Was das Auge sieht, kann die Hand gewinnen

Was das Auge sieht, kann die Hand gewinnen… Eine Reise entlang der deutsch-deutschen Ostseeküste PROLOG Der Regen läßt nach. Ein kühler Wind streicht...
Author: Gert Reuter
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Was das Auge sieht, kann die Hand gewinnen… Eine Reise entlang der deutsch-deutschen Ostseeküste

PROLOG Der Regen läßt nach. Ein kühler Wind streicht über den Platz, trägt den Lärm davon, der sich unter den Arkaden bricht, die Geräusche der Geschäftigkeit, die Stimmen der wenigen Menschen, die im tristen Wetter unterwegs sind. Das Wasser rinnt von den Zeltplanen der Stände, über das Kopfsteinpflaster, verschwindet glucksend in den Gullys. Es riecht nach Fett und verbranntem Zucker. In einer Nostalgischen Brezelbäckerei steht fröstelnd die Bäckerin und telefoniert mit einem Handy, spricht womöglich mit der Kollegin in einer sentimentalen Kipferlbäckerei zu Wien über die Puderzuckerpreise. Auf dem Marktplatz zu Lübeck herrschte dereinst ein unvorstellbarer Wohlstand über eine biblische Armut, hier kreuzten sich die Wege der Hanse zu Wasser und zu Land, und die armen Teufel, die für eine dünne Suppe und ein Glas Branntewein die Reichtümer aus den Koggen in die Koggen schleppten, Wachs und Fisch und Salz und Wein, sie hörten die klangvollen Namen der Häfen, die sie keines jämmerlichen Lebtages sehen sollten: Nowgorod und Reval, London und Antwerpen. Ihre Unkenntnis aber war eine große Gnade, denn sie hatten keine Ahnung, daß sich in den glanzvollen Metropolen für sie nichts anderes gefunden hätte als dieselbe tägliche Fron.

Sechshundert Jahre später bietet ein Vergnügungsmarkt im Herzen des Lübeckischen dem gemeinen Volk eine demokratische Lustbarkeit. Hier konzentriert sich die Reizüberflutung der Innenstädte auf niedliche Art. Der Wohlstand hat ein Niveau erreicht, das auch einem Sozialhilfeempfänger erlaubt, seinem Kind wenigstens eine nostalgische Brezel zu kaufen. Die versunkene Tradition der machtvollen Hanse findet sich vielleicht noch im Reinheitsgebot, dem die Bierstände unterliegen, am Ende nur noch in den Kennzeichen der wild parkenden Autos an den Rändern des Marktplatzes. Johann macht drei große Schritte durch den Nieselregen unter das Vordach eines Imbiß. Bestellt eine Currywurst. Vier Mark fünfzig, sagt die Verkäuferin, reicht die Pappschale mit einer dampfenden Soße herüber, in der die zerkleinerte Wurst versunken ausschaut wie die Reste einer erfolgreichen Bauchoperation. Is aber teuer, sagt er und kramt nach dem Geld. Wieso, fragt die Frau zurück und schaut ihn an, als könnte er nicht rechnen: dreifuffzig für die Wurst, ne Mark für Curry. Solch einer Logik hat er nichts entgegenzusetzen, zieht den Kopf zwischen die Schultern und schaufelt die Delikatesse in den Bauchraum zurück. Irgendwo schlägt die Stunde, und ehe die Glocke verklungen ist, ist die Pappschale in einem Abfalleimer verschwunden. Johann wischt sich über den Mund und gibt einen erbarmungsvollen Ton von sich: Curry eleison! Wahrscheinlich ist das alles vor sechshundert Jahren um keinen Deut anders gewesen. Nur das, was man heutzutage und hierzulande soziales Gefälle nennt, war damals ein Abgrund, da waren die Reichen wirklich reich und die Armen haben des Nachts wohl häufig davon lustgeträumt, ein Schwein zu sein in den Koben der hansischen Kaufleute. Ohne letztere aber gäbe es so manche kulturelle Kleinodie nicht, all die architektonischen Perlen beispielsweise, die sich aufgereiht finden auf einer Kette, die vom belgischen Brügge bis nach Karelien reicht. Der Mensch scheint einzig in der Lage, in feudalen Verhältnissen zu existieren. Es sind allerdings die Nuancierungen des Feudalismus, die darüber entscheiden, ob er sich in einem rechtlosen Lehen totschuftet oder in der sozialen Hängematte schaukelt. Und da, wo wir hinwollen, in den ehemaligen Arbeiter- und Bauernstaat, hat man vierzig Jahre geglaubt, den Feudalismus abgeschafft zu haben. Und da es nicht nur den des Geldes gibt, hat man alles andere ebenfalls gleich zu machen versucht, auch die Kunst und den Sinn, nicht zuletzt den Erdboden, auf dem ideologisch bedenkliche Immobilien standen: Kirchen, Schlösser, Patrizierhäuser. Im Café Maret sitzen die älteren Damen. Schlösse man alle Kaffeehäuser des Landes auf einen Schlag, an einem Mittwoch zum Beispiel gegen fünf nach halb vier, so materialisierte sich in den Innenstädten die Alterspyramide, entlarvte sich die Rentenlüge. Auf dem Tisch liegt eine Frauenzeitschrift aufgeschlagen, und in einer Anzeige, die für NIVEA VISAGE, die Anti-Falten-Creme, wirbt, verdichtet sich die Widersprüchlichkeit, in der man sein Klientel ausbalanciert halten möchte: »Zeit… irgendwie faszinierend, wie sie die Dinge verändert. Wie sie Spuren hinterläßt. Und man sieht es meiner Haut kaum an.« Man soll alles wollen und nichts bekommen, alles verstehen und nichts begreifen: die spurlosen Spuren, die auf der Stelle voranschreitende Zeit. Auch das wird wahrscheinlich zu unserem Thema gehören. Wir bestellen Kaffee und Kuchen. Johann kramt in seiner Fototasche. Ich hole mein Notizbuch hervor. Die Serviererinnen tuscheln in der Nähe hörbar Empörung: Die wollen hier doch wohl nicht arbeiten? Das ist schließlich ihre Domäne. Unsere Aufgabe ist es,

Kuchen zu essen, aufeinander einzuplappern oder abwesend auf die goldbrokatige Tapete zu starren. Aus einem Lautsprecher erklingt dezent eine symphonische Melodie, und es braucht eine Weile, bis ich sie erkannt habe: Where the streets have no names von U2. Die instrumentale Version von Mantovani oder James Last paßt haargenau in das Zentrum solch einer ausgeplanten Stadt. Ich notiere die Currywurst-Geschichte.  Erster Tag im Oktober. Am Morgen sind wir in Hannover aufgebrochen. Den ganzen Vormittag auf der Autobahn nach Norden hat es ohne Unterbrechung geregnet. Wir haben über das schlechte Wetter gemeckert und den stockenden Verkehr und sind dennoch in weniger als drei Stunden durch die Lüneburger Heide, über die Elbe und in ein Café am Marktplatz zu Lübeck gekommen. Unterwegs habe ich mich an den Titel des Essays von Paul Virilio erinnert, den ich tags zuvor gekauft habe: Fluchtgeschwindigkeit. Ein Stau auf der Autobahn. Ursache ist eine Baustelle, genauer: eine Verengung der Fahrbahn auf eine Fahrspur. Noch genauer: Ursache des Staus ist das Unvermögen der Mehrzahl der Autofahrer, sich gemeinschaftlich als System zu begreifen. Es heißt nicht umsonst Individualverkehr: die einen versuchen ängstlich, sich in vorauseilendem Gehorsam bei der ersten Ankündigung der Verengung rechts einzuordnen, die anderen nutzen wenigstens den Raum, rasen auf den letzten Punkt zu, und die dritten, die sich schon immer schon auf der rechten Fahrspur fanden, passen auf alles auf, verhindern mit hoher moralischer Kompetenz, daß einer der Verirrten oder der Verdammten vor ihnen einschert, bevor er nicht in devotester Zeichensprache darum gebettelt hat. Einspurig zieht sich der Verkehr in maßvollem Tempo durch die Verengung. In der geschlängelten Ausfahrt aber aus dem gesicherten Bereich, da, wo sich die Fahrbahn wieder teilt und das blasse Freifahrtschild sichtbar wird, das wie die Reihe grüner Ampeln beim Autorennen wirkt, ist die gelassene Ruhe der Fortbewegung dahin wie am Ende der Aufwärmrunde. Nirgends wird so viel Vollgas gegeben wie ausgangs der Baustellen auf bundesdeutschen Autobahnen. Es ist der Augenblick des Vorteilnehmens, die Herstellung der Hierarchie, der Moment einer Wahrheit, die vorzutäuschen scheint, es ginge um das Überleben. Es ist tatsächlich ein Überlebensspiel, eine Metapher auf die Herkunft und das Wesen des Menschen, genauer: das des Mannes. Höchste Stilisierung dieser Allegorie ist die Liturgie eines Formel–Eins–Rennens. Es gewinnt seine Anziehungskraft durch die symbolische Darstellung und reale Nachstellung der Existenz des Mannes. Dieses im bedrohlichsten Sinne lebensechte Theater ist sowohl erotischer Natur als auch von melancholischer Todessehnsucht geprägt. Der Start ist die Ejakulation. Das Rennen um Zentimeter und Zehntelsekunden macht Sinn, weil nur der erste gewinnt. Der Sieger besitzt den vollkommenen Triumph, weil er tatsächlich sein Leben riskiert hat und ein neues gewinnt. Am Ende steht, quasi für das einfache Volk, für den Massenverstand, das kleine Symbol: die ejakulierende Champagnerflasche. Ein ähnlich heroisches Gefühl muß mich just beflügelt haben, als ich mit großen Schritten und abgestumpftem Seitenblick an dem Museum vorübergeeilt bin, welches die Leben und die Werke der ungleichen Brüder Heinrich und Thomas Mann präsentiert: Fluchtgeschwindigkeit. 

Wir sind aufgebrochen in der Absicht, aufzubrechen. Haben uns ein paar Tage freigenommen, um frei zu sein, sind unterwegs, um innezuhalten, und unser größter Besitz ist das Bewußtsein, die gemeinsame Zeit wird unserer Freundschaft gehören, auch wenn am Ende keine Zeile, kein Foto etwas taugt. Wir wissen lediglich, wir werden der Küste nach Osten folgen, soweit wir ihr folgen werden. Wir werden sehen, was es zu sehen gibt, und vor allem wollen wir uns von diesem elendigen Verwertungsmechanismus befreien, der uns in der Vergangenheit umtrieb, diese fruchtlose Suche nach dem Außergewöhnlichen, nach den weißen und schwarzen Perlen im unendlichen Sand der Gewöhnlichkeit, vergeblich, weil uns ein Heer professioneller Aufspürer voraus ist, den Globus abschreitet, ausleuchtet und beschreibt bis in die letzte verkommene Ecke. Unser Ziel steht dieses Mal nicht vorher fest, aber es soll sich auch nicht länger von uns entfernen, weil wir müde geworden sind der unentdeckten Sehenswürdigkeiten, der stillen Sensationen und belanglosen Neuigkeiten, die uns täglich tausendfach auf bunten Bildern entgegenspringen, mit selbstgewissen Worten offeriert werden. Unser Thema muß das Einfachste sein: die Fortbewegung selbst, die der erste Grund des Reisens ist. Mir kommen Zweifel. Brauche dringend Bestätigung, wenigstens Beruhigung, krame den Virilio hervor, schlage ihn auf, blättere wahllos herum und suche nach einem Orakel. Es ist bald gefunden. Auf Seite 93 ist Guy de Maupassant mit folgendem Wort zitiert: »Die Reise ist eine Art Tür, durch die man die Realität verläßt, um in eine unerforschte Realität einzutreten, die ein Traum zu sein scheint.« Das gerade, scheint mir, versucht der explodierende Markt an Veröffentlichungen zum Thema Reisen zu verhindern. Traumhaft sind da nur noch Strände, Klima, Girls und Drinks. Vielleicht noch die Preise. So oder so. Der Aufenthalt auf Mallorca kann damit auf jeden Fall nicht gemeint sein. Auf der Toilette finden sich über dem Waschbecken, das als Viertelkreissegment in eine Ecke gesetzt ist, an den Wänden zwei Spiegel, die im rechten Winkel aufeinanderstoßen. Das bewirkt ein merkwürdiges Phänomen. Wer an das Becken tritt, kann sich im rechten wie im linken Spiegel entgegensehen, wie er es gewohnt ist, in der Vertrautheit des gedrehten Abbildes, das er seit je in sich trägt. In der Mitte jedoch, wo die Spiegel aufeinandertreffen, tritt dem Betrachter ein fremdes Selbstbild entgegen, sein wirklicher, ungespiegelter Anblick, wie ihn die Welt von ihm seit je besitzt. Es ist ein einfaches Spiel doppelter Reflexion, setzt aber doch einen irritierten, überraschten Blick auf den Fremden frei, den man natürlich erkennt, womöglich aber erst im zweiten Hinsehen als sich selbst begreift. Es ist wie der allererste Blick auf eine Person, auf einen Ort, der sich alsbald unter der Wiederholung verliert, zu einem Abbild versteinert, dem man irgendwann auch historischen Bestand nachsagt, weil unter ihm der einzigartig lebendige Eindruck der ersten Begegnung begraben liegt. Es geht aber immer ein spürbarer Riß durch die Sinne: wie durch das Spiegelbild auf der Toilette. Johann sortiert seine Ausrüstung. Reisen hat mit der Frage nach den Wirklichkeiten zu tun. Wenn wir reisen, möchten wir eine Wirklichkeit aufsuchen, die für unser Bewußtsein eine virtuelle ist. Das aber erleben wir nur befriedigend, wenn die aufgesuchte Wirklichkeit für andere eine reale ist. Wir möchten, daß die Caprifischer wirklich fischen und nicht nur für den Reisenden das

Fischerdasein darstellen. Wir erlebten in den Fünfziger Jahren die fremdartige Wirklichkeit einer Familie im Schwarzwald, die uns lediglich virtuell entgegenkam, indem sie ein Zimmer vermietete. Ansonsten lebten sie ein Schwarzwälder Leben, dem wir für drei traumhafte Wochen beiwohnten. Johann nickt. Putzt die Linsen, legt Filme ein.

GRENZÜBERTRITT Eine Schiffspassage bedeutet immer eine Art globaler Fortbewegung, von Erdteil zu Erdteil, von einer Vergangenheit, die nicht selten für alle Zeit versiegelt bleiben soll, hinüber in eine Zukunft, die sich nur in räumlicher Distanz findet und natürlich im Ungewissen. Es regnet nicht mehr. Am Skandinavien-Kai zu Travemünde liegen die großen Pötte, die nach Norden gehen. Die Möwen kreischen über dem schwarzen und kabbeligen Wasser der Pötenitzer Wiek. Unsere Passage führt mit der Priwall–Fähre über die Trave, dauert fünf Minuten und ist nichts als pure Gegenwart. Am Ufer Bürgervillen aus privilegierter Zeit, Geschäftbauten, ein kleiner Jachthafen, wo der frische Wind in den Aufbauten klingelt, backbords mit mehr als dreißig Stockwerken wie ein Leuchtturm an der Fahrrinne das Hotel Maritim, aus dessen oberen Etagen man dereinst über die Lübecker Bucht, den kleinen Priwall und weit in das Land der östlichen Brüder und Schwestern hineinschauen konnte: in der Hand die Jahrestage von Uwe Johnson oder den Playboy, im Kopf das bittersüße Bewußtsein, daß es leichter war, von Travemünde nach Las Vegas oder auf die Seychellen zu kommen als hinüber zu den spärlichen Lichtern in den grauen Häusern von Pötenitz, von denen aus die Menschen bei Gelegenheit auf die reichlichen Lichter des Hotels zurückschielten, die ihnen eine lebensbedrohliche Freizügigkeit versprechen wollten, vor der sie die unüberwindliche Grenze schützte. Auf dem Rücksitz eines Wagens liegt die BILD-Zeitung vom Tage aufgeschlagen: »Unverschämt! Politiker kassiert Arbeitslosengeld - 11835 Mark Diäten nicht genug.« Und Helmut Kohl erzählt in BILD über den Weg zur Einheit. Die Fähre legt an. Der Priwall, eine knapp drei Kilometer lange Halbinsel, die die Pötenitzer Wiek vor der Ostsee schützt, gehörte seit je zur Bundesrepublik, war eine Enklave, eine Insel im Schatten des Eisernen Vorhangs. Damals ein stiller Winkel, garantiert ohne Durchgangsverkehr. Man spürt es noch heute: verschlafenes Wochenend-Ambiente, Ferienhäuser und Erholungsheime in den Dünen, Campingplätze. Bei der Landenge, wo die Halbinsel zum Festland wird, ist die Grenze gewesen. Wir halten an. Der neuzeitliche Grenzübertritt ist ein Flecken höchster Gewöhnlichkeit: ein trister Parkplatz, Begrenzungssteine, ein kleiner Schilderwald, reichlich Halteverbote, das mecklenburg-vorpommersche Wappen und ein Findling als Gedenkstein: »Nie wieder geteilt. 3. Februar 1990«. Ein Stück landeinwärts Richtung Pötenitz an einer Weide stapelweise Betonquadrate, alte Stücke der Überwachungstrassen an der Republiksgrenze.

Paul Virilio spricht vom kritischen Raum, von der kritischen Fläche, die durch Überschall und Hochgeschwindigkeit aus unserer Wahrnehmung verjagt wird, von der Unterschlagung des geophysikalischen Raums durch unsere immer extremer beschleunigte Fortbewegung, welche die Strecke zum Punkt machen und die Zeit endgültig zum Augenblick totschlagen will. Hier aber hat mit der Zeit auch der Raum zum Stillstand gefunden. Unkritisches Terrain, damals gewiß, und heute noch spürt man es. Es geht nichts als ein mäßiger Wind. Johann geht umher. Sucht das erste Foto. Kein Motiv, nirgends. Ich habe gelernt, seinen Schritten zu folgen, mich mit dem Auge seines Objektivs zu bewegen, damit ihm nicht einmal mein Schatten ins Motiv gerät. Es mögen unsere Interpretationen divergieren, aber, mit seinen Augen sehen, das ist mir ein wesentlicher Teil unserer Freundschaft. Etwa einen Kilometer ins alte DDR-Land hinein findet sich ein Wachtturm in einem Naturschutzgebiet. Es waren sie alle ja quasi Naturschutz-Wachttürme. Als wir auf diesen zugehen, durchbricht der erste Sonnenstrahl des Tages den verhangenen Himmel. Der Turm ist privatisiert: Amateurfunker-Club Grevesmühlen, Kennung »DL 0 GVM«. Allein die grausame Ästethik der Wachtturm-Architektur ist von epochaler Menschenverachtung. Zum Zwecke des Mordens bei Gelegenheit wurden die Männer der Grenzsicherungstruppen in diese Betonkäfige gesteckt, und ihr Auge wurde nach hinten gerichtet, landeinwärts ruhte es auf den paradiesischen Weiten des besseren Deutschland. Wer von denen hat nicht die bittere Ironie geschmeckt, daß die Wächter die Gefangenen waren? Auf den ersten Kilometern und Jahre nach der Vereinigung ist die graue Trostlosigkeit der verlorenen Dörfer, der heruntergekommenen megalomanen LPG-Großbauten, der endlosen Reißbrett–Felder wiederzuerkennen wie die Landschaften einer verflossenen Epoche: das Zeitalter der besserwisserischen Mittelmäßigkeit. Hier hat die spießigste Diktatur der Weltgeschichte geherrscht. Heute herrscht gottlob eine himmlische Stille. Der Schmuddelcharme des alten Zonenrands erinnert mich an die gefälschten Landkarten der Vergangenheit, eine andere Form der Unterschlagung des geophysikalischen Raums, Karten, auf denen der Westen nicht vorkam, der Osten ausschließlich in fluchtverhindernder Topographie. Die Erde ist eine Scheibe, und der Ratzeburger See schwappt mit seiner westlichen Dünung an die Gestade des Universum. Der Himmel ist eine Volksrepublik, und alle Wege führen zurück ins Paradies der Arbeiter und Bauern. Wie vieles andere hat es auch die Landkarten doppelt gegeben. Die falschen, um das Volk in die Irre zu führen: »Where the streets have wrong names…« Landhotel Leonorenwald: Restaurant, Sauna, Solarium. Eine schmocke Schönheit von klinischer Perfektion inmitten der Tristesse. Es wird am Ende alles aussehen wie im Westen, einschließlich der perfektionierten Geschichtslosigkeit.  Auf dem Weg nach Wismar führt uns eine Baustelle mitten in Klütz auf eine Umleitung und in die Irre. Düstere Gehöfte, einsamste Bauten, in deren Nähe das graue Vieh vor dem naßkalten Wetter Schutz sucht unter Bäumen, denen der Ostseewind schon längst das letzte Blatt hinweggefegt hat. Verlassenes Land, so scheint es. Wir brauchen keine verdrehten DDR-Karten, um die Orientierung zu verlieren. Da tut sich plötzlich mitten in der Wildnis eine kleine Neubausiedlung auf, funkelnagelneue Einfamilienhäuser aus

hanseatisch-rotem Ziegelstein, und aus den Butzenscheiben fällt ein urgemütliches Licht auf die blütenweißen Staketenzäune, vor denen die Kinder auf munter lackierten Rädern herumkurven. Die reschen Mütter stehen in guter Ruh dabei, denn sie wissen die Kühlschränke vollgepackt mit Milchschnitten, die Männer treu und stark, denn sie stecken in des Volkes ehrlichster Haut: dem Blaumann. Das wird uns ständig begegnen. Es wächst nichts. Entweder verkümmert es, oder es wuchert. Das ist im Westen kein Deut anders. Da, wo permanent die Zeit totgeschlagen wird, kann sich nichts mehr in ihr entwickeln. Dieser Tage hat man in meiner Heimatstadt das Verwaltungsgebäude einer Versicherung abgerissen, weil sich Absichten und Pläne verändert haben. Nun baut man an derselben Stelle einen neuen Palast mit Selbstbeteiligung der Versicherungsnehmer. Der abgerissene war eben fünfundzwanzig Jahre alt, und keiner von denen, die feierlich den alten Grundstein plünderten, war sich der Peinlichkeit bewußt, daß ihr Stolz, der Zeit wieder einmal ein Schnippchen geschlagen zu haben, nichts weiter war als eine verheerende Niederlage ihres eigenen Wesens. Die Kunst des Reisens wird sein, sich zurückfallen zu lassen, die Wahrnehmung aus dem stetig vorantreibenden Fluss zu nehmen, sich zu verlangsamen. Paul Theroux trifft auf seiner Reise durch Ozeanien in der Einöde des australischen Nordens Tony, einen aus Kent stammenden Strandläufer. Der sagt: »Ich finde immer, daß man fast alles tun und fast überall hingehen kann, wenn man´s nicht eilig hat.« Wie soll das gehen? Wir sind nicht wie Chatwin auf den Spuren der songlines der Aboriginies, nicht wie Theroux in einer klapprigen peruanischen Bergbahn unterwegs auf dem Weg nach Patagonien oder in einem Faltboot auf Rundkurs um TaoTao, wir stehen an einer Weggabelung bei einer Haltestelle an einem alten Wartehäuschen, grau verputzt, ein fensterloses Loch mit einem Giebeldach und dem Straßenschild »Ausbau« daran. Ein hellblauer Trabant passiert uns eiligst. Es gibt noch immer eine Wirklichkeit, die es nicht mehr gibt.

Wir sind in Boltenhagen gelandet. Familienbad und Ostseeperle am Strand der Mecklenburgischen Kornkammer, des Speckwinkels, hier materialisiert sich der Kontrast: einerseits ein Bauboom von exklusiven Appartements, Bungalows und Hotels, zwischendrin alte, abgewrackte DDR-Ruinen, Volksgenesungs- und Ertüchtigungsheime. Am Ende wird die Küste gleichgemacht sein von Greetsiel bis Stettin: das Land der tausend Satelittenschüsseln. Es wird Abend. Die Bewölkung reißt auf, läßt gelegentlich die Sonne durch, kleine Stücke blauen Himmels. Das Licht nimmt dem Land ein wenig von der Härte und der Trostlosigkeit. Zwischen Klütz und Wismar führt die Straße direkt an der Mecklenburger Bucht vorbei, die hier Wohlenberger Wiek heißt. Kein Mensch da. Die Ostsee scheint unberührt seit tausenden von Jahren. Ein stählernder Rettungsturmes aus DDR-Tagen steht rostend am Strand wie ein vorsintflutliches Tierskelett. Mit dem Abend kommt eine große Müdigkeit, eine innere. Reisen beginnt nicht von einem Tag auf den anderen. Man muß sich dareinfallen lassen wie in eine Rekonvaleszenz.

INSELBEWUSSTSEIN Ein wunderbarer Kaffeeduft durchzieht den Frühstücksraum. Alles ist nagelneu, blitzsauber und vollkommen korrekt. Vor dem Fenster liegen zwei Kümos an der Mole, das morgendliche Sonnenlicht blitzt durch Ladebäume, verliert sich in den stumpfen Scheiben der alten Lagerhäuser, und ein wolkenloser Himmel spannt sich über die Wismarer Bucht. Das Hotel neben dem alten Wassertor ist tadellos. Wir haben einen

erholsamen Schlaf hinter uns, das Personal ist freundlich, und wahrscheinlich haben wir gleich für zwei Nächte gebucht, weil ein Hotelzimmer nach westlichem Standard so risikolos vertraut ist wie das Innere unseres Wagens: mobile Heimat. Es ist der 2. Oktober. Morgen ist Vereinigungstag. Auf der Titelseite der OSTSEE ZEITUNG finden wir den Gedenkstein wieder, dem wir am Vortag auf dem Priwall begegnet sind: »Nie wieder geteilt«. Davor steht eine vierköpfige Familie, die mit den Rädern Urlaub an der Ostseeküste macht und schon mehrfach den einstigen Todesstreifen überquert hat. Der Familienvater meint: »Inzwischen spürt man kaum Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen. Die Menschen sind hüben wie drüben gleich.« Im Inneren des Blattes treffen wir auf die Fähre, mit der wir gestern über die Trave gekommen sind. Eine Redakteurin hat den Kapitän und einige Fahrgäste nach Deutschlands Vereingung gefragt. Die Antworten sind sehr unterschiedlich, geprägt von persönlichem Erfolg und Mißerfolg, von Emotionen und ihrer Geschichte, vor allem aber von einer erstaunlich realistischen Sicht der Verhältnisse. »Die neuen Freiheiten – gut und schön. Ich kann sie nicht nutzen«, sagt eine arbeitslose Friseuse. Und: »Deutschland teilt sich jetzt anders.« Es ist offensichtlich, daß sich der Osten zum Westen hin entwickelt. Es ist ein Prozeß in Gang. Ihn als Osmose zu bezeichnen, ist vornehme Verniedlichung. Ihn als Raubzug zu denunzieren, ist Ideologie. Ein Vakuum füllt sich mit der Luft, die ihm am nächsten ist. Selbst wenn sie stinkt. Wie soll sich über Nacht eine Kultur entwickeln aus einem Staat, in dem, wie der Dichter Günter Kunert beklagte, »die Partei einen wütenden Kampf gegen alles führte, was sie als ›Psychologismus‹ denunzieren konnte; gegen Freud, gegen die Psychoanalyse, gegen die ›bürgerlich-dekadente‹ Literatur, gegen jegliche Kunst überhaupt, in der sich individuelle Psyche ausdrückte. Sie schuf auf diese Weise eine geistige Wüstenei.« [Günter Kunert, Der neue Mensch blieb der alte, MERIAN-DDR-Extra, S. 114] So ist nun kaum etwas da, was Bestand hat. Der Rest eines kulturlosen Staates assimiliert sich zu einem Staat der Unkultur. Laß uns miteinander spielen, sprach die Maus zur Katze. Es geschieht nicht mehr, als daß sich das Antlitz des Pantoffel-Kapitalismus ein wenig stärker konturiert. Mit dem vereinigten Deutschland wird das Ende menschlicher Evolution bald erreicht sein. Die Ostler haben es vor Augen – und letztlich nicht anders wollen können. Unterwegs in einem Flecken namens Redentin ist ein Graffito an einen Glascontainer gesprüht: »Deutschland verrecke!«  Die Insel Poel ist keine Insel. Vor mehr als zweihundert Jahren hat man den Meeresarm, der Festland und Insel trennte, an seiner schmalsten Stelle mit einem Damm überwunden. Sommers lohnt sich die einstündige Fahrt mit einem Schiff vom Wismarer Hafen nach Kirchdorf auf Poel, ansonsten kann man nach zwanzigminütiger Autofahrt auf dem Damm stehen, der den Meeresarm teilt. Es ist wunderbarstes Seewetter. Ein frischer Wind zeichnet eine spielerische Dünung auf das dunkle Wasser. Zuweilen steigt ein Vogel aus den Binsen am Ufer auf. In den Salzwiesen steht Vieh, und am Horizont sind die Kräne des Wismarer Hafens erkennbar. Darüber ziehen malerische Wolkentürme hinweg wie das halbe Jahr über Polen oder Holland hin. An solchen Orten zu solchen Momenten entschlüsselt sich das Paradoxon der

Zeit. Den steten Wind, die Schwärme von Gänsen in der Luft, das sanfte Plätschern des Wassers am Ufer, das hat es immer gegeben. Das Kreischen der Möwen verändert sich nicht. Aber das eiserne Gelände über einem Düker frißt der Rost, obwohl man offensichtlich unzählige Male versucht hat, ihn totzupinseln: NIVEA VISAGE. Poel liegt wie eine Scholle in der Mecklenburger Bucht, flach und von Wasser umgeben, ein abgeschiedenes Stück Land, auf dem man eine Nähe zur Natur besitzt, die den Metropolen fremd ist, ein Verhältnis zur Zeit, das seit je von den Gesetzmäßigkeiten des Meeres abhängig ist, eine Sicht der Dinge, auch und gerade der politischen, die aus der Distanz zu den Zentren der herrschenden Meinungen lebt. So weit ab zählt das Wesentliche – und das ist allemal das Alltägliche. Poel ist zweifellos eine Insel, davon beißt auch der kurze Damm keinen Faden ab, aber dem Reisenden könnte dort womöglich jenes Bewußtsein verwehrt sein, das ihn auf genuinen Inseln aus der geophysikalischen Kontinuität löst, die doch stets vorgibt, eine der Wirklichkeit zu sein. Ihm könnte die Zäsur der Passage fehlen, der Schritt an Bord, die Dauer der Überfahrt, die Prozedur der Ankunft und am Ende die Abhängigkeit von der Gnade des Meeresgottes, auch wenn es nur der Allmächtige der Wismarer Bucht sein mag. Kirchdorf, der Hauptort, liegt in der Mitte der Insel und dennoch am Wasser, am nördlichen Ende eines Fjords, der Kirchsee. Auf dem Trockendock liegen zwei alte Kähne, ein paar auswärtige Segler haben im Hafen festgemacht, einige Touristen flanieren, aber noch ist es Herbst auf Poel, die neuen Zeiten stehen noch aus. Die Männer auf dem Motorkutter Seewolf fangen Dorsch, das lohnt sich wohl noch, gibt aber nicht mehr so viel Geld. »Vor der Vereinigung wars besser. Kam man besser aus. Aber man muß sich mit dem Arsch nach der Decke…« Eigentlich ist es eine wunderbare Umbruchzeit, alles existiert nebeneinander, die heruntergekommene, mehrfach gestrichene Wellblechhalle, Krönings Fischbaud: »Hier Essen und Trinken oder Mitnehmen«, das klobige Angebermotorboot Monique aus Wismar. Die Utopie ist vielleicht nicht die Zukunft, wäre vielleicht die perfekt provisorische Gegenwart. Der Wasserschutzpolizist auf Poel kommt mit einem Dienst–Golf gefahren. Er ist Wasserschutzpolizist ohne Boot. Macht sozusagen »Binnendienst«. Wenn nötig, ruft er ein Schiff von Wismar her. Ohne danach gefragt zu sein, entschuldigt er sich für den schlechten Zustand der Straßen, erklärt die hohe Arbeitslosigkeit, da ist nur wenig Landwirtschaft, kaum Tourismus, die großen Fischkutter lohnen sich nicht mehr, werden zu Sportbooten umgebaut. Die alten LPGs sind geteilt und privatisiert, es waren Pläne da für die komplette Promenade, am Ende aber doch keine Investoren. Es sind jene vorauseilenden Entschuldigungen auf das Anspruchsniveau derer, an deren Geld man zu kommen hofft. Daß so wenig geschehen ist, kann er nicht als Chance begreifen. Glaubt er denn, der Tourismus wäre eine andere Wirklichkeit als das übliche Theater der Unwirklichkeit? Im Verkehrsverein Poel vernehmen wir dieselbe Sprachregelung. Ein junger Mann erklärt das neue Modell. Der Verein ist quasi privatisiert. Von der Gemeinde bezahlt, aber nicht kontrolliert. Ich frage ihn, ob er ein Poeler ist. Er zeigt das Lächeln des gemeinsamen Verständnisses. Natürlich nicht, heißt das. Er kommt aus Schleswig–Holstein. Ist mächtig stolz auf das autonome Modell,

schwärmt von Innovation und Expansion, verspricht großzügigste Hotelneubauten mit Indoor–Golfanlage, Bogenschießschule, Kunstrasen–Tennis und so fort, entschuldigt sich am Ende ebenfalls gehorsamst: im Moment seien leider etwa neunzig Prozent der Übernachtungsmöglichkeiten Privatquartiere. Bei Paul Virilio finde ich folgendes Zitat: »Die Zeit ist nützlich, wenn sie nicht genutzt wird, behauptet die östliche Weisheit. Gilt dies nicht auch für den Raum, diese ungenutzte natürliche Größe der Ausdehnung einer unbekannten und oftmals ignorierten Welt?«  An der nördlichen Küste der Insel liegt der Ort »Schwarzer Busch«. In der Nähe einer ultramodernen Kurklinik findet sich unter Bäumen die »Gedenkstätte Cap Arkona«, die an ein grauenvolles Geschehen erinnert. In den letzten Kriegstagen beschossen britische Bomber in der Neustädter Bucht drei Schiffe, unter ihnen die Cap Arkona, auf denen sich Häftlinge aus dem KZ Neuengamme befanden. 7000 Menschen fanden den Tod, 128 von ihnen wurden auf der Insel Poel angeschwemmt und sind bei der Gedenkstätte beigesetzt worden. Das Ehrenmal für die Menschen, die Opfer des Nationalsozialismus gewesen und zuletzt Opfer ihrer Befreier geworden sind, besitzt eine vertraut stalinistische Ästethik. Vor der Stele liegt ein verwelktes Blumengesteck mit einer roten Schärpe: »Zum ehrenden Gedenken – PDS Landesverband Mecklenburg–Vorpommern«. Auf einer Tafel werden die Ereignisse im Mai 1945 geschildert, und die armen Teufel, die eine apokalyptische Zeit hinter sich hatten und angesichts der Ostsee vielleicht eine lächerliche Hoffnung im Herzen, werden ungefragt als Widerstandskämpfer bezeichnet: einhundertachtundzwanzig Widerstandskämpfer. Das ist eine Lüge. Vor allem aber eine obszöne Inbesitznahme der Würde der Umgekommenen. Eine klassische Okkupation der Seele zum Zwecke ideologischen Vorteils.

Diese Art der Lüge ist es gewesen, die am Ende dem System keine Chance gab. Diese Art Lüge, die übrigens niemandem wirklich genutzt hat, allenfalls der Partei, sie hat die Solidarität der Menschen aufgefressen, denn sie wurde zur Lebenslüge eines ganzen Zeitalters, schlich sich gewaltsam in jede Biographie und wendete sich zuletzt am schärfsten gegen die, die sie wissentlich verbreiteten: »Den Sozialismus in seinem Lauf, halten weder Ochs noch Esel auf!« Die DDR ist eine Diktatur gewesen, weil die Angst geherrscht hat. Und an erster Stelle in den Herzen der Herrschenden. Die Ostsee am Schwarzen Busch. Eine Möwe steht auf einem Felsen in der Brandung. Die Wellenkämme. Die Wolkenberge. Die Horizontlinie. Das Meer besitzt ein kosmisches Maß, dem wir allenfalls noch in der Betrachtung des Sternenhimmels begegnen. Und wenn wir einen Ozean in wenigen Stunden überfliegen, betrügen wir nicht nur unsere Wahrnehmung, sondern wir flüchten vor uns selbst.  Unterwegs kommt uns ein älterer Herr entgegen. »Fotografieren Sie das alles«, sagt er und deutet auf eine morbide Minigolf-Anlage. »Ehe es sich verändert.« Ich weiß nicht recht, wie er das meint, aber er ist einer von denen, die stets ihr ganzes Leben auf der Zunge mit sich herumtragen. Aus welchem Grunde auch immer. Kommt mir vor wie eine biblische Plage. Er ist Jahrgang 1918. Von Achtunddreißig bis Fünfundvierzig bei der Marine. Bis zum Schluß Geleitzüge gefahren. Noch im Mai 45 von Ostpreußen nach Schleswig-Holstein, drüben in der Mecklenburger Bucht einen Torpedo-Flieger abgeschossen. Die größte Flüchtlingsrettungsaktion der Weltgeschichte. Nach dem Kriege Maschinenbau. In den Sechzigern eine Fabrik aufgebaut für 200 Millionen. 1969 feierlich eröffnet. Mit reichlich Prominenz damals. Weit über tausend Angestellte. Heute nur noch achtzig. Wird abgewickelt. Es ist, denke ich, ein Leben in Widersprüchen. Aber es ist eines. »Die Demokratie«, sagt er dann ohne eine Spur von Ironie, »ist eine Hure.« Wahrscheinlich tragen wir ihm einen recht verständnislosen Gesichtsausdruck an. »Es wurde höchste Zeit für die Vereinigung«, verrät er mit lehrerhaftem Ton den letztgültigen Grund für den bedenklichen Lebenswandel der Dame Demokratie, »und zwar für den Westen.« Es folgt eine der Kunstpausen, zu denen nur die fähig sind, die sich im Besitz der vollkommenen Wahrheit wissen. Wir sind tatsächlich gespannt. »Im Westen«, sagt er, »bedrohten Überkapazitäten die Wirtschaft. Sie mußten dringend ihre Überschüsse loswerden. Brauchten also den Osten als Mülleimer.« Punkt. Erst jetzt schaue ich ihn genauer an. Der Mann ist bald achtzig Jahre alt. Sein Körper scheint trainiert, sein Gesicht besitzt ein gewisses Ebenmaß, in seinen Augen findet sich eine wache Jugendlichkeit, aber sein Blick ist unruhig, streift über die Minigolf–Anlage, springt den Weg hinauf, den er gehen wird, begegnet unseren Blicken für kurze Momente: stählern, wie man so sagt. Mein erster Gedanke: Niemand kann absolut unrecht haben. Dann aber tun sich tausend Fragen auf. Wie klug sind die Herrschenden des Ostens gewesen, das Volk der Arbeiter und Bauern vor Überkapazitäten zu verschonen? Der

Krieg wird nirgends objektiv beschrieben, weil seine Geschichte sich ausschließlich aus den Berichten derer speist, die ihn überlebt haben. Scheint das womöglich auch für diejenigen zu gelten, die das System der DDR »überlebt« haben? Es gilt wahrscheinlich für jede Art der Geschichtsschreibung. Glaubt so einer, was er sagt? Ich stelle nicht eine Frage. Wir reden noch eine Weile, wie man so redet. Dann geht er. In sein Ferienhaus am Schwarzen Busch.

GEGENSTROMSCHWIMMANLAGE An der Nordspitze der Insel werfen wir in Gollwitz einen flüchtigen Blick auf die Baustelle, wo das INSELHOTEL POEL – SPORT UND FREIZEITANLAGEN aus den Viehweiden gestampft wird. Eine Tafel kündet von der Zukunft, die der junge Schleswig-Holsteiner im Verkehrsverein herbeigewünscht hat: Schwimmbad mit Gegenstromschwimmanlage, Fitneßraum, Beach-Volleyball, Indoor-Golfanlage, Golfakademie, Bogenschuß– und Pistolenarmbrustschießanlage, Bogenschießschule, Kunstrasen–Tennisplätze (1 Platz mit Ballmaschine), Tennisschule, Zielgolfanlage, Driving-Ranch, Freiluftbogenschußanlage mit internationalen Wettkampfmaßen. Welch eine Sprache, was für eine Welt! Da stehen lauter Wörter auf der Tafel geschrieben, denen die Inselbewohner noch niemals begegnet sind. Und dahinter, so werden sie denken, wird sich nicht nur eine andere, sondern eine bessere Wirklichkeit verbergen. Der Begriff der virtuellen Wirklichkeit wird in der Öffentlichkeit modisch auf neuere Technologien bezogen und häufig genug mit dem distanzierenden Spott der Unwissenden bedacht: insbesonders in der Öffentlichkeit des Feuilletons, welches doch noch immer meint, es bilde nicht nur Meinung ab, sondern auch aus, es gestalte nicht nur einen inneren Diskurs, sondern Wirklichkeit. Dabei ist doch alles, was wir nicht unmittelbar erleiden, virtuell. Das Fernsehen sowieso, jedes kulturell noch so korrekte Buch, besonders natürlich die Welt des Feuilletons, die zu dreiundachtzig Prozent Fragen beantwortet, die außerhalb ihrer Hemisphäre nicht vorkommen. Der Tourismus, der sich nun auf die Insel Poel fressen wird, ist in stärkerem Maße eine virtuelle Wirklichkeit als jede Computeranimation. In den ersten Kinovorstellungen sind die Menschen außer sich gewesen. Die Kraft der Imagination war noch immer ein Gewinn für die Persönlichkeit, für ein gesundes Maß an Subjektivität. Die skurrilen Spielfelder aber, die für eine entwurzelte Schicht in den Inselsand betoniert werden, drohen dagegen, das Bewußtsein der Menschen ernsthaft zu verletzen, die bislang trotz aller historischer Wechselfälle und Widersprüchlichkeiten zu wissen glaubten, wo der Sinn und das Maß der menschlichen Existenz zu finden sein könnte. Am Ende aber ist jede Absicht real, jede Phantasie, die mich umtreibt, obwohl sie sich niemals verwirklicht. Und jedes Foto, das Johann schießt, gerinnt im Augenblick des Entstehens zu einer virtuelle Wirklichkeit. 

Auf dem Rückweg nach Wismar. Ein hoher Himmel spannt sich lichtblau und still über diese Welt. An ihrem Rand passieren Wolkenberge das Festland wie eine malerische Flotte. Das Vieh steht reglos in den Weiden, ein Traktor kriecht auf einem endlosen Feld hinter den Horizont und zurück, frißt eine dunkle Spur in die Erde wie ein irre gewordener Käfer.

In der DDR hat es alles, was Bedeutung besaß, doppelt gegeben: Währung, Läden, Landkarten und Moral. Heute ist es hier kaum anders, wirtschaftlich, ideologisch und sozial. Nur wird heute suggeriert, es wäre möglich, von der einen Seite auf die andere zu wechseln. Und wenn dereinst die Golfer am Strand von Gollwitz versuchen, den kleinen Ball in das kleine Loch zu schlagen, werden ihnen die Inselbewohner bei Gelegenheit über die schräggestellten Schultern schauen und nicht wirklich wissen, was mit der Wirklichkeit geschehen ist.  Ein schwarz gekleideter, comichaft uniformierter Vertreter eines privaten Sicherheitsdienstes durchstreift die Wismarer Innenstadt, demonstriert Präsenz, trägt den Aufnäher SECURITY mit derselben Naivität, die sein Blick besitzt, mit dem er unter den Passanten ungeniert nach Straftätern fahndet, in den Gassen der Fußgängerzone nach Fluchtwegen. Als aber vor dem Eingang eines Sporthauses eine Funkstreife hält, verliert er doch die hoheitliche Haltung, schaut mit großen Augen, wie dem Polizeiwagen zwei richtige Vollzugsbeamte entsteigen und ihn keines Blicks würdigen. Ein Depp in der Nähe

brüllt unablässig in die Fußgängerzone: „Morgen ist Feiertag, morgen machen wir einen drauf!“ Auf dem Kopfsteinpflaster des Wismarer Marktes stolpern zwei Mädchen mit InlineSkatern voran. Sie sind nach der Wende geboren. Besitzen kein Bewußtsein mehr von dem, was der Arbeiter- und Bauernstaat gewesen ist. Werden im Laufe der Jahre allenfalls sagenhafte Geschichten aus den alten Zeiten hören, die wie Kriegslegenden sind: subjektive Geschichtsschreibungen, die immer dem Feudalismus des Überlebens unterworfen sind. Der Wismarer Markt liegt im wunderbaren Licht der Herbstsonne. Die beiden Wendekinder mit den Skatern stolpern ihrer ungewissen Zukunft entgegen. Es ist eine Übergangszeit und wird lange eine bleiben. Das zeitigt Härten, aber auch den Charme einer disparaten Gesellschaft. Die Utopie der egalitären Volksgemeinschaft ist ja erst vor einer historischen Sekunde verstorben. Am Abend essen wir in einem gutbürgerlichen Restaurant am Wismarer Markt. Es ist alles, wie es sein soll. Diese Art der Kultur ist leichthin bezahlbar, wenn man sie sich leisten kann. Die Kultur des Mangels dagegen erfordert Kreativität und wirkliche Souveränität. Eine Dame erscheint mit einem jungen Mann, der offensichtlich, das ergibt sich bereits aus beider Körpersprache, die Position des Abhängigen innehat. Sie nehmen am Nebentisch Platz, bestellen und parlieren. Dann irgendwann piepst in ihrer Handtasche das Handy. Bis an unseren Tisch und in unser Gespräch hinein wird augenblicklich eine rigorose Taktlosigkeit spürbar. Es mag ja sein, daß jemand unbedingt erreichbar sein muß. Er könnte sein Handy für einen kurzen Informationsaustausch nutzen, wie man sich bei Tisch diskret die Nase schneuzt. Die Dame aber zelebriert ihre Bedeutung zehn oder fünfzehn Minuten lang mit charmant durchdringender Stimme, und es ist nicht allein die Lautstärke, sondern vor allem ein veränderter Gesprächhabitus, der das Klischee sozialer Machtausübung erfüllt und Primatenverhalten verlangt: der Adlatus mit davonfliehenden Blicken und verlegenen Handbewegungen in der Rolle des Rangniedrigen vor dem Schreibtisch der Behörde oder angesichts des Vorgesetzten. Mir kommt der alte Mann in den Sinn, den wir tagsüber am Schwarzen Busch auf der Insel Poel getroffen haben. Er mag mit den Ideologien jongliert haben, wie es die Mehrzahl der Menschen aus der Not tat, die sie zwang, sich als verfügbare Volksmasse zu begreifen, aber er hat den Eindruck hinterlassen, einer derjenigen zu sein, die sich über Gebühr arrangiert haben. Der junge Mann unter dem Faschismus als tauglicher Soldat, der am Ende sein Überleben nicht als Schicksal, sondern als sportlichen Erfolg zu begreifen scheint, der Erwachsene offensichtlich mit derselben hybriden Leichtigkeit einem System gedient, das mit imperialer Entschlossenheit den Antifaschismus zur Ideologie verkommen ließ. Er war bei der Marine, und es ist ihm augenscheinlich gelungen, bis zuletzt oben zu schwimmen. Was hätte er sich auch abwickeln lassen sollen? Was nützte es, ihm deutlich zu machen, daß der Kleingolfplatz auf dem Weg in sein Ferienhaus kein Foto wert ist, weil die heruntergekommene Anlage eine allzu willfährige Metapher wäre? Spät im Hotelzimmer. Bayern schlägt Gladbach 2:1 im Pokal. Nachrichten aus einer anderen Welt. Ein weiterer Grund des Reisens ist, denke ich, unter der Suche nach der Wirklichkeit Bruchstücke aufzufinden, die zu einem selbst gehören.

FRÜHSTÜCKSGESPRÄCHE Die Metapher sagt, der Stammtisch spiegele die Befindlichkeiten der Gesellschaft wider, wenigstens die ihrer einfachsten, in der Regel nur zahlenmäßig überlegenen Angehörigen. Es ist aber nicht der Stammtisch, sondern der Frühstücksraum. Wenn vielleicht nicht jeder, so aber doch der unseres Hotels in Wismar. Das morgendliche Szenario scheint einen unverwüstlichen Bestand zu besitzen. Es ist derselbe Blick auf den Wismarer Hafen wie am Tag zuvor. Ein Damenmieder mit verstärkten Problemzonen, das die C&A-Reklame heute offeriert, ist dasselbe in allen Tageszeitungen der Republik. Die Botschaften des Senders für den ganzen Norden fallen seicht wie das Licht des frühen Herbsttages auf Wabenhonig und Aprikosenmarmelade. Wir haben diese Beständigkeit wohl gewünscht, als wir für zwei Nächte buchten. Um uns diese fürchterlich engen Dialoge, gespeist von den unausrottbaren kleinbürgerlichen Ängsten, die in aller Regel in Unverschämtheiten auswuchern. »Das sehe ich auch nicht ein…« »Das habe ich nicht nötig…« Nichts von dem, was die Schwiegermutter am linken Nebentisch sagt, ist falsch, aber alles durchtränkt von diesem widerlich unbegründeten Dünkel des Alters. Als wenn es schon ein Verdienst wäre, fünfundsiebzig Jahre lang nicht unter den Bus geraten zu sein. An allen Tischen nörgeln die alten Damen über das Essen. »Der Kaffee ist stark…« »Der Käse ist trocken…« »Die Brötchen sind aufgebacken…« Wahrscheinlich, weil es daheim ihr Ressort ist. Womöglich ihr einziges. Die Dame am rechten Tisch mit dem Topfhut und den baumwollenen Handschuhen scheint von einer vornehmeren Sorte. »Hast du diese Marmelade gehabt?« fragt sie ihren Mann. Er grunzt. »Hast du nicht? – Lecker.« Nach einer Weile fragt sie: »Was für ein Datum ist heute?« »Der dritte Oktober.« Vereinigungstag. »Die Butter ist abgelaufen«, sagt sie und wirft das Päckchen mit elegantem Schwung in den Aschenbecher. Die Vereinigung des Volkes ist vollzogen. Der bleibende Riß geht durch die ganze Republik, teilt sie in diejenigen, die niemals Butter essen, und die, die im Frühstücksraum über die Butter nörgeln. Johann legt das Messer beiseite und schaut mit einem Gesicht aus dem Fenster, als habe er eben die Currywurst vom Lübecker Markt das zweite Mal verspeist. »Was dieses Land dringend braucht«, sagt er, »ist eine Hungersnot.«  Oberhalb von Poel umfängt die Halbinsel Wustrow das Salzhaff, an dessen nördlichstem Punkt das Ostseebad Rerik liegt. Auf der schmalen Landzunge, die Wustrow mit dem

Festland verbindet, findet sich am Vereinigungstag die stille Harmonie der bürgerlichen, ideologiefreien Normalität. Lediglich die Nachrichten im Autoradio sprechen von Feierstunden und Festtagsreden in München und Berlin. Die Ostdeutschen haben in aller Regel für ihr Leben genug an verordneten Festivitäten hinter sich. Sie ziehen es vor, bei Kaiserwetter mit dem silbergrauen Audi 80 auf die Landenge bei Rerik zu fahren, um die funkelnagelneuen, edelstählernen Parkautomaten zu füttern, auf der anderen Seite der kleinen Straße am funkelnagelneuen Kurkartenautomaten für drei Mark und fünfzig die Kurabgabe für Tagesgäste zu entrichten – Automat wechselt nicht! –, ehe sie den Strand betreten oder zum Pavillon hinaufklettern, der von der höchsten Düne aus einen Blick gewährt auf die unwiderstehliche Gleichförmigkeit des Meeres. Hier braucht man niemanden, der Parkscheine oder Kurkarten kontrolliert: das Volk der Schafe zahlt. In dem, was die einfachen Menschen wollen, haben sie sich noch nie unterschieden. Das Volk, in dessen Namen hüben und drüben Politik gemacht und Historie vollstreckt worden ist, hat nie einer gefragt. Die Demokratie ist eine Hure. Fürwahr. Und der Sozialismus nach DDR-Format war eine altbackene, nörgelige Ehefrau. An der engsten Stelle der Landzunge ist die Halbinsel Wustrow durch ein rostendes Gitter vom Rest der Republik abgetrennt: »Lebensgefahr. Betreten strengstens verboten. Munitionsbelastetes Gebiet. Bundesvermögensamt Rostock.« Ein verseuchtes Naturschutzgebiet, ein vermintes Reservat für seltene Wasservögel: welche seltsame Allianzen ergeben sich aus den verqueren Zeitläuften. Der alte Kontrollpunkt der Nationalen Volksarmee dient heute dem Bundesvermögensamt zur Sicherung von materiellem wie ideellem Besitz, windschief, bröckelnd, skurril. Vor der Tür des Postens eine grüne Matratze für den Schäferhund, eine Kette, ein Blechnapf. Militärische Anlagen sind von höchster Beständigkeit, sind selten von einem Wechsel des Systems betroffen. Der zivile Wächter steckt sich eine Pfeife an. Das Klischee und die Tristesse setzen sich in einen wunderbaren Kontrast zu den ausgeplanten Landschaften vor diesem Ende der Welt: eine Wohnmobil-Siedlung am Ufer des Salzhaffs, postmoderne Laternen wie eine prähistorische Botschaft auf das Land gestreut, Abfallbehälter von Langnese wie in Berchtesgaden oder am Kölner Hauptbahnhof. Am Kiosk unter dem kompletten Sortiment demokratischer Errungenschaften die Zeitschrift SUPER–ILLU, deren »aktuelles Stimmungsbarometer« zum Vereinigungstag auf die Frage »Was freut Sie am meisten an der Einheit?« als häufigste Antwort bekommt: »Die Reisefreiheit.« Das ist verständlich, denn die Reisefreiheit ist ein wichtiges Merkmal der Demokratie. Und sie ermöglicht so wunderbare Phänomene wie den Tourismus und das Frühstücksgespräch.

KLEINE ZEICHNUNGEN Auf einer Wiese neben dem Kühlungsborner Wohnmobilhafen stehen bunte Drachen im Himmel, scheinen mit den Haufenwolken zu ziehen, die von Holland kommen. Die Ostsee ist von blaugrüner Stille. Am Strand ein linker Schuh. Auf der Promenade probt ein junges Fräulein eine Theater-Rolle, ist vermutlich das Käthchen von Heilbronn, deklamiert

selbstvergessen die wohlgesetzten Worte auf die See hinaus, derweil ihre Freundin auf der Bank in der Sonne liegt und souffliert.  Am Rand von Heiligendamm ein Plattenbau. Die Farbe blättert. Die Hinterfront lückenlos von Satellitenschüsseln besetzt: das verschusselte Land. Hier wird noch eine Menge Farbe blättern. Kaum einen guten Kilometer weiter hat sich an der See in idyllischer Lage schon der Geist der Spekulation in den feudalen Bauten des neunzehnten Jahrhunderts eingeschlichen, eine zuckerbäckerne Variante von Hausbesetzung: von vornehmer Eiseskälte. Ausgangs des Ortes an der Straße nach Bad Doberan eine mecklenburgische Rarität: kilometerlang ein bezaubernd archaischer Wald. Innehalten in Nienhagen im Hotel Nienhäger Strand. Auf den ersten Blick ein schlichter Durchgangsort. Zwischen Straße und Strand jedoch eine riesenhafte Wunde, aus der gesichtslose Neubauten hervorwuchern, kalkweiß an leblosen Straßenzügen stehen. Es fehlen nur noch die Parkautomaten. Und die Menschen. Hier werden nur Touristen wohnen. Nichts wächst, nichts entwickelt sich, nichts als kalkulierte Wirklichkeit. Das Elend der Architektur wird hier so beschämend sichtbar wie allenthalben in den Fußgängerzonen und Schlafstädten der Republik. Es mag in der zweiten Häfte des Jahrhunderts eine Menge funktionaler Innovation gegeben haben, dazu durchaus bemerkenswerte Gestaltungen öffentlicher Räume, aber es scheint die Fähigkeit verloren gegangen zu sein, ein Haus zu bauen, in dem der Mensch im Einklang mit sich selbst leben kann, und das des Betrachters Auge nicht irritiert oder beleidigt. Geblieben ist allein das betonierte Bestreben, bloß nicht in Verdacht zu geraten, einer Tradition verpflichtet zu sein. Vielleicht entspringt das Elend der modernen Architektur dem verdrängten Bewußtsein ihrer Protagonisten, daß man ein Haus als Wohnraum kaum anders gestalten kann als in der Form, die sich über Jahrhunderte entwickelt hat.

Unser Hotel liegt direkt am Nienhagener Holz, ein Wald aus engstehenden, glatten Stämmen, der an der unterspülten Küste abbricht, den die Zeit und der Wind in bizarren Formen hat wachsen lassen, und das Abendlicht gibt ihm eine blaugrüne, unwirkliche Färbung, die den Namen erklärt, den ihm die Menschen gaben: Gespensterwald. Eigentlich bedeutet Reisen immer wieder die Suche nach den archaischen Orten, die von keiner Absicht okkupiert sind, unausgebeutet sich selbst genügen, und die Faszination, die von ihnen ausgeht, der Zauber, der uns die Wahrnehmung sediert, entspringt der Erinnerung an unsere kosmische Heimat. Es ist die Rückkehr in die Einfachheit, aus der wir stammen: der Wind und die Wolken, das Meer und die Wüste, der Wald, die evidente Bewegung eines Flusses. Es ist der wiederkehrende Abschied von dem mythischen Ort, von dem wir dereinst aufgebrochen sind.  Ein gnädiger Sprühregen verhüllt am Morgen nach dem Vereinigungstag die Warnemünder Promenade, ein Vorzeigestück schon zu DDR-Zeiten. Wo gestern bei Feiertagswetter die republikanischen Volksmassen ein Defilee zu Ehren von Backfisch, Softeis und Pommes frites vollzogen, verlaufen sich heute nur die Spaziergänger, die wir von allen Inseln, von allen Stränden, von den Schattenseiten des Wetters kennen, deren Gesundheit unverwüstlich ist wie der Ostfriesennerz, die Mentalität von goretexener Atmungsaktivität und Undurchlässigkeit, Menschen mit der medical correctness: man kann kein schlechtes Gewissen haben, man kann nur falsch gekleidet sein. Und es ist immer ein Lehrer unter ihnen. Ihre Attraktivität bezieht die Warnemünder Promenade am ehesten aus den ältesten Gebäuden, den bürgerlichen Villen, dem alten Leuchtturm. Dazwischen liegt wie ein gestrandetes Raumschiff vom fernen Planeten der Phantasielosigkeit das Hotel Neptun, feiert mit einer eckigen, riesigen Fünfundzwanzig auf den ungezählten Balkonbrüstungen seine epochale Historie, suggeriert aus den zahllosen Fenstern einen demokratischen Blick auf die Ostsee und ist doch heute wie vor einem Vierteljahrhundert ein feudalistischer Ort: die Doppelzimmerpreise beginnen bei dreihundertsiebenundfünfzig Mark.

In bester Lage ein windschiefer Pavillon von apokalyptischer Häßlichkeit. Ein Türke verkauft dort Kebap, ist sofort nach der Wende von Bremen gekommen, hat dort alles aufgegeben, weil er hoffte, auf einen Zug aufspringen zu können, der ihn goldenen Zeiten entgegenbringt. Der Zug ist im feinen Sand von Warnemünde steckengeblieben, immer wieder befristete Pacht, divergierende Interesse, die um das Sahnestück an der Promenade intrigieren, und »als Türke biste der letzte Dreck. Kommst noch nach den Arbeitslosen und den Negern.« So sieht ein Stück Wirklichkeit jenseits der schmucken Fischerboote im Warnemünder Hafen aus, wo es fangfrischen Fisch, metallicfarbene Disney-Luftballons und ein Geschäft für Schmuck und Uhren gibt, das hier Gold & Zeit heißt. An solchen Orten gibt es keine andere Wirklichkeit als die touristische.  Auf der Fahrt in die Rostocker Innenstadt geraten wir in einen Stau. Auch der Reisephilosoph erwartet einen gewissen Grad der Mobilität, sozusagen von Berufs wegen, kommt nicht auf die Idee, daß er selbst der Stau ist, schaut unruhig auf einen Plattenbau, an dessen Stirnseite ein gigantisches Sonnenblumenmosaik von der Fröhlichkeit des sozialistischen Wohnungsbaus zeugt, fragt sich doch allen Ernstes, was das Schicksal stop and go mit ihm vorhat, da lenkt es seinen Blick auf eine schlichte Hinweistafel am Straßenrand: Kunsthalle Rostock. Joseph Beuys. Kleine Zeichnungen. Auf dem Parkplatz, auf dem Weg in die Halle, die ihre Bezeichnung zurecht trägt, da sie dereinst zum Lob des rechten Winkels erbaut worden ist, hat sich der Stau unversehens aufgelöst. Zu besichtigen sind in großzügigen Räumen kleine Zeichnungen in großzügigen Rahmen und Passepartouts, die, wie wir später in der Ostsee-Zeitung lesen dürfen, »liebevoll geschnitten« sind. Des Meisters Zeichnungen umspannen den Bogen eines halben Menschenlebens, weniger inhaltlich, eher chronologisch: von 1936 bis 1972. Es sind Notizzettel mit Dahingeworfenem, Skizzen, Kritzeleien, Impressionen, wie sie produziert werden in einem halben Kunsterzieherleben, einem halben Telefonistinnen-Dasein. Diese aber sind aufbewahrt für die Nachwelt und gehorchen einzig der Ästhetik eines feudalistischen Kunstbetriebs, der Macht des Wortes, und natürlich, der Faszination des Ungenierten. Des Kaisers neue Bilder. Allein die Besprechung der Ausstellung in der Ostsee-Zeitung entlarvt den Leim, mit dem die Werke unter die liebevoll geschnittenen Passepartouts geklebt wurden: »›Sonne am Frühstückstisch‹ fängt mit der Tektonik die Charakteristik einzelner Gefäße ein, die Hochbeinigkeit der Eierbecher, den Willen der Teekanne, die Gemütlichkeit der Teetasse. Durch alles verwebende Linien sind sie zu einem Mikrokosmos gefügt.« Mahlzeit. Ein Atheist hat im Besucherbuch notiert: »Kugelschreiber auf Papier (kariert/holzfrei)«

EIN GROSSES GLÜCK Auf dem Weg in die Rostocker Innenstadt wird die Normalität der Wohnblocks gelegentlich durch Abrißlücken unterbrochen, die wie die Trümmergrundstücke der Nachkriegszeit wirken. Wir parken in der Nähe einer Brandmauer, an der nur noch die zerfressenen Rechtecke getünchten Putzes von den Geschichten künden, die sich in den Räumen abgespielt haben, von denen nichts geblieben ist als ein wirrer Trümmerberg, auf dem wie ein sattes Raubtier ein Bagger trohnt. Und in eines dieser Rechtecke hat jemand ein Graffito gesprüht: »Miethaie zu Fischstäbchen«.

In Rostock ist an diesem Tag City–Fest, eine Art Volksbelustigung mit Imbißbuden, Fahrgeschäften, Bierständen, einer Trachtenkapelle, die für einen bayrischen Kurort wirbt, und dem üblichen Sammelsurium eines Flohmarktes. Die Menschen drängen durch die Kröpeliner Straße, die Hauptschlagader der Altstadt, alltags eine der ungezählten gesichtslosen Fußgängerzonen. Wenige Schritte vor uns geht eine jungen Frau mit blonder Mähne, schwarzen Stiefeln mit Plateausohlen, Netzstrümpfen und einem Minirock. Ihr Gang signalisiert das Bewußtsein ihrer Unwiderstehlichkeit. Auf der Bühne einer Losbude, wo es Unmengen von Plüsch und Plunder zu gewinnen gilt, steht der unvermeidliche Anheizer, schnarrt seine Locksprüche in das Mikrophon, und eben, als er die Frau im Minirock wahrnimmt und sein Blick ihrem unwiderstehlichen Gang folgt, entfahren ihm wie eine versehentliche Philosophie die Worte: »Alles, was das Auge sieht, kann die Hand gewinnen.« 

Vor einem Bauzaun, der vollständig mit Plakaten tapeziert ist, die allesamt für Veranstaltungen werben, die sich der neuen Freizügigkeit bedienen müssen, steht ein alter Mann mit einem Schifferklavier und spielt Volkslieder: Musik aus einer anderen Zeit. Den Takt schlägt er mit einer Trommel auf dem Rücken, die er sich aus dem Plastiktablett einer Brauerei gebastelt hat. Sein schwarzer Anzug stammt augenscheinlich aus dem vergangenen Jahrhundert, der Zylinder besteht nur noch aus Krempe und Futterstoff. Aber seine schäbige Kleidung und die schlichte Musik treten mit dem ersten Blick in sein Gesicht in den Hintergrund. Er trägt die Züge des Glücks. Lachfalten um die wachen, blitzenden Augen und ein Lächeln des zahnlosen Mundes, das von einer lebensalten Zufriedenheit kündet. Wie sich herausstellt, ist sein Glück durchaus kein naives.

Er ist beinahe 80 Jahre alt und Zeit seines Lebens ein vagabundierender Musikant. In einem Dorf bei Schwerin hat er als Junge Schifferklavier erlernt, auf einem defekten Instrument. Konnte als einziger im Dorf spielen, hat auf Festen, auf Hochzeiten musiziert. Nun wohnt er in Grevesmühlen, fährt mit der Bahn nach Lübeck, Hamburg, Wismar und Rostock und spielt in den Fußgängerzonen der schwesterlichen Hansestädte. Zu den Zeiten der Demokratischen Republik war das Betteln verboten, weil es keine Arbeitslosen hat geben dürfen, aber ohne Arbeit war er ja nie. Hatte damals kein Körbchen am Schifferklavier hängen, sondern ein Kinder-Plastik-Saxophon von der Kirmes, in das ihm die Menschen Münzen geworfen haben, ohne daß die Staatssicherheit, die gelegentlich mit drei Mann hoch in unübersehbarer Unauffälligkeit in seiner Nähe stand, etwas bemerkt hat. Hin und wieder gab es doch Ärger, Festnahme, Verhöre, immer mal wieder eine Nacht in Gewahrsam. Wahrscheinlich hat man ihn am Ende immer wieder laufen und musizieren lassen, weil selbst ein Betonstaat seinem selbstgenügsamen Lächeln

nicht widerstehen konnte. Er scheint ein glücklicher Reisender, trägt seine Heimat stets in sich.  Unweit der Marienkirche gibt es in einer brandneuen Galerie eine »Brasserie«. Es ist dieselbe seelenlose Modernität, die uns die ganze Reise begleitet, perfekte klinische Binnenlandschaften, die aus dem Nichts entstanden sind. Am Nebentisch sitzen zwei Männer bei Literkrügen Bier, unterhalten sich so ungeniert, daß man nicht umhin kann mitzubekommen: sie sind fertig mit dem Leben. Der eine ist ein großmäuliger Lautsprecher, der andere Stichwortgeber, Jasager. Es geht um Geld, Saufen, Krankheiten, Erbschaft, »…der Alte hat hundertfünfzig Tausend liegen, aber der ist geizig.« Die Frau des Großmäuligen kommt mit den Kindern vom Einkaufen, will den Autoschlüssel. Ihr Mann fährt sie empört an, prahlt mit seinem dritten Bierhumpen und seinen Fahrkünsten: »…kann noch fahren, ich fahre super.« Die Frau kehrt sich resigniert mit den Kindern, nimmt die Bahn. »Mit meiner Alten«, sagt der Mann am Nebentisch, »ist schon lange nichts mehr.« Er nimmt einen kräftigen Schluck aus dem Glas. »Ich schlafe auf dem Sofa.«  Ich habe eine Tageszeitung gekauft. Die polnische Lyrikerin Wislawa Szymborska hat den diesjährigen Nobelpreis für Literatur zuerkannt bekommen. Ihr Gedicht »Ein großes Glück« ist abgedruckt. Es beginnt mir den Worten: »Es ist ein Glück, nicht genau zu wissen, in welcher Welt wir leben.«

© Text: Alfred Cordes – 1996 - www.alfred-cordes.de © Fotos: Johann Geils – 1996 - www.geils-heim.de