WIE DER FROSCH IM KOCHTOPF

WIE DER FROSCH IM KOCHTOPF GEDANKEN ÜBER DIE INFLATION © Thomas Strobl, März 2010 http://www.weissgarnix.de 1 WIE DER FROSCH IM KOCHTOPF Schulden ...
Author: Ina Lichtenberg
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WIE DER FROSCH IM KOCHTOPF GEDANKEN ÜBER DIE INFLATION © Thomas Strobl, März 2010 http://www.weissgarnix.de

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WIE DER FROSCH IM KOCHTOPF

Schulden sind die Droge der Ökonomie, und wie alle Drogen haben auch Schulden unerwünschte Nebenwirkungen. Einer solchen wollen wir uns nun zuwenden; einer, die für unsere Epoche kapitalistischer Wohlfahrtsstaaten typisch ist: Die Rede ist von der Inflation. Wenn der Begriff fällt, denken üblicherweise alle an steigende Preise. Kein Wunder: Mit steigenden Preisen haben die Deutschen schlechte Erfahrungen gemacht, in den Hyperinflationsjahren 1922/23 der Weimarer Republik. Man begegnet ihr daher selbst heute noch mit Sorge, auch wenn die überwiegende Mehrzahl der aktuell lebenden Bevölkerung unmöglich am eigenen Leib erfahren haben kann, was rasant steigende Preise konkret bedeuten. Wir fürchten uns sozusagen vom „Hörensagen“; und bedanken uns bei Ländern wie Zimbabwe dafür, dass sie dem intuitiven Grusel via Medien praktisches Anschauungsmaterial liefern. In einer Marktwirtschaft spielen die meisten Menschen eine Doppelrolle: Aus der Perspektive des Konsumenten sind uns steigende Preise ganz allgemein nicht willkommen; als Produzenten oder Mitarbeiter eines solchen liegen die Dinge jedoch anders, da haben wir gegen Preisaufschläge selten Einwendungen - solange es nur unsere eigenen Produkte oder Dienstleistungen betrifft. Denn höhere Preise, die im Markt durchsetzbar sind, deuten auf eine gute Konjunktur hin, dann geht es den Unternehmen gut, die Beschäftigten verdienen mehr, alles läuft also bestens; vor allem die Firma, die uns ernährt. Die Inflation ist somit ein Widerspruch derselben Art, wie ihn Karl Marx für den Wunsch der Unternehmer an die Höhe der Arbeiterlöhne festgestellt hat: Die der eigenen Mitarbeiter sollen möglichst niedrig, die aller anderen Beschäftigten (= Kunden des eigenen Unternehmens) aber möglichst hoch sein. Beide Ansichten verkörpern die paradoxe Form des 2

ökonomischen Prinzips: Mit minimalem Input maximalen Output erzielen: ein Ding der Unmöglichkeit. Was allerdings eine Konsumgesellschaft wie die deutsche, die sich „Geiz ist geil!“ und „Wohlstand für Alle“ zugleich auf die Fahnen geschrieben hat, offenbar nicht immer wahrhaben will. Deutet man Inflation daher pauschal als „Preissteigerung“ und Preissteigerung als „Inflation“, dann wird die Abgrenzung dessen, was nun genau als schädlich benannt und gegebenenfalls bekämpft werden soll, schwierig – um nicht zu sagen: beliebig. Von Lenin soll das Zitat stammen: „Der beste Weg, die Bourgeoisie zu zerstören, ist sie zwischen den beiden Mühlsteinen der Steuern und der Inflation zu zermahlen“. Aber was meinte er damit genau? Wie kommt es überhaupt zur Inflation? Und warum? Und wenn sie so ein Übel darstellt, was sollte man dagegen tun? Kann man überhaupt was dagegen tun? Wer sich ein wenig für Wirtschaft interessiert, dem werden typische Antworten auf diese Fragen bekannt sein: Die lose Geldpolitik der amerikanischen Zentralbank ist schuld, und sie sollte unbedingt schnell die Zinsen erhöhen; oder die Spekulanten sind schuld, die treiben mit ihren üblen Machenschaften den Ölpreis hoch, und das hat Auswirkungen auf eine ganze Reihe anderer Preise, daher muß man ihnen schleunigst das Handwerk legen; oder aber die Regierung ist schuld - der Klassiker unter den Inflationsdeutungen -, weil sie an ihre politische Klientel Wahlgeschenke verteilt und dadurch gigantische Haushaltsdefizite verursacht; daher muß sie sparen, sparen und nochmals sparen. An Erklärungen und unterschiedlichen Meinungen herrscht also – wie immer bei sozialwissenschaftlichen Problemstellungen – kein Mangel. Für jeden, ob Marktliberaler oder Sozialist, ist die ideologisch passende Antwort mit dabei, sodaß auch dieses Thema nach dem Motto angepackt werden kann: Erlaubt ist, was gefällt. 3

Vor diesem Hintergrund besticht die hier vertretene Inflationsthese durch Schlichtheit: Inflation liegt demnach vor, wenn die Nachfragewünsche der Verbraucher höher sind, als das vorhandene Angebot. Das mag nichtssagend klingen, hat aber einen entscheidenden Vorteil gegenüber allen anderen Erklärungen: Es können auch solche Zustände unter den Begriff „Inflation“ subsummiert werden, in denen die Preise nicht steigen. Und das erscheint mir insbesondere für die Beantwortung der Frage: „Was ist an der Inflation so gefährlich?“ von überragender Bedeutung. Das Problem ist: Die Mehrzahl der Leute kann die Inflation nicht vorhersehen. Und ist demzufolge nicht in der Lage, sie durch Einkommenszuwächse auszugleichen. Denn die Preise steigen ja in der Inflation keineswegs gleichmäßig und auch nicht gleichzeitig. Eine ganze Reihe von Produktgruppen mag im Preis sogar fallen. Stellen Sie sich anhand ihrer eigenen Situation einmal vor, wie es wäre, wenn die Preise aller Waren und Dienstleistungen, die Sie regelmäßig beziehen, steigen, ausgerechnet ihr eigenes Einkommen aber nicht. Und schlimmer noch: Womöglich wären ausgerechnet Sie mit einem sinkenden Einkommen konfrontiert - weil nämlich genau jene Produkte und Dienstleistungen, mit denen Sie ihr Geld verdienen, plötzlich keiner mehr kauft, um sich weiterhin die anderen Güter leisten können, die inflationär im Preis gestiegen sind. Wären Sie dann frustriert? Ich zumindest wäre es. Darin liegt der eigentliche Grund, warum hohe Inflationsraten immer zu Verwerfungen führen; zu Einkommensverschiebungen, Fehlallokationen, irrationalen Verhaltensweisen - mit einem Wort: zur Erschütterung des Systems, so stabil es vorher auch gewesen sein mag: Produzenten und Konsumenten können die Preisänderungen, die sie konkret betreffen, nicht vorhersehen. Was dazu führt, dass in einigen 4

Gütern zu hohe Nachfragewünsche auf ein zu geringes Angebot treffen, und in anderen Gütern wiederum das genaue Gegenteil eintritt. Betrachtet man eine solche Entwicklung unter dem Mikroskop, bekommt man ein Panoptikum ökonomischer Mißstände vor Augen geführt: Produzenten, die bei fallenden Preisen auf ihrer Ware sitzen bleiben, Konsumenten, die frustriert feststellen, dass sie sich angesichts steigender Preise längst nicht das leisten können, was sie sich leisten wollten. Wir sehen auf der einen Seite Lagerhäuser, in denen verderbliche Waren verrotten, und auf der anderen Supermarktregale, die binnen kürzester Zeit leergeräumt werden; Fabriken, die stillstehen und andere, die Sonderschichten fahren müssen. Arbeitgeber, die händeringend nach Mitarbeitern suchen, und andere, die Leute entlassen und Insolvenz anmelden müssen. Außer Kontrolle geratene Inflation ist das reine Chaos, weil ein funktionsgestörter Preismechanismus nicht mehr in der Lage ist, das Geschehen auf einzelnen Teilmärkten so zu koordinieren, dass Nachfrage- und Angebotsmengen zueinander passen. Oder anders gesagt: Die „invisible hand“ von Adam Smith, die in einer Tauschwirtschaft nach der Vorstellung ihres Schöpfers für maximalen Wohlstand zu sorgen vermag, versagt in einer Geldwirtschaft kläglich. Wenn man so will, dann hat sie keine echten Befugnisse mehr, sobald Geld im Spiel ist; was auch der Hauptgrund dafür sein dürfte, dass sich die herrschende Ökonomie in ihren Modellen mit Geld so schwer tut: Das allgemeine Gleichgewicht wird dann nämlich schnell zur Chimäre. Die Orientierung am Geld verleitet alle wirtschaftlichen Akteure, seien sie Produzenten oder Konsumenten, Arbeitgeber oder Beschäftigte, Investoren oder Financiers, sich anders zu verhalten, als sie sich den realen Gegebenheiten entsprechend verhalten hätten: Die Einen werden von Märkten mit steigenden Preisen hypnotisch angezogen und versuchen sich als Glücksritter, was alle nur erdenklichen Arten von 5

„Bubbles“ zur Folge hat; die Anderen reduzieren ihren Konsum dramatisch und legen hohe Ersparnisse an. In all jenen Branchen, die vom Nachfragerückgang betroffen sind, herrscht dann absolute Flaute; sie werden von Investoren wie Konsumenten links liegen gelassen, was zum großen Firmensterben und zu Arbeitslosigkeit führt; wieder Andere entdecken den Schwarzmarkt für sich, der es in Zeiten galoppierender Inflation zu wahrer Blüte bringt, oder frequentieren obskure Anbieter im Internet auf der Suche nach Ersatzbefriedigung. In der Inflation zeigt sich am deutlichsten, dass die von der herrschenden Ökonomie als Anomalie verkaufte „Geldillusion“ in Wahrheit keine solche ist: Geldpreise sind im Kapitalismus das Entscheidende, machen ihn aber prinzipiell unberechenbar; Gleichgewichtszustände werden wenn überhaupt dann nur noch dynamisch möglich, nicht mehr statisch. „Dynamisch“ bedeutet in diesem Zusammenhang mittels „Ausdifferenzierung, durch Unterbrechung sozialer Synchronisationen“ 1 , wie der Soziologe Niklas Luhmann schreibt: Womit der Begriff implizit auf soziale Abgründe verweist. Denn in einer Gesellschaft, deren Daseinsbewältigung darauf fußt, dass ihre einzelnen Teilsysteme harmonisch ineinandergreifen, sprich: in „Gleichzeitigkeit“operieren, ist ein Abreißen der Synchronisation gleichbedeutend mit dem Entstehen von Zukunftsrisiken (und –ängsten) auf allen Seiten. Die Werte-Welt, und nicht nur die finanzielle, gerät dann schnell aus den Fugen. Dazu Luhmann: „Kein Wunder also, dass diese Katastrophe von Zeitgenossen nicht adäquat begriffen werden konnte, sondern als Sündenanstieg oder als Verfall erlebt wurde.“ 2 Damit sollte er auch in dieser Krise rechtbehalten: Nirgendwo wurde so schnell Zuflucht gesucht und offenbar auch gefunden wie bei der Moral. Und tatsächlich erwecken viele prominente Stimmen im uferlosen Ozean der Öffentlichen Meinung den Anschein, als ob jetzt, wo die 6

vermeintlich „Schuldigen“ gefunden sind, das Leben in unserer selbstkonstruierten Gleichgewichts-welt weitergehen könne, als sei nichts geschehen. Eine Vorstellung, die nicht nur durch die realitätsnahe Konzeption der Ökonomie, sondern auch durch die Erkenntnisse der systemtheoretischen Soziologie erschüttert wird. So heißt es bei Luhmann: „Der adäquate Bezugspunkt für die Beobachtung und Analyse des Systems ist daher nicht die Rückkehr in eine Ruhelage, wie Theorien des ‚Gleichgewichts’ suggerieren, sondern die ständige Reproduktion der momenthaften Aktivitäten, eben der Zahlungen, aus denen das System besteht.“ 3

Kommen wir zurück zu meiner Bemerkung von oben, dass meine spezifische Sicht der Inflation geeignet sei, auch krisenartige Zustände als solche zu analysieren, in denen die Preise nicht steigen: Inflation ohne Preiserhöhungen, kann es so etwas überhaupt geben? Nach Ansicht des Ökonomen Wilhelm Röpke schon: Auf ihn geht dieser Erklärungsansatz nämlich zurück. In der sogenannten „zurückgestauten“ Inflation, in der die Preise aus verschiedensten Gründen nicht steigen können, sah er das „übelste Leiden von allen“ 4 , unter denen eine moderne Volkswirtschaft leiden könne. Als Röpke diesen Gedanken formulierte, um das Jahr 1947 herum, hatte er die damals umfangreichen staatlichen Preiskontrollen, Quotenregelungen und sonstigen Interventionen im Kopf, aufgrund derer die Preise mancher Güter nicht steigen konnten, obwohl die eigentlich vorhandene Nachfrage das faktische Angebot bei weitem überstieg. Die „offene Inflation“, die sich durch steigende Preise auszeichnete, wurde daher zunehmend verdrängt durch eine „verbotene“ oder „zurückgestaute“ Inflation, bei der die Preise stabil blieben.

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Was passierte aber stattdessen? Die überschüssige Nachfrageerwartung der Konsumenten blieb unerfüllt, ganz klar: Sie stellten sich zwar brav ab 7:30 Uhr in die Schlange vor den Supermärkten, aber bereits eine halbe Stunde nach Hochziehen der Rollbalken war halt schlicht nichts mehr da. „Kommen Sie morgen wieder!“, vertröstete sie der freundliche Supermarktleiter. Aber weil jedermann, der klar bei Verstand war, voraussehen konnte, dass die Situation am nächten Tag nicht anders sein würde, und am übernächsten Tag auch nicht, und während der ganzen kommenden Woche ebenfalls nicht, kauften diejenigen, die Gelegenheit dazu hatten, die gefragtesten Waren des alltäglichen Bedarfs in Vorratsmengen und horteten sie. Womit sie das Angebot für alle nach ihnen Kommenden umso stärker verknappten. Wenn ich oben geschrieben habe, Inflation sei durch einen Überschuss von Nachfragewünschen über konkrete Angebotsmengen bedingt, dann stellen wir an dieser Stelle fest, dass diese überschüssige Nachfrage bei der „zurückgestauten“ Inflation noch viel deutlicher zu Tage tritt, als bei der „offenen“. Falls wir sie exakt bestimmen wollten, dann bräuchten wir, um beim eben verwendeten Bild mit der Schlange vor dem Supermarkt zu bleiben, nur alle leer ausgegangenen Anstehenden zu befragen, wie viel sie denn von einer bestimmten Ware zum aktuellen Preis gekauft hätten. Die Höhe der so ermittelten Fehlmenge drückt unmittelbar die Enttäuschung aus, mit der die erfolglosen Hausfrauen und –männer ihren Nachhauseweg antreten. Diese Information wird bei der offenen Inflation verdeckt: Bei ihr erfährt man lediglich, dass eine konkrete Angebotsmenge einer bestimmten Ware mit einer exakt gleich hohen Nachfragemenge korrespondiert, nachdem der Preis dieser Ware entsprechend gestiegen ist. Obwohl die Ökonomie in diesem Fall von einem „Gleichgewicht“ sprechen würde, ist der Ausdruck natürlich nichts als eine leere Formel, weil die ursprünglichen Erwartungen der Käufer und Kauf8

interessenten ja keineswegs erfüllt werden: Die Einen kommen zwar zum Abschluss, aber nur zu deutlich höheren Preisen, als sie eigentlich bezahlen wollten; und die Anderen müssen angesichts der gestiegenen Preise von vornherein passen oder ihre Wunschmenge reduzieren. Im Unterschied zur zurückgestauten Inflation, bei der sich die „Lücke“ zwischen gewünschter und realisierter Nachfrage mangels flexibler Preise zur Gänze in der Menge offenbart, verteilt sie sich bei der offenen Inflation sowohl auf Preise als auch Mengen. In beiden Fällen ist diese Lücke zurückzuführen auf eine verzögerte Anpassung vorhandener Güterwünschen an die preisliche Realität: Der Konsument, der erwartet hatte, dass er sich heute eine bestimmte Menge einer bestimmten Ware leisten kann, weil er sich auch gestern und vorgestern dieselbe Menge dieser Ware leisten konnte, sieht sich getäuscht, wenn von gestern auf heute der Preis dieser Ware erhöht wurde. Und er sieht sich auch dann getäuscht, wenn es ihm ergeht wie dem Frosch im Kochtopf, der die langsam ansteigenden Temperaturen nicht wahrnimmt: Aufgrund der prinzipiellen Orientierung an Geldpreisen führen kleinere, aber dafür regelmäßig anfallende Kaufkraftverluste häufig erst dann zu einer Reaktion, wenn sie kumulativ eine bestimmte Höhe erreicht haben. Was wird unser Konsument daraufhin tun? Er wird sich seiner Doppelrolle besinnen, und als Arbeitnehmer auf eine Lohnerhöhung drängen oder als Selbstständiger versuchen, seinen eigenen Kunden gegenüber höhere Preise durchzusetzen. Sollte ihm das gelingen, dann schlägt die zurückgestaute Inflation ab diesem Moment um in die offene: Der Arbeitgeber kalkuliert höhere Löhne in seine Produktpreise, und sofern es sich um einen generellen und nicht nur unternehmens- oder branchenspezifischen Vorgang handelt, erhöhen diese sich auf breiter Front. Versuchsweise zumindest, denn ob all diese Unternehmen ihre 9

höheren Preise im Markt durchsetzen werden können, ist ja keineswegs gesagt. In den Medien ist dann üblicherweise von „Zweitrundeneffekten“ die Rede, und besorgte Bundesbankpräsidenten geben mit ernster Miene zu bedenken, dass die Arbeitnehmer sich doch „verantwortlich“ verhalten mögen. Deutlich seltener jedoch wird erwähnt, dass die Arbeitnehmer auf diese Weise nicht agieren, sondern reagieren, um sich gegen bereits eingetretene Reallohnverluste zu wehren. Nachrichtensprecher und Zeitungsjournalisten plappern dann unbekümmert die These von den hohen Tariflohnabschlüssen als Inflationsursache nach, werden aber still wie das sprichwörtliche Grab, wenn die Preisentwicklung einen völlig anderen Kurs nimmt: So schockten die deutschen Metaller Freund und Feind im Herbst 2008 mit einer Lohnforderung von 8 Prozent und einigten sich mit den Arbeitgebern schließlich bei rund der Hälfte. In den deutschen Verbraucherpreisen machte sich dieser Anstieg aber nicht im Geringsten bemerkbar,die Inflationsrate fiel seither von über 2 Prozent auf null. Ob ein höherer Lohnabschluss daher tatsächlich in offener Inflation mündet, hängt von einer Vielzahl unterschiedlicher Faktoren ab, unter anderem ob die von Lohnerhöhungen betroffenen Unternehmen über Marktmacht verfügen, in welchem Ausmaß ihre Leistungen in die Herstellung von Konsumgütern eingehen, welche individuelle Produktivitätsentwicklung sie verzeichnen, welche Gewinnerwartungen sie insgesamt hegen, und so weiter und so fort. Insbesondere muss eine durch Tariflohnerhöhungen ausgelöste Inflation „finanzierbar“ sein, das heißt den Unternehmen muss es entweder gelingen, die gestiegenen Lohnkosten über höhere Umsatzerlöse wieder einzuspielen, oder sie anderweitig zu finanzieren, aus bestehendem Geldvermögen zum Beispiel oder aus Betriebskrediten. Gelingt ihnen das nicht, dann entpuppt sich jede derartige Preiserhöhung schon bald als Strohfeuer. Eventuell 10

entwickelt sie sich für die Beschäftigten dann auch zum Bumerang, nämlich dann, wenn der höhere Tariflohn zwar fixiert wird, aber nicht finanziert werden kann, und der Ausgleich daher über eine Verringerung der Belegschaft erfolgt. Kurzum: Mit einer Tariflohnerhöhung wird lediglich der erste aus einer Vielzahl von Faktoren verwirklicht, die für ein Einsetzen der Inflation zusammenkommen müssen. Sollten das allerdings doch passieren, und die zurückgestaute Inflation tatsächlich in die offene Form umschlagen, dann wäre die Freude der Beschäftigten über den nominalen Lohnzuwachs nur von kurzer Dauer: Alsbald kämen sie als Konsumenten nämlich dahinter, dass sie den steigenden Preisen ja schon wieder hinterher laufen. Also eine neue Lohnrunde. Und falls der Kaufkraftverlust trotzdem anhält, dann gleich noch eine – solange, bis eines schönen Tages jemand feststellt: „Wir laufen ja den Preisen immer nur hinterher. Das machen wir ab jetzt anders: Wir beziehen in unsere nächste Lohnforderung nicht nur die Preiserhöhung vom abgelaufenen Jahr mit ein, sondern gleich auch noch die vom kommenden. Damit sind wir auf der sicheren Seite.“ Sollten sie mit dieser Forderung erfolgreich sein, dann wird es tatsächlich gefährlich. Denn jetzt startet womöglich ein typisches Rennen zwischen Hase und Igel, an dessen Ende der Igel jedes mal grinst: „Ich bin ja schon da!“ – Und der Hase schließlich vor Erschöpfung tot umfällt. Im konkreten Fall wäre es ein Rennen unterschiedlicher Preiserwartungen - denen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Noch dazu eines, dass sich reflexiv aufschaukelt und beschleunigt, weil beide Seiten versuchen, die immer höheren Erwartungen des jeweils anderen zu antizipieren. Ein sich ausdehnende Preisspirale entwickelt sich, und alsbald befindet sich die Volkswirtschaft im Chaos einer „galoppierenden“ oder gar einer „Hyperinflation“. Glaubt man dem israelisch-amerikanischen Ökonomen Abba Lerner, dann hat man bei der offenen und der zurückgestauten Inflation nur 11

nur die Wahl zwischen „Betrug“ und „Gewalt“, mittels derer man von der Verwirklichung seiner Konsumwünsche abgehalten wird. 5 Die offene Inflation arbeite mit einer optischen Illusion in den Preisen, dass nämlich Erwartungen sich nicht mit der Realität vertrügen; die zurückgestaute Inflation hingegen mache kein großes Aufheben um die Preise, sondern präsentiere knallhart die nackten Tatsachen: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst! In keinem der beiden Fälle würde aber dem Preismechanismus gestattet, die Verteilung knapper Güter unter den Teilnehmern einer Wirtschaft rational zu regeln, so wie es die klassische Theorie vorsieht; stattdessen kommen diejenigen zum Zug, die es dank Geschick, Glück oder Tücke schaffen, früher als andere steigenden Preise zu erraten oder an die Spitze der Warteschlangen vor den Geschäften zu gelangen. Diese Sichtweise der Inflation hat auch noch einen anderen Vorteil: Sie räumt mit dem noch immer weit verbreiteten Missverständnis auf, dass Inflation und Arbeitslosigkeit ein Gegensatzpaar seien, dass einen Bogen politischer Handlungsoptionen aufspannt. Ich erinnere an dieser Stelle an das legendäre Zitat Helmut Schmitts: „Lieber habe ich 5 Prozent Inflation als 5 Prozent mehr Arbeitslosigkeit“. Denn genauso, wie es zurückgestaute Inflation gibt, bei der die Preise eben nicht steigen, obwohl ein Überschuss der Nachfragewünsche über das Angebot besteht, existiert spiegelbildlich das Phänomen zurückgestauter Deflation, bei der die Preise zwar nicht fallen, aber trotzdem ein Mangel an Nachfragewünschen relativ zum Angebot vorliegt. Und wie schon bei der Inflation der Nachfrageüberschuss tritt auch bei der Deflation der Nachfragemangel noch viel deutlicher zum Vorschein, wenn die Preise stabil bleiben. Die Rationierung vorhandener Absatzmöglichkeiten erfolgt hier wieder mit „Gewalt“, um in Abba Lerners Terminologie zu bleiben, während sie im Fall sinkender Preise durch „Betrug“ erfolgen 12

würde. Wenden wir diese Sichtweise auf den Arbeitsmarkt an, dann können wir analog zur obigen Darstellung der Inflation zeigen, warum die viel gescholtene Starrheit der Löhne zwar zu einem deutlicheren Hervortreten des Nachfragemangels nach Arbeitskräften (= Arbeitslosigkeit) führen kann, die Alternative fallender Löhne aber keineswegs die bessere Lösung darstellt, wie von den Sprachrohren der Arbeitgeberorganisationen fortwährend behauptet: Die Erwartungen selbst der zum Zug gekommenen Arbeitssuchenden werden bei tieferen Löhnen enttäuscht, die Verbesserung der offiziellen Arbeitslosenstatistik beruht, wie schon oben der Ausgleich von Angebots- und Nachfragemengen in der offenen Inflation, auf einer „optischen Illusion“. Denn nehmen wir einmal an, dass es in einer Depression tatsächlich zu einer generellen Lohnsenkung kommt, und die Unternehmer auf das vermeintlich bessere Preis-Lohn-Verhältnis reagieren, indem sie die Kapazität ihrer Produktionsanlagen voll auslasten. Die Arbeitslosigkeit sinkt deshalb momentan zwar kurzfristig - aber ist die Depression damit wirklich überwunden? Natürlich nicht: Die zusätzlich produzierten Güter müssen ja erst noch verkauft werden. Aber an wen denn? Die einzigen, die in einer solchen Konstellation steigende Einkommen verzeichnen, sind die Unternehmer. Damit das „Löhne runter!“-Mantra also sein Heilsversprechen einlösen kann, müssten die Unternehmer ihre Zusatzprofite unverzüglich in den Aufkauf der produzierten Ware stecken, den sich ihre Arbeitnehmer in der Rolle als Konsumenten wegen gesunkener Einkommen nicht mehr leisten können. Hält das irgendjemand für realistisch? Im Endeffekt haben die Unternehmer dann lediglich auf Halde produziert – ihre Vorteile aus geringeren Lohnkosten entpuppen sich als Scheingewinne.

Und schlimmer noch: Spiegelbildlich zum Fall der sich nach oben entwickelnden Inflationsspirale, ist hier bei voll flexiblen Löhnen eine 13

Deflationsspirale nach unten denkbar (für welche die einschlägige Literatur den sehr anschaulichen Begriff „race to the bottom“ geprägt hat), bei der die Arbeitgeber versuchen, der gerade geschilderten Gewinnproblematik zuvorzukommen, indem sie die Löhne von vornherein noch stärker drücken. Die zurückgestaute Deflation würde dann in die offene Form übergehen, und in extremen Fällen (die ich mir in unseren Breitengraden allerdings weder vorstellen kann noch will) in „galoppierende“ oder gar „Hyperdeflation“ münden. Es zeigt sich also, wie bereits bei der Inflation oben, dass fallende Preise und Löhne die Lage womöglich nur noch verschlimmern, wenn die Ursachen des Problems selbst nicht behoben werden, die bei der Inflation in einem Überschuss und bei der Deflation in einem Mangel an Nachfrage liegen. Von welcher Seite man es auch immer betrachtet: Inflation ist ökonomisch und sozial ungerecht. In der zurückgestauten Variante schließt sie all jene vom Konsum aus, die einfach nur „zu spät“ kommen. In der offenen Form trifft sie alle, die zwar als Verbraucher mit höheren Preisen konfrontiert sind, als Produzenten und Arbeitnehmer aber keine Möglichkeit haben, selbst höhere Preise zu verlangen. Sie benachteiligt auch den Sparer und den Gläubiger, zum Vorteil der Schuldner. Die können sich in der Inflation deutlich schneller und leichter entschulden, solange ihr Einkommen, aus dem sie Zins und Tilgung aufbringen, in Höhe der allgemeinen Preisentwicklung steigt. Sagt Ihnen in diesem Zusammenhang der Name „Hugo Stinnes“ etwas? Es handelt sich dabei um den Gründer des auch heute noch existierenden Stinnes-Konzerns, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu den größten und einflußreichsten Industriellen Deutschlands zählte. Hugo Stinnes schuf in der Zeit der Weimarer Hyperinflation ein riesiges, industrielles Imperium, indem er sich in Erwartung weiter steigender Preise verschuldete und Unternehmen aufkaufte. „Stinnes kauft alles“, 14

titelten damals die Zeitungen, „Der Mann, von dem man sagt, dass ihm Deutschland gehört“, schrieb die New York Times. Stinnes war der „Inflationskönig“. Sein Reich währte allerdings nur solange, wie die Preise auch tatsächlich stiegen. Als sie das irgendwann nicht mehr taten, wurde er jäh vom Thron gestoßen: Der riesige Schuldenberg, den er aufgetürmt hatte, begrub den Stinnes-Konzern unter sich. In der Folge wurde er von seinen Gläubigern zerschlagen. Das war nur folgerichtig, denn auf Kosten seiner Gläubiger hatte er sein Reich auch errichtet: Was er in der Inflation an Gewinnen aus real entwerteten Schulden einstrich, mußten seine Kreditgeber als reale Verluste verbuchen. Etwaige Schadenfreude ist hier aber völlig fehl am Platz: Weil Bankiers nicht dumm sind (obwohl die Nachrichten der jüngeren Vergangenheit einen derartigen Eindruck vielleicht nahelegen), versuchten sie natürlich, ihre Verluste aus bestehenden Kreditengagements mit Stinnes und anderen dadurch wettzumachen, dass sie die Zinsen auf Neukredite erhöhten. Und zwar nicht nur im Ausmaß bereits erlittener Verluste, sondern zusätzlich auch um den Betrag, den sie aus weiterhin steigenden Preisen erwarteten. Wer sich als Kreditnehmer auf derartige Konditionen einließ, und vielen blieb gar keine andere Wahl, der erklärte sich damit gleichsam bereit zum Tanz auf dem Vulkan: Nicht nur, dass seine laufende Belastung für Tilgung und Zins sehr hoch sein würde und eigentlich nur gestemmt werden konnte, wenn die Preise auch weiterhin stiegen; sollten sie stattdessen aus irgendeinem Grund anfangen zu fallen, dann würde er unter dem realen Zuwachs seiner Schulden womöglich erdrückt werden. Die bekannte Volksweisheit „Den Letzten beißen die Hunde“ trifft es hier exakt: Wer sich in falscher Erwartung steigender Preise verschuldet, der wird mit sinkenden Erlösen bei real steigenden Zinslasten bestraft. Schafft er es nicht, durch Notverkäufe von Haus, Hof und Hund zusätzliches Einkommen aufzutreiben, um 15

seinen Verpflichtungen nachzukommen, dann wird er über kurz oder lang als Pleitier enden, wie schon tausende gescheiterte Inflationisten vor ihm. Wen das übrigens an die Börse erinnert, und dort an das übliche Treiben in der Spätphase einer Hausse, der liegt absolut richtig: Es handelt sich um ein und dasselbe Phänomen, das üblicherweise aber nur dann als „Inflation“ bezeichnet wird, wenn es die Konsumgütermärkte betrifft.

Wenn wir oben Inflation als „Überschuss der Konsumwünsche über das Angebot“ definiert haben, dann erscheint es leicht nachvollziehbar, dass mit dem Ausbau des Wohlfahrtsstaates nach Ende des Zweiten Weltkriegs und seines politischen Versprechens steigender und gesicherter Einkommen für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung die Inflation zu einer chronischen Erscheinung wurde: Öffentliche Beschäftigung, staatliche Konsum sowie Versorgungsleistungen aus sozialen Sicherungssystemen sorgten für eine stabile und steigende Kaufkraft, die es Produzenten auf breiter Front ermöglichte, eine gewinnoptimale Preispolitik durchzusetzen. Ein zweites Phänomen der Nachkriegszeit tritt hier verstärkend hinzu, nämlich die zunehmende Konzentration von Marktmacht in den Händen einiger weniger Anbieter, die als „Category Leaders“ mittels gigantischer Werbe-Etats und immer zielgenauerer Kommunikationsmethoden dafür sorgen, dass in zahlreichen Produktkategorien kein echter Wettbewerb mehr herrscht. Spätestens als der Handel in den Neunzigern mittels „Category Management“ mehr und mehr dazu überging, seine Regalflächen nur noch den ersten drei Marken eines bestimmten Marktsegments zur Verfügung zu stellen, war es mit Preiskonkurrenz vorbei; zeitgleich wurden die Markteintrittsbarrieren für alle anderen Firmen immer höher: Die

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Lebensmittelregale und die Spiel- und Sportabteilungen der Kaufhäuser wurden zum exklusiven Habitat internationaler Markenartikel-Giganten. Für Unternehmen, die so ihre Marktdominanz ausspielen konnten, war es problemlos möglich, ihren eigenen Beschäftigten alljährlich einen Inflationsausgleich zu bezahlen: Die Inflation wurde „finanzierbar“ und somit zum Dauerzustand. Derselbe Effekt ergab sich aus den steigenden Staatsdefiziten praktisch aller westlicher Industriestaaten nach dem Zweiten Weltkrieg: Die „sicheren“ Schulden des Staates schufen zusätzliche Einkommen und damit Kaufkraft, die auf ein begrenztes Konsumgüterangebot wirkte. Ergebnis: steigende Preise. Wenn man so will, dann werden durch die nicht produktiven Einkommen der öffentlichen Hand die Kaufkraftverluste der produktiv Beschäftigten provoziert: Ihre Forderung nach entsprechenden Lohnerhöhungen muss daher in der Regel als nachträgliche Reaktion verstanden werden. Der Ökonom Hyman Minsky spricht daher im Zusammenhang mit den deutlich ausgeweiteten Staatshaushalten westlicher Regierungen seit den Fünfziger-Jahren gleichermaßen von „Segen und Fluch“: Einerseits hätte es die Politik geschafft, die Wiederholung einer Großen Depression im Stil der Dreißiger Jahre zu verhindern, indem sie konjunkturellen Dellen regelmäßig mit erhöhtem Staatskonsum auf Kredit begegneten. Dadurch wurden Einkommen, Konsum und Beschäftigung stabilisiert, und ein Abdriften in eine deflationäre Depression verhindert. Andererseits wurden mittels dieser Schulden aber dauerhafte und steigende Einkommen geschaffen, die sich zu jenem Überschuss von Konsumnachfrage verdichteten, der sich in steigenden Verbraucherpreisen ausdrückt.

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Luhmann, Niklas, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1994, S. 196 a.a.O, S. 196 a.a.O, S. 17 Röpke, Wilhelm, "Repressed Inflation": The Ailment of the Modern Economy, http://mises.org/story/3492 Lerner, Abba Ptachya, The inflationary Process – Some theoretical Aspects, in: Es-says in economic Analysis, MacMillan, London 1953, S. 333

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