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SWR2 Wissen Historische Romane Wie Geschichte lebendig wird Von Dagmar Lorenz Sendung: Donnerstag, 19. März 2015, 08.30 Uhr, SWR2 Redaktion: Anja Brockert Regie: Maria Ohmer Produktion: SWR 2015

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MANUSKRIPT Zitator 1: Es ist nunmehr sechzig Jahre her, da nahm Edward Waverley, der Held der folgenden Blätter, Abschied von seiner Familie, um in das Dragonerregiment zu treten, in welchem er kürzlich eine Anstellung erhalten hatte. Es war ein trüber Tag [allmählich leiser werden und noch vor Satzende ausblenden] auf Waverley Honour, als der junge Offizier Abschied von Sir Everard nahm, dem freundlichen alten Onkel, dessen mutmaßlicher Universalerbe er war. […] Regie: evtl. Schluss von Zitator 1 und Anfang von 2 überblenden Zitator 2: Es war ein klarer spätherbstlicher Morgen gegen Ende November. In der Nacht hatte es ein wenig geschneit, und so bedeckte ein frischer weißer Schleier kaum mehr als zwei Finger hoch, den Boden. Noch bei Dunkelheit, gleich nach Laudes, hatten wir talabwärts in einem Dorf die Messe gehört. Dann waren wir aufgebrochen, um beim ersten Tageslicht in die Berge zu gehen. Als wir den steilen Pfad erklommen, der sich die Hänge hinaufwand, sah ich zum ersten Mal die Abtei. Regie: evtl. mit Schluss von Zitator 2 überblenden Zitator 1: Am gleichen Tag, als Walther zum ersten Mal in seinem Leben einem Herzog und einem König begegnete, seine Fertigkeiten entdeckte, wildfremde Menschen zu beeinflussen und Gold in seinen Händen hielt, schlief er auch zum ersten Mal mit einer Frau. Regie: Die einzelnen Zitat-Stimmen können optional ineinander „fließen“ und zu einem chaotischen Gemurmel mutieren. Die Zitate selbst können gekürzt werden O-Ton 01 - Erik Schilling: Es geht oft um grundsätzlichere Fragen in historischen Romanen. Es geht um die Frage: Was ist Wahrheit? Ich glaube keine literarische Gattung kann diese Frage so gut verhandeln wie der historische Roman, der sich immer zwischen Wahrheit und Fiktion positionieren muss. Regie: Leise Musik, darüber: Ansage: „Historische Romane - Wie Geschichte lebendig wird“. Eine Sendung von Dagmar Lorenz. Sprecherin: Es gab einmal eine Zeit, da galten historische Romane als hoffnungslos veraltet. Doch das hat sich spätestens seit den 1980er Jahren geändert. Damals eroberte Umberto Ecos Mittelalter-Roman „Der Name der Rose“ die Bestsellerlisten. Heute sind in deutschen Verlagen rund 6.000 Titel in der Sparte „Historischer Roman“ lieferbar. Hinzu kommen Bücher von Literaten wie Daniel Kehlmann oder Thomas 2

Hettche, deren Handlung zwar in vergangenen Epochen angesiedelt ist, die aber unter der Rubrik „Belletristik“ laufen. Die Bandbreite von Romanen, die sich in irgendeiner Weise mit Geschichtlichem befassen, reicht vom reißerischen Schmöker à la „Wanderhure“ über den gehobenen Unterhaltungsroman bis hin zum nobelpreisverdächtigen Avantgardekunstwerk. Was aber macht die Faszination des fiktiven Erzählens über Geschichte aus? Und wie nahm der historische Roman, wie wir ihn kennen, seinen Anfang? Regie: Musik, evtl. aus der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts Sprecherin: Wir schreiben das Jahr 1814. Der schottische Advokat Walter Scott aus Edinburgh veröffentlicht anonym seinen ersten Roman unter dem Titel: „Waverley“. Das Schicksal seines fiktiven Helden entfaltet sich vor dem Hintergrund der gescheiterten schottischen Rebellion von 1745, in der die Anhänger der exilierten Stuart-Dynastie das regierende englische Königshaus Hannover zu stürzen versuchten. Regie: Leise Musik, darüber: Zitator 1: Es ist nunmehr sechzig Jahre her, da nahm Edward Waverley, der Held der folgenden Blätter, Abschied von seiner Familie, um in das Dragonerregiment zu treten, in welchem er kürzlich eine Anstellung erhalten hatte. Es war ein trüber Tag auf Waverley Honour, als der junge Offizier Abschied von Sir Everard nahm, dem freundlichen alten Onkel, dessen mutmaßlicher Universalerbe er war. Sprecherin: Die sechzig Jahre, von denen in den Anfangssätzen des „Waverley“ Romans die Rede ist, sollten fortan für lange Zeit die Erzählkonvention historischer Romane prägen. Demnach sollten die geschilderten Ereignisse mindestens sechs Jahrzehnte oder länger zurückliegen, erläutert Erik Schilling. Er ist Literaturwissenschaftler an den Universitäten München und Oxford und hat über den historischen Roman geforscht. O-Ton 02 - Erik Schilling: Diese Grenze, sechzig Jahre, sind ungefähr zwei Generationen, zweimal dreißig Jahre und sie geht zurück auf einen der Gründungsromane der Gattung, auf einen Roman von Walter Scott, „Waverley“ von 1814. Und dessen Untertitel heißt: „„this sixty years since“, also da sind die sechzig Jahre, die kanonisch werden für die Gattung, schon im Titel aufgegriffen. Sprecherin: Auf „Waverley“ folgte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine regelrechte Serie weiterer Bestseller von Walter Scott. Seine Romane wurden in zahlreiche europäische Sprachen übersetzt; einige von ihnen lieferten beliebte Stoffe für Hollywoodfilme: der Ritterroman „Ivanhoe“ etwa oder „Quentin Durward“, dessen Handlung im Frankreich des 15. Jahrhunderts angesiedelt ist. Und so manches Erfolgsrezept, das Scott damals entwickelte, wirkt auch noch in den historischen Romanen unserer Tage fort. So etwa der Trick, Schlachten, Staatsaktionen und das Liebesleben hochgestellter Herrschaften aus der Perspektive eines Knappen, 3

Dieners oder Zeugen meist bürgerlichen Zuschnitts zu schildern - eines „mittleren Helden“ also, mit dem sich der - in aller Regel ja nichtadlige - Leser identifizieren kann. O-Ton 03 - Erik Schilling: Das Besondere an diesem mittleren Helden ist die Situation, aus der heraus er auf die Geschichte blicken kann. Es ist eben nicht gerade Napoleon oder Cäsar oder eine andere bedeutende historische Figur, die den Roman erzählt, sondern es ist eine Figur, die zur selben Zeit gelebt hat wie Cäsar oder Napoleon und vielleicht sogar den historischen Gestalten auch einmal begegnet im Roman, die aber selber so unkonturiert ist oder sogar selbst erfunden ist, dass der Autor, die Autorin genügend Freiheiten hat, diese Figur nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Sprecherin: Der historische Roman ist nicht ausschließlich eine Erfindung von Walter Scott. Es war kein Zufall, dass ausgerechnet in diesen Jahrzehnten zahlreiche Schriftsteller ob in Frankreich oder Italien, Russland oder den deutschen Kleinstaaten - historische Stoffe für sich entdeckten. Schließlich hatten in Europa enorme Umwälzungen stattgefunden: die Französische Revolution und der Aufstieg Napoleons, die Befreiungskriege und die Neuordnung der europäischen Staaten. Jahrhundertealte ständisch-klerikale Strukturen wurden zerschlagen; der Adel war im Niedergang, neue bürgerliche Schichten im Aufstieg begriffen. Lebensweisen und Denkgewohnheiten veränderten sich. Die Gegenwart wurde als unsicher empfunden, und manch einer sehnte sich nach der vermeintlich festgefügten Vergangenheit, nach gemeinschaftsstiftender Tradition und nationaler Identität. Deutsche Romantiker suchten all das im Mittelalter, in den Burgen am Rhein, in Volksliedern und Märchen. Zeitgleich entstand eine akademische Geschichtswissenschaft. Erik Schilling über das Verhältnis von Fakten und Fiktion: O-Ton 04 - Erik Schilling: Jeder historische Roman basiert ja darauf, dass es einen historischen Kern gibt. Das kann eine historische Figur sein: Wenn Napoleon auftritt, dann muss dieser Napoleon sich irgendwie so verhalten, wie es vom wahren Napoleon überliefert ist. Das kann ein historisches Ereignis sein, dass von einer Schlacht, einem Kongress von was auch immer berichtet wird, und um diese Figur und dieses Ereignis herum sind dann andere fiktive Figuren oder Ereignisse angesiedelt und kreieren somit den Zwiespalt zwischen Historie und Fiktion, in dem sich der historische Roman von Anfang an bewegt. Regie: Leise Musik Zitator 2: […] Ohne sonderbare Reisevorfälle kamen die beiden Reisenden in die Nähe Augsburgs, hatten schon mit einiger Beklemmung die weite Stadt mit ihren vielen Türmen von einer Anhöhe überschaut, als Kaiser Maximilian bei der Wertachbrücke, der Kurfürst Joachim von Brandenburg auf der einen Seite, auf der andern Markgraf Kasimir, […] dessen hoher Braut entgegen ritten und dem Bürgermeister den Weg verrannten. […] Der Kaiser trug über seinem, mit Gold eingelegten Panzer einen roten, mit großen Perlen und grünen Edelsteinen gestickten Waffenrock, auf seinem Helme den zweiköpfigen Adler, der in der Krone wie in einem Neste seine Jungen 4

ausbrütete – ein Zeichen, dass er diesmal die Nachfolge im Reiche für seinen Sohn Karl vermitteln wollte. […] Der Bräutigam, Herr Kasimir, ließ sich in einem leibfarbenen, seidenen, mit Hermelin aufgeschlagenen, mit Silber gesticktem kurzen Mantel sehen, einen grünen Kranz auf dem Haupte, aber seine Schönheit, seine Freudigkeit war sein bester Kranz, so dass ihm jeder die schöne Braut gönnte, der das unzählige Volk […] mit Freudengeschrei entgegen jauchzte […]. Sprecherin: Achim von Arnims Roman „Die Kronenwächter“ aus dem Jahre 1817 spielt zur Zeit von Kaiser Maximilian, im Schwaben des 15. und 16. Jahrhunderts. Ein finsterer Geheimbund - die titelgebenden Kronenwächter - will die Stauferdynastie wiederherstellen und schreckt dabei selbst vor Mord nicht zurück. In Arnims fantasyhaftem Roman mischen sich historisch beglaubigte Personen wie Kaiser Maximilian oder Martin Luther mit fiktiven, ja märchenhaften Figuren. Hin und wieder sind Gedichte und Lieder eingestreut. Eindimensional in seiner Aussage hingegen liest sich der Roman „Ein Kampf um Rom“ von Felix Dahn, der 1876 erschien. Dieses damals überaus populäre Buch handelt vom Untergang des spätantiken Ostgotenreiches in Italien. Seine theatralischen Schilderungen aufopferungsvollen Heldentums entsprechen dem nationalpatriotischen Zeitgeist im wilhelminischen Kaiserreich. Das kriegerische Pathos kündigt sich bereits in der Anfangsszene des Romans an: Regie: Leise Musik, darüber: Zitator 2: Es war eine schwüle Sommernacht des Jahres fünfhundertsechsundzwanzig nach Christus. Schwer lagerte dichtes Gewölk über der dunkeln Fläche der Adria, deren Küsten und Gewässer zusammenflossen in unterscheidungslosem Dunkel: nur ferne Blitze warfen hier und da ein zuckendes Licht über das schweigende Ravenna. In ungleichen Pausen fegte der Wind durch die Steineichen und Pinien auf dem Höhenzug. […] Es war still auf dieser Waldhöhe: nur ein vom Sturm losgerissenes Felsstück polterte manchmal die steinigen Hänge hinunter [….]. Aber dies unheimliche Geräusch schien nicht beachtet zu werden von einem Mann, der unbeweglich auf der zweithöchsten Stufe der Tempeltreppe saß.[…] Endlich stand er auf und schritt einige der Marmorstufen nieder: […] »Ich habe euch hierher beschieden, weil ernste Worte müssen gesprochen werden, unbelauscht und zu treuen Männern, die da helfen mögen. […] Der mit dem Stahlhelm sah den Alten mit ernsten Augen an: »Rede,« sagte er ruhig, »wir hören und schweigen. Wovon willst du zu uns sprechen?« »Von unsrem Volk, von diesem Reich der Goten, das hart am Abgrund steht.« »Am Abgrund?« rief lebhaft der blonde Jüngling. Sein riesiger Bruder lächelte und erhob aufhorchend das Haupt. »Ja, am Abgrund,« rief der Alte, »und ihr allein, ihr könnt es halten und retten.« Sprecherin: Populäre Geschichtsromane wie der von Felix Dahn prägten keineswegs nur im wilhelminischen Deutschland über lange Jahrzehnte hinweg die Vorstellungen, die sich ein breites Lesepublikum von historischen Ereignissen oder Persönlichkeiten machten. Und dass die Darstellung historischer Personen auch heute noch Kontroversen auslösen kann, zeigen die in der Epoche Heinrichs des Achten angesiedelten Romane „Wölfe“ und „Falken“ der englischen Schriftstellerin Hilary 5

Mantel. Ihre empathische Darstellung des in Ungnade gefallenen königlichen Beraters und Lordkanzlers Thomas Cromwell provozierte erst kürzlich anlässlich ihrer Verfilmung eine Debatte in der britischen Presse. Geschichtsromane sind also zum Teil auch unserer Gegenwart verhaftet. Das meint auch die Schriftstellerin Tanja Kinkel, deren historische Romane immer wieder auf den Bestseller-Listen landen: Sie hat von der Begegnung zwischen Giacomo Casanova und der Sängerin Angiola Calori im Venedig des 18. Jahrhunderts erzählt und von einer freigelassenen Sklavin im antiken Rom zur Zeit des Kaisers Augustus. Sie hat über eine Mongolenherrscherin aus dem 15. Jahrhundert geschrieben und über die Beziehung zwischen dem französischen Kardinal Richelieu und seiner Nichte Marie. Seit ihrem 20. Lebensjahr veröffentlicht Tanja Kinkel, die übrigens über den Schriftsteller Lion Feuchtwanger promoviert hat, historische Romane. Was reizt sie an diesem Genre? O-Ton 06 - Tanja Kinkel: Es ist die Mischung aus Fremdem und Vertrauten, die den historischen Roman für mich so reizvoll macht. Jede Epoche hat einzigartige Umstände, die es zu keiner anderen Zeit gab, aber jede hat auch Parallelen zur Gegenwart. Die Kombination ist immer anders und immer neu herausfordernd. Das ist auch der Grund dafür, warum ich mich nie auf eine Epoche ob es jetzt die Gegenwart oder ein Jahrhundert in die Vergangenheit ist, festgelegt habe. Für mich ist eine der Reize beim Schreiben, mir immer wieder unterschiedliche Stoffgebiete, Persönlichkeiten, Themenbereiche vornehmen zu können und nur dadurch glaube ich kann ich mich als Schriftstellerin steigern und das bietet mir der historische Roman. Regie: Leise mittelalterliche Musik, darüber: Zitator 1: Sich in Liedern zu verlieren, war etwas, das Walther schon als Kind begeistert hatte, doch in den letzten Jahren war der Wunsch dazu gekommen, sie zu gestalten. Nicht nur derjenige zu sein, der vortrug, sondern derjenige, der die Worte schmiedete. Er hatte sich auch schon Verse zurecht gereimt, nur wusste er, dass ihnen jenes wunderbare Ebenmaß fehlte, das so manche Weise der großen Sänger zierte, die von den Höfen bis zu den Marktplätzen der Dörfer gedrungen waren. Deswegen brauchte er einen Meister, nicht irgendeinen, sondern den berühmtesten Sänger, von dem er gehört hatte: Reinmar, der am herzoglichen Hof zu Wien weilte. Deswegen war er hier. Sprecherin: In dem Roman „Das Spiel der Nachtigall“ widmet sich Tanja Kinkel den Lehr- und Wanderjahren des mittelhochdeutschen Dichters Walther von der Vogelweide. Es ist zugleich ein Epochenbild des feudalen Mittelalters, in dem Kinkel zeigen will, wie ein Dichter angesichts wechselnder Machtkonstellationen an den Fürstenhöfen seiner Zeit überlebte. O-Ton 07 - Tanja Kinkel: Ich habe bei dem Roman "Das Spiel der Nachtigall" absichtlich eine Hauptfigur haben wollen, die nicht aus der obersten Riege dieser Zeit stammt, aber natürlich die Auswirkungen der politischen Entscheidungen unmittelbar erlebt und jemand, der weder Waffen hat, noch großen Reichtum. Der durchaus die Ansicht vertritt: „wes Brot ich ess, des Lied ich sing“ – nicht, dass er nicht seine eigenen Ansichten hat 6

oder eine übergroß hohe Meinung von seinen jeweiligen Gönnern, aber er ist da Realist. Sprecherin: Ein möglichst spannendes Panorama der Bedingungen zu zeichnen, die einen Walther von der Vogelweide leben und dichten ließen - dazu bedarf es eben jener Mischung recherchierter historischer Fakten und erfundener Personen. So ist der Reitunfall, an dem Walthers Gönner, Herzog Leopold von Österreich, schließlich stirbt, historisch belegt. Die Figur einer jüdischen Ärztin namens Judith ist hingegen erfunden, um eine andere Perspektive als jene Walthers aufzuzeigen: O-Ton 08 - Tanja Kinkel: Dann ist es auch ein Unterschied, wie er als Mann und als Christ seine Gegenwart erlebt und wie meine andere Hauptfigur, die Ärztin Judith das tut: da sie eine Jüdin und eine Frau ist, erlebt sie ihre Gegenwart auf eine völlig andere Weise. Das ist einer der Gründe, warum diese Figur in dem Roman ist, weil ich auch diese Aspekte der Zeit hineinbringen wollte und ich das realistischerweise über die Figur Walther nicht konnte. Regie: Leise Musik, darüber: Sprecherin: Eine Frau als Ärztin im 12. Jahrhundert? Das lässt doch eher an den emanzipatorischen Geist unseres 21. Jahrhunderts denken. Doch im Nachwort erklärt die Autorin, dass zwischen dem 11. und dem 15. Jahrhundert die Namen zahlreicher Ärztinnen überliefert seien und nennt die dazugehörigen Quellen. Am Beginn des historischen Romans steht die Recherche - und die ist für Tanja Kinkel auch der umfangreichste Teil der Arbeit: Nach den Recherchen kommt das Schreiben des historischen Romans. Dabei warnt die Autorin vor allem vor zwei Fallen: O-Ton 10 - Tanja Kinkel: Das eine ist, zu versuchen, nur Gegenwartsfiguren in historischem Kostüm darzustellen: Wenn Sie nur das tun, dann brauchen Sie den historischen Roman nicht. Wenn es nur eine nette Kostümsache ist, und wenn sämtliche sympathische Figuren auf magische Weise eine moderne Geisteshaltung aus ihrer jeweiligen Gegenwart haben, wohingegen nur die unsympathischen die Vorurteile und Befangenheiten der Epoche, in der der Roman eigentlich spielen soll, zeigen. Also das ist mir zu billig, das ist zum Beispiel meiner Ansicht nach ein Fehler. Das umgekehrte Extrem ist, zu versuchen auf Teufel komm raus sozusagen, jede Äußerung dokumentiert sein zu lassen oder in einem pseudohistorischen Jargon zu schreiben, der nur noch für Linguisten verständlich ist. Sprecherin: Das aber wäre sozusagen der Anfang vom Ende eines historischen Romans. Denn dieser soll ja von einem gerade nicht fachwissenschaftlich orientierten Publikum gelesen und verstanden werden - insbesondere auch von dunklen politischen Zeiten. Das zeigen etwa die zahlreichen historischen Exilromane aus den 1930er und 1940er Jahren: angefangen von den Romanen Lion Feuchtwangers bis zu Heinrich Manns zweibändigem Roman über den französischen König Henri Quatre, der hier 7

als Muster aufgeklärten und humanen Denkens und Handelns erscheint. Damit entwarf Heinrich Mann auch ein Gegenbild zum propagandistischen Historienroman im nationalsozialistischen Deutschland. Einen regelrechten Abschwung allerdings erlebte der historische Roman erst einmal nach 1945. Literaturwissenschaftler Erik Schilling: O-Ton 11 - Erik Schilling: In den Jahrzehnten nach 1945 ist der historische Roman als Gattung kaum besetzt, ja sogar ein bisschen verdächtig, könnte man sagen, denn während der NS-Zeit hatte der Rückgriff auf Geschichte propagandistischen Zwecken gedient. Und in den fünfziger und sechziger Jahren standen dann primär in der Literatur zeitgenössische politische Auseinandersetzungen im Vordergrund - denken Sie etwa an die Werke von Heinrich Böll oder von Günter Grass oder von Hans-Magnus Enzensberger. Regie: Leise Musik, darüber: Sprecherin: Das alles änderte sich erst mit einem Buch aus dem Jahre 1980, das auf einen Schlag ein Weltbestseller wurde: Umberto Ecos Roman „Im Namen der Rose“. Die in einer mittelalterlichen Abtei angesiedelte Geschichte über einige mysteriöse Todesfälle, um eine geheimnisvolle Bibliothek und die Detektivarbeit eines gewissen William von Baskerville und seines jungen Schülers Adson von Melk, hat Millionen von Lesern in den Bann geschlagen: Zitator 2: Wir sangen gerade die ersten Worte des Evangeliums und als wir das Verbum bezeugten, […] schien mir, als breche das Tagesgestirn in all seinem Glanze hervor. […] In diesem Moment erhob sich ein großer Lärm vor dem Nordportal draußen im Hof. Ich fragte mich, wie die Knechte es wagen konnten, derart das fromme Gebet der Mönche zu stören, denn zweifellos waren es Knechte auf dem Wege zu ihrer Arbeit. Da wurde auch schon die Tür aufgerissen und hereingestürzt kamen drei Schweinehirten mit schreckverzerrten Gesichtern, eilten zum Abt und flüsterten ihm etwas zu. Der wies sie mit einer Geste zur Ruhe, um den Gottesdienst nicht unterbrechen zu müssen, doch schon folgten andere und das Geschrei wurde lauter. „Ein Mensch, es ist ein toter Mensch!“ rief einer erregt, und andere schrien dazwischen: „Ein Mönch! Hast Du nicht das Schuhwerk gesehen?“ O-Ton 12 - Erik Schilling: Man kann den "Namen der Rose" als Kriminalroman lesen und es ist dann wirklich ein spannender Text, wenn man einige der geschichtlichen und philosophischen Exkurse überblättert, aber nichtsdestoweniger, es ist einfach ein Text, der einen packt von der ersten bis zur letzten Seite. Man kann den Text aber auch lesen als Auseinandersetzung mit semiotischen Konzepten, mit literaturtheoretischen Konzepten, mit geschichtsphilosophischen Fragen, das heißt: dieser Roman spricht ganz viele unterschiedliche Leser gleichermaßen an. Sprecherin: Sagt Erik Schilling. Dass sich in Ecos Roman nicht nur seine beiden Helden auf die Suche nach der Wahrheit hinter den Mauern der Abtei begeben, sondern auch der 8

Roman selbst die heikle Frage nach seiner eigenen Wahrheit stellt, wird bereits auf den ersten Seiten deutlich: Regie: Leise Musik, darüber: Zitator 2: Am 16. August 1968 fiel mir ein Buch aus der Feder eines gewissen Abbé Vallet in die Hände: Le manuscript de Dom Adson de Melk, traduit en français d‟après l‟édition de Dom J. Mabillon (Aux Presses de l‟Abbaye de la Source, Paris 1842). Das Buch, versehen mit ein paar historischen Angaben, die in Wahrheit recht dürftig waren, präsentierte sich als die getreue Wiedergabe einer Handschrift aus dem 14. Jahrhundert, die der große Gelehrte des 17. Jahrhunderts, dem wir so vieles für die Geschichte des Benediktinerordens verdanken, angeblich seinerseits im Kloster Melk gefunden hatte. Der kostbare Fund - meiner, also der dritte in zeitlicher Folge heiterte meine Stimmung auf, während ich in Prag die Ankunft einer mir teuren Person erwartete. O-Ton 13 - Erik Schilling: Eco steigt gleich am Anfang ein mit einer sogenannten Handschriftenfiktion. Der Roman wird nicht von einem Autor oder einem Erzähler berichtet, sondern von einem Herausgeber, der vorgibt, ein mittelalterliches Manuskript gefunden zu haben. Und von diesem Manuskript wird auch der Überlieferungsweg beschrieben, also wer zu welchem Zeitpunkt das Manuskript besessen hat und wie es in die Hände des Herausgebers gekommen ist. Innerhalb dieser Handschriftenfiktion lassen sich, wenn man genauer hinschaut, ganz viele kleine Fehler finden, Brüche: Es wird simuliert, so etwas wie historische Wahrheit zu erzeugen, es gibt sogar Fußnoten in der Handschriftenfiktion, aber wenn man versucht, die Werke, die in diesen Fußnoten zitiert sind, zu recherchieren, stellt man fest, dass es die gar nicht gibt, oder dass es sie anders gibt, oder dass da gar nicht das drinsteht, was angeblich drinstehen soll. Das heißt, für den aufmerksamen Leser stellt der Roman bei Eco bereits ganz am Anfang klar, dass er nicht historische Wahrheit präsentiert bekommen wird, sondern eine gute Geschichte, die zwar historische Bezüge hat, aber primär eine Geschichte ist. Sprecherin: Damit aber, so Erik Schilling, werde gewissermaßen mit der Illusion gebrochen, dass es sich hier um eine historisch belegbare Wahrheit handele - und zugleich werde die zentrale Frage des historischen Romans überhaupt behandelt: O-Ton 14 - Erik Schilling: Also man kann ja mit ganz unterschiedlichen Mitteln auf die zentrale Frage, von der der historische Roman niemals wegkommt: "Was ist Wahrheit?" Was ist Fiktion?" hinweisen. Man kann das tun, indem man explizit die Möglichkeit historischer Wahrheitsfindung thematisiert, wie einige Romane das tun. Man kann es aber auch über die Erzählform tun, dadurch dass man Märchenelemente einbindet und dadurch aufzeigt, dass es nicht nur um historische Wahrheit geht, sondern dass immer auch ein starker fiktionaler Anteil den Text prägt. Sprecherin: 9

Und dieser erdichtete Anteil öffnet das Genre für zahlreiche Darstellungsformen. So kann der historische Roman Science Fiction oder Kriminalroman sein. Er kann - wie Daniel Kehlmann in seinem Roman „Die Vermessung der Welt“ - den Naturforscher Alexander von Humboldt und den Mathematiker Carl Friedrich Gauß ironisch spiegeln. Der historische Roman kann seine eigenen Möglichkeiten und Grenzen zum Thema machen – wie etwa bei Umberto Eco. Die Konvention, wonach die Romanhandlung mindestens sechzig Jahre zurückliegen sollte, ist längst durchbrochen. Christine Steffen-Reimann, Lektorin historischer Romane beim Droemer-Knaur-Verlag und Programmleiterin von Knaur-Taschenbuch: O-Ton 15 - Christine Steffen-Reimann: Mittelalter rauf und runter lief ganz gut, oder sehr gut: da vor allen Dingen mit einer weiblichen Protagonistin im Mittelpunkt. In den letzten Jahren hat man dort eine Verschiebung durchaus beobachten können: stärker auch das 19. Jahrhundert, spannende Frauengeschichten, die im 19. Jahrhundert spielen - Und jetzt in letzten Jahren, kann man bemerken, dass das 20. Jahrhundert sozusagen historisch wird, was im ersten Moment etwas befremdlich anmuten mag - aber für die jüngere Generation ist das 20. Jahrhundert tatsächlich Geschichte, tatsächlich Historie. Man könnte ja annehmen, dass historische Romane eher von der älteren Generation gekauft werden: dem ist nicht so. Das merken wir an Leserzuschriften, also es sind ganz viele junge Frauen, sag ich jetzt mal, die auch sehr, sehr gerne was über Geschichte lernen wollen, was sie in der Schule nicht erfahren haben. Sprecherin: Und diese Leserinnen suchen offenbar auch Antworten auf ihre persönlichen Fragen. O-Ton 17 - Christine Steffen-Reimann: Wenn ich über das Thema Frau gehe, ist es schon immer dieses "wie behaupte ich mich in der Gesellschaft, in der ich mich befinde, in der ich aufgewachsen bin, in der ich lebe?" Wenn ich Grenzen überschreiten will, wie gelingt mir das, oder: gelingt mir das?" Das ist schon ein Motiv, das sich eigentlich durch alle Epochen im historischen Roman beobachten lässt, ja. Musik: Sprecherin: Auch diese Motive sind möglicherweise eine Ursache für den Boom des historischen Romans in den vergangenen zwanzig Jahren. Inzwischen, so ist bei Droemer-Knaur zu erfahren, ebbt die Welle wieder etwas ab. Dass dem historischen Roman dennoch weiterhin eine Zukunft beschieden ist, darauf deuten nicht nur die zahlreichen EBooks und Eigenveröffentlichungen im Internet hin. Auch der literaturwissenschaftliche Experte für den historischen Roman, Erik Schilling, verweist darauf, dass die Zukunft dem Genre immer schon eingeschrieben ist: O-Ton 20 - Erik Schilling: Der historische Roman operiert ja einerseits mit der Zukunft, die die Gegenwart des Lesers ist, aber für den Roman selbst, also für die Zeit, in der der Roman spielt, Zukunft. Und er operiert mit einer zweiten Form von Zukunft, nämlich mit derjenigen Zukunft, die auch für den Leser des Romans, oder für den Autor des Romans zu der Zeit, in der der Roman selbst entstanden ist, Zukunft ist. Das heißt, die 10

Auseinandersetzung mit dem, was kommen wird, mit Zukunft, ist für den historischen Roman gleich doppelt relevant und somit auch für den Leser, denn in keinem anderen Roman kann er eine so differenzierte Auseinandersetzung mit dem was kommen wird, finden.

***** Literaturliste: Hans Vilmar Geppert: Der Historische Roman. Geschichte umerzählt – von Walter Scott bis zur Gegenwart. Tübingen 2009. Erik Schilling: Der historische Roman seit der Postmoderne. Heidelberg 2012. Walter Scott: Waverley (Or: T‟is Sixty Years Since). Diverse englischsprachige Ausgaben, zum Beispiel: „Penguin Classics“ (Taschenbuch) London, 2011. Deutschsprachige Ausgabe, z.B.: Waverley oder `s ist sechzig Jahre her. (Dünndruck) dtv 1982. Achim von Arnim: Die Kronenwächter. In: Achim von Arnim: Werke in sechs Bänden, Band 2. Herausgegeben von Paul Michael Lützeler. Suhrkamp (Frankfurter Klassiker-Verlag) 1989. Felix Dahn: Ein Kampf um Rom. (Vollständige Ausgabe) – Historischer Roman. Paderborn 2011. [Anmerkung: Sämtliche dieser „Klassiker“ sind in der Textgestalt älterer Ausgaben auch kostenfrei im Internet „Projekt Gutenberg“ abrufbar – z.B. unter: http://gutenberg.spiegel.de/ ] Umberto Eco: Der Name der Rose. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. München, Wien 1982. Hilary Mantel: Wölfe (engl. Originaltitel: „Wolf Hall“, 2009). Köln (Dumont) 2010. Hilary Mantel: Falken (engl. Originaltitel: „Bring up the bodies”, 2012). Köln (Dumont) 2013. [Anmerkung: Beide Romane sind Teile einer Trilogie über Thomas Cromwell] 11

Tanja Kinkel: Das Spiel der Nachtigall. Roman. München (Droemer-Knaur) 2012 (Taschenbuchausgabe). [Anmerkung: Eine Liste sämtlicher historischer Romane von Tanja Kinkel findet sich auf der Website der Autorin: www.tanja-kinkel.de] Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt. Rowohlt (Taschenbuch) 2008. Thomas Hettche: Pfaueninsel. Roman. Kiepenheuer &Witsch 2014.

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