken. Der eigentliche Sündenfall der Weltgesellschaft – der mit der funktionalen Differenzierung eingesetzt hat: „Man kehrt nicht ins Paradies zurück“51! – wird ganz sichtbar erst, wenn man in Betracht zieht, wie die Kommunikation im Medium des Sinns, deren Extension systemtheoretische Überlegungen als Weltgesellschaft mit dem Sozialen schlechthin in eins setzen, sich dem Zugriff des Menschen entziehen. Nach dem fast schon klassischen Satz Luhmanns: „Der Mensch kann nicht kommunizieren; nur die Kommunikation kann kommunizieren“52, wird der Zugang zum Sinn vom teilnehmenden Verstehen auf entsubjektivierte Beobachtung und Beobachtung von Beobachtung umgestellt. Der Sinn enteilt so hermeneutischen Erschließungen ebenso, wie er sich aus der 47

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Armin Nassehi, Differenzierungsfolgen. Beitrage zur Soziologie der Moderne, 49. Wie Nassehi dann allerdings unter der Prämisse „der ewigen Wiederkehr des Gleichen, nämlich von Gegenwarten, die vor dem unlösbaren Dilemma stehen, ihre Vergangenheit nicht als Potenzial nutzen zu können und ihre Zukunft nicht zu kennen“ eine Möglichkeit des Lernens (ebd. 82) beibehält, bleibt entweder einigermaßen mysteriös oder müsste doch zu Konzessionen gegenüber dem gerade vehement Bestrittenen führen. Oder gar das Apriori der Kritischen Theorie, nämlich „das Urteil, daß das menschliche Leben lebenswert ist oder vielmehr lebenswert gemacht werden kann oder sollte. Dieses Urteil liegt aller geistigen Anstrengung zu Grunde; es ist das Apriori der Gesellschaftstheorie, und seine Ablehnung (die durchaus logisch ist) lehnt die Theorie selbst ab“, (H. Marcuse, Der Eindimensionale Mensch, 12; Hervorhebung im Original). A. Nassehi, Der soziologische Diskurs der Moderne, 432. Ebd. 356ff. N. Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, 344. N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 30.

Verankerung der sozialphänomenologischen Lebenswelt entreißt. „Der Sinnbegriff“, so Luhmann schon 1971, „ist primär, also ohne Bezug auf den Subjektbegriff zu definieren, weil dieser als sinnhaft konstituierte Identität den Sinnbegriff voraussetzt“53. Das bedeutet nichts anderes als die Einsicht, dass die Weltgesellschaft der Inklusion aller möglichen Adressaten nicht bedarf. Die Gesellschaft braucht ihre Leute nicht und wenn doch, dann, wie Peter Fuchs ausführt, nur für irgendwelche Irritationen der Funktionssysteme: „Menschliches Leben oder erträgliche oder nicht erträgliche Lebensführungszuschnitte sind, sofern sie kommuniziert werden, für sie (die Gesellschaft, T.P.) Kommunikabilien wie alle anderen auch. (…) Ob von Hinrichtungen, Hungersnöten, Banken für elend Arme, von Swimming-Pools, Yachtausstattungen, Popdiven oder von Planungen terroristischer Tötungsakten die Rede ist, spielt für die Fortsetzung dieses Systems keine Rolle, solange Kommunikation synthetisiert werden kann, und wenn nicht: auch nicht“54.

Und die Weltgesellschaft scheint das Nichtangewiesensein auf ihre Leute evolutionär noch zu steigern. Die sich gegenüber den Menschen zusehends verselbständigenden Kommunikationen entwickeln ein neues Bedrohungspotential, das von allen Subsystemen mit expansiver Eigendynamik ausgeht. In erster Linie gibt hier immer noch das Wirtschaftssystem den Takt vor, dessen ungebremste Wirksamkeit zur Renaissance längst verschütteter Begriffe wie Entfremdung und Ausbeutung einlädt. Aber die Destruktivität der anonymen Kommunikationskreisläufe geht nicht, wie Gunther Teubner betont, vom Wirtschaftssystem allein aus: „Heute sehen wir (…) ähnliche Integritätsbedrohungen durch die Matrix der Naturwissenschaften, durch die der Psychologie und der Sozialwissenschaften, der Technologien der Medizin, durch Presse, Rundfunk, Fernsehen“55. Der entscheidende Punkt ist nicht die Bedrohung als Bedrohung, sondern vielmehr, dass ihre Unkontrollierbarkeit, so der Tenor in den systemtheoretischen Analysen der Weltgesellschaft, mit derselben sozialen Evolution untrennbar verwoben ist, die die Weltgesellschaft funktional immer erst ermöglicht.

1.2.

Bedingungen der Suche

Aber soll sich Demokratie als normatives Projekt von dieser tragischen Gestalt der Weltgesellschaft beeindrucken lassen? Ist der evolutionäre Sprung anonymer und unkontrollierbarer Kommunikationen soweit fortgeschritten, dass er sinnvoll nicht mehr demokratisch eingeholt werden kann? Folgt man der Luhmannschen Beschreibung der Weltgesellschaft weiter, ergibt sich genau dieses Bild. Fast schon paradigmatisch für die Unmöglichkeit demokratischer Projekte, die auf ein globales Äqui53 54 55

N. Luhmann, „Sinn als Grundbegriff der Soziologie“, 28. Peter Fuchs, Das Maß aller Dinge. Eine Abhandlung zur Metaphysik des Menschen, 297. Gunther Teubner, „Die anonyme Matrix. Zu Menschenrechtsverletzungen durch `private´ transnationale Akteure“, 176.

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valent zur nationalstaatlichen Verfassung abstellen, nimmt sich Luhmanns Annahme aus, die bislang erfolgreiche Arbeitsteilung zwischen Politik und Recht, die in der demokratischen Verfassung zustande kommt, nehme sich auf der Ebene der Weltgesellschaft „gerade in ihrer besonderen Leistungsfähigkeit“ als „Fehlspezialisierung der Menschheitsentwicklung“56 aus. Soll man also, so der böse Verdacht, den die Systemtheorie zu kultivieren sich bemüht, angesichts überkomplexer Interferenzen der Sozialsysteme aus soziologischer Perspektive auf das emanzipierende Projekt der Ideen von 1789 verzichten57 und es sonntäglichen „Gesänge(n)“ und „feierlichen Erklärungen“58 und einigen mit genügend normativer Trotzigkeit gesegneten Sozialphilosophen überlassen, denen es jedoch an soziologischer Aufklärung mangelt?59 An dieser Stelle scheint es lohnenswert, sich noch einmal an die Formulierung Marxens zu erinnern, mit der diese Einleitung begann. Es war bemerkenswerterweise der wirkliche Mensch, den Marx demokratietheoretisch in Stellung brachte. Dass allerdings die moderne, komplexe und heterarchische Gesellschaft zwischen den 56 57

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N. Luhmann, „Die Weltgesellschaft“, 57. Dieser Verdacht erhärtet sich, wenn man den „dritten Weg“ Helmut Willkes betrachtet, der in einer systemtheoretisch informierten Theorie mündet, die gleichzeitig Steuerungsoptionen für die Gesellschaft bereitstellen will. Willke verzichtet weder auf die Einsicht in die Unhintergehbarkeit unkontrollierbarer Komplexitätssteigerungen der Gesellschaft, noch auf einen elaborierten Bezug auf Demokratie. Allerdings sei, so Willke, die Demokratie etwas überfordert, überschreite gar ihre Kompetenzen, fühle sie sich angesichts „schwieriger Transformationsprozesse“ noch von „Visionen der Allzuständigkeit“ getrieben. Ihre Robustheit erhalte Demokratie sich nur, wenn sie sich auf ihre Kernkompetenz, Entscheidungen über essentielle Kollektivgüter zu gewährleisten, beschränke und nicht durch Selbstüberforderung zu ihrer eigenen Destabilisierung beitrage. Angesichts nicht zu bändigenden Eigenrationalitäten der Systeme sei es geradezu „ziemlich widersinnig“, dem politischen Projekt der Demokratie einen darüber hinausgehenden Zugriff auf Ökonomie und Wissenschaft anzuempfehlen, (H. Willke, Atopia. Studien zur atopischen Gesellschaft, 65). Diese Überlegung Willkes mag eine Option darstellen. Mit einem gehaltvollen Begriff von Demokratie hat sie aber nichts mehr zu tun. Demokratie, die sich von vornherein auf bestimmte Kompetenzen beschränken muss, ist keine. Was hier also bedrohlich aufscheint, ist ein entweder: soziologische Einsicht in die Sachzwänge – oder: das demokratische Projekt in den Bahnen von 1789. Tertium non datur? (An dieser Stelle lässt sich übrigens auch an einen Verweis zum systemtheoretisch argumentierten Sachzwang und dem liberalen Verfassungsverständnis denken, welches Eigentumsrechte und Vertragsautonomie derart hoch handelt, „daß die in modernen kapitalistischen Gesellschaften jeweils vorgefundene Grenzziehung zwischen privater und öffentlicher Sphäre zu einer festen Linie wird“, (Oliver Gerstenberg, Bürgerrechte und deliberative Demokratie. Elemente einer pluralistischen Verfassungstheorie, 12). Bedingung dafür ist das liberal verstandene Set von Rechten, dass dem demokratischen Prozess vorgelagert sein soll. Zur Kritik an dieser Rawlsschen Lesart siehe die behutsam formulierte Kritik von Habermas, in der es aber ums Ganze geht: J. Habermas, „Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch“. N. Luhmann, „Verfassung als evolutionäre Errungenschaft“, 184. Bezeichnend die schon 1971 verfasste Replik Luhmanns gegen Habermas, in dessen „Demokratieempfehlung“ Luhmann „eine Art politische Unsicherheitsabsorption“ sieht. Habermas übersetze „die wissenschaftliche Not nicht in die Tugend eines pragmatischen Vorgehens, sondern in die Tugend politischer Diskussion“, (N. Luhmann, „Systemtheoretische Argumentationen: Eine Entgegnung auf Jürgen Habermas“, 404).

wirklichen Menschen und der Demokratie das abstrakte Recht gesetzt hat, war ja gerade Marx kein Geheimnis geblieben.60 Warum aber sieht er in seinen frühen Schriften den wirklichen Menschen sich mit dem abstrakten Recht verbinden, der doch recht besehen nur in seinen Bedürfnissen sich verwirklicht?61 Was Marx hier inspiriert, von der Wirklichkeit in Bezug auf Mensch, Demokratie und Verfassung zu sprechen, ist die hoffnungsfrohe Annahme, dass sich die demokratische, herrschaftsbegründende Inkraftsetzung des Rechts, mithin also der fortgeschrittene revolutionäre Akt von 1789, auf dem gleichem Gleis vollzieht wie die sich evolutionär entwickelnde Sozialstruktur. So groß war die Hoffnung, die Marx mit der demokratischen Verfassung verband, dass er ihr Zustandekommen mit dem gleichem Adjektiv ausstattet, das eigentlich der „wirkliche(n) Bewegung“ zukommt, „welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingung dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung“62. Dass allerdings eine wirkliche Demokratie sich naturwüchsig aus der sozialen Evolution ergibt, ist freilich eine Vorstellung, die sich unter kritischem Blick eschatologisch blamiert. Zudem hätte, wenn es ohnehin nur eines evolutionären Pfades in Richtung Emanzipation bedürfte, diese Bewegung „überhaupt nichts mit irgendeiner normativen Vorstellung vom richtigen Leben zu tun“63. Es gilt auch in der Weltgesellschaft, dass die Möglichkeit der Demokratie abhängig ist von Möglichkeiten revolutionärer Korrektur einer blinden Evolution. Dennoch sollte der Bezug auf diese beiden Wirklichkeiten, die der Demokratie und die einer geschichtlichen, d.h. evolutionären Bewegung, das Nachdenken über Möglichkeiten der Demokratie in der Weltgesellschaft daran erinnern, den Zusammenhang zwischen bestehenden Voraussetzungen und Demokratie so ernst zu nehmen, dass die emanzipatorischen Hoffnungen sich mit den evolutionären Pfaden der Weltgesellschaft verbinden, statt sich vor ihnen zu blamieren. Gleichzeitig wird die Weltgesellschaft kaum sich wirklich so bewegen, dass sie ohne bewusstes, demokratisches Eingreifen zur Vernunft kommt. Ein Zeichen für Möglichkeiten dieser zweigleisigen Ausgestaltung der Demokratie, ist die Fähigkeit des demokratischen Projekts, seine Begriffe der neuen evolutionär entsprungenen Wirklichkeit anzupassen, ohne sie zu entwerten. Denn es verlieren, wie Herbert Marcuse, eine grundlegende Einsicht Marxens64 aufnehmend, fest-

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Vgl. nur: K. Marx, „Zur Judenfrage“. So bereits Hegel: „Im Rechte ist der Gegenstand die Person, im moralischen Standpunkt das Subjekt, in der Familie das Familienglied, in der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt der Bürger (als bourgeois) – hier auf dem Standpunkt der Bedürfnisse (…) ist es das Konkretum der Vorstellung, das man Mensch nennt; es ist also erst hier und eigentlich nur hier vom Menschen in diesem Sinne die Rede“, (G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §190, Hervorhebung im Original). K. Marx, „Die deutsche Ideologie“, 35. H. Brunkhorst, Der achtzehnte Brumaire des Luis Bonaparte. Kommentar, 167. „Bedarf es tiefer Einsicht, um zu begreifen, daß mit den Lebensverhältnissen der Menschen, mit ihren gesellschaftlichen Beziehungen, mit ihrem gesellschaftlichen Dasein, auch ihre Vorstellungen, Anschauungen und Begriffe, mit einem Worte auch ihr Bewußtsein sich ändert. (…) Man spricht von Ideen, welche eine ganze Gesellschaft revolutionieren; man spricht

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stellt, die „theoretischen Begriffe (…) mit der gesellschaftlichen Veränderung ihre Gültigkeit“65, und genau das bietet eine Chance für das revolutionäre Projekt der Demokratie, es mit der Evolution aufzunehmen. Die Aufgabe, die sich ein Nachdenken über Möglichkeiten der Demokratie damit stellt, bedeutet nun zweierlei. Es gilt die Begriffe der Volkssouveränität, der Repräsentation aber auch der Gerechtigkeit an die evolutionäre Entwicklung anzupassen. Denn „ist es nicht bloß schlechte Theorie, Begriffe zu bewahren, wenn Institutionen sich ändern“66? Lässt sich an einem an sich „stimmigen Konzept“ festhalten, wenn ihm doch „der angemessene Kontext abhanden gekommen ist“67? Sicher nicht. Auf der anderen Seite darf eine Neufassung der Begriffe, auf denen die Möglichkeiten der Demokratie aufruhen sollen, nicht dazu führen, diese ohne Rest in den funktional verstandenen evolutionären Entwicklungen der Weltgesellschaft aufgehen zu lassen. Sie müssen dazu eine Alternative bereitstellen, „die in der etablierten Gesellschaft als subversive Tendenzen und Kräfte umgehen“68. Es gilt: „Die Demokratie verschwindet, wenn sie als Waffe der Kritik bestehender Herrschaftsverhältnisse stumpf wird“69. Dabei ist ein gewisser Optimismus gerechtfertigt. Wenn die Überlegungen der Weltgesellschaft vor allem im Datum der anonymen Kommunikationen münden, dann kann Volkssouveränität durchaus mithalten. Sie ist längst ebenso substanzlos fassbar, wie alle anderen Kommunikationen. Dass nämlich weder der „Staat als Argument“70, noch irgendwelche Tugenden, Leitkulturen oder andere Voraussetzungen der demokratischen Willensbildung vorgelagert sein sollen, dagegen ließ sich schon immer mit dem zwanglosen Zwang des demokratietheoretischen Arguments angehen71. Doch scheint es, als wirke zudem die soziale Evolution an diesem Argument, nach dem Volkssouveränität nur als ein Unternehmen subjektloser Kommunikationskreisläufe72 zu begreifen ist, durchaus mit. Nimmt man noch einmal Luhmanns Wort von der „Fehlspezialisierung“ auf, die angeblich in der Arbeitsteilung zwischen Politik und Recht bestand, so muss man bedenken, dass sich hinter der weiter konstatierten „besonderen Leistungsfähigkeit“73 ein Repräsentationsbegriff verbirgt, der sich auf

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damit nur die Tatsache aus, daß sich innerhalb der alten Gesellschaft die Elemente einer neuen gebildet haben, daß mit der Auflösung der alten Lebensverhältnisse die Auflösung der alten Ideen gleichen Schritt hält“, (K. Marx/Friedrich Engels, „Manifest der Kommunistischen Partei“, 480. H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, 14. Christoph Möllers, „Expressive versus repräsentative Demokratie“, 160. Ebd. 166. H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, 14. H. Brunkhorst, „Kritik am Dualismus des internationalen Rechts – Hans Kelsen und die Völkerrechtsrevolution des 20. Jahrhunderts“, 49. So der ironisch gemeinte Titel: C. Möllers, Staat als Argument. So mit Kant und Habermas gegen das Ideal einer republikanischen Tugendgemeinschaft: H. Brunkhorst, „Vom Vorrang der Volkssouveränität“. Gegen den Staatswillenpositivismus im Gefolge Carl Schmitts: Ders., „Der lange Schatten des Staatswillenpositivismus“. Habermas bringt das auf die Formel „kommunikativ verflüssigte Souveränität des Volkes“, (J. Habermas, Faktizität und Geltung, 449). N. Luhmann, „Die Weltgesellschaft“, 57.

den Staat bezieht. Der Clou, mit dem man dieser Diagnose des Zurücktretens von Recht und Politik gegenüber dynamischeren Funktionssystemen entgehen kann, liegt nun in der ungeheuren Annahme, dass Demokratie der Repräsentation überhaupt nicht bedarf. So hat etwa Christoph Möllers jüngst Überlegungen stark gemacht, in der die Reaktion der Demokratie auf die Internationalisierung von Recht und Politik in der Verbannung des Repräsentationsbegriffs münden: „Der Begriff der Repräsentation impliziert eine eindeutige Zuordnung von Legitimationssubjekt (Volk) und Organ, die ihrerseits die Kontextlosigkeit demokratischer Prozeduren, eine Geschlossenheit und Isolierung des Willensbildungsprozesses, voraussetzt“. Repräsentation sei so aber als „geschlossener Vorgang der Abbildung des Volkswillens“ nicht länger fruchtbar zu argumentieren, sondern habe „ihre Plausibilität durch die Internationalisierung nationaler Gesellschaften (zu: einer Weltgesellschaft, T.P.) ebenso verloren, wie durch die wechselseitige Verschränkung nationaler Rechtsordnungen“74. Was aber bleibt von der Demokratie, hat man sich erst einmal des Begriffs der Repräsentation entledigt? Zunächst freilich die Hoffnung, dass das Versprechen auf Demokratie sich auch dann erfüllt, wenn die Repräsentation mit den Dynamiken der Weltgesellschaft nicht Schritt zu halten vermag. Es bleibt zudem ein „Vorrang der Demokratie vor der Demokratietheorie“75, der aufgibt, Möglichkeiten der Demokratie nicht daraufhin zu befragen „was eine demokratische Praxis repräsentiert, sondern was sie zum Ausdruck bringt, nicht wofür sie steht, sondern was sie bedeutet“76. Ist nicht der sicherste (und vielleicht sogar einzige) Maßstab, das Treiben der Weltgesellschaft an dieser bis auf weiteres unbestimmten Bedeutung zu messen, Marx Wort, nachdem, „eine ungeheure Masse“, soll sie zur politischen Kraft werden, sich frei machen muss von einer „Autorität über ihnen (…), die ihnen von oben Regen und Sonnenschein schickt“77, sondern sich selbst vertreten muss. Der Gang dieser Arbeit soll in der Weltgesellschaft solche demokratischen Möglichkeiten jenseits der Repräsentation aufzeigen helfen. Dabei soll zwar an die doppelte Wirklichkeit, für die ich im Vorigen den jungen Marx als Kronzeugen bemüht hatte, angeknüpft werden. Doch gilt es, jetzt schon eine Korrektur vorzunehmen: Nach dem Wegfall der Repräsentation ist die Demokratie nicht länger das „aufgelöste Rätsel aller Verfassungen“78, sie ist das ungelöste Rätsel der Weltgesellschaft – „endlessly tantalizing, perpetually unsettling, continuously confounding“79.

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C. Möllers, „Expressive versus Repräsentative Demokratie“, 176. Ebd. 172. Ebd., 168 (Hervorhebung im Original). K. Marx, Der achtzehnte Brumaire des Luis Bonaparte, 119f. K. Marx, „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, 231. S. Marks, The Riddle of all Constitutions, 151.

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1.3.

Gang der Argumentation

Um sich diesem Rätsel zu nähern, wendet sich diese der Arbeit zwei Entwürfen zu, die in der Weltgesellschaft nach Möglichkeiten der Demokratie suchen: Der EmpireEntwurf von Michael Hardt und Antonio Negri und die Untersuchung einer entstehenden Weltinnenpolitik von Jürgen Habermas. Das heuristische Interesse liegt dabei gerade in der unversöhnlichen Inkongruenz dieser beiden Entwürfe. Nimmt man noch einmal die Frage nach der Neuformulierung der Begriffe auf, wird dies als Vorverständnis deutlich, wenn die je leitenden Ausgangspunkte dieser Entwürfe ins Licht rücken. Aus der Tiefe einer zuvor konstatierten weltgesellschaftlichen Hegemonie des Empires80 taucht der ambitionierte Versuch Michael Hardts und Antonio Negris auf, die Anlage einer emanzipierende Inklusionsbewegung zu konstatieren: Die Multitude. Sie entsteht unter dem alten Vorzeichen des marxistischen Begriffs der Arbeit und umfasst damit „all jene, deren Arbeitskraft direkt oder indirekt ausgebeutet wird und die in Produktion und Reproduktion kapitalistischer Normen unterworfen sind“81. Der entscheidende Punkt für die Konstituierung der Multitude, in deren positiven Bestimmung Hardt und Negri die Diskurse der Linken über Feminismus, Postcolonial Studies, Cultural Studies und Bio-Politik zusammenführen, ist, dass sie in ihrer negativen Bestimmung aller Begriffe der Souveränität entkleidet wird. Die Multitude, die Hardt und Negri in der mittelpunktlosen, paradoxal souveränen Heterarchie des Empire aufziehen sehen, scheint alle Einwände gegen globalisierte Elemente der Volkssouveränität und der Herrschaftsbegründung noch einmal intuitiv zu verkörpern, indem sie weder souverän sein will, noch Herrschaft zu begründen sucht: „Im Gegensatz zum Konzept Volk begreift das Konzept Multitude eine singuläre Vielheit, ein konkretes Allgemeines. Das Volk konstituiert einen gesellschaftlichen Körper; die Menge nicht“82. Die Multitude erwächst im Gegensatz zum Volk des Projektes von 1789, indem sie „aus der Beziehung zum Souverän flieht“83. Ganz anders die Weltinnenpolitik. Mit ihr versucht Habermas explizit ein politisches Projekt zu formulieren, dass es mit der wirtschaftlichen Globalisierung aufnehmen kann, indem es ganz bewusst an das historische Vorbild des seine Probleme relativ erfolgreich lösenden Nationalstaates anknüpft. Es ist dies die eingestanden paradoxe Strategie, „dass wir uns auf dem ungewissen Wege zu postnationalen Gesellschaften gerade am Vorbild jener historischen Gestalt, die wir zu überwinden im Begriffe sind, orientieren können“84. Und die Weltinnenpolitik kann dabei, statt wie die Empire-Autoren in einem wagemutigen Akt „politischer Vorstellungskraft, der einen Bruch mit der Vergangenheit vollzieht“ die „einzige Erfindung, die uns nun bleibt, jene einer neuen Demokratie, einer absoluten Demokratie, ohne Grenzen, 80 81 82 83 84

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Michael Hardt/Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung. M. Hardt/A. Negri, Empire, 67. A. Negri, „Eine ontologische Definition der Multitude“, 114. M. Hardt/A. Negri, Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, 383. J. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, 130.

ohne Maß“85 anzustreben, auf neuere Entwicklungen des Völkerrechts, der Europäischen Union und nicht zuletzt einer sich bescheiden, aber stetig entwickelnden normativen Integration der Weltgesellschaft bauen. Freilich hatte ich einleitend nicht auf die Probleme hingewiesen, die der systemtheoretische Weltgesellschaftsentwurf dem Nachdenken über Demokratie aufgibt, um dann im Folgenden einfach davon auszugehen, dass die Entwürfe Empire oder Weltinnenpolitik diese Fragen immanent lösen würden. Der Verdacht bleibt, dass im demokratischen Schwung der Argumentation beide wesentliche Einsichten zur Weltgesellschaft aus den Augen verlieren. Daher ist vielmehr, im Gegensatz zu einem exegetisch und kommentierend vorgehenden immanten Verstehen, an ein externes Verstehen dieser Entwürfe gedacht. Das geht „ungerecht“, „gewaltsam“ und „verfremdend“ vonstatten86. Externes Verstehen bedeutet „eine bewusste Dekontextualisierung von Texten“87. Diese Dekontextualisierung geschieht zunächst in einer Einbettung dieser beiden Demokratieentwürfe in jene systemtheoretischen Einsprüche, mit denen Demokratie in der Weltgesellschaft nicht einmal mehr als Licht am Ende des Tunnels aufscheint. (Und wenn es am Ende des Tunnels Licht geben sollte, dann sind es im systemtheoretischen Verständnis die Scheinwerfer des entgegenkommenden Zuges, der auf den funktionalistischen Gleisen allenfalls eine evolutionstheoretisch verkürzte Semantik der Demokratie mit sich führt). „(G)etreu dem philosophischen Motiv, der Totalität abzusagen und Einsicht ins Ganze eher vom Fragment sich zu erhoffen als von jenem unmittelbar“88, ist es das Recht, – aus einer Sicht, die Luhmann gerne als überkommen „alteuropäisch“ denunziert, am ehesten für Auskunft über das Ganzen zuständig – dass hier den Anfang macht. Da das Nachdenken über Demokratie in der Weltgesellschaft nicht auskommt, ohne dem Recht eine bestimmte Leistung zuzusprechen, soll die von allen Hoffnungen auf Demokratie erlöste Thematisierung des Rechtssystems durch Luhmann vorangestellt werden. Trägt man jedoch die Aussicht eines Sich-selbst-Vertretens an dieses Recht heran, stellt sich im Zuge der gesellschaftlichen Kontextualisierung des Rechts die Frage, warum es nicht „die im Dunkeln“ (Brecht) sein könnten, die angesichts einer neuen und dramatischen Exklusionslage alte Begriffe zum Leben erwecken könnten. Dann wäre der globale Protest wieder in einer Weise auf der Tagesordnung, in der bereits das 19. Jahrhundert ihn als Ausdruck des Proletariats naturwüchsig in der Mitte der Gesellschaft zu platzieren wusste. Doch führt auch diese dramatische Evidenz des Leidens nicht hinter systemtheoretische Einsichten zurück, die für das Proletariat keinen Platz mehr findet. Was bleibt ist allein die Aussicht, gegen eine herrschende Sozialstruktur Einschreibungen in der Semantik zu vollziehen, die auf Gerechtigkeit aus sind. Hier bleibt die Frage, ob tatsächlich, wie Luhmann zumindest 85 86 87 88

M. Hardt/A. Negri, Multitude, 340. A. Wellmer, „Zur Kritik der hermeneutischen Vernunft“, 145 (zit. n. H. Brunkhorst, Einführung in die Geschichte politischer Ideen, 7 (FN 1)). H. Brunkhorst, Hauke, Einführung in die Geschichte politischer Ideen, 7 (FN 1; Hervorhebung im Original). Theodor W. Adorno, „George“, 523.

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unter der Hand annimmt, jeder revolutionäre Einspruch immer nur nachträglich von der Gesellschaft gewürdigt wird und so der Gesellschaft gar keinen Unterschied zumutet. Hiernach aber stellt sich die Frage, wie ein Einspruch, der auf Gerechtigkeit aus ist, beschaffen sein muss, um nicht vergeblich zu sein. Als Vorbild kann hier der Unterschied der Suche nach Gerechtigkeit dienen, der in den Einsprüchen des Revolutionärs Gracchus Babeufs und des Theoretikers Karl Marx ans Licht tritt. Hellsichtig sieht Babeuf den Verrat an der Französische Revolution, ausgestaltet durch die Verfassung von 1795, und will dem eine neue Revolution entgegensetzen. Das grandiose Scheitern dieses Versuchs kann über Bedingungen aufklären, die einen Einspruch gegen die Gesellschaft determinieren und damit gleichzeitig erst ermöglichen. Diese nimmt der Marxsche Imperativ in den Blick. An diesen anknüpfend und ihn uminterpretierend, lassen sich Wege finden, Einsprüche der Gerechtigkeit auch gegen die scheinbar unerreichbaren anonymen Kommunikationen der Weltgesellschaft in Stellung zu bringen. Erst jetzt ist das Feld der Politik, auf dem die globale Demokratie bestellt werden soll, bereitet. War bisher nicht auszumachen, wo in den systemtheoretischen Analysen der Gesellschaft überhaupt der Ort auszumachen sein sollte, an dem die Leidenden und Beladenen der Weltgesellschaft ihren Protest zur Geltung bringen, finden die explizierten Entwürfe des Empire und der Weltinnenpolitik Auswege aus den „Zumutungen des systemtheoretischen Ansatzes“89. Freilich muss sowohl die naturwüchsige, der herrschenden Souveränität widerstrebende Multitude als auch der aus der Weltinnenpolitik hervorgehende Bürger kosmopolitischen Zuschnitts am Vorhergehenden sich messen lassen. Dieses Herantragen des externen Verstehens an die Theorie des Empire und der Weltinnenpolitik geschieht, den am Anfang geknüpften Faden aufnehmend, durch das Recht. Die Korrektur des Rechts eröffnet wiederum Perspektiven, die sich als fragmentierte Volkssouveränität beschreiben lassen. An den Beginn dieser Überlegungen stelle ich aber zunächst eine Befragung der Erfolgsgeschichte der Menschenrechte, die über die Gestalt des Platzhalters für Demokratie Auskunft geben soll.

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H. Willke, Global Governance, 32.