SWR2 Wissen Wie die Zeit vergeht

SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Wissen Wie die Zeit vergeht Von der Taschenuhr zur Smartwatch Von Dimitrios Kisoudis Sendung...
Author: Wilfried Maier
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SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE

SWR2 Wissen Wie die Zeit vergeht Von der Taschenuhr zur Smartwatch Von Dimitrios Kisoudis Sendung: Donnerstag, 31.12.2015, 08.30 – 09.00 Uhr, SWR 2 Wissen Redaktion: Anja Brockert Regie: Maria Ohmer Produktion: SWR 2015

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Regie: Atmo Kirchturmglocken Zitator: Was ist denn überhaupt Zeit? Wer könnte das leicht und kurz erklären? Wer kann etwas über sie zur Sprache bringen oder sie auch nur in Gedanken erfassen? Was aber ist uns im Reden vertrauter und sicherer gegenwärtig als die Zeit? […] Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es; wenn ich es einem Fragenden erklären will, weiß ich es nicht. Sprecherin: Der Kirchenvater Augustinus stellte sich in seinen 'Bekenntnissen' das Rätsel der Zeit. In der Vergangenheit liegen die Geburt, die Kreuzigung und die Wiederauferstehung Christi. Die Wiederankunft des Heilands und das Ende der Welt liegen in der Zukunft. Die Gegenwart aber fließt und ist kaum zu greifen. Wie wir die verrinnende Gegenwart, die fließende Zeit einteilen, das zeigen unsere Zeitmesser. Und die haben sich über die Jahrhunderte verändert. Ansage: Wie die Zeit vergeht. Von der Taschenuhr zur Smartwatch. Eine Sendung von Dimitrios Kisoudis. Regie: Musik sphärisch, erinnert an Sonnenaufgang, darüber Atmo Uhrenticken Sprecherin: Der älteste Zeitanzeiger ist die Sonne. Von einem Sonnenaufgang bis zum nächsten vergeht ein Tag. Kein Wunder, dass zu den ersten Uhren die Sonnenuhren gehörten. Sie maßen anhand des Schattens, den ein Balken oder eine Latte je nach Tageszeit auf eine Skala warf. Aber auch mit Hilfe der Elemente Feuer und Wasser wurde einst die Zeit gemessen: Wasser fließt aus einem gelochten Gefäß in ein anderes Gefäß, der Wasserstand zeigt die Zeit an, die vergangen ist. Feuer schmilzt das Wachs einer Kerze, an der eine Skala eingeritzt ist. Schon die Astronomen der Babylonier und der alten Griechen teilten den Tag in 24 gleich lange Stunden ein. Dennoch sollte es bis zur Renaissance dauern, bis sich dieses System auch im öffentlichen Leben durchsetzte. Bis dahin waren die zwölf Stunden des lichten Tages im Sommer länger als die zwölf Stunden der dunklen Nacht. Im Winter war es genau umgekehrt. OT 1 Professor Dohrn: Im Mittelalter hat man von der römischen Antike das System der ungleichen Stunden übernommen, d.h. man hat den Tag und die Nacht in jeweils unter sich gleiche, aber jahreszeitlich ungleich lange Stunden unterteilt. Das mit einer mechanischen Uhr nachzumachen oder läuten zu lassen, ist möglich, aber sehr, sehr kompliziert. Und deswegen haben die mechanischen Uhren ermöglicht, aber dann auch sehr erfolgreich und sehr schnell und sehr breit durchgesetzt, dass man den Tag in zwei Mal zwölf oder 24 unter sich immer gleiche Stunden teilt. Und das heißt natürlich, dass man sich für die Organisation des täglichen Lebens ein bisschen von der sogenannten Naturzeit, hier in dem Fall der wechselnden Tageshelligkeit, trennt. Sprecherin: Gerhard Dohrn-van Rossum ist Historiker an der Technischen Universität Chemnitz. Seit Jahrzehnten beschäftigt er sich damit, wie Zeitmessung und Zeitwahrnehmung 2

zusammenhängen. Mit der Erfindung der mechanischen Uhr an der Schwelle zur Neuzeit wird die Zeit abstrakter. Sie entfernt sich vom Lauf der Jahreszeiten, dem bäuerlichen Leben im Rhythmus der Natur. Die neue Zeit der gleich langen Stunden ist eine städtische Zeit, verkündet von den Türmen der norditalienischen Handelsstädte: OT 2 Professor Dohrn: Es beginnt ziemlich genau in der italienischen Renaissance. Und der Dichter Francesco Petrarca ist auch der erste, der eine öffentliche Uhr erwähnt. Und das ist eine ganz schöne Geschichte. Er schreibt in einem Brief, dass ein junger Mönch zu ihm gekommen sei, der mit langen Reden ihm ziemlich auf die Nerven gegangen ist. Und dann schreibt er: „Endlich hat mich der Schlag der neu erfundenen Uhren von diesem lästigen Gesprächspartner erlöst.“ Das ist der erste Beleg für das Wort „öffentliche Uhr“. Sprecherin: Bald halten mechanische Uhren auch Einzug in die Haushalte. Schon im 16. Jahrhundert tragen Wohlhabende kleine Uhren an ihrem Gürtel oder im Uhrentäschchen an der Weste. Ein Zeugnis dieser Entwicklung ist ein Porträt, das Hans Holbein der Jüngere um 1530 malte. Zu sehen ist der Danziger Kaufmann Georg Giese. Der Freund des Kopernikus trägt außer den typischen Attributen des Kaufmanns – Briefe, Rechnungsbuch, Waage, Münzen und Siegel – auch eine Taschenuhr an der Weste. Diese Schmuckstücke sind als Zeitanzeigen allerdings noch unzuverlässig. Im 17. Jahrhundert wird der Mechanismus der sogenannten Unruh erfunden. Bis heute ist er das Herz kleiner Uhren wie Taschen- oder Armbanduhren. Durch das Aufziehen – oder später durch die Bewegung am Handgelenk, die sogenannte „Automatik“ – gelangt Energie in die Zahnräder des Uhrwerks. Damit sie nicht sofort leerlaufen, stoppt ein Anker die Bewegung der Zahnräder und gibt sie dann wieder frei. Um Ordnung in dieses Spiel aus Bewegung und Hemmung zu bringen, braucht es einen Taktgeber: ein Rädchen, das auf einer Spiralfeder hin und her schwingt. Diese Unruh sorgt dafür, dass die Uhr nur wenige Sekunden am Tag falsch geht. Das ist schon damals dringend nötig, denn in den Handelsstädten steigt der Bedarf an zuverlässigen, tragbaren Uhren. Die Kaufleute müssen die Zeit für ihre Termingeschäfte kennen. Regie: Uhrenticken Sprecherin: Pünktlichkeit wird in der Moderne zur neuen Tugend. Die Zeit der Händler löst die Zeit der Kirche ab, so der französische Historiker Jacques Le Goff. Um die Jahrhundertwende entzündet sich die Kritik an der modernen Gesellschaft an der Taschenuhr. Der Soziologe Georg Simmel schreibt 1903 in seinem berühmten Aufsatz über „Die Großstädte und das Geistesleben“: Zitator: Durch das rechnerische Wesen des Geldes ist in das Verhältnis der Lebenselemente eine Präzision, […] eine Unzweideutigkeit in Verabredungen und Ausmachungen gekommen – wie sie äußerlich durch die allgemeine Verbreitung der Taschenuhren bewirkt wird. Es sind aber die Bedingungen der Großstadt, die für diesen Wesenszug so Ursache wie Wirkung sind. Die Beziehungen und Angelegenheiten des typischen 3

Großstädters pflegen so mannigfaltige und komplizierte zu sein […], dass ohne die genaueste Pünktlichkeit in Versprechungen und Leistungen das Ganze zu einem unentwirrbaren Chaos zusammenbrechen würde. Wenn alle Uhren in Berlin plötzlich in verschiedener Richtung falschgehen würden […], so wäre sein ganzes wirtschaftliches und sonstiges Verkehrsleben auf lange hinaus zerrüttet. Sprecherin: Heute ist die Uhrzeit allgegenwärtig, digital angezeigt im Smartphone, im Computer. Die mechanische Uhr – am Handgelenk oder auf dem Kaminsims – steht nicht mehr für Beschleunigung, sondern für Entschleunigung, für Harmonie und die Konzentration auf das Wesentliche. Wer die Investition in eine gute mechanische Uhr eingeht, will ein Symbol für seinen „Status“, lateinisch für Stillstand. Atmo 03: Lang Werkstatt, Schleifen etc. Sprecherin: Eine solche mechanische Armbanduhr kann man zum Beispiel bei Rolf Lang bekommen, der im Erdgeschoss seines Holzhauses bei Dresden eine Manufaktur eingerichtet hat. Zwei junge Angestellte polieren die Werkteile, Rolf Lang packt eine fertige Uhr aus seiner Kollektion in ein Wurzelholzkästchen. OT 3 Rolf Lang: Die Uhr hat in erster Linie das Gesicht, worauf der Kunde ja großen Wert legt. Und dieses Gesicht ist gekennzeichnet von einem ganz eleganten, zeitlos schönen Zifferblatt. Alle Proportionen sind nach dem goldenen Schnitt gemacht […]. Wenn Sie die Uhr herumdrehen, haben Sie einen komplett freien Blick durch das gewölbte Saphirglas auf das Werk. Bei der mechanischen Uhr können Sie die Unruhschwingen sehen. Sie können das Ticken hören, Sie können mit der Hand stellen, also es gibt da einfach Dinge, die wir mit unseren Sinnesorganen komplett wahrnehmen können. Und das ist eben diese schöne Empfindung, die man dabei hat. Sprecherin: Rolf Lang ist Uhrmacher in vierter Generation. Zehn Jahre lang restaurierte er mechanische Uhren im Mathematisch-Physikalischen Salon, von Kurfürst August dem Starken 1724 als Sammlung feiner Instrumente in Dresden gegründet. So lernt Lang, was die Uhr im Innersten bewegt. Als die Wende kommt, macht er sich als Restaurator und Entwickler selbständig. Im Alter von 35 entscheidet er sich, sein Arbeitsleben der mechanischen Uhr zu widmen. Die steckt damals gerade in ihrer größten Krise. Der japanische Uhrenhersteller Seiko hat eine Armbanduhr entwickelt, die ihre Energie nicht mehr durch Aufziehen erhält, sondern von einer Batterie, und ihren Takt von den Schwingungen eines Quarzkristalls statt von einer Unruh. OT 4 Professor Dohrn: Ein Batterieantrieb, der sehr lange hält, oder eine Batterie, die vielleicht ein Jahr lang hält, macht die Uhr unauffälliger. Man kümmert sich nicht mehr darum. Die zwei-, dreihundert Jahre davor musste man abends die Uhr aufziehen, die Gewichte hochziehen, das ist ja in der Literatur vielfältig beschrieben, dass das so eine Art Ritual wird. Und mit der Batterie merkt man von der Uhr gar nichts mehr, sie wird unauffälliger. Dieses manifeste Regeln des Tages durch die Uhr, die man entweder 4

aufzieht oder besonders aufbewahren muss, oder die automatische Uhr, die man bewegen muss, damit sie nicht stehenbleibt, das war Teil des bürgerlichen Tags bis sagen wir mal 1975 und dann auf einmal nicht mehr. Das ist sicher ein Kulturbruch. Sprecherin: Die batteriebetriebenen Quarzuhren erobern den Markt. Sie sind modern, günstig, unkompliziert. Und man muss sie nicht alle paar Jahre zur Revision bringen, um sie nachjustieren zu lassen. Die Schweizer Uhrenhersteller verschrotten ihre Maschinen. Verfrüht, wie Uhrmacher Rolf Lang schon bald ahnt. OT 5 Rolf Lang: Ganz konkret 1980/81, aus meiner Erfahrung, begann die Renaissance der mechanischen Uhr. Man hat zu diesem Zeitpunkt in den Auktionshäusern, zuallererst in der Schweiz, Taschenuhren vorgestellt, die in den Zwanzigerjahren in Glashütte an der Deutschen Uhrmacherschule gebaut wurden. Das waren Tourbillons, also das waren extrem hochwertige Uhren. Und die lagen vom Preis her bei damals 750.000 Schweizer Franken. Und da wurde die Welt, horchte die direkt auf. Und auch die Schweizer haben natürlich immer überlegt, wie können sie den Japanern Paroli bieten. Und sie haben sich eigentlich dann auch aufgerappelt nach der Krise und haben gesagt: Wir setzen trotzdem wieder auf Mechanik, aber wir müssen besser werden und hochwertiger werden. Sprecherin: Quarzuhren sind bis heute marktbeherrschend. Mehr als zwei Drittel aller Uhren, die über den Ladentisch gehen, werden von einer Batterie angetrieben und von einem Quarz getaktet. Doch seit der Jahrtausendwende ist das Interesse an mechanischen Uhren wieder massiv gestiegen. Noch im Jahr 2000 machten Schweizer Hersteller mit Quarzuhren und mechanischen Uhren etwa gleich viel Exporterlöse. Heute verdienen sie mit mechanischen Uhren beinah das Vierfache. Regie: Atmo oder Musik Sprecherin: Die Uhrenindustrie entstand meist im Bergland, etwa im Schweizer Vallée de Joux oder im Schwarzwald. Dort wo die landwirtschaftlichen Nutzflächen rar, aber Rohstoffe zur Metallverhüttung vorhanden sind. Ein Zentrum der deutschen Uhrenindustrie liegt im Osterzgebirge. Der Schriftsteller Joseph Roth hat ihm 1925 ein Denkmal gesetzt. In einer Reportage beschreibt er die Präzision und die Liebe, die im Uhrenbau wirksam sind. Zitator: In Glashütte, von Dresden bequem in zwei Stunden zu erreichen, werden die besten deutschen Taschenuhren geboren, die kleinen lebendigen Dinge, die uns von der Konfirmation bis zum Grabe begleiten. Jeden Abend vor dem Schlafengehen ziehen wir sie auf, ihre Herzen, ihre Lungen, ihr Leben um neue vierundzwanzig Stunden verlängernd, und legen sie auf das Nachtkästchen neben Brieftasche, Füllfeder, Zigarrenabschneider, Taschenmesser, Schlüsselbund und die anderen Trophäen, mit denen sich der Europäer tagsüber behängt. Viel mehr wissen wir von diesen angeblich nützlichen Gegenständen als von unseren Uhren. Nur ihren vertrauten Klang haben wir im Ohr. Aber ihre Seele kennen wir nicht, die unsichtbar im 5

Gehäuse verborgen ist, metaphysisch existent neben dem Mechanismus; und nicht einmal diesen kennen wir. Oder weiß jemand, was eine „Federhaustrommel“ ist, ein „Kleinbodenrad“, ein „Großbodenrad“, ein „Messingwechselrad“? Regie: Uhrenticken, Uhrenschlagen (z.B. Atmo 4 d: Uhrenticken durcheinander) Sprecherin: Begründet wurde die Glashütter Uhrenindustrie von Ferdinand Adolph Lange, einem Uhrmacher aus Dresden. Er bildete junge Glashütter zu Uhrmachern aus, die wiederum eigene Manufakturen gründeten. 1848 wurde er Bürgermeister von Glashütte und 1857 sogar Abgeordneter der Ständeversammlung. So viel Ruhm erntete er dafür, das System der arbeitsteiligen Uhrenproduktion ins Erzgebirge verpflanzt zu haben. Wie nachhaltig Langes Erfolg gewesen ist, lässt sich im Deutschen Uhrenmuseum erleben. Dort sieht man von frühen Taschenuhren über kostbare Wanduhren und Marinechronometern bis zu den neuen Luxusarmbanduhren alle Stationen der Glashütter Uhrenhistorie. Reinhard Reichel ist der Museumsleiter. OT 6 Museumsdirektor: Die Idee brachte Lange aus der Schweiz mit, das sogenannte Verlagssystem. Es fertigt nicht einer alles, sondern jeder fertigt ein Teil, verkauft, verlegt das an die Firmen, und dort sitzt der Uhrmacher, der, wenn alles passt, aus den einzelnen Teilen die tickende Uhr zusammenbaut. Es entwickelt sich die sogenannte Glashütter Haus- und Heimindustrie, die Fensterbrettlfabrikanten, die Fensterbrettfabrikanten, denn damals, kein Licht, kein Strom, saß man am Fenster. Und das war damals der Beginn des Siegeszugs der Stadt Glashütte als Uhren- und Feinmechanikstadt. Sprecherin: Immer wieder durchlebt der Standort Glashütte Krisen. Nach dem Ersten Weltkrieg verpassen die Uhrmacher den Anschluss an moderne Bedürfnisse. Statt leichter Armbanduhren produzieren sie weiterhin schwere Taschenuhren. Nach dem Zweiten Weltkrieg müssen sie Reparationen für ihre Einbindung in die Kriegswirtschaft leisten. Die Maschinen werden demontiert und in die Sowjetunion gebracht. Doch die Uhrmacher von Glashütte bauen ihre Industrie in der DDR wieder auf. Atmo 5: DDR-Werbefilm Der moderne Zeitmesser in modernen Formen. Präzisionsuhren aus Glashütte in der Deutschen Demokratischen Republik genügen den höchsten Ansprüchen: stoßfest, wassergeschützt, Automatik. Sprecherin: In den 1980er-Jahren produzieren sie sogar für das größte westdeutsche Versandhaus mechanische Armbanduhren, versehen mit dem Logo von dessen Hausmarke „Meisteranker“. Heute ist Glashütte bei den Schönen und Reichen in aller Welt bekannt als Produktionsstätte luxuriöser Armbanduhren. Regie: Uhrenticken Sprecherin: 6

Waren die Kaufleute die Vorreiter der Taschenuhr, so ist die Uhr am Armband königlichen Ursprungs. 1810 entwirft die Pariser Manufaktur Breguet für die Königin von Neapel die erste Armbanduhr überhaupt, befestigt an einem aus Goldfäden und Haar geflochtenen Armband. Etwa hundert Jahre später ist die Armbanduhr für manche Arbeit unverzichtbar geworden. Der Siegeszug der Armbanduhr auch als modisches Accessoire beginnt am 7. Oktober 1927. Die britische Sekretärin Mercedes Gleitze versucht den Ärmelkanal zu durchschwimmen, mit dabei: eine Rolex. Dieses Fabrikat wird zum Synonym für die Armbanduhr – und zum Symbol für das Abenteuer. Filmheld James Bond trägt sie ebenso wie der Schriftsteller Ernest Hemingway, der ihr in seinem Buch „Über den Fluss und in die Wälder“ ein Denkmal setzt. Die Hauptfigur, ein Coronel, landet in der Normandie, tötet unzählige Feinde und befreit Paris. Aber er hat ein krankes Herz, wie er seiner 18-jährigen Geliebten beichtet, die ihn pflegen und umsorgen will. Zitator: „Es ist ja nur ein Muskel", sagte der Coronel. "Nur, dass es der Hauptmuskel ist. Er arbeitet so vollkommen wie eine Rolex Oyster Perpetual. Hat nur den Fehler, dass man ihn nicht an den Vertreter der Rolex schicken kann, wenn er reparaturbedürftig ist. Wenn er stehenbleibt, weißt du einfach nicht, wie viel Uhr es ist. Du bist tot." Sprecherin: Gerade dieses Image von Virilität und Vitalität hat Rolex im 21. Jahrhundert in Verruf gebracht. Die teure Uhr mit der Krone auf dem Zifferblatt gilt plötzlich als angeberisch, gerät in den Ruch eines Statussymbols der Halbwelt. Atmo 06: Nomos Manufakturgeräusche Sprecherin: In den letzten Jahren haben Menschen die mechanische Armbanduhr für sich entdeckt, die nicht zu den typischen Käufern von Luxusuhren zählen: Akademiker und Kreative, darunter viele Frauen. Uhren erobern den Markt, die mechanisch innovativ sind, aber zurückhaltend, ja sogar eigenwillig im Design. Ein Hersteller solcher Uhren ist „Nomos“. Er sitzt seit der Wende in Glashütte, das Kreativzentrum aber liegt in Berlin-Kreuzberg. Dort arbeitet der gebürtige Dresdner Thomas Höhnel als Produktdesigner. OT 8 Thomas Höhnel: Wir orientieren uns bei neuen Entwürfen nicht nur in der Uhrenwelt. Es gibt hier einfach mehr Einflüsse, es gibt jede Menge Museen, Ausstellungen, auch was das Design betrifft, ist Berlin eines der Hotspots in Europa. Wir schauen natürlich am Anfang in einem breiteren Kontext: wer könnte die Uhr tragen, in was für einer Farbwelt, was für Materialien könnten das sein? Sprecherin: Für seine wasserdichte Armbanduhr „Ahoi“ hat Thomas Höhnel 2013 den Good Design Award gewonnen, einen der renommiertesten Designpreise überhaupt. OT 9 Thomas Höhnel: Für die Ahoi war so ein Bild, was wir im Kopf hatten, die Ahoi sollte ein bisschen sein wie ein klassisches Rennrad aus den 70er-, 80er-Jahren, ein filigranes, feines 7

Rennrad, was faszinierend ist aus dem Zusammenspiel feiner Komponenten. Oder sollte vielleicht eher für Leute gemacht sein, die auf dem Hausboot leben anstatt für Tiefseetaucher. Sprecherin: Die Uhr ist an einem schwarzen Textilarmband befestigt, das an die Schlüsselbänder vergangener Tage im Freibad erinnert. Sie ähnelt nicht den Taucheruhren anderer Marken, sondern ihren Schwestern aus Glashütte. Der Prototyp „Tangente“ folgt den Designidealen des Bauhaus, das in den Zwanzigerjahren Industrie und Produktdesign miteinander versöhnen wollte. Für die Öffentlichkeitsarbeit der Uhrenfirma ist eine Frau mit Geschmack zuständig, Andrea Brandis: OT 10 Andrea Brandis: Zeit ablesen kann man ja mittlerweile an jeder Straßenecke, es gibt überall Digitaluhren, jeder besitzt ein Handy. Es ist heute gar nicht mehr unbedingt die Frage: Brauche ich eine Uhr, um zu wissen, wie spät es ist? Es gibt immer mehr Frauen, die Karriere machen, die in wichtigen Positionen sind und auch am Handgelenk eine entsprechende Uhr tragen möchten, die ein gewisses Understatement wie bei Nomos aufweist, die einen gewissen Geschmack und eine gewisse Klasse zeigt, ohne jetzt durch Brillanten und sonstiges zu sehr aufzudrehen. Sprecherin: Die mechanische Uhr gibt der Zeit eine persönliche Note. Sie lässt die fließende Gegenwart gerinnen und verbindet sie mit der Vergangenheit. Manchmal bleibt sie stehen, und um sie aufzuziehen, muss man einen Moment innehalten. Aber die mechanische Uhr stößt auf eine neue Herausforderung. Die Smartwatch, der Computer am Handgelenk, verkörpert das Zeitempfinden der neuen Generation. Melanie Feist ist Redakteurin bei Watchtime in Ulm, dem größten Uhrenportal Deutschlands im Internet. In ihrer Freizeit trainiert die junge Frau für den Marathon, am Arm trägt sie probeweise eine Smartwatch, die in der Uhrenwelt seit über einem Jahr großes Aufsehen erregt. OT 11 Melanie Feist: Die Apple-Workout-App zeigt mir an, in welchem Pace ich laufe, also in welcher Geschwindigkeit, in wie viel Minuten ich wie viele Kilometer laufen kann, zeigt mir meine Herzfrequenz an, und das ziemlich genau, erstaunlicherweise. Und es zeigt mir die Minuten an, die ich schon unterwegs bin. Sprecherin: Die Applewatch ist ein Tummelplatz für Anbieter von Anwendungssoftware, sogenannter Apps, die man im Internet herunterladen kann. Viele Anwendungen dienen dazu, sich mit Bekannten zu vernetzen. OT 12 Melanie Feist: Neben der standardisierten Workout-App, die Apple für die Smartwatch hat, gibt es zum Beispiel die Nike Plus Running App, dort gibt es immer Möglichkeiten, auf Facebook zu teilen: das war mein Lauf, ich hab mich soundso dabei gefühlt, in der Zeit habe ich den Lauf geschafft, und das dann zu teilen. Man kann die Daten auch exportieren und in bekannte Systeme wie Garming Connect, das ist so der 8

Marktführer für Auswertungsmöglichkeiten und Vergleichsmöglichkeiten in einer Gruppe, da rein exportieren. Sprecherin: Solche Smartwatches sind nur noch am Rande Uhren. Ein Aktivitätsmesser sagt dem Smartwatch-Träger, wann er trainieren soll, wie viele Kalorien er verbraucht hat und erinnert ihn einmal in der Stunde daran, für eine Minute aufzustehen. In den sozialen Medien kann der Smartwatch-Träger sich mit seinen Freunden austauschen. OT 13 Melanie Feist: E ist auf jeden Fall ein sehr technikverliebter Mensch, der immer auf dem neuesten Stand sein muss, für den es toll ist, wenn jemand sagt: oh, du hast eine Applewatch. Aber es sind auch Menschen, die schwer Grenzen ziehen können, die ihre Arbeit, ihren Kalender immer dabei haben müssen. Die dürfen keinen Anruf verpassen, die dürfen nicht mal zurückrufen, die müssen sehen: jetzt in dem Moment ruft mich jemand an, und muss sofort eine Nachricht schicken: nein, bin im Meeting und rufe später zurück. Es ist doch nicht schlimm, wenn jemand mal zehn Minuten warten muss, oder? Ein bisschen Entschleunigung tut uns allen, glaube ich, ganz gut. Sprecherin: Die Smartwatch entspricht der beschleunigten Zeit. Mit ihr packen wir möglichst viele Aktivitäten gleichzeitig in unser Leben. Längst sind Schweizer Luxushersteller auf den Zug aufgesprungen und stellen Mischformen aus mechanischer Uhr und Smartwatch her: sie versehen die Armbänder ihrer Uhren mit einer Vorrichtung, die mit dem Internet verbunden ist und Körperdaten weitergibt. Ist die Luxusuhr der Zukunft ein Hybrid aus Mechanik und Interaktivität? Wohl kaum. Zu schnell ist die Uhr auf der Überholspur selbst wieder überholt. OT 14 Melanie Feist: Der große Nachteil, den ich einfach sehe, ist: wie lange kann ich diese Smartwatch überhaupt tragen? Wie hoch ist diese Halbwertszeit? Nächstes Jahr kommt die neue Applewatch raus, und dann werden die Entwickler nur noch für das neue Gerät ihre Apps produzieren, entwickeln, weiterentwickeln. Und dann wird diese Uhr einfach nur noch in der Schublade liegen und mir nichts mehr nützen. Und eine mechanische Uhr, die hab ich mein Leben lang, die bringe ich alle fünf Jahre zum Uhrmacher, der repariert sie mir wieder, und dann kann ich wieder die Uhr tragen und hab wieder Freude daran. Das ist der große Unterschied, glaube ich. Sprecherin: Eine gute mechanische Uhr kann der Besitzer sogar seinen Kindern vererben. Selbst wenn er im Alltag durch Computer und Smartphone mit Freunden und Geschäftspartnern vernetzt ist - die Zeit seiner Armbanduhr gehört nur ihm allein. Die öffentlichen Zeitanzeigen brauchen wir kaum noch. Den Stundenrhythmus haben wir voll verinnerlicht, und bei wichtigen Terminen schickt uns das Smartphone sicherheitshalber eine Stunde vorher eine Erinnerung. Zeitforscher Gerhard Dohrn-van Rossum. OT 15 Professor Dohrn: Man sagt, die Zeit würde individualisiert. Und natürlich, eine nur noch private Zeitanzeige führt dazu, dass man sich selber für die Einteilung seiner Zeit 9

verantwortlich fühlt. Das heißt, es führt dazu, dass man denkt, ich muss pünktlich sein. Man sieht Leute nicht mehr in die Kirche gehen, man sieht Leute nicht mehr zusammen zum Markt gehen, alle die Sachen sind zu weitläufig und komplex und verdeckt geworden. Und so geht die Verantwortung für ein geregeltes Leben auf mich selber über. Das ist nicht nur angenehm. Regie: Atmo Kirchturmglocken, gehen über in Silvesterraketen (Archiv) Sprecherin: Die öffentliche Zeit der Kirchturmglocken, sie spielt keine große Rolle mehr. Kaum einer hört hin, wenn die Stunden schlagen. Und kaum einen beschäftigt heute noch die Frage des Kirchenvaters Augustinus, was Zeit denn eigentlich sei. Sind wir jetzt in der ewigen Gegenwart angelangt? Nur scheinbar. Jedes Jahr erinnert uns der Jahreswechsel an den Lauf der Zeit. Und an unsere Vergänglichkeit. Regie: Silvesterraketen ***** Literatur: Gerhard Dohrn-van Rossum: Die Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitordnung. Hanser. München, Wien 1992. Rudolf Wendorff (Hg.): Im Netz der Zeit. Menschliches Zeiterleben interdisziplinär. Hirzel. Stuttgart 1989. Gottfried Honnefelder (Hg.): Was also ist die Zeit? Erfahrungen der Zeit. Insel. Frankfurt 1989. Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben. Suhrkamp. Frankfurt 2006. Jacques Le Goff: Zeit der Kirche und Zeit des Händlers im Mittelalter. In: Maurice Bloch u.a. (Hg.): Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse. Suhrkamp. Frankfurt 1977. S. 393-414. Joseph Roth: Glashütte. In: Joseph Roth Werke 2. Das journalistische Werk 1924-1928. Kiepenheuer & Witsch. Köln 1990. S. 398-402. Ernest Hemingway: Über den Fluss und in die Wälder. Der alte Mann und das Meer. Übertr. von Annemarie Horschitz-Horst. Rowohlt. Reinbek 1986.

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