Prof. Dr. Franz-Theo Gottwald Schweisfurth-Stiftung Speiserituale – zur Moral von Essen und Trinken Bio und Slow Food haben gemeinsam, dass sie sich nicht nur um Qualitätsfragen der Ernährung kümmern, sondern sich immer wieder mit agrar- und ernährungsethischen Themen befassen. Die Biobewegung und Slow Food-Bewegung kümmern sich also immer auch um die Moral von Essen und Trinken. Und Essen und Trinken haben zweifelsohne eine moralische Dimension von eminentem Stellenwert. Mit jedem Speise- und Getränkegenuss – selbst wenn es sich um einfache Lebensmittel und Getränke wie Wasser und Brot handelt – müssen wir Menschen uns vor uns selbst und vor der natürlichen Mitwelt rechtfertigen: Was wir essen, wie viel wir trinken, wo wir etwas zu uns nehmen und mit wem, in welcher Haltung – die moralischen Prüfsteine für all dies sind

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Verantwortbarkeit gegenüber der natürlichen Mitwelt,

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Zumutbarkeit gegenüber der sozialen Mitwelt, also den lebenden und den zukünftigen Generationen von Mitmenschen,

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Zuträglichkeit gegenüber dem eigenen Leib.

Essen und Trinken ist hochgradig wertgeladen. Werte wie Leben und Lebendigkeit, Qualität oder Güte eines Lebensmittels, Gesundheit, Fitness und Vitalität, Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft, Genuss und Anerkennung, Konsumfreiheit bis hin zum Rausch – all diese und noch viele andere hier nicht genannte Werte, werden bei den Mahlzeiten verwirklicht oder verletzt. Seit den Uranfängen der menschlichen Kulturgeschichte sind sich Menschen der höchst problematischen, komplexen, vielfältig unüberschaubaren Konsequenzen ihrer Ess- und Trinkgewohnheiten und Gebräuche bewusst. Deshalb wurde – wie bei keinem anderen Basisbedürfnis des Menschen – in allen höheren Kulturen

Essen und Trinken ritualisiert. In den meisten Kulturen ist man sich bewusst, dass Menschen als eine Form von Lebewesen in einer endlosen Kette des Lebens, des Geborenwerdens und Sterbens eingebunden sind und für sie, wie für viele andere Lebewesen, Leben geradezu zwangsläufig bedeutet, Nahrung zu gewinnen, indem anderes Leben zerstört oder getötet wird, bevor es dann nach mehr oder weniger anspruchsvoller Verarbeitung verspeist oder in flüssiger Form zu sich genommen wird. Jäger und Fischer töten, wer den Boden kultiviert, tötet zwangsläufig Kleinlebewesen. Sammeln und Pflücken ist noch mit den geringsten Konflikten verbunden. Laut alttestamentarisch-jüdischer Speisevorschriften, ähnlich wie in brahmanisch-hinduistischen Geboten, heißt es deshalb: Menschen sollten von dem leben, was sie pflücken und einsammeln können, ohne anderen Lebewesen Gewalt anzutun oder selbst an Leib und Seele Schaden zu erleiden. Um einen Blick auf die Ritualisierung des Speisens angesichts des Gebots höchstmöglicher Gewaltfreiheit und Reinheit zu nehmen, wie sie sich in einer der alten Kulturen, der brahmanischen Kultur Indiens, vor ca. zweieinhalb Tausend Jahren entwickelt hat und immer noch in den oberen brahmanischen Kasten Indiens gelebt wird, um also eine elaborierte und komplizierte Ritualisierung und kulturelle Ordnungsgabe rund ums Speisen exemplarisch zu verstehen, sei Jakob Rösel zitiert, der hierzu schreibt: „Unter der Beurteilungsperspektive des Tötungsverbotes wird damit auch verständlich, dass rohe Nahrungsmittel von jedem angenommen oder – etwa im Falle gesammelter Früchte – gegessen werden können. Rohe, das heißt gesammelte oder kultivierte Nahrungsmittel verfügen damit über eine rituelle Bewegungsfreiheit. Sie transportieren nicht, wie Fleisch oder Fisch, Verunreinigungen und sie nehmen auch keine Verunreinigung seitens Unreiner – Bauern, Dschungelbewohner, Träger oder Händler – an. Ein für das Leben und auch für Brahmanen unverzichtbarer Nahrungshandel wird dadurch erst rituell möglich. Der gleiche Zusammenhang gilt auch und vor allem für das so unverzichtbare Wasser, ebenso wie für die Milch. Die meiste Nahrung muss aber verarbeitet, gekocht, werden. Aus der (rituell gedacht) kontaktlosen rohen Nahrung wird jetzt die kontaktbehaftete, die mit Wasser, Öl oder Gewürzen vermischte Nahrung. Dieses Kochen, diese Zustandsveränderung ist aber 2

in einem enormen Maße von Verunreinigung bedroht. Der Ort und Akt des Kochens muss deshalb vor Verunreinigung besonders geschützt werden, und der Transport gekochter Nahrung steht unter der Gefahr der permanenten Verschmutzung. Wird allerdings mit Butterfett, also dem höchsten Nahrungsstoff des höchsten Tieres, der Kuh, gekocht, frittiert oder gebraten, so verkehrt sich der Berührungszusammenhang: Das Kochen mit Wasser, Öl und Gewürzen setzt das Gekochte der Gefahr der Verunreinigung aus, das Kochen mit Butterfett immunisiert die Speise. Deshalb kann alles mit Butterfett gekochte, vor allem Fettgebäck und Süßigkeiten, relativ frei von Befleckungsgefahr in der Öffentlichkeit, etwa bei religiösen Festen, auf Märkten, in den Basaren und vor den großen Tempeln angerichtet, verkauft und gegessen werden.“ (J. Rösel, 2005, S. 143). Neben der Ritualisierung und der Vielzahl von Geboten und Verboten, die in den unterschiedlichsten Kulturen rund um das Essen und Trinken entwickelt worden sind, damit Menschen mit den moralischen Konflikten der Nahrungsgewinnung, des Handels mit Lebensmitteln und der Zubereitung wie Verspeisung zurecht kamen, haben sich auch weitere moralische Funktionen von Speiseritualen in der Kulturgeschichte herausgebildet. Es sind symbolische Handlungen, wohlgeordnete, durch wiederholten Gebrauch von Generation zu Generation übermittelte Systeme von Zeichen entstanden, die für das menschliche Miteinander der Nahrungsgewinnung und des Essens und Trinkens Orientierungshilfen, auch im Sozialen, geben. Kulturen unterscheiden sich geradezu wesentlich voneinander durch die unterschiedlichen Muster des ritualisierten miteinander Speisens und Trinkens, wie diese sich beispielsweise in Tischordnungen, Tischsitten und Funktionen von Speisen, wie etwa dem Leichenschmaus, dem Hochzeitsmahl oder der Henkersmahlzeit, niederschlagen. Wie das gemeinsame Mahlhalten Gemeinschaft bildet, so stiftet die Art und Weise des miteinander Essens und Trinkens eine Moral, eine Sitte des wertorientierten miteinander Umgehens, was von den – wenn wir auf die europäische Kulturgeschichte blicken – römischen Feuerwächtern angefangen, über die mittelalterlichen Gilden, die Zünfte, die Genossenschaften, bis hin zu den heutigen Vereinigungen vielfältiger Art, Tragfähigkeit entwickelt. 3

Lothar Kolmer, Ernährungshistoriker aus Salzburg, schreibt hierzu: „Das Mahl diente hauptsächlich dazu, das Zusammengefühl, auch ideelle Vorstellungen einer solch bestehenden Gruppe auszudrücken: Das Selbstverständnis, Wertsystem, ihre Ehrbegriffe. Die mittelalterlichen Zünfte dürften als Modell wohl am bekanntesten sein. Ihr Mahl fand jeweils am gleichen Tag des Jahres statt, gewöhnlich an dem ihres Schutzheiligen. Der Ablauf war ebenso festgelegt: nach einer Messe mit Fürbitten für die Toten erfolgte ein feierlicher Einzug in den Raum, wo das Mahl stattfand. Die Sitze wurden nach Rang und Funktion eingenommen, ebenso liefen Reden und Trinksprüche in bestimmter Ordnung ab. Gerade das Zutrinken musste geregelt werden, da mit zunehmenden Alkoholkonsum die Zunge und zum Teil auch die Fäuste lockerer wurden. Ziel war es, zu einer „exklusiven Gemeinschaft“ zu werden. Exklusiv steht hier im doppelten Wortsinn: weil manche ausgeschlossen waren, stiegen die, die einbezogen waren, im Ansehen.“ (L. Kolmer, 2005, S. 202-203). Für mich ist Slow Food mit den Convivien ein moderner ritueller Zusammenhang, der zweifelsohne ähnliche Funktionen erfüllt. Im Biobereich kann ich derzeit noch nichts ähnlich Konturiertes erkennen, wenn auch auf eine Reihe regionaler Events, wie beispielsweise auf Demonstrationsbetrieben, durchaus immer wieder in einem miteinander vergleichbarem Muster, Produktgenuss frugal inszeniert wird. Slow Food und Bio haben aber gemeinsam, dass sie Systeme der Erkennbarkeit, Unterscheidbarkeit, Identifizierbarkeit pflegen, und sei es nur die Pflege eines an sich mageren Zeichens, das über die Herkunft und den Verarbeitungsprozess in der Form des sogenannten Biosiegels Auskunft gibt. Im Zentrum von Symbolsystemen stehen immer – so lehrt uns die Kulturgeschichte – normative Eckpunkte einer Ernährungsethik. Was könnten zu Beginn des 21. Jahrhunderts Eckpunkte sein, die für die Biobewegung und das Slow Food-Movement gleichermaßen gelten? Zur Festlegung dieser normativen Grundlagen nutze ich die angewandte Mitwelt-Philosophie, wie sie praktische Naturphilosophen wie Klaus Michael Meyer-Abich oder praktische Theologen wie Günter Altner an verschiedenen Stellen formuliert haben, um Menschen in unseren Tagen und in der sich herausbildenden Wissensgesellschaft Orientierung für verantwortungs-bewusstes Essen und Trinken zu geben. Wir haben in der 4

Schweisfurth-Stiftung versucht, Gedanken aus diesen Ansätzen moralphilosophischer Reflexion, die zugleich Sozialphilosophie ist, in unser Leitbild einer lebensverträglichen Agrarkultur einfließen zu lassen. Dieser leitbildkonforme, mitweltverträgliche Ernährungsstil, der sowohl die natürliche als auch die soziale Mitwelt nachhaltig positiv verändern hilft, zeichnet sich durch folgende Grundsätze aus:

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Bevorzugung pflanzlicher Lebensmittel Vermeidung unnötiger Lebensmittelverarbeitung (Lebensmittel so naturbelassen wie möglich) Vermeidung von Lebensmittelzusatzstoffen Bevorzugung von Erzeugnissen aus kontrolliert-ökologischer (kontrolliert-biologischer) Landwirtschaft Bevorzugung von saisonalem Obst und Gemüse aus regionalem Anbau Vermeidung aufwendiger Lebensmittelverpackung Einsatz umweltverträglicher Technik, sowohl bei der Herstellung von Lebensmitteln, als auch beim Transport und beim Umgang mit ihnen in Privathaushalten (Kühlung, Herd-Technik, Küchengeräte) Verminderung von Veredelungsverlusten bei der Erzeugung tierischer Lebensmittel Verminderung des Imports von Futtermitteln Verminderung von Überschussproduktion und Lebensmittelvernichtung Existenzsicherung kleiner und mittlerer bäuerlicher Betriebe – weltweit.

Wer diesen 11 Grundsätzen gemäss sein Ernährungsverhalten ausrichtet und sich darüber hinaus im Sinne von Klaus Michael Meyer-Abich für die „Verschönerung der Welt“, also für die Realisierung verbesserter Lebensbedingungen für möglichst viele Mit-Lebewesen engagiert, der dürfte auch unter fundamental-theologischen Gesichtspunkten nicht sündig an der Natur und am Leben werden. Da aber allgemein bekannt ist, dass zwischen Sollen und Können häufig ein großer Unterschied herrscht – gerade in Bezug auf Essen und Trinken – muss man sich fragen, was den Menschen helfen kann, diese agrar- und ernährungsethischen Normen leichter zu befolgen. Ich glaube, dass die Normenbefolgung oder die Motivierung des Willens am besten durch das 5

Erwecken von Gefühlen gelingen kann. Wenn wir also über diese Normen hinaus auf die Gefühle blicken, die die moralische Dimension der Ernährung leiten, so lassen sich drei zentrale Gefühle festhalten: Mitgefühl, Ehrfurcht und Solidarität. Klaus Michael Meyer-Abich hat in seinem Buch „Wege zum Frieden mit der Natur – Praktische Naturphilosophie für die Umweltpolitik“, München, 1984, zum Mitgefühl treffend geschrieben: „Mitgefühl versetzt uns in die Lage dessen, was mit uns ist. Eine Ethik ist erst dann über jeden Egoismus hinaus, wenn sie auf Mitgefühl beruht. Im Mitgefühl zur natürlichen Mitwelt lassen wir sie um ihrer selbst willen gelten. Mitgefühl ist eine Voraussetzung dafür, dass Menschen Rechte der natürlichen Mitwelt in einer Rechtsgemeinschaft der Natur anerkennen und bei der Abwägung gegensätzlicher Interessen berücksichtigen. Ziehen wir bisher nur unsererseits die übrige Welt in Mitleidenschaft, so geschieht dies im Mitgefühl umgekehrt auch uns. Der Homo oeoconomicus, der sein Handeln vom Eigennutz leiten lässt, wird sich diese eigene Mitleidenschaft verbitten. Soviel ich sehe, gibt es heute jedoch ein starkes Bedürfnis, nicht immer nur alles für sich selber zu tun, sondern – wiederum im überschaubaren Bereich – auch für andere und anderes dazusein.“ (S. 156). Neben dem Mitgefühl ist das Gefühl von Ehrfurcht am Wiedererwachen. Ehrfurcht entsteht dort, wo etwas zu ehren ist, wo etwas als prinzipiell unantastbar, nicht manipulierbar, in seinem Eigenwert unbedingt zu respektierend erkannt wird. Der sich zunehmend intensivierende Kampf gegen gentechnische Veränderungen von Saat- und Zuchtgut basiert auf dem erkenntnisleitenden Gefühl der Ehrfurcht. Das, was die Evolution oder die Naturgeschichte in Millionen Jahren als lebens- bzw. überlebensfähiges Pflanzen- und Tiergut hat werden lassen, ist erst in den letzten fünfzigtausend Jahren durch langsame kulturelle Einflussnahme in Ackerbau und Viehzucht zu immer höheren Erträgen oder Leistungen geführt worden. Fatale Begleiterscheinung ist dabei die Reduktion derArtenvielfalt, beispielsweise beim Weizen auf sechs Hochertragssorten, bei den Puten auf eine Hochleistungsart, bei den Milchkühen auf die Turbo-Zwölftausendliter-Kuh (natürlicher Weise und Kreatur angemessen wären drei- bis viertausend Liter). Eine reduktionistische, 6

molekularbiologische Annäherung an die natürliche Mitwelt hat jeden Respekt im Sinne von Ehrerbietung dem größeren, langsam gewordenen Ganzen gegenüber verloren, das nicht überlebt durch Einfalt, sondern durch standort-bezogene Vielfalt. Aber sie hat auch jede Furcht verloren, beispielsweise vor Migrationseinflüssen nach gentechnischem Eingriff, die in der Pflanzenwelt nachweislich und vorhersehbar zur Vernichtung weiterer Arten führen werden und damit zur Verarmung der natürlichen Mitwelt. Ebenso hat sie jede Furcht vor der Vernichtung und dem Zugrundegehen abertausender „Versuchswesen“ verloren, die bei der Klonierung auf der Strecke bleiben bzw. ein nicht artgemäßes, kurzes, teils schmerzhaftes, teils elendes Leben führen müssen. Ganz zu schweigen von der Furcht vor den seelischen Folgen, die die Massenvernichtung von Tieren in Versuchslaboratorien weltweit mit sich bringt: Seelische Verrohung bei allen, die unmittelbar damit zu tun haben, extrem starke Verdrängung von Leid, Schmerz und Tod bei allen, die darum wissen, dass es diese lebensunwürdige Praxis gibt und die sich ohnmächtig fühlen, hier etwas zu verändern. Oder gar nichts verändern wollen. In meinen Arbeiten zur Tiefenökologie habe ich, der Mitwelt-Philosophie Klaus Michael Meyer-Abichs folgend, die Zusammenhänge zwischen Ehrfurcht, Verantwortungsbewusstsein, Mäßigung, Gerechtigkeit und Vielfalt reflektiert. Ehrfurcht vor der Natur fördert das Bewusstsein der Verantwortung. Sie bringt auch Mäßigung mit sich, als positive Tugend unseres Daseins, als Gnade ohne Verschwendung und Vorbedingung innerer wie äußerer Schönheit. Sie bringt die spontane Einsicht mit sich, dass Mäßigung die wohlüberlegte und umsichtige Nutzung von Ressourcen ist, unser Leben bereichert und nicht ärmer macht, dass die Einfachheit an Mitteln mit dem Reichtum an Zielen einhergehen kann, und Grundlage für einen nachhaltigen Lebensstil ist. Ehrfurcht manifestiert ferner Vielfalt. Sie erhält nämlich Vielfalt als zentrales Bestimmungsmoment von Evolution gleichermaßen in Natur und Kultur. Im Verlauf seiner Evolution hat das 7

Leben mittels geschickt angewandter Mäßigung eine wundervolle Vielfalt geschaffen. Und schließlich entsteht aus Ehrfurcht Gerechtigkeit, indem sie einsehen lässt, dass der Einzelne nicht wirklich Gerechtigkeit erfährt, wenn er nicht allen Lebewesen Gerechtigkeit zukommen lässt. Neben dem Wiedererwachen und Stärken des Mitgefühls und der Ehrfurcht geht es um das Gefühl der Solidarität mit allem Lebendigen. Dieses Gefühl prägt jedwede Erweiterung des Verantwortungskreises: vom Einzelnen auf seinen persönlichen Umkreis, von dort auf die Nation, die Völkergemeinschaft und die Menschheit insgesamt, einschließlich der Nachgeborenen, und schließlich über die Menschheit hinaus auf alle Lebewesen, ist der Kreis dessen, worauf im menschlichen Handeln um seiner selbst willen Rücksicht genommen werden sollte, fast unvorstellbar vergrößert worden. Wenn, und das ist jetzt schon absehbar, durch die bestehende globale Ernährungspolitik kein menschenwürdiges Leben für ca. zwei der sechs oder mehr Milliarden Menschen mehr möglich ist, wird Solidarität zur zentralen Bedeutung eines Ethos der Ernährung werden. Das Weltethos der Ernährung braucht keine neuen Kulte, sondern eine tiefe Einsicht in die Notwendigkeit mitmenschlicher Hilfe, ein auf den Mitmenschen gerichtetes helfendes Handeln, das die lebensbedrohliche Lage, wie sie Hungernde und Obdachlose erfahren, ernst nimmt und aus Verbundenheit, Mitgefühl und Ehrfurcht heraus alles dafür tut, hier Lösungen großherzig herbeizuführen. Diese Solidarität mag gelegentlich nicht gelingen, wenn nicht auch größere Bevölkerungskreise sich neu im Verzicht üben. Auch hier hat der alttestamentarische Prophet ein über die Jahrtausende hinweg gültiges Wort gesprochen, wenn er sagt, dass das neue Fasten nicht ein bloß religiöses, einem Gott geweihtes sein sollte, sondern vielmehr sich als Tat 8

der Liebe versteht, bei der persönlicher Verzicht in den Dienst an den in seinem Leben geminderten oder gar bedrohten Mitmenschen gestellt werden muss. Moderne Speiserituale, die eine neue Moral im Umgang mit Essen und Trinken kodieren, gründen in der Verwirklichung dieser drei Leitwerte. In unterschiedlicher Ausformung beherrschen diese drei Leitwerte auch das Wertempfinden bei Bio-Bewegten und Slow Food-Anhängern. Darüber hinaus haben beide gemeinsam, dass ihre moralischen Vorstellungen in einer neuen Kultur der ganzheitlichen Wahrnehmung fußen. Ganzheitliches Wahrnehmen zu entdecken, gelingt durch eine Sinnes- und Genussschulung, die letztlich das Fundament im Erleben darstellt, auf dem ökologische Agrar- und Esskultur beruht. Klaus Michael Meyer-Abich ist der Deformation der Wahrnehmung und der Anpassung an Fehlentwicklungen nachgegangen. Er setzt sich in seinen Schriften immer wieder dafür ein, dass eine Kultur holistischer Wahrnehmung entsteht, in der die menschlichen Sinne und die menschliche Genussfähigkeit so entfaltet wird, dass sie zum Frieden mit der Natur beiträgt, und nicht die weitere Vernutzung und Ausbeutung der Mitwelt um sich greift. In dieser Naturphilosophie, die zugleich Kulturphilosophie ist, braucht die Besinnung auf das rechte Leben wache, unterscheidungsfähige, genussbereite Sinne, die nicht durch das gängige Geschmacksdesign dauerhaft deformiert sind. In der Erkundung des menschlichen Leibes widmet sich der Sinnesphilosoph insbesondere dem Tast- und Bewegungssinn. Für die ethische Dimension der Ernährung ist aber darüber hinaus der Geschmackssinn und auch der Geruchssinn von besonderer Bedeutung. Um in Zukunft mehr Verantwortung via persönlichem Ernährungsstil übernehmen zu können, müssen Menschen darin geschult werden, subjektiv und unabhängig von Experten für sich feststellen zu können, was ihrem Organismus bekommt und was nicht. 9

Da der Mensch Lebensmittel nicht nur zur Nährstoffversorgung isst, sondern auch einen Genuss damit verbindet, der über ein Geschmacks-, Geruchs-, Tast- und Farberlebnis zustande kommt, lässt sich die Qualität von Lebensmittel vorrangig mit Hilfe von vier der fünf Sinne überprüfen. Eines meiner visionären Anliegen ist es, schon im Kindesalter damit zu beginnen, die sinnlich-sensorische Wahrnehmungsfähigkeit bewusst zu trainieren, und zwar besonders im Hinblick auf Nahrungsmittel, um folgende Eindrücke zur qualitativen Beurteilung zu vervollkommnen:

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Die visuellen Eindrücke hinsichtlich der Farbe, Form, Struktur, des Glanzes und der Trübung, die olfaktorischen Eindrücke, differenziert nach Anfangsgeruch, Hauptgeruch, Nachgeruch, die gustatorischen Eindrücke, sowie die haptischen Eindrücke.

Für eine Kultur der ganzheitlichen Wahrnehmung, die sich gerade auch um eine neue Art des Essens und Trinkens herum aufbauen kann, spielt neben dem Ansatz bei jungen Menschen auch die Slow Food-Bewegung eine besondere Rolle. 1989 veröffentlichte diese Bewegung ihr Manifest. Dort heißt es sinngemäß: Wir wollen die Reichhaltigkeit und Aromen der regionalen Kochkunst wiederentdecken, um anzukämpfen gegen die Gleichmachung des Fast Food. Slow Food ist die neue Reaktion auf das „Fast Life“, das unser Leben verändert hat und Umwelt und Landschaft im Namen der Produktivität bedroht. Das ausgewählte Symbol dieser internationalen Bewegung ist das Zeichen der Langsamkeit selbst: die Schnecke. Ein allgegenwärtiges, vorsichtiges, kleines Tier, ein Talisman gegen das Hasten der modernen Welt, gegen Frustration und Konzentration auf das eigene Ich, für alle, die vor Ungeduld weder fühlen noch schmecken können, die zu gierig sind,

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um sich überhaupt noch daran zu erinnern, was sie gerade verschlungen haben. Beim Ansatz von Slow Food ist der Beitrag zu einer Kultur ganzheitlicher Wahrnehmung offensichtlich. Die Leitgedanken der Slow Food-Aktivitäten sind stets Geselligkeit und das Recht auf Geschmack und Sinnesfreude. Weitere wichtige Ziele lauten: Verbreitung und Stimulation einer ganzheitlichen Körperkultur, eine Bewahrung des agro-kulturellen Erbes (Bewahrung der Biodiversität der Ernteerzeugnisse, handgemachter Lebensmittel und damit verbundener Traditionen) und Bewahrung der geschichtlichen, künstlerischen und umweltbezogenen Überlieferungen herkömmlicher Stätten gastronomischer Sinnesfreuden (Cafés, Konditoreien, Hotels, Werkstätten usw.) In den regionalen Convivien hat sich diese Kultur ganzheitlicher Wahrnehmung eine Fülle lokal und regional kulturell eingefärbter Speiserituale gegeben. [Das Convivium ist die Organisationsstruktur an der Basis der Bewegung, in der die Mitglieder die Vereinstätigkeit ausüben. Diese weltweit 750 Convivien setzen bewusstseinsbildende Initiativen vor Ort und organisieren ökogastronomische Veranstaltungen für ihre Mitglieder]. Für eine neue, ganzheitliche, moralische Kultur des Essens und Trinkens gibt es neben Slow Food aber auch andere, gleichsam natürlich geborene Akteure: Dazu gehören viele der aktiv in ihrem Feld arbeitenden Oecotrophologen, die Ernährungspädagogen und Ernährungspsychologen wie Ernährungsmediziner, die Food Watch-Aktivisten, organisierte Lebensmittelhandwerker, die sich beispielsweise in Gemeinschaften rund um das Thema Slow Baking organisieren, Verbraucherschutzorganisationen und Hausfrauenverbände, von Schülern betriebenen Schulküchen, ökologischen Großküchen, aber auch Spitzengastronomen und viele Menschen aus der sogenannten Bioszene. Sie alle zeigen rund um das Ernährungsthema, dass es in hoher kultureller Diversität möglich ist, moralisch verantwortlich die vielfältigen Implikationen, die Essen und 11

Trinken für einen nachhaltigen Lebensstil haben zu verwirklichen. Die richtige Art und Weise von Essen und Trinken ist letztlich Ausdruck und Medium für eine Kultur des achtsamen Umgangs mit allem Lebendigen, die sich in einer Vielfalt neuer Speiserituale und Ritualen basierenden Organisationen institutionalisiert.

Literaturverzeichnis: Kolmer, L. „Aufnehmen und ausgrenzen. Die Funktion mittelalterlicher Speiserituale. In: Gottwald, F.-Th./Kolmer, L., Speiserituale – Essen, Trinken, Sakralität. Stuttgart: Hirzel-Verlag 2005. Gottwald, F.Th., Agrar- und Esskultur. Zur ethischen Dimension von Essen und Trinken.“ In: Ingensiep, H.W. / Eusterschulte, A., Philosophie der natürlichen Mitwelt. Grundlagen – Probleme – Perspektiven. Festschrift für Klaus Michael Meyer-Abich, Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann 2002. Rösel, J., „Speiseordnungen und Speiserituale im brahmanischen Indien.“ In: Gottwald, F.-Th./Kolmer, L., Speiserituale – Essen, Trinken, Sakralität. Stuttgart: Hirzel-Verlag 2005.

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