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9.6 Kirche und Staat in der Gegenwart 9.6.1 Kritik der „Zwei-Reiche-Lehre“ Evangelische Kirche und nationalsozialistischer Staat Die Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 und die rasche und durchgreifende Veränderung des Staates hin zu einem totalitären und militärischen System lassen die evangelische Kirche wie gelähmt und unvorbereitet auf die neue Situation erscheinen: ● Ein Teil der Kirche, organisiert in der Glaubensbewegung „Deutsche Christen“, will in eigenartiger Umkehrung der Lehre Luthers in der Gottgewolltheit des Staates die göttliche Sendung Hitlers als Offenbarer und Heiland für das deutsche Volk erkennen. Ihre Umgestaltung des christlichen Glaubens in ein „artgemäßes, positives Christentum“ zur Verehrung eines „heldisch-germanischen Christus“ entlarvt sich allerdings bald selbst. ● Ein anderer Teil der Kirche will den neuen Staat teils freudig, teils zähneknirschend in seinem Eigenrecht akzeptieren und die aus der ZweiRegimenten-Lehre folgende Trennung der Bereiche als Gebot der Nichteinmischung in die Politik ansehen. ●

Nur ein geringer Teil der Kirchenmitglieder kann sich zum Widerstand aus christlichen Motiven entschließen und muss dabei große Hemmungen und Widerstände überwinden, da es an Vorbildern und Denkmodellen für eine christliche Verweigerungshaltung fehlt.

Karl Barth (1886–1968), der große schweizerische Theologe der reformierten Kirche, zieht das Resümee: Das deutsche Volk leidet an der Erbschaft des größten christlichen Deutschen, an dem Irrtum Martin Luthers hinsichtlich des Verhältnisses ... von weltlicher und geistlicher Ordnung und Macht.5

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Die theologische Kritik Karl Barths Barth sieht den Fehler Luthers darin, dass er den Staat zwar als Ordnung Gottes ansieht, aber versäumt, die Form dieser Ordnung vom Glauben an Jesus Christus her näher zu bestimmen. Luther stellt die Aufgabe des Staates, das drohende Chaos durch machtvolle Ordnung zu verhindern,zu stark in den Mittelpunkt und lässt andererseits die christliche Zielbestimmung aller menschlichen Macht auf Recht, Gerechtigkeit, Teilhabe und Wohlfahrt aller Bürger zu unkonkret. So ist es möglich, dass sich auch der Unrechtsstaat auf ein angebliches Eigenrecht beruft und alle Einmischungen aus Glaubensmotiven ablehnt. Staatliche Anordnungen können so als ebenso gottgewollt und für den Christen verbindlich angesehen werden wie die Leitlinien des Evangeliums. Karl Barth bleibt daher nicht dabei stehen, den Staat als gottgewollt anzusehen, sondern begründet ihn vom Ziel alles christlichen Handelns, von der Herrschaft Jesu Christi her. Deshalb fordert er, den Staat daran zu messen, inwieweit er seiner Aufgabe, durch Frieden und Recht in der menschlichen Gemeinschaft auf Christus hinzuführen, gerecht wird. Die christliche Begründung des Staates sollte also nicht – wie bei Luther – aus der Bewahrung der Schöpfung nach dem Sündenfall abgeleitet werden, sondern mit dem Blick nach vorne aus seinem spezifischen Beitrag zur Erlösung und Befreiung der Menschen auf Christus hin.

Der Auftrag des Christen im Staat nach Barth Dieser Ansatz klingt zunächst so, als wolle Barth den Staat christlich vereinnahmen und einem kirchlichen Diktat unterstellen. Das ist jedoch nicht der Fall. Auch Barth erkennt die Eigenständigkeit staatlich-politischen Handelns gegenüber dem Glauben an, aber er will keine völlige Abkoppelung zulassen. Der Auftrag des Christen im Staat ist nicht, sich den Regeln des politischen Spiels anzupassen und mitzumachen, bzw. sich als Christ herauszuhalten. Es geht darum, als Christ eine Politik zu unterstützen, die staatliche Ordnungen so beeinflusst, dass sie dem Reich Gottes ähnlich werden. Der Christ soll seinen Maßstab der Beurteilung von politischen Entscheidungen, ob sie dem Frieden Jesu Christi dienen oder ihn stören, furchtlos in die Diskussion einbringen.

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Barths entschlossene Proklamation des christlichen TotalitätsanReich Gottes spruchs in der Kampfformel von der „Königsherrschaft Christi“ gegenüber dem sich totalitär gebärdenden Staat rüttelte viele Menschen aus ihrer Lethargie auf und half, in der Bekenntnissynode von Barmen 1934 eine klare Gegenposition (eines Teils) der evangelischen Kirche gegen den Nationalsozialismus zu finden. Entsprechend beschreibt Barth Christengemeinde Christengemeinde und Bürgergemeinde als zwei konzentrische Kreise mit einer gemeinsamen Mitte: dem Reich Gottes.Der Christengemeinde als dem engeren Kreis fällt die Aufgabe zu,den Bürgergemeinde weiteren Kreis auf die gemeinsame Mitte hin zu orientieren. Damit ist auch klar, dass ein christliches Engagement für den Staat enden muss, wo sich dieser auf ein ganz anderes Zentrum hin orientiert, wie es im Hitler-Faschismus der Fall war. Aus dem himmlischen Reich Gottes strahlt das Licht des Evangeliums in die irdische Kirche hinein.Von dort soll das Licht der Erkenntnis in den politischen Raum ausstrahlen. Der Staat kann nicht zum Reich Gottes werden,aber er kann ihm ähnlicher oder unähnlicher sein; hier liegt das Betätigungsfeld der Christen im Staat und in dieser Weise des Analogieschlusses geschieht auch die Urteilsbildung der Christen in politischen Fragen: Die Christengemeinde ist Zeuge dessen, dass des Menschen Sohn gekommen ist, zu suchen und zu retten, was verloren ist. Das muss für sie bedeuten, dass sie frei von aller falschen Unparteilichkeit – auch im politischen Raum vor allem nach unten blickt. Es sind die nach ihrer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Stellung Schwachen und dadurch Bedrohten,es sind die Armen,für die sie sich immer vorzugsweise und im Besonderen einsetzen, für die sie die Bürgergemeinde besonders verantwortlich machen wird.6 Karl Barth, Christengemeinde und Bürgergemeinde

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Die „Zwei-Reiche-Lehre“ aus heutiger Sicht Kritisch ist festzuhalten, dass die Zwei-Reiche-Lehre ● so verstanden werden kann,als könne man Gottes Willen nicht nur aus dem Evangelium von Jesus Christus, sondern daneben auch aus scheinbar ewigen Ordnungen, wie Ehe, Familie, Staat usw. ablesen. Das würde aber dem dauernden geschichtlichen Wandel menschlicher Verhältnisse ebensowenig gerecht, wie der verändernden Kraft des christlichen Glaubens; ● oft zusammen mit einem patriarchalisch-autoritären Staatsverständnis auftritt und die Rolle des Christen eher als die eines loyalen Staatsdieners denn als eines aktiven Staatsbürgers oder Politikers beschreibt. So würde einer falschen passiv-konservativen Haltung der Christen Vorschub geleistet; ● oft dazu gedient hat, den privaten als religiösen und den öffentlichen als weltlichen Bereich darzustellen. Wird diese Unterscheidung akzeptiert, so ist Religion „Privatsache“ und der Glaube kann bei politischen Entscheidungen keine Rolle mehr spielen. Das macht es Politikern zu leicht, religiös begründete, moralische Ansprüche an den Staat zurückzuweisen. Ein entscheidendes Verdienst der „Zwei-Reiche-Lehre“ kann man auch heute noch darin sehen, dass ● in ihr die entscheidende geschichtliche Erfahrung gespeichert ist, wie zerstörerisch sich jeder Versuch einer totalitären Durchsetzung auch der selbstlosesten Glaubenshaltungen auswirken muss. „Ein-Reich-Lehren“, vom Führerstaat bis zum religiösen Fundamentalismus, sind auch in der Gegenwart eine gefährliche Bedrohung der Menschheit; ● sie dem Staat eine christliche Zielbestimmung gibt und so keine unangefochtene Eigengesetzlichkeit der „Staatsräson“ zulässt.Für den Christen entsteht so aus seinem Glauben ein Maßstab zur Beurteilung und Mitgestaltung politischer Entscheidungen; ● der Christ durch sie einen Auftrag zum politischen Engagement aus seinem Glauben heraus erhält. Die Unterscheidung der Mittel macht ihn realitätsund politikfähig, denn sie eröffnet ihm die Möglichkeit zum Kompromiss.

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9.6.2 Die Evangelische Kirche im demokratischen Staat Auch nach 1945 blieb die Verhältnisbestimmung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zum Staat weithin in den Bahnen der Zwei-RegimentenLehre Luthers, auch wenn sich die Voraussetzungen zunehmend änderten. Für Luther war die Verbindung der beiden Regimente deshalb noch relativ unproblematisch, weil sich die damalige Obrigkeit in Gestalt der Landesfürsten auf ihr Christ-Sein ansprechen und verpflichten ließ (s. 9.5.2). Ganz anders stellte sich das Problem in einem den Christen gegenüber feindseligen Staat. Karl Barth suchte die Lösung in der Forderung nach bewusster politischer Einflussnahme der Christengemeinde bis hin zum aktiven Widerstand (s. 9.6.1). Eine neue Problemlage ergibt sich, wenn die Christen ihre Stellung in und gegenüber einem demokratischen,aber weltanschaulich neutralen Staat finden und festlegen müssen. ● Deutlicher als früher ist nun zwischen dem politischen Engagement von einzelnen Christen und der Aktivität der Kirche im politisch-gesellschaftlichen Bereich zu unterscheiden. Die Vielfalt gesellschaftlicher Interessen und politischer Überzeugungen spiegelt sich auch in der Kirche wider, sodass ihren Stellungnahmen oft ein langer und komplizierter innerkirchlicher Meinungsbildungsprozess vorausgehen muss. ● Darüber hinaus verlieren die Kirchen in dieser Gesellschaft immer mehr an verbindender und verbindlicher Kraft für den Einzelnen, was sich auch in steigenden Austrittszahlen bemerkbar macht. ● Die Kirche wird den einzelnen Christen dazu auffordern und ihn darin bestärken, seine persönliche politische Verantwortung als Bürger im demokratischen Staat wahrzunehmen und darin auch eine Verpflichtung zu sehen, die ihm aus seinem christlichen Glauben erwächst. ● Die Kirche als Institution wird auf jeden Fall dann selbst politisch Stellung zu beziehen haben, wenn sie in Wahrnehmung ihres „Wächteramtes“ die Menschenwürde und die Menschenrechte durch den Staat massiv bedroht sieht.

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Schwieriger ist es, die Rolle der Institution Kirche im Alltag des demokratischen Staates zu definieren. Grundsätzlich kann die Kirche nicht warten, bis sie ein ,Nein‘ sprechen muss, sondern sie muss die Entwicklung mitdenkend begleiten und dabei deutlich machen, wie christliche Verantwortung zu ihrer Korrektur und Beeinflussung wahrgenommen werden kann. 7 EKD-Denkschrift

Entsprechende Stellungnahmen zu gesellschaftlichen und politischen Fragen werden zumeist in Form von „Denkschriften“ in die Diskussion eingebracht,die vom Rat der EKD verantwortet werden.Diese Denkschriften sind von der staatlichen Seite als Meinungsäußerung eines Verbandes zu verstehen, der sein Recht in Anspruch nimmt, sich an der allgemeinen gesellschaftlichen Diskussion und Willensbildung zu beteiligen. Zum anderen will die Kirche mit Denkschriften aber auch ihrem eigenen umfassenden Verkündigungs- und Sendungsauftrag gerecht werden und den Gläubigen Anhaltspunkte für ihre Meinungsbildung geben. In ihrer grundsätzlichen Denkschrift von 1985 „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie“ begrüßt die EKD diese Staatsform zwar nicht als einzig christliche,aber doch dem Glauben angemessene,weil in ihr der Staat keine letzte und absolute Autorität über den Menschen anstrebt. Die freiheitliche Demokratie bietet die Möglichkeit, die Wahrung von Freiheit und Menschenwürde und die Förderung von Gerechtigkeit und Frieden weiterzuentwickeln. An diesem Prozess will sich auch die Evangelische Kirche konstruktiv beteiligen.

9.6.3 Die Prinzipien der katholischen Soziallehre Die katholische Soziallehre hat nicht das Verhältnis der Christen zum Staat als Hauptthema, sondern versteht sich als Beitrag, den katholische Christen aus ihrem Verständnis von Mensch und Gesellschaft heraus in die Diskussion um eine menschenwürdige Ordnung der Gesellschaft einbringen können. Die vielfältigen Inhalte sind in den Sozialenzykliken8 der Päpste seit 1891 festgelegt. Diese Schreiben enthalten eine große Zahl von – zeitbedingten – Einzelaussagen zu sozialen Problemen,lassen sich aber auf vier Grundprinzipien zurückführen.

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