Nur einer kann gewinnen

Nur einer kann gewinnen Die Wohnung lag in der Via Ottava Società in Borzoli. Es war zehn Uhr morgens, als ich mit der Vespa in die sonnenüberflutet...
Author: Adolf Schuler
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Nur einer kann gewinnen

Die Wohnung lag in der Via Ottava Società in Borzoli. Es war zehn Uhr morgens, als ich mit der Vespa in die sonnenüberflutete Straße einbog, die ihren Namen der Gesellschaft verdankte, die hier Anfang des 20. Jahrhunderts Häuser gebaut hatte. Seit Jahren war ich nicht mehr hier gewesen. Die schmalen Balkone mit den schmiedeeisernen Geländern weckten lange verborgene Erinnerungen. Ich dachte mit Wehmut an meine Kindheit und sah meine Großmutter vor mir, wie sie mir von einem der Balkone im vierten Stock zuwinkte. Jedes Mal hatte ich die Angst meiner Mutter gespürt, es könnte das letzte Mal sein. Beim Loslaufen sah ich nach oben, meine kleine Hand winkte zurück, die andere ruhte fest in der Hand meiner Mutter. Wir überquerten den Torrente Chiaravagna. Auf dem schwankenden Holzsteg, der regelmäßig vom Hochwasser weggerissen wurde, sahen wir nach unten: ein schmutzig braunes Rinnsal. Danach gingen wir die Treppen zur Via Ramiro Ginocchio hinunter, um mit dem Bus nach Hause zu fahren. Leider bewahrheitete sich die Befürchtung meiner Mutter allzu schnell, meine Großmutter starb und ließ meinen Großvater Baciccia allein zurück. Er entschied sich, zu uns in die Via dei Servi zu ziehen, um den ganzen Tag für 35

seinen kleinen Enkel da sein zu können. Ein Segen für mich, aber auch für unsere Haushaltskasse. Meine Mutter wickelte wieder Zigarren in der Tabakfabrik, mein Vater arbeitete bei Fossati. Ihr dürftiger Lohn, Baciccias Pension und ein Kredit – jetzt konnten wir uns sogar einen Kühlschrank leisten. Einige Jahre später erfüllten wir uns einen Traum: ein brandneuer Fiat 600. Es waren die frühen Sechzigerjahre, die Wirtschaft boomte und auch die Familie Pagano wollte ihr Stück vom Wohlstandskuchen abbekommen. Triebfeder war meine Mutter. Mein Vater war eher zurückhaltend, als überzeugter Kommunist hegte er zeit seines Lebens Misstrauen gegenüber Konsum und Wohlstand. Er hatte die Illusion, Italien könnte eines Tages sozialistisch werden, nie aufgegeben. Der Mann wohnte im zweiten Stock eines Hauses ganz in der Nähe der Wohnung meiner Großmutter. Er empfing mich voller Argwohn, wie jeder alte Mensch, der plötzlich einem Unbekannten gegenübersteht, noch dazu einem Hünen von eins fünfundachtzig. Aber die Namen meiner Eltern genügten, um ihn an die schönste Zeit seines Lebens zu erinnern. Zutiefst gerührt bat er mich herein. Die Wohnung war blitzsauber, alles stand an seinem Platz. Der alte Mann pflegte sie mit Hingabe, fast schon pedantisch. Ordnung schien ihm wichtiger zu sein als alles andere. Ich fragte mich, was ihn antrieb. War es der Wunsch, die Zeit anhalten zu können? Die Angst vor dem Tod? Vielleicht war es aber auch die Furcht, die eigene Identität zu verlieren, wenn die wohlgeordneten Erinnerungen durcheinander und damit die Stützpfeiler seines Lebens ins Wanken gerieten. Wir gingen in die lichtdurchflutete Küche, wo er mir einen Platz am schlichten Esstisch anbot. Wie selbstverständlich füllte er Wasser in die Caffettiera Napoletana 36

und setzte sie auf die Gasflamme. Ich sah mich um. Neben dem Fenster hing ein Sparkassenkalender aus dem Jahre 1998. Auf der Anrichte stand das gerahmte Farbfoto einer älteren Frau mit silbrigweißen Haaren, die zu einem Knoten hochgesteckt waren. Ihr Lächeln wirkte überrascht, fast ein wenig vorwurfsvoll. »Meine Amelia, du erinnerst dich doch noch an sie?« Sosehr ich mich auch anstrengte, dieses Gesicht sagte mir gar nichts. »Im März sind es zehn Jahre, dass sie tot ist. Wenn ich morgens aufwache und sie nicht neben mir atmen höre, dann tut es immer noch weh. Nicht anders als am ersten Tag, und ich fürchte, so wird es immer bleiben.« »Das tut mir leid«, stammelte ich leise. »Amelia und deine Mutter waren Freundinnen. Sie haben zusammen in der Tabakfabrik gearbeitet, bis zum bitteren Ende 1965, als alle entlassen wurden. Danach haben sie sich aus den Augen verloren, so ist es eben, wenn das Leben einen zwingt, neue Wege zu gehen. Dabei wohnten sie sogar in der gleichen Stadt.« Er schüttelte den Kopf. »Wie leicht wird vergessen, dass wir ohne den anderen nichts sind.« Er hatte recht. Es lag nicht an den lächerlichen Kilometern zwischen Vorort und Innenstadt. Man hatte sich einfach auseinandergelebt. Erst schließen die Fabriken, dann sieht man sich nur noch ab und zu, bis der Kontakt ganz abreißt und jeder seine eigenen Wege geht. Alltag eben. Das Alter entfernt die Menschen voneinander und verurteilt sie zur Einsamkeit. Und auf die Einsamkeit folgt der Tod. »Deine Eltern«, fuhr er fort, während er das Gas abdrehte und die Caffettiera vom Herd nahm, »haben wir erstmals wieder nach deiner Verhaftung gesehen, in der Zeit, als man dir den Prozess gemacht hat.« Er hielt inne 37

und saß eine Weile gedankenverloren da. Ich hatte bei einer Demonstration eine Pistole vom Boden aufgehoben, um zu verhindern, dass sie in falsche Hände gerät. Das war alles. Leider hatte man mir nicht geglaubt, und ich landete für einige Jahre im Hochsicherheitsgefängnis. So war das in den Siebzigerjahren.« »Wenn ich dich jetzt so anschaue, kommt die Erinnerung zurück«, fuhr er schließlich fort. »Die Genossen haben sich ja mächtig ins Zeug gelegt. Rechtsanwalt Ricci hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, aber die Zeiten waren schwierig und die Richter wollten von den Beweggründen deiner Tat nichts wissen. Aber ich bin überzeugt, dass sein Druck etwas bewirkt hat …« »Das denke ich auch. Ich habe zehn Jahre bekommen, absitzen musste ich nur fünf.« »Weißt du, Bacci«, er schien etwas verlegen, »damals hat sich keiner in der Partei offen zu dir bekannt, denn niemand glaubte an deine Unschuld. Kein Mitleid mit Terroristen! Ich erinnere mich an eine Versammlung, bei der etliche Genossen die Nase gerümpft haben, als es darum ging, einen Aufruf zu deiner Freilassung zu unterschreiben. Am Ende war die Entscheidung trotzdem einhellig, die Stimme von Guido Pagano wog eben mehr als politische Ideologien.« Seine Bewegungen mochten langsam sein, doch aus seiner Stimme sprach ungebrochene Energie, dem langen politischen Kampf und dem hohen Alter zum Trotz. Er beugte sich über den Tisch, goss Kaffee ein und stellte die Kanne auf den Herd zurück. Seine Hände zitterten kaum. Es freute ihn, als ich ihm sagte, dass ich meinen Kaffee schwarz trinke. »Ich auch. Der Arzt hat mir Zucker verboten, wegen meinem Diabetes.« Dann setzte er sich und pustete in sein heißes Getränk. 38

Ich betrachtete ihn aufmerksam. Die spärlichen weißen Haare waren sorgsam gekämmt, der einstmals akkurate Scheitel gerade noch zu erkennen. Durch die dicken Brillengläser wirkten seine Augen riesig. Unzählige Runzeln gruben ein engmaschiges Netz auf Stirn und Hals, das vernarbte Gesicht war glatt rasiert. Die Arthritis hatte gnadenlos gewütet und die Gelenke deformiert, seine Hände waren knotig wie die Zweige eines uralten Olivenbaums. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen, trotz der karierten Wollsocken konnte ich die geschwollenen Fußknöchel erkennen. Der einstige Haudegen war alt geworden. Fast rührend, wie er so dasaß, mit gefütterten Pantoffeln und einer Strickjacke, die an den Ellenbogen abgenutzt war. Jetzt erinnerte ich mich wieder, zuletzt hatte ich ihn auf dem Friedhof gesehen, bei der Beerdigung meiner Mutter und später bei der meines Vaters. Beide Male hatte er in der Nähe der gesenkten Fahne der Associazione Partigiani gestanden. Mein Großvater Baciccia hatte mir erzählt, dass Olindo Grandi ein tollkühner Partisanenkämpfer war, was ihm sogar eine Auszeichnung des Staatspräsidenten eingebracht hatte. Ich wusste auch, dass er nach Kriegsende weiter aktiv war, Aufgaben und Funktionen im zivilen Bereich übernommen hatte. Sekretär eines Ortsverbands der Kommunistischen Partei Italiens, Mitglied im Zentralkomitee und schließlich Vorsitzender des Nationalen Partisanenverbands. Nicht unbedingt eine brillante politische Karriere für jemanden vom Format Olindo Grandis, einst Kopf einer der schlagkräftigsten Partisanengruppen des Widerstands. Fast gleichzeitig tranken wir unseren letzten Schluck Kaffee. Er schwieg. Er hatte es nicht eilig. Die Sonne fiel seitlich auf sein zerfurchtes Gesicht. Er ähnelte einem fossilen Reptil, das kurz vor dem Sterben noch einmal Energie tankt und dem die Sonne Trost spendet. Auf der 39

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