Vorwort I. Der Staat der Disziplin Warum der Staat ein zentraler Gegenstand der Politikwissenschaft ist

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 I. Der Staat der Disziplin . . . . . . . . . ...
Author: Swen Armbruster
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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 I. Der Staat der Disziplin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Warum der Staat ein zentraler Gegenstand der Politikwissenschaft ist

II. Der Staat als Fundament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Welche Rolle der Staat in der Politikwissenschaft der Nachkriegszeit spielte

III. Der Staat als Instrument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Warum die neomarxistische Politikwissenschaft der 1960er und 1970er Jahre auf den Staat setzte

IV. Der Staat als Artefakt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Welche Rolle der Staat seit den 1960er Jahren in der Systemtheorie spielt

V. Der Staat der Policies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Wie die Policy Analysis seit den 1970er Jahren die Staatstheorie modernisierte

VI. Der Staat als Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Die Bedeutung der institutionalistischen Wende der 1980er Jahre für die Staatstheorie

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VII. Der unverzichtbare Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Warum die Staatstheorie eine normative Angelegenheit ist

VIII. Der permanente Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Warum der Staat nach wie vor ein zentraler Gegenstand der Politikwissenschaft ist

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

IV. Der Staat als Artefakt Welche Rolle der Staat seit den 1960er Jahren in der Systemtheorie spielt

Die Tatsache, daß die instrumentelle Staatsauffassung des Neomarxismus in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts seine Prominenz im Diskurs der bundesdeutschen Politikwissenschaft einbüßte, bedeutete nicht, daß sich die instrumentelle Staatsauffassung generell in Luft aufgelöst hätte. Im Gegenteil, in ihrer systemtheoretischen Variante begann sie nunmehr um so wirkungsmächtiger die Debatten zu prägen. Die verschiedenen systemtheoretischen Diskurse entwickelten sich seit den fünfziger Jahren in einer kontinuierlichen Auseinandersetzung mit Max Weber, angefangen bei den Konzepten von Talcott Parsons bis hin zu den verschiedenen Phasen der Systemtheorie Niklas Luhmanns. Im Falle der Systemtheorie wiederum tat sich die Neue Linke wesentlich leichter, den Einfluß einer externen Theorie auf ihre Arbeiten anzuerkennen. Dies mag auf den ersten Blick merkwürdig scheinen, wenn man an den Ursprung der Systemtheorie in den USA und an die amerikanische Rezeption Max Webers durch Talcott Parsons und seine struktur-funktionale Theorie sozialer Systeme denkt. Doch ist zu berücksichtigen, daß zahlreiche Nachwuchswissenschaftler der zweiten Generation der bundesdeutschen Politikwissenschaft durch die Vermittlung ihrer akademischer Lehrer, der Gründungsväter der Disziplin, zu Studienaufenthalten in den Vereinigten Staaten gewesen waren. So wurden sie auch von den Entwicklungen der amerikanischen Political Science beeinflußt. Dazu gehörten eine Reihe der Präponenten der Neuen Linken wie Ekkehart Krippendorff,1 1 Vgl. Ekkehart Krippendorff, Die amerikanische Strategie. Entscheidungsprozeß und Instrumentarium der amerikanischen Außenpolitik, Frankfurt/M. 1970. Krippendorff war zwischen 1960 und 1963 nacheinander Fulbright-Stipendiat an der Harvard-Universität, Assistent an der Yale-Universität und Rockefeller-Stipendiat an der Columbia-Universität, bevor er 1963 Assistent an der FU Berlin wurde.

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Wolf-Dieter Narr,2 Frieder Naschold3 und Claus Offe.4 Insbesondere die Übertragung der allgemeinen Theorie gesellschaftlicher Systeme auf das politische System durch David Easton5 löste in der internationalen Politikwissenschaft eine regelrechte Konjunktur der Verwendung systemtheoretisch geprägter Begriffe aus, auch wenn diese nicht immer zu stringent systemtheoretischen Analysen gehörten. So nimmt das von David Easton entworfene Kreislaufmodell des politischen Prozesses6 im Fach fast einen ähnlichen politisch-didaktischen Rang ein wie einst die aristotelische Staatsformenlehre. Begriffe wie »input«, »output«, »throughput«, »feedback« oder »blackbox« gehören heute zum gesunkenen Kulturgut nicht nur der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Terminologie, sondern auch der allgemeinen politischen Sprache. Easton versteht das politische System als eine komplexe Menge von Prozessen, die durch die »Inputs« aus den jeweiligen Umwelten der Systeme, aber auch aus deren Teilsystemen, in das ausdifferenzierte und auf Entscheidungen ausgerichtete politische System eingegeben werden. Dort werden sie zu »Outputs« transformiert, zu Leistungen in Gestalt von Gesetzen, Personalentscheidungen, Steuererhebungen, Subventionen 2 Siehe Wolf-Dieter Narr, David Eastons Systemanalyse. Ein Königs- oder Holzweg einer allgemeinen Theorie des politischen Verhaltens, in: Politische Vierteljahresschrift 8 (1967), S. 424–444. Der Einfluss der amerikanischen Studienerfahrungen wird etwa deutlich in Wolf-Dieter Narr, Theoriebegriffe und Systemtheorie, Stuttgart 1969 (Bd. 1 von Narr/Naschold, Einführung in die moderne politische Theorie). 3 Vgl. Frieder Naschold, Systemsteuerung, 2. Aufl. Stuttgart 1971 (Bd. 2 von Narr/ Naschold, Einführung in die moderne politische Theorie). Anhand der amerikanischen Literatur erläutert Naschold in diesem Einführungswerk die Grundlagen einer kybernetischen Steuerungstheorie (S. 13ff.) sowie die Entscheidungs-, Kommunikations- und Machttheorien (S. 30ff., 78ff., 128ff.). Der Band läßt den Einfluss von Nascholds amerikanischen Studienerfahrungen (in Yale und Ann Arbor) deutlich werden. 4 Vgl. Claus Offe, Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. Aufsätze zur Politischen Soziologie, Frankfurt/M. 1972. Offe war von 1969 bis 1971 Fellow in Berkeley und Harvard. Sein Buch über die »Strukturprobleme des kapitalistischen Staates«, das nicht nur systemtheoretische Elemente, sondern auch das Disparitäten-Konzept aus der amerikanischen Soziologie adaptierte, gehörte in den 1970er Jahren zu den Standardtexten in einschlägigen politologischen Seminaren. 5 David Easton, The Political System. An Inquiry into the State of Political Science, New York 1953; ders., A Framework for Political Analysis, Englewood Cliffs 1965; ders., A Systems Analysis of Political Life (1965), 3. Aufl. Chicago 1979. 6 Vgl. ebd., S. 30 (Diagram 1: A Dynamic Response Model of a Political System).



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usw. Aus systemtheoretischer Sicht ist das politische System jenes (Sub-) System der Gesellschaft, in welchem erstens die gesamtgesellschaftlich verbindlichen Entscheidungen gefällt werden, zweitens die Entscheidungen als öffentliche Verwaltung implementiert und administriert werden, und drittens die Konflikte reguliert werden, die sich aus den getroffenen Entscheidungen ergeben.7 Vor allem durch ihre Selektions- und Rückkoppelungsfähigkeit erweisen sich politische Systeme als offene und anpassungsfähige Handlungssysteme, denen prinzipiell die Fähigkeit zur kreativen und konstruktiven Regulation von Spannungssituationen und Störungen zugesprochen wird. Ein solches systemtheoretisches Verständnis werde, wie seine Vertreter argumentieren, der Komplexität des modernen Staates und seiner Interdependenz mit Gesellschaft und Wirtschaft gerechter als ein traditionellhierarchisches Verständnis vom Staat als übergeordneter und souveräner Institution. Insbesondere sei die systemtheoretische Sicht angemessener für die Anpassung staatlicher Strukturen und Funktionen an die Herausforderungen der Gegenwart. So konzentrierte sich das systemtheoretische Verständnis des Staates auf die Lernfähigkeit von gesellschaftlichen und staatlichen Eliten in Zeiten der Reform, wie sie in den siebziger Jahren angesagt waren.8 Diese sozusagen heuristischen Eigenschaften der Systemtheorie wurden durch ihre Weiterentwicklung bei Niklas Luhmann noch stärker in den Vordergrund gerückt. Dabei lenkte er vor allem den Blick auf die Autopoiesis von Systemen. Ihr kommt eine zentrale Bedeutung zu, da Systeme die Elemente, aus denen sie bestehen, ständig selbst produzieren, und auf diese Weise eine inhärente dynamische Struktur erhalten. Luhmann selbst hat dieses selbstreferentielle Verständnis von Systemen in seinen Arbeiten über die Gesellschaft9 und das Recht,10 die Wirtschaft11

7 Helmut Willke, Die Steuerungsfunktion des Staates aus systemtheoretischer Sicht, in: Dieter Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben, Frankfurt/M. 1996, S. 685–711, 686ff. 8 Siehe Michael Th. Greven, Systemtheorie und Gesellschaftsanalyse, Darmstadt 1974. 9 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997. 10 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1993. 11 Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1988.

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und die Politik,12 die Kunst13 und die Wissenschaft14 durchdekliniert. Dabei unterschied er das politische System im Anschluß an David Easton insofern von anderen Systemen, als hier die letztverbindlichen Entscheidungen gefällt werden. Luhmann unterschied zudem zwischen dem »politischen System« und dem »Staat«; in seiner Sichtweise ist der Staat kein reales Phänomen, sondern ein gedankliches Konstrukt, das sich das politische System von sich selbst entwirft.15 So stand Luhmann dem Staatsbegriff über weite Strecken seiner Theorieentwicklung hinweg zumeist abschätzig oder ironisch gegenüber. Er hielt den Staat für eine alteuropäische Kategorie, ein Konstrukt, ein bloßes »semantisches Artefakt«.16 Dies ist von einem konstruktivistischen Standpunkt aus zwar konsequent, aber im Blick auf eine unbefangene Sichtweise problematisch, da schlichte Gegenfragen als unzulässig abgewiesen werden, zum Beispiel wie es einem »semantischen Artefakt« gelingen kann, Krieg zu führen. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn Luhmanns Ausführungen zum Staat inkonsistent sind und zwischen Scherz, Ironie und tieferer Bedeutung schwanken. Wie wenig er sich theoretisch vom Staat lösen mochte, wird allein daran deutlich, daß er sich über Jahrzehnte hinweg immer wieder mit diesem Gegenstand beschäftigte. Wenn er über Politik spricht, kommt er stets auf den Staat und die »Staatssemantik« zurück.17 Ansätze zu staatstheoretischen Reflexionen 12 Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt/M. 2000. 13 Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1995. 14 Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1990. 15 Luhmann, Staat und Politik. Zur Semantik der Selbstbeschreibung politischer Systeme, in: Udo Bermbach (Hrsg.), Politische Theoriengeschichte. Probleme einer Teildisziplin der Politischen Wissenschaft. PVS-Sonderheft 15, Opladen 1984, S.  99– 125; wiederabgedruckt in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 4, Opladen 1987, S. 74–103. 16 Da der Staatsbegriff somit zu einer historisch variablen Idee wird, ist mit Recht darauf hingewiesen worden, dass hier die Hegelsche Staatsphilosophie nachwirkt. Vgl. Klaus von Beyme, Geschichte der politischen Theorien in Deutschland 1300–2000, Wiesbaden 2008; S. 537; Arthur Benz, Der moderne Staat. Grundlagen der politologischen Analyse, 2. Aufl. München 2008, S. 61. 17 Vgl. Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, München 1981; ders., Politische Steuerung, in: Politische Vierteljahresschrift 30 (1989), S. 4–9; ders., Staat und Politik, S. 99–125; ders., Der Staat des politischen Systems, in: Ulrich Beck (Hrsg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt/M. 1998, S. 345–380; ders., Die Politik der Gesellschaft, S. 189ff.



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tauchen nicht erst in seiner posthum erschienenen Schrift »Die Politik der Gesellschaft«18 auf, die frühere Überlegungen zum Wohlfahrtsstaat und zur politischen Steuerung wieder aufgreift.19 Gelegentlich machen Luhmanns staatstheoretische Versuche unfreiwillig die Probleme deutlich, die ihm der Staatsbegriff bereitete. Es ist nicht überraschend, daß seine Theorie selbst zu einem Gegenstand ironischer Kritik wurde.20 Problematisch bleibt seine Theorie zum einen wegen ihres hermetischen Charakters, denn sie exkludiert all jene, die sich ihrem Jargon nicht anschließen. Zum anderen bleibt sie im Blick auf heutige Ansprüche der politischen Theorie insofern defizitär, als sie Fragen der Normativität a priori als irrelevant ausschließt. Während Luhmann sich mit dem Staat stets eher en passant beschäftigte, konzentrieren sich die Arbeiten seines Bielefelder Schülers Helmut Willke auf eine systemtheoretische Analyse des modernen Staates. Bereits in seinen Überlegungen zu einer »sozietalen Steuerungstheorie« glaubte er 1983 eine »Entzauberung des Staates« vorgenommen zu haben, wonach der Staat nicht mehr, wie in der historischen Realität des souveränen Nationalstaates der zweiten Hälfte des 19. und ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ein souverän handelnder und hierarchisch steuernder Akteur sei, sondern nur ein gesellschaftliches Teilsystem neben anderen, diesen nicht übergeordnet, sondern gleichgeordnet, eine Art primus inter pares.21

18 Luhmann, Die Politik der Gesellschaft. 19 Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat; ders., Politische Steuerung, S. 4–9. 20 Vgl. Thomas Michael Menk, Der moderne Staat und seine Ironiker, in: Der Staat 31 (1992), S. 571–584; Matthias Beyerle, Die Vollendung des staatstheoretischen Nihilismus, in: Der Staat 36 (1997), S. 163–187; Walter Pauly, Die Identifizierbarkeit des Staates in den Sozialwissenschaften. Ein Beitrag zur Kritik der Staatssoziologie bei Hans Kelsen und Niklas Luhmann, in: ARSP 85 (1999), S. 112–126; Klaus von Beyme, Der Staat des politischen Systems im Werk von Niklas Luhmann, in: Kai-Uwe Hellmann/Rainer Schmalz-Bruns (Hrsg.), Theorie der Politik. Niklas Luhmanns politische Soziologie, Frankfurt/M. 2002, S.  131–148. – Zu Luhmanns Staatsverständnis vgl. die Beiträge in dem Band von Marcelo Neves/Rüdiger Voigt (Hrsg.), Die Staaten der Weltgesellschaft. Niklas Luhmanns Staatsverständnis, Baden-Baden 2007; Stefan Lange, Niklas Luhmanns Theorie der Politik, Wiesbaden 2003, S. 65ff., 238ff. 21 Helmut Willke, Entzauberung des Staates. Überlegungen zu einer sozietalen Steuerungstheorie, Königstein/Ts. 1983. Siehe auch die Zusammenfassung in: ders., Ent-