Verne · Die Reise nach dem Mittelpunkt der Erde »Voyage au centre de la Terre« (Erstdruck 25. November 1864) Roman von Jules Verne (8. 2. 1828 – 24. 3. 1905)

Seine Großnichte übermittelt die hübsche Geschichte: Wie der 11jährige Knabe in seiner Heimatstadt Nantes im Sommer 1839 als blinder Passagier an Bord des Dreimasters »Coralie« geht, um als Moses nach Indien zu fahren; wie er entdeckt wird und sein Vater ihn im nächsten Hafen abholt; und wie er schließlich seiner Mutter verspricht: »Ich werde nur noch im Traum reisen.« Begeistert liest und verfolgt er Berichte von Entdeckungsreisen. Und es gibt noch viel zu entdecken und zu erforschen: die Pole und das Innere Afrikas, die Südsee mit ihren Inseln und Australien. Der Zuwachs an Informationen beflügelt seine Phantasie, lähmt sie nicht etwa; die Tatsachen geben ein tragfähiges Gerüst für seine und seiner Zeitgenossen Spekulationen ab. Als Jüngling geht er nach Paris, um auf das Geheiß seines Vaters die Rechte zu studieren. Schon bald vernachlässigt er das ungeliebte Studium und schließt sich literarischen Kreisen an. 1848 begegnet er dem hochberühmten Dumas père, dessen »Isaac Laquedem« eine der Quellen für die »Reise nach dem Mittelpunkt der Erde« ist; 1850 wird im Theâtre historique seine Verskomödie »Les pailles rompues« aufgeführt; 4 Jahre später wird er

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Sekretär des Theâtre lyrique. Mit seiner Theaterarbeit hat er wenig Erfolg – dennoch wird und bleibt das Theater eine der wesentlichen Erfahrungen seines Lebens und bestimmt in großem Ausmaß sein Vorstellungsvermögen auch als Romanschriftsteller. Daneben verfolgt er in diesem Zeitalter der Erfindungen und Entdeckungen Nachrichten über spektakuläre Forschungsergebnisse aus den Natur- und den Ingenieurwissenschaften und eignet sich sehr weitgehende Kenntnisse an. »Und sein eigentliches, noch nie so recht gewürdigtes literarisches Verdienst besteht darin, daß er als Erster […] den GroßNachweis geführt hat: wie die Errungenschaften des Technikers […] nicht nur nicht poesie-zerstörend wirkten; sondern vielmehr unerhört neue-reiche Gebiete dem Dichter eröffneten!« (Arno Schmidt). Nach weiteren Theaterstücken sowie einigen Novellen und kleinen historisch-geographischen Arbeiten schreibt er seinen ersten Roman. Die große öffentliche Anteilnahme an Expeditionsberichten und die Fortschrittsgläubigkeit der Gründerzeit, verbunden mit seinem, aus der Theaterarbeit stammenden, Sinn für effektvolle Darstellung führen ihn auf einen Weg, den er mit beispielhaftem Erfolg beschreiten wird. Und

es kommt ein Glücksfall hinzu: Der Verleger Hetzel ist, anders als viele seiner Kollegen, von den schönen »Fünf Wochen im Ballon« begeistert; er bietet Verne einen langfristigen Vertrag an, den dieser auch annimmt. Damit ist, auf der Grundlage finanzieller Sicherheit, sein Weg als Schriftsteller vorgezeichnet. 1863 erscheinen die »Fünf Wochen im Ballon«: Das französische und bald auch das Publikum in vielen anderen Ländern ist hingerissen – eine Ballonfahrt! noch dazu über unerforschte Gebiete Afrikas hinweg! geschildert in der Verne eigentümlichen Mischung aus Spannung und Belehrung! Fortan erscheint jedes Jahr ein neuer Roman. Gleich in den ersten Jahren steckt er sein literarisches Reich ab: »Die Reise nach dem Mittelpunkt der Erde« (1864), »Von der Erde zum Mond« (1865; 1870 fortgesetzt als »Reise um den Mond«, die Schilderung einer Mondfahrt mit einer Art Plüschrakete, verblüffend die vielen Parallelen zum ersten wirklichen Mondflug, erste USA-Satire), »Reisen und Abenteuer des Kapitäns Hatteras« (1866; die erste von vielen Polfahrten, hier zum Nordpol), »Die Kinder des Kapitäns Grant« (1867-68 ; Suchfahrt, meistens zu Schiff, rund um die Erde), »20 000 Meilen unter’m Meer« (1870; U-Boot-Fahrt, der Ozean als Lebensraum, auch Atlantis wird entdeckt).

Der Umschlag dieser Ausgabe (Verlag Neues Leben) zeigt sehr schön die ›Mutter Erde‹ aus Vernescher Sicht

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Die meisten Romane erscheinen in Fortsetzungen. Gerüst und Erscheinungsweise sind aufeinander abgestimmt: Die ›Handlung‹ ist meistens nicht mehr als eine Abfolge von Episoden (wo die Handlungssträhnen im ›Großen Roman‹ zu einem Gewebe verbunden werden, gibt es im Reiseroman Vernescher Prägung bestenfalls einen roten Faden). – Den Texten werden Stahlstiche beigegeben, die häufig unter Vernes Aufsicht entstehen; sie zeigen nicht nur Bildhaftigkeit des Ausdrucks und Anschaulichkeit der Texte an, sondern geben auch meisterhaft die zeitgenössische Bild- und Vorstellungswelt wieder; sie erleichtern somit dem heutigen Leser den Zugang zum Werk ganz entscheidend. Die Romane Jules Vernes sind sehr materialreich gearbeitet, ohne daß der belehrende Charakter die Leselust beeinträchtigte. Die informierenden Passagen dienen zumeist auch, als Verzögerungsmomente, der Spannungsdosierung. Manchmal allerdings, insbesondere in einigen der späteren Werke, gerinnt ihm das lustig-informative Faktengewimmel zum trockenen Katalog: die Imagination, die Qualität der poetischen Verarbeitung lassen nach – Ausverkauf aus dem Zettelkasten. – Zeitgemäß sind auch die Helden seiner Bücher: beherrschende, männliche Figuren, die denn auch eine gewisse Familienähnlichkeit quer durchs Werk erkennen lassen, umfassend und speziell gebildet, schweigsam-ruhigwürdig, mit Bart und ohne Frau, ohne gleichrangige Partner und Gegner, dabei aufrecht und hilfsbereit und meistens im

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Verborgenen wirkend. Auch in den technischen Spektakelstücken ist es stets der einzelne, der Geniales vollbringt. Der Begriff ›Teamwork‹ paßt nicht in die Vernesche Welt. Folgerichtig hat er nie einen eigentlichen Zukunftsroman geschrieben; der Versuch einer umfassenden Linienverlängerung auf gesellschaftlichem, wissenschaftlichem, technischem Gebiet wird nicht unternommen. Erfindungen haben wie Entdeckungen den Charakter des Abenteuerlichen noch nicht verloren; Mut, Kraft und Geschick sind nötig, Eigenschaften großer Einzelner mithin. In der »Reise nach dem Mittelpunkt der Erde« hat Verne einige aktuelle Themen verarbeitet: die Höhlenforschung (ein Thema, das ihn mehrfach beschäftigte, z. B. in »SchwarzIndien«, »Der grüne Strahl«, »Die Erfindung des Verderbens«, auch als »Vor der Flagge des Vaterlands« erschienen), das Leben in der Urwelt, die Geologie des Erdkörpers, insbesondere der Streit um das Zentralfeuer. Verpackt sind diese Informationen und Spekulationen in eine spannende Handlung: Von Hamburg reisen Professor Lidenbrock und sein Neffe Axel über Dänemark nach Island, steigen mit Hans, einem isländischen Führer, in den Sneffels Yökull, einen erloschenen Vulkan, ein, gelangen durch Gänge und Schächte und über ein unterirdisches Meer unter die Insel Stromboli, deren Vulkan sie auf wunderbare Weise bei einem Ausbruch ans Tageslicht zurückbefördert.

Zwei Beispiele Vernescher Hohlwelt-Phantasien: »Schwarz-Indien« (links) und »Die Reise zum Mittelpunkt der Erde« (rechts)

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Unter dieser Oberflächenhandlung lassen sich zusammenhängende Motivketten entdecken (von Arno Schmidt »Lesemodelle« genannt), deren Verfolgung dem Leser zusätzliche Reize vermittelt. Das auffälligste ist das der ›Initiationsreise‹, in dem Axel der eigentliche Held ist. »Wenn du zurückkommst, wirst du ein Mann sein …«, verabschiedet das Mädchen Graüben ihn. Sein Onkel und ›Erzieher‹ läßt ihn einiges ›entdecken‹. Beispiel: die Dechiffrierung eines verschlüsselten Textes, der Anlaß und dessen Kenntnis notwendige Bedingung für den Antritt der Reise ist. Die größten Schwierigkeiten bewältigt er selbst, gibt sich dann verzweifelt und überläßt Axel die ›Entdeckung‹ der geläufigen und leicht erkennbaren Vorwärts-Rückwärts-Vertauschung. Im Turm der Frelsers Kerk trainiert er, um ihn von seinen Schwindelgefühlen zu befreien, mit Axel das ›Treppensteigen‹ (ein aus Freuds »Traumdeutung« bekanntes Koitus-Symbol). Einer komplizierten Anweisung folgend gelingt ihnen dann das ›Eindringen in die richtige Öffnung‹. Die Reise im Erdinnern läßt sich dann als eine (Mutter-)Unterleibsphantasie lesen (›centre de

la terre‹, Mittelpunkt der Erde, läßt sich leicht als ›ventre de la mere‹, Mutterleib, verlesen); die Reise in die Vergangenheit der Erde wird hier zur Reise in die eigene Vergangenheit – die sexuelle Neugier äußert sich gern in der Frage nach dem Ursprung. Als Quelle für die seltsam-reizvolle Kulisse vermutet Arno Schmidt Eindrücke in einem Urwelt-Panorama. Sprache und Bilder deuten in der Tat darauf hin; auch die Figur des Führers dürfte diesen Eindrücken entstammen. (Das PanoramaErlebnis zeigt übrigens erneut Vernes Empfänglichkeit für künstliche Welten, wie die des Theaters.) Zu diesem Lesemodell gehören dunkle Gänge, überraschende Durchblicke, künstliche Beleuchtungen und das seltsam Arrangierte der Landschaften.

Arno Schmidt, »Trommler beim Zaren«, Karlsruhe 1966 Pierre Macheray, »Theorie der literarischen Produktion«. Darmstadt 1974.

Erstdruck in: Spektrum der Literatur. Hrsg. von Bettina und Lars Clausen. Gütersloh, Berlin, München, Wien 1975: Bertelsmann Lexikon-Verlag (Lexikothek). ISBN 3-570-08935-5. 416 Seiten. Seiten 270-271. – [Veränderte Neuausgabe:] ~ Gütersloh 1984: Bertelsmann Lexikothek Verlag. ISBN 3-570-03899-8. 416 Seiten. Seiten 252-253.

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