Von der Westmark nach Weimar

Barbara Beßlich Von der ›Westmark‹ nach Weimar Friedrich Lienhards Weltanschauungswanderungen und »Deutschlands europäische Sendung« im Ersten Weltkr...
Author: Sofie Schubert
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Barbara Beßlich

Von der ›Westmark‹ nach Weimar Friedrich Lienhards Weltanschauungswanderungen und »Deutschlands europäische Sendung« im Ersten Weltkrieg

Friedrich Lienhard – der Elsässer, der 1887 nach Berlin ausgezogen war, um Theologie und das Leben zu studieren, schließlich aber dort das Fürchten erlernte, vor dem Moloch Großstadt und der Moderne floh, sich Los von Berlin sagte und die Heimatkunst mitbegründete – lebte von 1903 bis 1906 zurückgezogen im Thüringer Wald.1 Literarische Frucht dieser selbstgewählten Waldeinsamkeit waren Gesammelte Monatsblätter, Beiträge zur Erneuerung des Idealismus, die Lienhard von 1905 bis 1908 in sechs umfangreichen Bänden unter dem Titel Wege nach Weimar veröffentlichte.2 Der Ortsname Weimar metonymisierte hier nicht mehr nur die literarische Klassik Goethes und Schillers, sondern fungierte als umfassendes kulturelles Codewort und Heilsversprechen für die von der Moderne Gebeutelten. Lienhard gestaltet seine Wege nach Weimar zu einem Auszug aus der hochindustrialisierten Welt des wilhelminischen deutschen Reichs und orientiert sich an einem Neu-Idealismus, der zur Abwehrvokabel gegen die bürokratisierte und technisierte Gegenwart modelliert wird. Lienhards eigener Weg nach Weimar war zum einen ein Rückzug aus der Großstadt aufs Land, von der Metropole in die Provinz. Lienhard hatte Ende der 1880er Jahre in Berlin noch die Nähe zum Naturalismus Karl Bleibtreus gesucht und seine eigene Reformation der Litteratur als spezifische Erweiterung der ästhetischen Moderne und als Variation zu Bleibtreus Revolution der

1 Vgl. Friedrich Lienhard: Los von Berlin? In: Ders.: Neue Ideale, nebst Vorherrschaft Berlins. Stuttgart 1913, S. 141-148; ders.: Heimatkunst? In: Das litterarische Echo 2 (1899 /1900), Sp. 1394-1398. Zur Haltung Lienhards gegenüber der Heimatkunst vgl. differenziert Andreas Kramer: Regionalismus und Moderne. Studien zur deutschen Literatur 1900-1933. Berlin 2006, S. 43-47, 65-83. Lienhards Thüringer »Waldklause« befand sich im Dörrberger Hammer bei Gräfenroda. 2 Friedrich Lienhard: Wege nach Weimar. Beiträge zur Erneuerung des Idealismus. 6 Bde. Stuttgart 21910-1911. Die Erstauflage trug den Zusatz Gesammelte Monatsblätter. In der zweiten Auflage wurde der ursprüngliche Zeitschriftenduktus abgeschliffen. In: Franziska Bomski, Hellmut Th. Seemann, Thorsten Valk (Hrsg.): Ilm-Kakanien. Weimar am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar 2014. Göttingen 2014, S. 39-53.

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Abb. 1 Friedrich Lienhard, Fotoatelier Louis Held, o. D.

Litteratur annonciert.3 Erst nach diesen Näherungsbemühungen distanzierte sich Lienhard stilistisch und weltanschaulich sukzessive von der literarischen 3 In affirmativer Auseinandersetzung mit Karl Bleibtreus Programmschrift Revolution der Litteratur (Leipzig 1886) verfasste Lienhard seine Reformation der Litteratur, die durch Vermittlung Bleibtreus in der naturalistischen Zeitschrift Gesellschaft abgedruckt wurde. Vgl. Friedrich Lienhard: Reformation der Litteratur. In: Die Gesellschaft. Monatsschrift für Litteratur und Kunst 4 (1888), S. 145-158, 224-238. Zu Lienhards ambivalentem Verhältnis zum Naturalismus vgl. Barbara Beßlich: »Höre ich nur ›Heimathkunst‹, so vomire ich schon«. Naturalistischer Schulterschluss und poetische Rüpelei zwischen Friedrich Lienhard und Karl Bleibtreu. In: Ralf Bogner, Ralf Georg Czapla, Robert Seidel u. a. (Hrsg.): Realität als Herausforderung. Literatur in ihren konkreten historischen Kontexten. Festschrift für Wilhelm Kühlmann zum 65. Geburtstag. Berlin, New York 2011, S. 413-426. In: Franziska Bomski, Hellmut Th. Seemann, Thorsten Valk (Hrsg.): Ilm-Kakanien. Weimar am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar 2014. Göttingen 2014, S. 39-53.

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Moderne.4 Sein Bemühen war es nicht, die Moderne in der Provinz zu etablieren, sondern die Provinz als Rückzugsort von der Moderne zu pflegen.5 Lienhard verstand seinen Weg nach Weimar zum anderen aber auch als einen Weg von der westlichen Peripherie des deutschen Reichs in sein geographisches und geistesgeschichtliches Zentrum. Diese zweite Deutung kompensierte dabei den eskapistischen Charakter seines Wegs von der Großstadt aufs Land. Der Weg nach Weimar begriffen als ein Weg vom ›Grenzland‹ ins ›Herzland‹ wurde so von einem Auszug aus der Wirklichkeit zu einem Einzug ins Eigentliche überschrieben. Pendelte Lienhard zwischen 1908 und 1916 noch zwischen Thüringen und dem Elsass, so übersiedelte er während des Ersten Weltkriegs schließlich endgültig nach Weimar (Abb. 1). Er nahm persönlich aber ein Stück elsässische Heimat mit nach Thüringen, denn der Hagestolz Lienhard hatte 1915 in Straßburg 50-jährig seine mittlerweile auch schon 47-jährige Jugendbekannte Maria Elisabeth Zentz geheiratet, eine Elsässerin, deren Familie mitnichten deutschnational gesinnt war, sondern im Gegenteil Lienhards reichsdeutsche Orientierung massiv ablehnte. Maria Elisabeth Zentz, die ihr Tagebuch in französischer Sprache schrieb, führte Lienhard nun heim nach Weimar. Dieses private Detail mag biographisch illustrieren, warum Lienhards Kriegspublizistik konsequent zwischen den Regionen Elsass und Thüringen geographisch aufgespannt ist. Seine Weltanschauungsliteratur operiert immer wieder mit Raumkategorien, die ein kulturelles Selbstverständnis einerseits topographisch formulieren, indem Orte zu Chiffren für weltanschauliche Positionen und geistesgeschichtliche Epochen werden (etwa in der Stabreim-Kette Wartburg, Wittenberg, Weimar).6 Andererseits werden diese Orte präpositional miteinander verbunden und so in ein dynamisches Verhältnis zueinander gesetzt. Lienhards Kulturkritik in­ szeniert sich als Wanderbewegung. Seine Wege nach Weimar implizieren ­dabei eine Teleologie, der Umzug vom Elsass nach Weimar erhält einen weltanschaulichen Mehrwert, indem er sowohl (parallel zu Carl Muths katho­

4 Vgl. Andreas Kramer: Regionalismus und Moderne (Anm. 1), S. 43-47. 5 Vgl. hierzu Meike G. Werner: Moderne in der Provinz. Kulturelle Experimente im Fin de Siècle Jena. Göttingen 2003; Angelika Pöthe: Fin de Siècle in Weimar. Moderne und Antimoderne 1885 bis 1918. Köln, Weimar, Wien 2011. 6 Lienhard organisiert die gesamte deutsche Literaturgeschichte über diese drei Orte in seiner Geschichte der deutschen Dichtung. Eine kurze deutsche Literaturgeschichte (Leipzig 31927). Vgl. Hildegard Châtellier: Réferérences culturelles au service du combat politique: Wartburg et Weimar. In: Recherches sur le monde germanique. Regards, approches, objets. En hommage à l’activité de direction de recherche du Jean-Marie Valentin sous la direction de M. Grimberg. Paris 2003, S. 449-461; dies.: Friedrich Lienhard als ungetreuer Verwalter des Weimarer Erbes? Politische Implikationen kultureller Verbiegungen. In: Lothar Ehrlich (Hrsg.): Weimar 1930. Politik und Kultur im Vorfeld der NS-Diktatur. Köln, Weimar, Wien 1998, S. 169-183. In: Franziska Bomski, Hellmut Th. Seemann, Thorsten Valk (Hrsg.): Ilm-Kakanien. Weimar am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar 2014. Göttingen 2014, S. 39-53.

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lischen Bemühungen) als Aufstieg vom ›Grenzland‹ ins ›Hochland‹ als auch als Ankunft am zentralen Ziel vom ›Grenzland‹ ins ›Herzland‹ der Deutschen gestaltet wird.7 Dies vorausgeschickt sei im Folgenden Lienhards Publizistik im Ersten Weltkrieg als Teil jenes deutschen ›Kulturkriegs‹ betrachtet, der den militärischen Kampf vier Jahre lang mit weltanschaulichen Deutungen begleitete.8 Viele Professoren und Poeten bemühten sich 1914, den Krieg zum Kampf für das ›deutsche Wesen‹ zu stilisieren. Das ideologische Konstrukt eines ›Kulturkriegs‹ zielte darauf ab, den Krieg zum notwendigen Kampf der eigenen Nation zur Erhaltung ihres geistigen ›Wesens‹ gegenüber den Gegnern zu erheben. Der Krieg sollte so durch eine weltanschauliche Weihe legitimiert werden. Der ›Kulturkrieg‹ stellte ein publizistisches Phänomen, eine »durch die moderne Presse ermöglichte« literarische Debatte dar,9 die sich häufig genug verselbständigte und mit den realen Kriegsereignissen manchmal nur noch wenig zu tun hatte. Den ›Kulturkrieg‹ bestritten nicht so sehr die 1,3 Millionen Kriegsfreiwilligen, die bis zum 1. August 1914 gezählt wurden und die ihre realen Front­ erlebnisse in Feldpostbriefen dokumentierten, sondern größtenteils Autoren, die über keine direkte militärische Kriegserfahrung verfügten. Der ›Kulturkrieg‹ war ein Phänomen der daheim gebliebenen Bildungsbürger. Sie kämpften nicht im Schützengraben, sondern sie übten ihrem Selbstverständnis nach einen ›Kriegsdienst mit der Feder‹ aus. Die Konstruktion des ›Kulturkriegs‹ griff dabei auf zivilisationskritische Deutungsmuster der Vorkriegszeit zurück. Das, woran die Zeitgenossen vor 1914 gelitten hatten, schien ihnen durch den Krieg beseitigt und wurde natio-

7 Der Begriff ›Hochland‹ war Lienhard weitaus lieber als der Begriff ›Heimatkunst‹, und so distanzierte er sich bereits früh von dem Konzept der ›Heimatkunst‹. Vgl. Friedrich Lienhard: Heimatkunst? (Anm. 1); ders.: Heimatkunst. In: Neue Ideale (Anm. 1), S. 85-93, hier besonders die neu hinzugefügte lange Anmerkung auf S. 88 f. Carl Muth wiederum hatte 1903 seiner katholischen Zeitschrift (in Anlehnung an Lienhard) den Namen Hochland gegeben und war damit aber auch in konfessionelle Konkurrenz zu Lienhard auf die semantische Deutungshoheit des Begriffs ›Hochland‹ getreten. Vgl. Maria Cristina Giacomin: Zwischen katholischem Milieu und Nation. Literatur und Literaturkritik im »Hochland« (1903-1918). Paderborn 2009, S. 109-144; Friedrich Vollhardt: »Hochland«-Konstellationen. Programme, Konturen und Aporien des literarischen Katholizismus am Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Wilhelm Kühlmann, Roman Luckscheiter (Hrsg.): Moderne und Antimoderne. Der Renouveau catholique und die deutsche Literatur. Freiburg 2008, S. 67-100. 8 Vgl. auch Barbara Beßlich: Wege in den ›Kulturkrieg‹. Zivilisationskritik in Deutschland 1890-1914. Darmstadt 2000. 9 So bereits Ernst Troeltsch: Der Geist der deutschen Kultur. In: Otto Hintze, Friedrich Meinecke, Hermann Schumacher (Hrsg.): Deutschland und der Erste Weltkrieg. Berlin 1915, S. 52-90, hier S. 52. In: Franziska Bomski, Hellmut Th. Seemann, Thorsten Valk (Hrsg.): Ilm-Kakanien. Weimar am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar 2014. Göttingen 2014, S. 39-53.

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nalstereotyp dem Gegner als Charakteristikum aufgebürdet. Der ›Kulturkrieg‹ verwandelte die selbstbespiegelnde Zivilisationskritik der Jahrhundertwende in einen Angriff gegen den Feind und ordnete auf der anderen Seite dem nationalen Selbstentwurf die sozial-kulturellen Utopien der Jahrhundertwende als eingelöste Realität zu. An die Stelle der Selbstkritik rückte der Angriff auf den Anderen und die Suggestion der eigenen Überlegenheit. Während viele ›Kulturkrieger‹ sich dabei nicht so sehr realpolitisch positionierten, sondern vielmehr Kultur, Innerlichkeit, metaphysische Tiefe, Organisation und eine spezifisch deutsche Freiheit, die schon immer will, was sie im Dienst der Allgemeinheit muss, zu vagen Kriegszielen erklärten, liegt der Befund bei Friedrich Lienhard etwas anders, der seine kulturkriegerischen Schriften immer geopolitisch zwischen dem Elsass und Thüringen konkretisiert. Und dieses geozentrische Argumentieren findet sich nicht nur in den expositorischen Kriegsschriften von Lienhard, sondern auch in seinen fiktionalen Texten.10

Mystik in Zeiten der Pest und des Kriegs Im Herbst 1914 erschien Lienhards Erzählband Der Einsiedler und sein Volk. Die auf den Oktober datierte Einleitung erwähnt explizit den in die Texte ­»hereinschwingenden Krieg[-], der uns voraussichtlich eine neue Lebensstimmung schaffen wird«.11 Die dritte Novelle erzählt Aus Taulers Tagen, blendet in das Straßburg des 14. Jahrhunderts, als der Dominikaner Johannes Tauler dort seine mystischen Lehren verkündete und seelsorgerisch tätig war. Die ­historische Erzählung kontrastiert eine als edel und weltenthoben gestaltete mystische Geisteswelt Taulers mit blutigen politischen Auseinandersetzungen. Imaginiert wird die Vorgeschichte des Judenpogroms in Straßburg: Am 14. Februar 1349 wurden in Straßburg mehr als 2000 Juden umgebracht, denen man die Schuld an der von Basel herein drohenden Pest durch Brunnenvergiftung vorwarf. Lienhards auktorial erzählter Text verfährt keineswegs antisemitisch, sondern lenkt die Sympathie deutlich auf die beschwichtigenden Absichten des Ammanmeisters Swarber, dessen Familie im Zentrum des erzählerischen Inter-

10 Zum Elsass als Thema im Vorkriegsœuvre Lienhards vgl. Wilhelm Kühlmann: Pfeffel und der Pfeffelkreis in der Perspektive eines reichsdeutschen Elsässers. Zu Friedrich Lienhards Erfolgsroman Oberlin (1910). Mit dem Abdruck von Ernst Stadlers ­Rezension (1911). In: Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann (Hrsg.): Gottlieb Konrad Pfeffel (1736-1809). Signaturen der Aufklärung am Oberrhein. Freiburg i. Br. 2010, S. 257-273; Christiane Harter-Feist: Le problème alsacien et les relations franco-allemande dans l’œuvre Friedrich Lienhard. Diss. Straßburg 1998. 11 Friedrich Lienhard: Vorwort. In: Ders.: Der Einsiedler und sein Volk. Erzählungen. Stuttgart 1914, o. S. In: Franziska Bomski, Hellmut Th. Seemann, Thorsten Valk (Hrsg.): Ilm-Kakanien. Weimar am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar 2014. Göttingen 2014, S. 39-53.

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esses steht.12 Einerseits adelskritisch und andererseits voller Abscheu gegenüber einem aufgehetzten Pöbel, gestaltet Lienhard das patrizische Bürgertum (und an seiner Spitze Swarber) sympathielenkend zu einem ›Bollwerk‹ gegen hass­ erfüllten Antijudaismus. Dass der historische Ammanmeister Swarber an Straßburgs Schutzpflicht gegenüber den Juden nicht nur aus Menschenfreundlichkeit, sondern auch aus konkreten wirtschaftlichen Überlegungen festhielt, gerät bei Lienhard eher in den Hintergrund.13 Lienhards Blick auf Straßburg als Ort der Mystik und auf Johannes Tauler als ihren Exponenten erscheint dabei in mehrfacher Hinsicht als eine kritische Parallelaktion zur Meister Eckart-Rezeption im Verlag von Eugen Diederichs. Während Diederichs in Jena eine Eckart-Edition von Herman Büttner lancierte, die durchaus antijudaistische Impulse befeuerte,14 gestaltete Lienhard die Mystik Taulers geradezu als Antidot zu jeglicher Art von Massenhysterie. Taulers Klause wird zum Schutzraum gegen die »Dämonen der Leidenschaft« und den »angestaute[n] Volkszorn«.15 Sein Plädoyer für innere Einkehr und Gelassenheit als Vorbedingung für die Selbst- und Gotteserkenntnis immunisiert seine Anhänger bei Lienhard gegen unreflektierte Gewalt.16 Während Eugen Diederichs die mittelalterliche Mystik mit Meister Eckart vor allem in Erfurt in einem präreformatorischen Umfeld lokalisierte, platzierte Lienhard auch hier wieder bewusst ein geographisches Gegengewicht. Das sei kurz an einem Textausschnitt demonstriert. Die Familie des abgesetzten Ammanmeisters Swarber ist in Straßburg am Vorabend des Pogroms in das Haus des Kaufmanns Rulman Merswin geflüchtet, einer ebenfalls historisch bezeugten Gestalt, der zu den sogenannten ›Gottesfreunden‹ gehörte, die in engem Austausch mit Tauler

12 Seltsamerweise vertauscht Lienhard hier die Vornamen und macht aus dem historischen Peter Swarber in seiner Erzählung einen Berthold Swarber. 13 Zum Judenpogrom in Straßburg aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive vgl. Alfred Haverkamp: Die Judenverfolgungen zur Zeit des Schwarzen Todes im Ge­ sellschaftsgefüge deutscher Städte. In: Ders. (Hrsg.): Zur Geschichte der Juden im Deutschland des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Stuttgart 1981, S. 27-93. 14 Hermann Büttner: Einleitung. In: Meister Eckeharts Schriften und Predigten. Hrsg. und aus dem Mittelhochdeutschen übersetzt von Hermann Büttner. 2 Bde. Leipzig  1903-1909. Bd. 1. Leipzig 1903, S. XIII-LVIII. Vgl. hierzu Justus H. Ulbricht: Durch »deutsche Religion« zu »neuer Renaissance«. Die Rückkehr der Mystiker im Verlagsprogramm von Eugen Diederichs. In: Moritz Baßler, Hildegard Châtellier (Hrsg.): Mystik, Mystizismus und Moderne in Deutschland um 1900. Straßburg 1998, S. 165-186. 15 Friedrich Lienhard: Aus Taulers Tagen. In: Ders.: Der Einsiedler und sein Volk (Anm. 11), S. 43-82, hier S. 79. 16 Bereits 1908 hatte Lienhard Johannes Tauler ähnlich besonnen gezeichnet in seiner dramatischen Skizze Tauler und der Einsiedler (in: Friedrich Lienhard: Helden. Stuttgart 21908, S. 113-116). In: Franziska Bomski, Hellmut Th. Seemann, Thorsten Valk (Hrsg.): Ilm-Kakanien. Weimar am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar 2014. Göttingen 2014, S. 39-53.

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standen. Zu dem Treffen in Merswins Haus stößt auch Tauler, und diese Zusammenkunft beschreibt der Erzähler folgendermaßen: Hier war eine andre, edlere Luft. Hier war nichts von rauhen politischen Leidenschaften. […] Die Menschen dieses stillen Kreises nannten sich ›Gottesfreunde‹; sie waren auf Erkenntnis und Herzensgüte gestimmt. Tauler erzählte, was er aus dem Briefwechsel mit seinen geistigen Freundinnen, den Nonnen Margarethe und Christine Ebner, Neues erfahren; er sprach von seinem Freund Heinrich Seuse, der am Oberrhein und Bodensee wirkte; er machte darauf aufmerksam, wie merkwürdig es sei, daß am Rhein entlang eine bestimmte Gemütsrichtung im geistigen Leben Kraft gewonnen habe, begründet von jenem berühmten Dominikaner Meister Eckehart, der vor zwanzig Jahren in Köln gestorben. In Konstanz Heinrich Seuse, in Straßburg Tauler, in Köln Eckeharts Schüler, in den Niederlanden der Prior Ruysbroeck von Groendalen – so ging es den Rhein entlang; und was in feinen Worten und zarter Predigt ausgeprägt wurde, später die deutsche Mystik genannt, das sollte sich bald hernach in der Innigkeit und Leuchtkraft der Malerei gestalten. Denn in diesen Gemütern war Poesie.17 Es ist auffällig, dass nicht nur Seuse oberrheinisch charakterisiert wird, sondern dass auch Eckart nicht (wie bei Eugen Diederichs) über seine Herkunft, sondern über seinen Sterbeort vorgestellt und somit ebenfalls für eine rheinische Topographie der Mystik nutzbar wird. Der Text suggeriert (quer zur Chronologie) eine geistesgeschichtliche Raumbewegung von Süden nach Norden, den Rhein entlang. Die Novelle ist keinesfalls strukturiert über Dichotomien, die jüdische und christliche Positionen einander gegenüberstellen, was das Thema ja durchaus nahegelegt hätte, sondern vielmehr oppositioniert Lienhard hier in diesem zu Beginn des Ersten Weltkriegs veröffentlichten Text deutsche und französische Nationalstereotype. Die adligen Figuren der Novelle, die sich bei den Juden hoch verschuldet haben und daher aus Opportunismus das Pogrom befördern, werden als französisch beeinflusste negativ gezeichnet.18 Lienhard charakterisiert hier das Französische als latent verantwortungslos und sitten­ gefährdend, eine Argumentation, die sich auch in seiner übrigen Kriegspublizistik gelegentlich wiederfindet.

17 Friedrich Lienhard: Aus Taulers Tagen (Anm. 15), S. 76 f. 18 Der Junker Ulrich, der auf ehrenrührige Weise der Tochter Swarbers nachstellt, »plauderte von Welschland. ›Es hat mir in der Papststadt Avignon äußerst wohl behagt […]. Da weiß man zu leben! Um die Papstburg herum wimmelt die Welt von galanten Abenteuern. Der Welsche ist muntrer, freier, kühner. Und man hält eine Ehe nicht gleich für gebrochen, wenn einem Ehemann eines andren schöne Frau ein Weilchen besser gefällt‹« (Friedrich Lienhard: Aus Taulers Tagen (Anm. 15), S. 50). In: Franziska Bomski, Hellmut Th. Seemann, Thorsten Valk (Hrsg.): Ilm-Kakanien. Weimar am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar 2014. Göttingen 2014, S. 39-53.

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»Deutschlands europäische Sendung« Noch im Herbst 1914 erschien Lienhards Schrift Deutschlands europäische Sendung. Zu Beginn interpretiert Lienhard dort, wie viele seiner Zeitgenossen, den Kriegsausbruch kathartisch als »Reinigungsgewitter«,19 das notwendigerweise über Europa hereinbricht und von unliebsamem Ballast befreit: »Fäulnis wird hinweggeschwemmt. In jeder hochgestiegenen Zivilisation sammelt sich Fäulnis, Luxus, Unnatur. Ist das Volksganze gesund, so bedeutet der Krieg Reinigung«.20 Darüber hinaus stellt Lienhard die These auf, dass die großen europäischen Kriege jeweils ein Epochenende bildeten oder einleiteten. Das gibt ihm die Möglichkeit, die ungeliebte Gegenwart mit dem August 1914 zu verabschieden. Der Krieg stellt für ihn den »Abschluß der letzten vierzig Jahre« dar, einer Epoche »naturwissenschaftlicher, technischer und kaufmännischer Entwicklung – einer Entwicklung nach außen«.21 Was nun aber Not tue, sei eine komplementäre innere Entwicklung, die vorzubereiten er als Aufgabe der deutschen Intellektuellen in Kriegszeiten annonciert. Neuidealistisch und kulturkriegerisch bekennt er, dass Deutschland »nicht für Sachen an sich, sondern für Ideen, die in und hinter den Sachen wirken«, kämpfe.22 Diese idealistische Ausrichtung habe Deutschland vor allen Dingen England voraus, das ähnlich wie in den Kriegsschriften von Werner Sombart, Oskar A. H. Schmitz und Max Scheler als ganz auf kapitalistische Gewinnmaximierung fixiert dargestellt wird.23 Dichotomisierte Sombart englische Händler und deutsche Helden, so formt Lienhard ähnlich schematisch antithetische Girlanden: »dort Penny – hier Blut; dort Söldner – hier Volk; dort Geschäft – hier Erlebnis! Das ist der Unterschied zwischen englischer und deutscher Kriegs­ auffassung«.24 Geschickt holte sich Lienhard für diese nationalstereotypen Hierarchien zitierend Unterstützung bei dem »Deutsch-Engländer Houston

19 Friedrich Lienhard: Deutschlands europäische Sendung. Stuttgart 1914, S. 5. Vgl. ganz ähnlich Thomas Mann: »Krieg! Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheure Hoffnung« (Thomas Mann: Gedanken im Kriege. In: Ders.: Werke, Briefe, Tagebücher. Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von Heinrich Detering, Eckhard Heftrich, Hermann Kurzke u. a. Frankfurt a. M. 2001 ff. Bd. 15,1: Essays II. 1914-1926. Hrsg. von Hermann Kurzke. Frankfurt a. M. 2002, S. 27-46, hier S. 32). 20 Friedrich Lienhard: Deutschlands europäische Sendung (Anm. 19), S. 9. 21 Ebenda, S. 11. 22 Ebenda, S. 5. 23 Vgl. die England-Kritik bei Max Scheler: Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg. Leipzig 1915; Oskar A. H. Schmitz: Das wirkliche Deutschland. Die Wiedergeburt durch den Krieg. München 1915; Werner Sombart: Helden und Händler. Patriotische Besinnungen. München, Leipzig 1915. 24 Friedrich Lienhard: Deutschlands europäische Sendung (Anm. 19), S. 17. In: Franziska Bomski, Hellmut Th. Seemann, Thorsten Valk (Hrsg.): Ilm-Kakanien. Weimar am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar 2014. Göttingen 2014, S. 39-53.

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Stewart Chamberlain«, der in deutschen Zeitungen ebenfalls »herbe Aufsätze über englische Art« veröffentlichte.25 Das negative Englandbild wertet Lienhard zugleich als eine Enderscheinung der Epoche. Englands kapitalistische Orientierung scheint »der Stimmung der jetzt ablaufenden Erdepoche überhaupt zu entsprechen«, wohingegen Deutschlands neuidealistischer Selbstbesinnung die Zukunft gehöre.26 Damit gewinnt die nationale Selbstbestimmung missionarischen Charakter über die deutschen Grenzen hinaus. Lienhard spricht von Deutschlands europäischer Sendung. Und diese Sendung erfüllt sich für ihn in der »seelische[n] Höherführung der Völker«;27 Deutschland soll zum Schulmeister des Abendlandes im Fach Idealismus avancieren. Im Selbstverständnis Lienhards amalgamieren sich hier Nationalismus und Kosmopolitismus. Ein solcher missionarischer Nationalismus verwischt autosuggestiv die Grenzen zwischen Volk und Menschheit und ermöglicht es rhetorisch, universalistische Positionen der Vorkriegszeit beizubehalten. Eine ähnliche Argumentationsweise lässt sich auch in der Kriegspublizistik von Richard Dehmel beobachten, der sein Kriegstagebuch beziehungsreich Zwischen Volk und Menschheit betitelte.28 Und Autoren wie Dehmel und Lienhard konnten in ihrer Argumentation an eine gediegene Tradition in der deutschen Literatur anknüpfen. Der Umschlag von emanzipatorischer Selbstbefreiung der eigenen Nation in imperialistische Weltbeglückungsemphase lässt sich bereits bei Schillers Marquis von Posa finden, wenn dieser Philipp II. erläutert: »Dann, Sire, wenn Sie zum glücklichsten der Welt | Ihr eignes Königreich gemacht – dann ist | Es Ihre Pflicht, die Welt zu unterwerfen«.29 Lienhard begründet seine imperiale Vorstellung von Deutschlands europäischer Sendung einerseits mit dem neoidealistischen Vorsprung Deutschlands, bei dem auch Rudolf Eucken und dessen Vorkriegsschrift Zur Sammlung der Geister eine Schlüsselfunktion zukommt.30 Superlativisch und thetisch formu-

25 Ebenda. 26 Ebenda, S. 18. 27 Ebenda, S. 14. 28 Richard Dehmel: Zwischen Volk und Menschheit. Berlin 1919. Vgl. hierzu Barbara Beßlich: »Corrector Germaniae«. Naturalismus-Kritik, Schönheitsstreben und Na­ tionalpädagogik bei Richard Dehmel. In: Jan Andres, Wolfgang Braungart, Kai Kauffmann (Hrsg.): »Nichts als die Schönheit«. Ästhetischer Konservatismus um 1900. Frankfurt a. M., New York 2007, S. 146-165. 29 Friedrich Schiller: Don Karlos III, 10, V. 3250-3252. (Letzte Ausgabe 1805). In: Ders.: Werke und Briefe in 12 Bänden. Hrsg. von Klaus Harro Hilzinger, Rolf-Peter Janz, Gerhard Kluge u. a. Frankfurt a. M. 1988-2002. Bd. 3: Dramen II. Hrsg. von Gerhard Kluge. Frankfurt a. M. 1989, S. 895. 30 Vgl. Friedrich Lienhard: Deutschlands europäische Sendung (Anm. 19), S. 19 f. Lienhard und Eucken umkreisten einander mit würdigenden Worten in den jeweiligen In: Franziska Bomski, Hellmut Th. Seemann, Thorsten Valk (Hrsg.): Ilm-Kakanien. Weimar am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar 2014. Göttingen 2014, S. 39-53.

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liert Lienhard: »Wir sind das innerlichste Volk«,31 und daraus weiß er einen hegemonialen Anspruch abzuleiten. Zum anderen argumentiert Lienhard aber auch räumlich. Den metaphorischen Übergang von der weltanschaulichen zur geopolitischen Argumentation ebnet sich Lienhard mit Hölderlin und dessen Biologisierung Deutschlands zu »der Völker heilig Herz«.32 Wie das Herz das Zentralorgan des Menschen bilde, so stehe Deutschland in Europa für ein solches Zentrum und dies sowohl machtpolitisch als auch topographisch, denn: »Deutschland ist geographisch Europas Mitte«.33 Im Unterschied zu den österreichischen Mitteleuropa-Konzepten muss Lienhard nicht en détail einen Vielvölkerstaat kulturell und politisch legitimieren, und so kann er zeitlich und örtlich weit ausgreifen. Ein universalgeschichtlicher Exkurs erläutert: »Erst hatten wir Flußkulturen: am Indus, Nil, Euphrat-Tigris, Jordan. Dann erweiterte sich der Ring zu Binnenmeerkulturen: Griechenland, Karthago, Diadochen-Reich, Rom. Dann kamen die großen ozeanischen Kulturen der Gegen­ wart«.34 Innerhalb dieser globalen Entwicklung zeichnet Lienhard Deutschlands Weg von einer »Vielheit von Kleinstaaten« zum »Großstaat« mit Ambitionen auf noch Größeres nach, denn Lienhard konzipiert Deutschland als handelndes Subjekt der Geschichte mit sozialdarwinistischem Antrieb: »Deutschland wächst, schafft, blüht aus innerem Lebensdrang: es wächst ganz von selber seinen europäischen Nachbarn über den Kopf«.35 Der Krieg wird so metaphorisch unumgänglich, und er wird naturgesetzlich notwendig »wie ein biologischer oder naturgeschichtlicher Vorgang […]. Dieser Krieg ist eine europäische Wachstumserscheinung«.36

Festschriften des Anderen: Lienhard formulierte Gedanken über Eucken und sein Zeitalter (in: Rudolf Eucken und sein Zeitalter. Langensalza 1926, S. 9-11), und Eucken wiederum zollte dem neuidealistischen Mitstreiter Respekt mit einem kurzen Gruß in: Friedrich Lienhard und wir. Dem deutschen Dichter Friedrich Lienhard zum 50. Geburtstage dargebracht von Wilhelm Edward Gierke. Stuttgart 1915, S. 68. 31 Friedrich Lienhard: Deutschlands europäische Sendung (Anm. 19), S. 25. 32 Ebenda, S. 13. Hölderlins Gesang des Deutschen mit seiner Apostrophe an Deutschland als das »heilig Herz der Völker« wird immer wieder in den nationalen Gesinnungsschriften um den Ersten Weltkrieg herum beliehen, bei Oskar A. H. Schmitz etwa eingebaut in eine gesamteuropäische Anthropomorphisierung des Politischen, bei dem Deutschland als »Herz« und England als »Haupt« der Völker erscheinen (Oskar A. H. Schmitz: Das rätselhafte Deutschland. München 1920, S. 58). Auch Stefan George alludiert in seinem Dichter in Zeiten der Wirren Hölderlins Ode, wenn er einen Erlöser beschwört, welcher dermal einst »Des erdteils herz die welt erretten soll« (Stefan George: Der Dichter in Zeiten der Wirren. In: Ders.: Das Neue Reich. Berlin 1928, S. 39). 33 Friedrich Lienhard: Deutschlands europäische Sendung (Anm. 19), S. 13. 34 Ebenda, S. 12. 35 Ebenda, S. 11. 36 Ebenda. In: Franziska Bomski, Hellmut Th. Seemann, Thorsten Valk (Hrsg.): Ilm-Kakanien. Weimar am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar 2014. Göttingen 2014, S. 39-53.

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Die Biologisierung von Grenzerweiterungen zur evolutionären Unausweichlichkeit wird dann zum einen auf den deutsch-französischen Konflikt appliziert, der als europäischer Kampf um die »Vorherrschaft auf dem Festland« begriffen wird.37 Lienhard orakelt weltgeschichtlich, dass Frankreich »zu ­einer politischen Macht zweiten und dritten Ranges herabsinken« werde, weil es an seinem Anspruch auf Elsass-Lothringen festhalte.38 Ein Ausweg für Frankreich wäre für Lienhard der Imperialismus gewesen, oder in seinen Worten: »Sie starrten unser Elsaß an, die Verblendeten, statt im Ganzen der Welt neuen Lebensspielraum zu suchen und mit Deutschland Freundschaft«.39 Zum anderen führt diese Verinnerlichung von imperialistischen Formeln am Ende von Lienhards Schrift auch zu verstiegenen Bildern, die die Lichtmetaphorik der Lebensreformbewegung mit wilhelminischen Ansprüchen auf Deutschlands ›Platz an der Sonne‹ vermischen. Nur ist die Sonne jetzt nicht mehr auf fernen Kontinenten zu suchen, sondern, so Lienhards kosmische Prophezeiung, die Völker Europas werden sich um »die Sonne Deutschlands bewegen. Und die jetzt unsere Feinde sind, werden einst eines starken […] Deutschlands Gäste und Freunde sein. Wahre Liebe ist nicht weichlich; der Sonnengott ist auch Drachentöter«.40 Solche überspannten planetarischen Tagträumereien sind bei Lienhard vor allem zu Beginn des Ersten Weltkriegs im Nachklang der Augustbegeisterung zu finden. Die mehrjährige Kriegsrealität ernüchterte dann auch Lienhards Metaphern. Was aber jenseits dieser vorwitzigen Weltherrschaftspläne bei ­Lienhard virulent blieb und immer virtuoser gehandhabt wurde, war die ideologische Kartierung des deutschen Reichs durch Erinnerungsorte und Welt­ anschauungslandschaften.

37 Ebenda, S. 12. 38 Ebenda. 39 Ebenda, S. 12 f. Dem Elsass als Zankapfel zwischen den Nationen wendet sich auch eine weitere Kriegsschrift Lienhards zu: Das deutsche Elsaß. Berlin 1914. Während Lienhard in diesen expositorisch-faktualen Schriften klar eine ›reichsdeutsche‹ Position bezieht und das Elsass als ›reindeutsch‹ verteidigt, präsentieren seine fiktionalen Texte durchaus eine breite Palette an Meinungen zur Stellung des Elsass als Grenzregion. So wird im Roman Westmark auch eine transnationale Konzeption des Elsass mit Sympathie vorgestellt, indem dort ein Elsässer Pfarrer einem deutschen Offizier im Ersten Weltkrieg entgegenhält: »Ich muß euch anklagen, ihr seelenlosen, kurzsichtigen Deutschen, und sage mit Bewußtsein ›euch‹, denn ich Elsässer, vor 1870 geboren, fühle mich jetzt als ein zwischen den Nationen zermalmter Europäer« (Friedrich Lienhard: Westmark: Roman aus dem gegenwärtigen Elsaß. Stuttgart 1919, S. 44). 40 Friedrich Lienhard: Deutschlands europäische Sendung (Anm. 19), S. 29. In: Franziska Bomski, Hellmut Th. Seemann, Thorsten Valk (Hrsg.): Ilm-Kakanien. Weimar am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar 2014. Göttingen 2014, S. 39-53.

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Geopolitik im Gedicht Dass Lienhards Umgang mit Raumangaben immer einen semantischen Mehrwert über die rein lokale Bezeichnungsfunktion hinaus transportiert, machte er bereits bei seinem weltanschaulichen Leitbegriff ›Hochland‹ deutlich. Mit ›Hochland‹ erfasst Lienhard kein konkretes Gebirge, sondern ein Ideal, das an keinen Ort gebunden ist: Such’ nicht in Südlands weißem Birkenlicht, In Nordlands Starrheit such’ mein Hochland nicht: Hochland ist überall, wo ungeschreckt Die Seele sich aus Bitternissen reckt.41 ›Hochland‹ ist zunächst ein entregionalisierter Begriff, der auf eine ideale Landschaft zielt, ein entsinnlichtes Arkadien, das nicht von freizügigen Hirten, sondern von sittenstrengen Bildungsbürgern bevölkert ist.42 Ein solches dem schnöden Alltag enthobenes ›Hochland‹ als Sehnsuchtsort und motivierender Zielbegriff konkretisiert sich für Lienhard dann in Weimar.43 Bereits vor dem Krieg separierte Lienhard mehrere Begriffsverwendungen und unterschied ­einen räumlichen, einen historischen und einen von der Wirkung her konzi­ pierten Gebrauch des Ortsnamen ›Weimar‹: Betrachte ich das Wort ›Weimar‹ nach der räumlichen Vorstellung […], so ist Weimar ein anmutiges Residenzstädtchen im Ilmtal […]. Betrachte ich dieses nämliche Städtchen nach seiner historischen Idee, so tut sich ein neues Bild auf. Hier wirkten […] unsere größten dichterischen Denker der Neuzeit: Goethe, Schiller, Herder. […] Und damit gelangen wir zu dem Gesichtspunkt, den ich hier anstrebe. Das landschaftliche und das historische Weimar sind mit all ihrer Schönheit doch nur Ausgangspunkt und Beispiel. Das eigentlich Wertvolle und Lebendige ist Weimars Wirkung. Das Wort ›Weimar‹ erhält erst – wie die Worte ›Wartburg‹, ›Sanssouci‹, ›Hellas‹ – Leben und Sinn, wenn es in jedem von uns ähnliche Kräfte erzeugt, wie sie dort lebendig gewesen. Und so bedeutet uns denn dies magische Wort nur das Verständigungszeichen für einen feinermenschlichen Zustand: und zu diesem den Aufweg zu versuchen, ist der wahre Weg nach Weimar.44 41 Friedrich Lienhard: Lebensfrucht. Gesamtausgabe der Gedichte. Stuttgart 1915, S. 222. 42 Auf Lienhards Unsinnlichkeit verwies bereits kritisch der Germanist Philipp Witkop: Volk und Erde. Alemannische Dichterbildnisse. Karlsruhe 1929, S. 220. 43 Zu Weimar allgemein als vielfach reinterpretiertem deutschen Erinnerungsort vgl. Georg Bollenbeck: Weimar. In: Etienne François, Hagen Schulze (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte. 3 Bde. München 2002. Bd. 1, S. 207-224. 44 Friedrich Lienhard: Wo liegt Weimar? In: Ders.: Wege nach Weimar (Anm. 2). Bd. 1. Stuttgart 1910, S. 1 f. In: Franziska Bomski, Hellmut Th. Seemann, Thorsten Valk (Hrsg.): Ilm-Kakanien. Weimar am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar 2014. Göttingen 2014, S. 39-53.

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Weimar wird gedeutet als Zauberformel, die den Menschen verwandelt, und als bildungsbürgerliches »Verständigungszeichen«, mit dem man sich unter Gleichgesinnten zu erkennen gibt. In der Erinnerung begriff Lienhard diese Konzentration auf Weimar auch als direkte Abkehr von einem intellektualistischen Berliner Dasein. Kulturkritisch inszeniert er die Ablösung als Raumwechsel: »Der Lebensbegriff ›Weimar‹ trat in Gegensatz zum Literaturbegriff ›Ber­ lin‹«.45 Seinem Selbstverständnis nach pflegt Lienhard damit nicht nur einen traditionalistischen Weimar-Bezug. Er bemüht sich, den Ortsnamen vitalistisch in einen mobilisierenden Code zu transformieren, der neoidealistische Innerlichkeit, der Großstadt abgewandte Stille und eine intellektuelle Selbsteinkehr signalisiert. Entgegen den eigenen Beteuerungen ist aber auch Lienhards Begriffsverwendung immer wieder geographisch und historisch konnotiert. In dem 1915 veröffentlichten Gedichtband Lebensfrucht findet sich das Kriegsgedicht An das Elsaß, das keineswegs nur die apostrophierte Grenzregion besingt, sondern beginnt, indem die jetzige Position des lyrischen Ichs lokal markiert wird: »Im Herzen Deutschlands, in Weimars Park, | Gedenk’ ich der waffenstarrenden westlichen Mark«.46 Das dreistrophige Gedicht imaginiert in der ersten Strophe die gegenwärtige Kriegssituation an der Westfront und präsentiert in der zweiten ein vergangenes Elsass, das über private Landschaftserinnerungen und kulturhistorische Reminiszenzen an Gottfried von Straßburg evoziert wird. Die dritte Strophe perspektiviert die Zukunft nach einem hier noch angenommenen Sieg Deutschlands: Wenn diese Wetter ihr Werk getan, Hebt Deutschlands reinste Sendung an: Den suchenden Völkern der ganzen Erden Ein Hort, ein heiliger Hain zu werden, Ein Land der Mitte, Ein Land der Weisheit, Land der Sitte. Dann sollst du, in funkelnden Osten hinein, Die kranzumblühte, gastliche Pforte sein; Dann führt dieselbe Straße, weiß und schön, Vom Wasgenwald bis mitten auf Wartburghöhn;

45 Friedrich Lienhard: Jugendjahre. Erinnerungen. Stuttgart 51918, S. 192. 46 Friedrich Lienhard: An das Elsaß. In: Ders.: Lebensfrucht (Anm. 41), S. 202 f., hier S. 202. Je weiter der Krieg fortschreitet, desto öfter findet sich bei Lienhard der Begriff ›Westmark‹ als Parallelbezeichnung zum Elsass. Das ist nicht nur ästhetisch der Alliteration (zu Weimar) und dem mehrfach genutzten Reim (Park/Mark) geschuldet, sondern politisch bedeutsam, da Lienhard mit diesem Begriff an einem alldeutschen Konzept partizipiert. Zum ideologischen Kontext des Begriffs ›Westmark‹ im all­ deutschen Umfeld vgl. Thomas Müller: Imaginierter Westen. Das Konzept des ­»deutschen Westraums« im völkischen Diskurs zwischen Politischer Romantik und Nationalsozialismus. Bielefeld 2009. In: Franziska Bomski, Hellmut Th. Seemann, Thorsten Valk (Hrsg.): Ilm-Kakanien. Weimar am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar 2014. Göttingen 2014, S. 39-53.

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Dann ist ein herrlich Wandern von westlicher Mark Hierher in Deutschlands Herz, in Weimars Park –47 Begann das Gedicht mit dem gegenwärtigen inneren Blick des lyrischen Ichs vom »Herzen Deutschlands, in Weimars Park« nach Westen zum Elsass hin, so schließt es gegenläufig mit einer imaginierten Wanderbewegung von Westen nach Osten, vom Elsass als »gastliche[r] Pforte« des deutschen Reichs nach Weimar, »von westlicher Mark | Hierher in Deutschlands Herz, in Weimars Park«. Eine solche Rahmung des Gedichts durch die enge Verknüpfung von Weimar und ›Westmark‹ zielte auf eine nichtauflösbare Zusammengehörigkeit der beiden Regionen. Allein – die Wirklichkeit brachte ein anderes Ergebnis. Das Elsass gehörte nach Kriegsende nicht mehr zum deutschen Reich, und Friedrich Lienhard schrieb einen Roman darüber: Westmark. Roman aus dem gegenwärtigen Elsaß. Der Text »wurde im Herbst 1916, nach einem Aufenthalt im oberen ­Elsass, zunächst als dramatische Skizze entworfen; dann in Romanform um­ gewandelt und um Weihnachten 1918 vollendet«.48 Er erschien 1919. Dem Roman vorangesetzt ist ein titelloses Gedicht in neun Reimpaarstrophen, das wiederum den Wohnort und den Herkunftsort Lienhards weltanschaulich ­miteinander verklammert. Datiert und verortet ist das Gedicht abschließend auf »Weimar, 21. November 1918« und setzt auch hier wieder nicht mit dem eigentlichen (Elsässer) Raumthema des Romans, sondern dem (Weimarer) Schreibraum des Autors ein: Weimar und Westmark – Edelgut, Bezahlt mit Geist, bezahlt mit Blut. Geistland und Grenzland, Wort und Wehr – Das Wort nehmt ihr uns nimmermehr! Und raubt ihr uns des Reiches Mark, So bleibt uns doch der Goethepark, Und neben Weimars heil’gem Hain Der Wartburg geistbelebter Stein. Die deutsche Kraft besinnt sich dort: Und starke Wehr wächst aus dem Wort. Uns aber, die wir heimatlos, Geziemt es: duldet still und groß! Das unbeseelte Reich zerbrach, Wir stehn vor aller Welt in Schmach; 47 Friedrich Lienhard: An das Elsaß (Anm. 46), S. 203. 48 So gibt es Lienhard selbst im unpaginierten Vorsatz an: Friedrich Lienhard: Westmark (Anm. 39). In: Franziska Bomski, Hellmut Th. Seemann, Thorsten Valk (Hrsg.): Ilm-Kakanien. Weimar am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar 2014. Göttingen 2014, S. 39-53.

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Nun bleibt uns aufzubaun aus Licht Ein Seelenreich, das nie zerbricht. Hier deutsche Jugend, ist die Bahn: Beseelt Neudeutschland! Fanget an! Weimar, 21. November 191849 Neben der Vorliebe für bedeutungsträchtige Alliterationen fällt hier vor allem die kompensatorische Trost-Funktion auf, die Weimar nach dem Verlust des Elsass übernehmen soll: Wenn auch die namenlos bleibenden apostrophierten Kriegsgegner »des Reiches Mark« ›geraubt‹ haben, »so bleibt uns doch der Goethepark«. Das Elsass wird als Grenzland zuständig für die militärische Wehr beschrieben, Weimar als Geistland gefasst, das über die Metonymie des »Wort[es]« als verantwortlich für die deutsche Bildung definiert wird. Während das reale Grenzland als geographisch konkretes Kriegsgebiet verloren ist, seien verinnerlichte Worte nicht von Friedensverträgen zu beeinträchtigen. Weimar wird zum Rückzugsort vor den Verlusten des Ersten Weltkriegs stilisiert, und es wird auch zur Schmiede für neue nationale Stärke erklärt. Denn die Zwillingsformel von »Wort« und »Wehr« greift die fünfte Strophe wieder chiastisch auf und formuliert die Hoffnung, dass aus dem Weimarer »Wort« wieder eine nationale »Wehr« erwachse. Dieser Wunsch nach erneuter militärischer Stärke bleibt aber vage und weit entfernt, denn das Ende des Gedichts avisiert mittelfristig innere Ziele, die »ein Seelenreich, das nie zerbricht«, der Kriegsniederlage in der Realität entgegenhalten.50 Das zu verwirklichen, delegiert der mittlerweile 54-jährige Lienhard allerdings nach 1918 immer öfter an die Jugend.51

49 Ebenda. 50 Im Roman Westmark schafft Lienhard für diesen Wunsch nach innerer Erneuerung auch die Formel vom »heimlichen Deutschland« (die im Roman, in Heidelberg von einer Figur formuliert, durchaus gewollt Allusionen an Stefan Georges »geheimes Deutschland« evoziert), wenn Lienhard eine von der Kriegsniederlage enttäuschte Figur sich sehnen lässt: »Nun hoffe ich noch auf […] das heimliche Deutschland, auf jene Großmacht des Herzens, deren Weisheit aus Märchen, Mythos und einzelnen Meistermenschen uns entgegenleuchtet« (Friedrich Lienhard: Westmark (Anm. 39), S. 199). 51 Nachdem das reale Elsass an Frankreich verloren war, blieb Lienhard nach 1918 noch eine Möglichkeit, seine beiden Seelenlandschaften weiterhin als deutsche zusammen zu denken. Und das war eine Möglichkeit, die für einen Dichter in Weimar nahelag: die Literaturgeschichte. So hielt Lienhard 1920 einen Festvortrag über Goethes Elsaß und dessen Weg von der ›Westmark‹ nach Weimar (Festvortrag gehalten am 29. Mai 1920. In: Goethe Jahrbuch 7 (1920), S. 265-301). Vgl. hierzu Thomas Neumann: »… der die idealen Triebe Ihrer Vorschläge zu würdigen weiß«. Friedrich Lienhard und die Goethe-Gesellschaft. In: Lothar Ehrlich (Hrsg.): Weimar 1930 (Anm. 6), S. 185-210. In: Franziska Bomski, Hellmut Th. Seemann, Thorsten Valk (Hrsg.): Ilm-Kakanien. Weimar am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar 2014. Göttingen 2014, S. 39-53.

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In: Franziska Bomski, Hellmut Th. Seemann, Thorsten Valk (Hrsg.): Ilm-Kakanien. Weimar am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar 2014. Göttingen 2014, S. 39-53.