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SWR2 Wissen Die alte Gotthardbahn Eine Region wird abgehängt Von Helmut Frei Sendung: Dienstag, 9. Mai 2017 (Erstsendung: Freitag, 27. Mai 2016) Redaktion: Udo Zindel Regie: Maria Ohmer Produktion: SWR 2016

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MANUSKRIPT Musikakzent Erzähler: Erstfeld am nördlichen Fuß der berühmten, alten Gotthardbahn. Die Strecke galt nicht nur als eine der wichtigsten Verbindungen über die Alpen, sie war auch Herzstück des Landverkehrs zwischen Nordsee und Mittelmeer. Davon profitierte Erstfeld. Das Provinznest wuchs zu einem in ganz Europa bekannten Bahnknoten heran, mit betriebstechnischen Einrichtungen wie Lokdepot und Rangierbahnhof. Die haben nun ausgedient. Denn künftig rollen die schnellen Personen- und schweren Güterzüge nicht mehr auf steiler Strecke über das Gebirge, sondern auf flacher Trasse unten durch. Die Gotthardlinie über den Berg degradiert zur Regionalbahn und Ausweichstrecke für Notfälle. Ansage: Die alte Gotthard-Bahn – Eine Region wird abgehängt. Eine Sendung von Helmut Frei. Erzähler: Katzenjammer in Erstfeld, wo sich nur einen starken Kilometer vom alten Bahnhof entfernt das Nordportal des neuen Gotthard-Basistunnels befindet. Enttäuschung auch drüben, in der Südschweizer Gemeinde Bodio. Dort kommt die neue Untergrundbahn wieder ans Tageslicht. Die alte Strecke "oben drüber" war 84 Kilometer lang, der Basistunnel "unten durch" misst nur noch 57 Kilometer. Überall an der traditionsreichen Bahnlinie flackern Erinnerungen auf. Auch bei Eisenbahnern wie Charly Infanger. Die Gotthardstrecke ist ihm als Lokführer vertraut. Er kennt jede Kurve und auch die heiklen Stellen, wo vor allem bei schweren Güterzügen sein Können als Lokführer gefragt war: Atmo: Güterzug Charly Infanger: Grade nach Erstfeld hat es eine Stelle gegeben, die nannten wir Kupplungsfriedhof. Zuerst ist es steil, und dann geht´s in den flachen Teil über und wenn man dann nicht aufgepasst hat, hat die Lok einfach weitergezogen. Und die schwere Last war immer noch im Gefälle oder in der Steigung drinnen und dann hat es viele Zugstrennungen gegeben. Ich hab immer gesagt, einfach einen Zug über den Berg zu führen, das ist problemlos eigentlich. Aber wirklich gut zu fahren, das war eine Kunst. Erzähler: Charly Infanger hat sich entschieden, in die Führerstände von S-Bahn-Zügen im Großraum Zürich umzusteigen. Dennoch engagiert er sich nach wie vor in einem Verein, der historische Eisenbahnfahrzeuge erhält. Sie waren einst am Gotthard unterwegs und sind jetzt in den Hallen neben dem Erstfelder Bahnhof untergebracht.

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Charly Infanger: Zum Beispiel waren wir damals 250 Lokführer und heut sind wir schätzungsweise vielleicht 30, 35. Und Mitte Jahr ist auch das fertig. Der Großteil von Erstfeld war irgendwie mit der SBB verflochten. Sei es als Lokführer, Heizer, Bremser damals, auch im Rangierdienst. Und jetzt ist es einfach vorbei. Atmo: Lok fährt ins Depot Erzähler: Die Eisenbahn bestimmte das Leben in der Gemeinde Erstfeld. Ihrem Personal verdankte sie Einrichtungen wie die Musikgesellschaft, eine Bibliothek und die Gründung einer evangelischen Pfarrei in stockkatholischer Umgebung. Entlang der zentralen Gotthardstraße schossen Gaststätten wie Pilze aus dem Boden. Die meisten hatten ihre Stammgäste. In der einen Kneipe trafen sich die Bremser, in einer anderen die Angestellten der Station Erstfeld. Auch die Beschäftigten des Depots hatten ihr bevorzugtes Lokal. Das Rangierpersonal kam in der Gaststätte "Frohsinn" zusammen. Später baute Paul Jans sie zum Hotel für Eisenbahnfreunde aus. Schweizer nennen die Begeisterung für Rad und Schiene ganz unschuldig "Bahnsex": Paul Jan: Wir hatten Gäste aus zehn verschiedenen Nationen und hatten vor allem Amerikaner, Kanadier, Deutsche. Da kamen zum Beispiel Firma Sedok aus Prag, haben immer fünf Gruppen gebucht. Die kamen immer mit dem Zug, sind drei bis vier Tage geblieben, je nach Programm. Ich konnte einem Deutschen kaum ein Zimmer Richtung Bahnseite verkaufen. Hingegen die Engländer wollten immer bahnseitig die Zimmer. Also ich hatte immer zu wenig Zimmer Richtung Eisenbahn. Musikakzent Atmo: Billard in der Kantine Erzähler: Flaute in der Kantine von Amsteg, wenige Kilometer von Erstfeld und dem Nordportal des Gotthard-Basistunnels. Zwei Arbeiter vertreiben sich ihre Pause mit einer Billardpartie. Den Speisesaal für die Malocher, in dem es früher nach Schweiß, Maschinenöl und feuchtem Staub aus dem Tunnel roch, nutzt heute eine Rentnerrunde für ihren Stammtisch. Die Herrschaften müssen sich nach einer neuen Bleibe umschauen, weil die Tage der Amsteger Kantine gezählt sind und auch die Betriebsamkeit auf der berühmten Gotthardstrecke zu Ende geht: Elisabeth Tresch: Da werden uns die eleganten Züge fehlen. Die gehen dann durchs Tunnel. Je nach dem Klang weiß man: ist es ein Italiener, ist es ein Deutscher oder ein Schweizer.

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Erzähler: Elisabeth Tresch von der Rentnerrunde. Sie verkaufte ihr Hotel, das mitten in Amsteg liegt und zu den traditionsreichsten Herbergen der Schweiz zählt. Schon Goethe logierte dort. In der heißen Phase, als die Tunnelbohrmaschinen von Süd und Nord in den Berg vorrückten, buchten Gäste wohl oder übel auch renovierungsbedürftige Zimmer. Inzwischen sind die geschäftlichen Gründe für Elisabeth Treschs Eisenbahnliebe etwas überholt. Sie bevorzugt den Bus. Elisabeth Tresch: Früher mussten wir 20 Minuten auf die Bahnstation laufen. Und jetzt haben wir sie praktisch vor dem Haus. Musikakzent Erzähler: Bei Amsteg ist das Tal des Flusses Reuss, der im Gotthard-Massiv entspringt, schon ziemlich eng geworden. Eisenbahn, Autobahn und eine gut ausgebaute Verbindungstraße zwischen den Ortschaften haben sich dort breit gemacht. Südlich von Amsteg beginnt einer der spektakulärsten Abschnitte der alten Gotthardbahn. Die Züge klettern hinauf zum Dorf Wassen. Auf mehreren Etagen umkreisen sie die Kirche des Ortes, die auf einer auskragenden Bergflanke steht. Dreimal öffnet sich den Reisenden der Blick auf das Postkartenmotiv. Trügerische Idylle. Der Bevölkerungsrückgang droht an die Substanz dörflichen Lebens zu gehen. 1960 hatte Wassen fast 900 Einwohner, heute sind es nur noch knapp halb so viele. Am Bahnhof hält längst kein Zug mehr zum Ein- und Aussteigen. Busse haben die Eisenbahn auch hier ersetzt. Kirstin Schnider: Es ist ganz schlecht, von hier mit dem Bus den Anschluss von hier auf den Zug nach Lugano zu kriegen. Die Fahrpläne sind nicht aufeinander abgestimmt. Da geh ich davon aus, dass die gefunden haben, es lohnt sich überhaupt nicht darauf zu achten. Da fährt alles unten durch an uns vorbei und wir stehen dumm da. Erzähler: Kirstin Schnider, ehrenamtliche Gemeindepräsidentin des Dorfes Wassen. Im Hauptberuf ist sie Schriftstellerin. Die Liebe habe sie aus Zürich nach Wassen gezogen, aus der kleinsten Metropole der Welt ins Bergdorf, umzingelt von Verkehrsachsen. Dennoch ist Kirstin Schnider froh, dass sich ihre Landsleute in einer Volksabstimmung für den Bau einer zweiten Röhre des Gotthard-Straßentunnels entschieden. Sie votierten nicht dagegen wie die ökologisch orientierte Alpeninitiative: Kirstin Schnider: Es ist einfach so, dass mich die Städter, die so vehement gegen diese zweite Röhre sind, manchmal nerven, weil ich ganz genau weiß, wieviel es zu konsumieren gibt in den Städten, dass dieses Zeug einfach nicht vom Himmel fällt, sondern unter Umständen über den Gotthard und genau über Lastwagen zu uns kommt. Wenn ich die Traube auf dem Tisch haben will, gibt´s immer noch ein Auto, das da in die Nähe fahren muss. 4

Atmo: Morgenstreich Erzähler: Über Nacht hat es geschneit. Und kalt ist es geworden an diesem Schmutzigen Donnerstag, mit dem die Fasnacht in Wassen auf ihren Höhepunkt zusteuert. Das Dorf wie in Watte gepackt. Beim Gemeindehaus, das auch die Räumlichkeiten der kleinen Gemeindeverwaltung beherbergt, sammeln sich kostümierte Männer und Frauen. Um vier Uhr morgens setzt sich ihre kleine Musikkappelle zum "Morgenstreich" in Bewegung. Manche Musikanten sind schon Jahrzehnte dabei. Fasnacht in Wassen ist kein Event für Touristen. Weder draußen auf der Straße, wo das Leben fast normal weitergeht, noch drinnen im Gasthaus, wo sich die Bläser, Trommler und andere Fasnachter bei der traditionellen Mehlsuppe aufwärmen. Atmo: Gasthaus Erzähler: Bei Suppe und Bier diskutiert eine Männerrunde über Politik. Dabei spielt auch die Eröffnung des Gotthard-Basistunnels eine Rolle. Einst schien der Funke der Begeisterung für das Mammutprojekt aus den Ballungsgebieten der Schweiz auch auf die Bergregion am Gotthard überzuspringen. Mittlerweile ist davon nicht mehr viel zu spüren in Wassen. Stattdessen Enttäuschung. Felix Baumann stammt aus dem Bergdorf und arbeitet beim regionalen Elektrizitätswerk. Felix Baumann: Man hat es uns vor dreißig Jahren verkauft als Korridor für den Schwerverkehr. Und jetzt ist es fertig und der Schwerverkehr läuft genau gleich weiter auf der Straße. Und jetzt wird es nur noch verkauft als schneller Personentransport durch den Gotthard. Also auch wir in der Schweiz werden von den Regierungen verarscht. Musikakzent Erzähler: Einer, der sich mit dem Straßenverkehr über den Gotthard schon aus beruflichen Gründen arrangiert hat, ist der Koch Damian Fry. Er hat ein kleines Hotel am nördlichen Dorfeingang von Wassen gepachtet und zu einer respektablen gastronomischen Adresse ausgebaut. Der Weg über den Gotthard sei schon immer eine Achse des Kulturtransfers gewesen, sagt der Koch, und erzählt eine kleine Geschichte. Darin geht es um ein Kirchlein aus der Gegend und um Säumer. Säumer waren Transporteure, die lange vor der Motorisierung die verschiedensten Güter über die Alpen schleppten. Damian Frey: D´Säumer sind von Norddütschland, von Holland sind die bis auf Italien do dure und hend eigentlich immer wieder War mitbrocht …

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Erzähler: Darunter eine Wandfarbe, die Fachleute bei der Restaurierung einer mittelalterlichen Kapelle in der Nähe von Wassen entdeckten. Sie sei erst wenige Jahre, bevor sie am Gotthard verwendet wurde, in Hamburg auf den Markt gekommen. Die Gotthardregion – ein Scharnier zwischen den Welten. Ob sie auch künftig diese Rolle spielen kann, diese Frage beschäftigt Heidi Zgraggen seit langem. Sie ist Mitglied Regierung des Kantons Uri, zu dem Wassen gehört. Das kleine Land am Gotthard habe seit jeher vom Transitverkehr gelebt: Heidi Zgraggen: Zuerst waren es die Säumer, dann kommt die Postkutsche, die Eisenbahn, die Autobahn. Und was jetzt neu ist, ist, dass diese internationale Transitachse, zumindest was die Eisenbahn betrifft, nicht mehr an diesem Puls des Transits ist. Mit Vorteilen: Lärmbelastung beipielsweise. Nachteil vielleicht oder auch ein bisschen Wehmut: Man sieht dann diese internationalen Züge nicht mehr von Mailand oder eben von Zürich. Das ist an sich etwas Schönes, wenn man da in der Nacht diese beleuchteten Züge sieht. Und das wird wegfallen. Atmo: ICN fährt Erzähler: Es kommt selten vor, dass hat einer der windschnittgen Schnellzüge, die zwischen Zürich und Lugano pendeln, in Göschenen hält. Aber es kommt vor. Sobald er wieder abgefahren ist, fällt der Bahnhof zurück in den Schlafmodus: Atmo: Bistro Erzähler: Was draußen auf den Gleisen geschieht, nehmen die Besucher des Bistros im Göschener Bahnhofsgebäude allenfalls nebenbei wahr. Wohnzimmergroß der Gastraum, das Angebot an Ess- und Trinkbarem überschaubar. Einige Reisende überbrücken die Wartezeit auf ihren Anschlusszug im Bistro. Sie sitzen auf Plastikstühlen an billigen Tischen. Das ist also vom Bahnhofsbuffet in Göschenen übrig geblieben. Es war einmal eine Institution, sagt Bernadette Senn. Seit mehr als vierzig Jahren arbeitet sie hier: Bernadette Senn: Die Leute hatten nicht lang zum Umsteigen, mussten sie schon wieder auf den Schnellzug gehen. Vom Wallis und vom Bündnerland sind sie gekommen mit dem Zug und sind da wieder auf den Schnellzug nach Zürich und Bern und Basel. Wir hatten eine große Speisekarte und all Tag zwei Menü, oder – drei sogar. S´Erste Klasse is weiß gedeckt gewesen und Stoffservietten und wir haben auch Polsterstühle gehabt, Erst Klass, vorne waren nur Holzstühle – und des macht´s schon aus.

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Erzähler: Auch Automobilisten, die mit ihren Fahrzeugen den Gotthard-Eisenbahntunnel huckepack per Zug passierten, schätzten dieses "Bahnhofsbuffet". Als 1980 der Gotthard-Straßentunnel in Betrieb ging, kam das Aus für den sogenannten Autoverlad und es begann der Abstieg nicht nur des Göschener Bahnhofs. Bernadette Senn: Im Dorf sind die Wirtschaften zugegangen. Wir haben keinen Geldautomaten nicht, wir haben keine Post mehr. Es haben einmal über 50 Personen da auf dem Bahnhof gearbeitet. Und die haben Mittagszeit gehabt und sind essen gekommen und nach einer Stunde wieder zur Arbeit gegangen. Und mein Mann ist jetzt der letzte gewesen, wo pensioniert worden ist da – als Rangierarbeiter. Musikakzent Atmo: Zug im Gotthard-Tunnel Erzähler: Gerade einmal sechzehn Minuten dauert die Fahrt mit dem Zug von Göschenen nach Airolo, knapp 15 Minuten davon im Gotthard-Scheiteltunnel, der 1882 feierlich eröffnet wurde. Verglichen mit den dauerbeleuchten Röhren des neuen Basistunnels wirkt er beängstigend dunkel, wie ein Denkmal frühtechnischer Zeit. An den Fenstern der Waggons huscht die schrundige Betonhülle vorbei, gelegentlich unterbrochen von Nischen. Dort können sich Bahnpersonal und Bauleute in Sicherheit bringen, wenn ein Zug vorbeidonnert. Kurz vor Erreichen des Bahnhofs Airolo passieren die Züge den Scheitelpunkt der Gotthardstrecke auf 1.151 Metern überm Meer. Er markiert auch eine Wasserscheide. Richtung Norden über Reuss und Rhein in die Nordsee, Richtung Süden über Ticino und Po ins Mittelmeer. Der metallene Singsang der Eisenbahn, der in der Röhre widerhallt, wiegt manche Fahrgäste in einen Dämmerschlaf, der vom Kreischen der Bremsen unterbrochen wird. Atmo: Zug im Gotthard-Tunnel, Ansage "Airolo" Erzähler: Gleich beim Bahnhof das Hotel Forni. Marzio Forni: Der Betrieb existiert schon seit der Eröffnung vom Eisenbahntunnel und unsere Familie führt das seit hundert Jahren. Als der Eisenbahntunnel gekommen ist, dann sind verschiedene Betriebe entstanden, und dann später auch vom Tourismus vor allem aus Mailand. Erzähler: Nicht nur Hoteliers und Gastwirte aus Airolo, sondern auch Handwerker und Baufirmen der Region setzen auf den beschlossenen Bau einer zweiten Röhre für den Gotthard-Straßentunnel und die Sanierung der bestehenden. Einen wirtschaftlichen Schub brauche Airolo dringend, sagt der Hotelier Mario Forni – wie vor 36 Jahren, als der Straßentunnel eröffnet wurde. 7

Marzio Forni: Als Kind haben wir geholfen, als es den Autoverlad gleich vor dem Hotel gehabt hat. Wir haben da einen Stand gehabt, Sandwich und Getränke an Leute, die da gestanden sind in der Kolonne. Wir haben Benzin verkauft. Und dann ist der Gotthard-Tunnel für die Autos gekommen. Dann war dieses Geschäft weg, aber man hatte ein anderes Geschäft. Und die Gäste sind aus der Autobahn gekommen zum Übernachten. Und wir haben Gäste, die sind zum 70. Mal bei uns. Die waren schon vor 30 Jahren da. Immer für eine Nacht auf die Durchreise zwischen Belgien und Italien. Erzähler: Trotzdem sehen Marzio Forni und seine Frau Hanni keine Chance mehr, ihr Hotel weiterzuführen. Ihnen geht es wie vielen anderen Mittelständlern. Sie wissen nicht, welchen Spielraum ihnen mächtige Investoren wie Samih Sawiris lassen. Der steinreiche Ägypter ist wild entschlossen, unweit von Airolo und Göschenen ein exklusives Hoteldorf mit einem angeschlossenen riesigen Ski-Zirkus aus dem Boden zu stampfen. Hanni Forni hat sich damit abgefunden, dass Sohn und Tochter da nicht mit einem kleinen, in der vierten Generation familiengeführten Hotel in den Ring steigen möchten. Musikakzent Erzähler: Mit knapp 1.600 Einwohnern ist Airolo eine der größeren Gemeinden in der Oberen Leventina. Der Anschluss an die alte Gotthardstrecke bescherte dem Ort einen nicht vorhersehbaren wirtschaftlichen Aufschwung, nicht nur durch Werkstätten und die Anlagen der Gotthardbahn. Airolo gilt als erster Skiort im Tessin. Die Entwicklung begann schon, während der Scheiteltunnel entstand. Sie setzte sich den 20er-Jahren und mit der Erschließung der nahen Berge durch erste Liftanlagen fort. Airolo wurde zum Wintersportort, der nicht zuletzt bei Touristen aus der italienischen Metropole Mailand beliebt war. Sie konnten Airolo nun direkt mit dem Zug erreichen. Die Ingenieure und Jünger des technischen Fortschritts ließen sich nicht von den Protesten der Bergbauern auf beiden Seiten des Tunnels beindrucken. Bergbauern aus Airolo fürchteten um ihre Arbeit in den langen Wintern, wenn der Hunger in ihren Höfen Einzug hielt. Um sich und ihren Familien wenigstens das Überleben zu sichern, verdingten sie sich für Schneeräumarbeiten an der alten Passstraße über den Gotthard. Sie stampften den Schnee, damit Fuhrwerke den Pass benützen konnten, erzählt Livio Lombardi, ein Landwirt und Unternehmer aus Airolo. Von der Eisenbahn fühlten sich die Bergbauern existenziell bedroht, weil man sie nicht mehr brauchte. Atmo: Glocken in Airolo

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Erzähler: Mittagszeit in Airolo. Am sonnigen Hang Gärten zwischen locker bebauten Häuserzeilen. Eine lange Treppenflucht vom Bahnhof direkt hinauf ins Zentrum. Der Ort hat sich weder als adrettes Touristendorf herausgeputzt, noch wirkt er wie eine sterbende Gemeinde. Airolo lebt. In einem bahnhofsnahen Neubau hat sich die Filiale einer Supermarktkette niedergelassen. Es gibt einige Läden und Werkstätten, mehrere Cafés und sogar eine Bar. Atmo: Einfahrt eines Zuges in Airolo, Ansage Erzähler: Neues hat sich am Bahnhof von Airolo getan. Die Molkerei "Muuh" ist ins ehemalige Bahnhofsrestaurant eingezogen. Livio Lombardi hat den Betrieb gegründet. Er und sein Sohn lassen dort Joghurt verschiedener Geschmacksrichtungen herstellen. Sie beliefern nicht nur Supermärkte des Schweizer Einzelhandelsriesen Migros, sondern auch Abnehmer in Russland. Eingefädelt hat das Geschäft ein einflussreicher und nicht unumstrittener Tessiner Politiker namens Filioppo Lombardi, ein Strippenzieher aus dem Lombardi-Clan, der im Tessin sehr einflussreich ist. Musikakzent Erzähler: Der Winter hat doch noch die obere Leventina erobert. Wenige Kilometer talwärts von Airolo kann sich der Schnee nur kurze Zeit halten. Bei Ambri-Piotta ein Stück Schweiz, wie es nicht im Bilderbuch steht. Ein unansehnliches Dorf am südlichen Abschnitt der Gotthardstrecke, im breiten, in der schneelosen Zeit zwischen Winter und Frühling trostlos wirkenden Tal des Ticino. Es scheint aus lieblos hingestreuten Häusern zu bestehen, die sich um eine riesige Halle mit tonnenförmigem Dach scharen. In der Halle finden die Heimspiele des örtlichen Eishockeyclubs statt. Er entstand 1937 als Dorfverein und spielte sich bis in die Schweizer Nationalliga hoch. Hauptquartier des Clubs ist der Bahnhof, wo nur noch ganz wenige Züge halten. Ein Stab von Mitarbeitern kümmert sich um Fanclubs und Werbung, managt Umsätze in der Größe eines mittelständischen Unternehmens. Der Eissportverein Ambri-Piotta wuchs mit den Jahren zu einem der wichtigsten Arbeitgeber im nördlichen Teil des Tessins heran. Und Filippo Lombardi ließ sich zum Präsidenten dieses Clubs wählen. Inzwischen ist klar, warum. O-Ton: Der Ständerat Filippo Lombardi – der ist auch ein Cousin hier aus der Region, der hat schon Kontakte genommen mit einer Gruppe aus Russland. Und die wollen eben hier in Ambri-Piotta, wo diese Eishockeymannschaft – der ist Präsident vom Eishockey-Club Ambri-Piotta- ein neues Stadion und Anlagen für andere Möglichkeiten. Musikakzent

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Atmo: Güterzug Erzähler: Ein Containerzug auf dem Weg von Köln ins Umland von Mailand. Bald wird man diese Güterzüge auf der Bergstrecke am Gotthard nur noch selten sehen. Das Elend dieser Landschaft auf dem Abstellgleis, das so gar nicht zum Bild der adretten Schweiz passt, offenbart sich auch in Faido, der Bezirkshauptstadt der oberen Leventina. Direkt beim Bahnhof zwei Hotelanlagen im Jugendstil. Mit prächtigen Sälen, Wintergarten und ungepflegten Palmen und verlotterten parkartigen Gärten. Eine Szene wie aus einer Kulissenstadt, der Filmleute fluchtartig den Rücken gekehrt haben. Mittlerweile sollen sich Geldmagnaten aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion dafür interessieren. Sie zählen auf politischen Beistand, der den Arbeitern des Stahlwerkes Monteforno versagt blieb.1995 machte ihre Fabrik dicht. Bis heute sind die von Gras und Büschen überwucherten Schienen des werkseigenen Güterbahnhofs zu sehen. In seinen besten Zeiten zählte das damals größte Industrieunternehmen des Tessins 1.750 Beschäftigte. Sein Hauptquartier hatte es in Bodio. Dort liegt heute das Südportal des 57 Kilometer langen GotthardBasistunnels. Atmo: Faido, Brauerei Erzähler: Wer auf den morbiden Charme verflossener Hotel-Herrlichkeit steht, mag in Faido auf seine Kosten kommen. Aber der Ort hat auch seine schönen Ecken. Der Marktplatz macht einen hübschen kleinstädtischen Eindruck. Etwas entfernt davon sind in einem der alten Häuser an der Kantonalstraße, die mitten durch Faido führt, Getränkelager und Büro der kleinen Brauerei San Gottardo untergebracht. Hier sind die Wege kurz, ist der Pioniergeist zu spüren, mit dem Lorenzo Mottini sie vor einigen Jahren gründete. Er wollte sich nicht damit abfinden, dass einige namhafte Brauereien im italienisch-sprachigen Südkanton der Schweiz von Deutschschweizer Großbetrieben aufgekauft wurden. Doch Gottardo-Bier war zu schnell gewachsen und drohte in den Bankrott zu schlittern. Lorenzo Mottini bleibt zuversichtlich – demonstrativ. Lorenzo Mottini, darüber Übersetzer: Für unser traditionelles Lagerbier verwenden wir bayerischen Hopfen. Für unsere Spezialität, ein ungefiltertes Bier, dagegen, eine Hopfensorte aus der Schweiz. Erzähler: Natürlich wird der Hopfen nicht per Bahn angeliefert und auch das im Schweizer Klosterdorf Einsiedeln erzeugte Gottardo-Bier erreicht das zentrale Depot in Faido nicht mit dem Zug über die Gotthard-Strecke der Bahn, sondern per LKW auf der Straße. Trotzdem baut Lorenzo Mottini darauf, dass sich mit dem neuen GotthardBasistunnel der Tourismus belebt. Sozusagen als Nebenprodukt des schnelleren Transits durch das Gotthardmassiv. 10

Lorenzo Mottini, darüber Übersetzer: Der Transitverkehr bringt Vor- und Nachteile. Ein Vorteil ist, dass noch mehr Menschen noch schneller ins Tessin kommen. Allerdings besteht auch die Gefahr, dass Randzonen touristisch abgehängt werden. Deshalb glaube ich, dass es wichtig wäre, die Zeit zu nutzen und auch die Leventina-Strecke mit politischer Unterstützung noch weiter touristisch zu erschließen. Erzähler: Bei Bodio fädeln sich die Züge durch den Gotthard-Basistunnel wieder in die Trasse der alten Strecke über das Gebirge ein. Wie zwei Pfeile aus der Unterwelt schieben sich die beiden Röhren des aus Beton geformten Südportals in das hier schon geweitete Tal. Winterharte Palmen in Gärten und auf Plätzen. Der Süden lässt grüßen. Die gefeierte "neue Alpentransversale Gotthard" macht die Gegend nun auch hier vollends zum Verkehrskorridor. Er endet auf Schweizer Seite in der Grenzstadt Chiasso. In ihrem von Straßen und Schienen durchzogenen Zentrum erscheint sie wie der leibhaftig gewordene Horror des modernen Transitverkehrs. Claudio Moro weiß das. Er war Bürgermeister von Chiasso und beschönigt nichts. Die Stadt ist ein Verkehrs- und Handelszentrum. Sie sei um den Bahnhof herum entstanden und verdanke ihren Wohlstand und Aufschwung der alten Gotthardbahn, sagt Claudio Moro. Sein Vater zog nach Chiasso, um dort bei der Bahn zu arbeiten. Die Gleisanlagen beanspruchen ein Drittel des Stadtgebiets. Chiasso ist ein Knotenpunkt zwischen Nord und Süd, Nordsee und Mittelmeer, zwischen Zürich und Mailand. Die beiden Metropolen sind die Fixsterne für viele Handels- und Transportunternehmen, die in Chiasso ansässig sind. Der neue Gotthard-Basistunnel wird sie einander noch näher bringen. Davon ist Claudio Moro überzeugt. Aber was geschieht mit dem Raum dazwischen, vor allem mit den kleinen Berggemeinden des Tessins, die nicht profitieren vom Gotthard-Basistunnel? Musikakzent Claudio Moro: Wir waren in der Vergangenheit und wir bleiben immer noch eine Peripherie grundsätzlich. Peripherie von Mailand und Peripherie von Zürich. *****

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