Schrift als Grundvoraussetzung der Wissenschaft Text 09: Schrift als Grundvoraussetzung der Wissenschaft Vertiefungstexte

Schrift als Grundvoraussetzung der Wissenschaft Text 09 Text 09: Schrift als Grundvoraussetzung der Wissenschaft Vertiefungstexte Mit der Erfindun...
Author: Etta Lorentz
0 downloads 0 Views 73KB Size
Schrift als Grundvoraussetzung der Wissenschaft

Text 09

Text 09: Schrift als Grundvoraussetzung der Wissenschaft

Vertiefungstexte

Mit der Erfindung der Schrift, endgültig mit der Erfindung des Buchdrucks, werden die Grenzen der mündlichen Kommunikation gesprengt und die Bedingungen der Ermöglichung von Wissenschaft gelegt. Auch dies soll in einem knappen Exkurs nachgezeichnet werden.1 Mit dem Aufkommen der schriftlichen Kommunikation werden aus SprecherIn­ nen und ZuhörerInnen Schreibende und Lesende – ein Rollenwechsel hin zu eher unsozialen Aktivitäten: Sowohl die AutorInnen wie die LeserInnen gehen ihren Tätigkeiten getrennt und zwangsläufig allein nach. Das Alleinsein, die Einsamkeit eröffnet die Möglichkeit der ungestörten Sorgfalt und der Entwicklung von Kunstfertigkeiten je besonderer Art. Sowohl das Schreiben wie das Lesen sind einsame Tätigkeiten, die gelernt und mit Umsicht und Bedacht ausgeführt sein wollen. Schrift legt den Schwerpunkt der Kommunikation auf Information, während Sprechende oft noch weitersprechen, selbst wenn sie nichts mehr zu sagen haben und das Gesagte keinerlei Informationswert mehr hat. Kommunikation jenseits der Schrift diente früher und dient auch heute noch weniger der Information als dem Zeitvertreib, der Unterhaltung oder der Sozialisation, der Bestätigung der Gemeinschaft und sozialen Gesinnung und der wechselseitig positiven Einstellung. „Man schwatzt, und wer beharrlich schweigt, gilt als gefährlich, weil er sich weigert, seine Absichten zu verraten“ (Luhmann 1997:275). Die Schrift forciert Kritik. Wer schreibt, muss damit rechnen, unter Verweis auf andere Schriften kritisiert zu werden. Wer demgegenüber spricht, dessen Worte fließen dahin, um nicht zu sagen: entfliehen. Sie sind schwer zu fassen und zu kritisieren. SprecherInnen lassen sich kaum ‚festnageln‘. In schriftlich nieder­ gelegten Texten ist das anders. Was man schreibt, das bleibt, und KritikerInnen können sich alle Zeit der Welt nehmen, ihre Argumente gegen das Geschriebene 1 Die Ausführungen zu diesem Exkurs verdanken sich dem Buch von Niklas Luhmann (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, insb. S. 274ff.

2

Vertiefungstexte

zu formulieren. Schreibende müssen mit Lesenden rechnen, die es besser wissen und dies auch publik machen werden. Deshalb sollten SchreiberInnen – zumindest in der Wissenschaft – möglichst viel lesen, um vorweg wenigstens halbwegs gegen Einwände gewappnet zu sein. Das gesprochene Wort garantiert sich qua Sprecher und seinen Authentizitäts­ versprechen quasi selbst. Das geschriebene Wort bleibt authentisch, kann aber seine Verbindlichkeit nicht in der anwesenden Person garantieren, sondern sucht sie in anderen schriftlichen Quellen. Die Verbindlichkeit geschriebener Worte erfolgt über Zitationen und Verweise (siehe Kap. 10.1 des Buches). Im natürlichen Raum verlangt das gesprochene Wort Vorrang gegenüber dem geschriebenen. Es ist schwer bis unmöglich, gegen Gerede anzuschreiben oder anzulesen. Man kann sprechen und sich unterhalten, während andere lesen. Aber man kann kaum lesen, während andere reden. „Das gesprochene Wort drängt sich auf, setzt sich durch, verlangt und erhält Vorrang“ (ebd.:276). Das gesprochene Wort obsiegt im Moment. Auf Dauer aber hat das geschriebene Wort bessere Chancen: Das Gesprochene ist – anders als das Geschriebene – aufs Engste an die Situation gebunden und kann sie nicht überdauern. Die Schrift aber löst die Situationsge­ bundenheit auf. Das Geschriebene besteht, das Gesprochene vergeht. Dank der Schrift können selbst Verstorbene zu den Lebenden sprechen, und Lebende können über ihren Tod hinaus sogar zu den noch nicht Geborenen reden. Dank der Schrift kommunizieren wir nicht nur über weite Räume und Zeiten, sondern auch über Generationen und Nationen hinweg. In der mündlichen Kommunikation überlebt nur der Sinn, der angenommen wird. In der Schrift aber kann die Frage der Annahme oder Ablehnung weit hinaus­ geschoben werden. Schrift kontinuiert auch den Sinn, der im Moment abgelehnt wird und schafft damit einen riesigen Raum an Potentialität: Einmal abgelehnte Möglichkeiten können Jahre oder Jahrzehnte oder Jahrhunderte später wieder­ entdeckt, neu aufgegriffen, anders bewertet und anders beurteilt und schließlich akzeptiert werden. Ebenso können einmal akzeptierte Möglichkeiten irgendwann wieder Ablehnung erfahren. Die Schrift erst schafft in der Kommunikation einen Sinn nicht nur für Realitäten, sondern auch für Möglichkeiten, für Unvorstellbares, für Fiktionen, für Phanta­ sien, für Nirgendwos, Utopias und Dystopias (vgl. Kap. 7.1.2 des Buches). Schrift führt zur Modalisierung, zur Unterscheidung zwischen notwendig und möglich und schließlich kontingent als Zwischenmodus: nicht notwendig aber möglich, abhängig von sich ändernden und änderbaren Bedingungen. Der Modus zufällig bezeichnet schließlich all die Fälle, für die im Moment kein göttlicher Wille oder keine irdischen Kausalitäten, nicht einmal mögliche Bedingungen auszumachen sind. Die Schrift entwurzelt schließlich mit ihrem Sinn für Möglichkeiten, Kon­

Text 09: Schrift als Grundvoraussetzung der Wissenschaft

3

tingenzen und Zufälligkeiten die ontologische Weltsicht und ihre metaphysischen Beschreibungen. Sie eröffnet die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit und damit nach der Veränderbarkeit der Verhältnisse. Schrift macht die Beobachtungen beobachtbar. Während in der sprachlichen Kommunikation die Worte wie die Bilder in einem Film erscheinen und im Er­ scheinen bereits wieder verschwinden, hält die Schrift die Worte fest, vergleichbar der Fotografie, die Standbilder schafft, so dass wir sie in Ruhe betrachten können. Wir werden zu BeobachterInnen von Beobachtungen von BeobachterInnen. Wir erwirken uns mittels Schrift die Möglichkeit von Beobachtungsverhältnissen höherer Ordnung. Mit der schriftlichen Fixierung, z. B. mit den Aufzeichnungen der me­ dizinischen Beobachtungen im frühen Mittelalter, wurden eigene Beobachtungen anderen BeobachterInnen verfügbar gemacht, so dass sich im Laufe der Zeit ein System medizinischer Beobachtungen – schließlich wissenschaftlicher Beobach­ tungen – entwickeln konnte. Lesen und Schreiben war zunächst Menschen in Sonderrollen vorbehalten. Erst die Buchstabenschrift war leicht erlernbar, so dass sich die an Spezialrollen geknüpften Kunstfertigkeiten des Lesens und Schreibens zur Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Spezialkontexte einsetzen ließen. Neben ihrer Verwendung in kirchlichen Kontexten beförderte die Schrift vor allem die Stadtverwaltung, die Rechtsprechung, die auf Kontinuität hin angelegten amtlichen Buchführungen, später dann Themenfelder wie die der Medizin, der Geometrie, sodann der Poesie, des Theaters, der Rhetorik und der Philosophie. Erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts (!), lange nach Einführung des Buchdrucks, kam man (zumindest in einigen Ländern!) auf die Idee, das Lesen und Schreiben nicht nur Spezialisten anzuvertrauen, sondern die Gesamtbevölkerung einzubeziehen. Jeder sollte lesen und schreiben lernen. Damit war Schrift nicht mehr nur ein Mittel zur Aufzeichnung und Fixierung von Informationen, nicht mehr nur Konservierungstechnik, Gedächtnisstütze bzw. Krücke der mündlichen Kommunikation, sie wurde vielmehr zunehmend auch eigenständiges Kommunikationsmedium mit unabsehbaren Streuwirkungen. Un­ bekannte EmpfängerInnen können sich nun zu schriftlich Publiziertem zu Wort melden. Es kann nun in ungeahnten Situationen zu Reaktionen kommen. Es kön­ nen nun ungeahnte Kontroversen ausgelöst werden. Die Schrift treibt in diesem Sinne eine enorme Unsicherheit in die Welt, die eine auf Mündlichkeit basierende Gesellschaft nicht kannte. In die schriftliche Kommunikation kann die mündliche aufgenommen werden und umgekehrt: Man kann über mündliche Aussprachen schreiben (z. B. in Protokollen), und man kann über Geschriebenes und Gelesenes reden (z. B. in Seminaren und Diskussionsrunden). Durch den Bezug auf Geschriebenes und Gelesenes wird die mündliche Kommunikation angereichert, sie wird konziser, prägnanter, komplexer,

4

Vertiefungstexte

muss sorgfältiger geführt werden und: Persuasivtechniken und Rhetoriken werden wichtiger, je mehr man mit belesenem Publikum rechnen muss.2 Ca. 2000 Jahre nachdem das Alphabet entwickelt wurde, genau im Jahre 1447, erfand Johannes Gensfleisch zur Laden, genannt Gutenberg, den Typenschriftsatz. 1869 setzte die Times erstmals eine Rotationsmaschine mit horizontal liegenden Papierrollen zum Druck ihrer Zeitungen ein. Von nun ab konnte tendenziell jeder Haushalt jeden Tag mit den neuesten Neuigkeiten versorgt werden. Die Drucktech­ nik sorgte für eine rasante quantitative Vermehrung der Anzahl an Büchern und LeserInnen und zugleich für einen qualitativen, geradezu revolutionären Umbruch im Kontext gesellschaftlicher Kommunikation. In Europa erzeugte das Drucken von Büchern einen Markt. Gedruckt wurde nicht entsprechend der Interessen der Schreibenden oder ihrer AuftraggeberInnen, sondern entsprechend der Nachfrage. Nachgefragt wurde nicht nur die Bibel, der Gutenberg möglichst viele LeserInnen verschaffen wollte, sondern bald auch andere Texte nichtreligiösen, weltlichen Inhalts. Es wurde von nun ab gedruckt, was sich verkaufen ließ und nicht nur das, was kirchliche oder staatliche Autoritäten sich wünschten. Der Markt unterläuft die religiöse und politische Zensur und später auch die pädagogischen Standards. Was genau ändert der Buchdruck? 1. Der Buchdruck spart Arbeit, Zeit und Kosten, und er vermeidet Abschreibfehler. 2. Der Buchdruck ersetzt die fast körperliche, individuelle Präsenz der Schreiberin bzw. des Schreibers in der Schrift durch sachliche, unpersönliche, gedruckte, immer gleiche Buchstaben und Schriftzeichen. 3. Der Buchdruck ermöglicht massenhaftes, individuelles Lesen und Lernen, das stattfinden kann, wann immer es den LeserInnen passt. 4. Statt intensiver Wiederholungslektüre ruft ein breit aufgestellter Büchermarkt nach extensiver Lektüre von immer neuem Lesestoff. An die Stelle des Wieder­ holens tritt das Vergleichen von Texten. 2 Das Reden lebt in den Lauten und den artikulierten Worten und mit deren Differenz zum Sinn. „Während die Sprache ganz allgemein ihre Form als Differenz von Laut und Sinn [im Medium der Akustik, T.B.] findet, ermöglicht die Schrift eine Symbolisierung genau dieser Differenz in einem anderen Wahrnehmungsmedium, im Medium der Optik“ (Luhmann 1997:256). D. h. man kann nun sehen, dass die Worte, die nun als Buchstabenfolgen erscheinen, nicht mit dem Sinn, den sie evozieren oder repräsentieren sollen, zu verwechseln sind. Erst die Schrift macht anschaulich erfahrbar, dass „die Sprache von der Differenz ihrer Zeichen lebt und nicht von einer Übereinstimmung mit der außersprachlichen Realität“ (ebd.). Der Ausfall der außersprachlichen Realität begründet die Bedeutsamkeit von Persuasivtechniken und Rhetoriken.

Text 09: Schrift als Grundvoraussetzung der Wissenschaft

5

5. Um gelesen zu werden und um sich auf dem Markt durchzusetzen, müssen Texte ‚interessant‘ sein. Das meint zunehmend: Sie müssen etwas Neues ent­ halten. Neuheit wird zu einem Kauf- und Verkaufsargument. 6. Das Drucken von Büchern für möglichst viele LeserInnen lässt seit dem 16. Jahrhundert Nationalsprachen entstehen, die mehr und mehr das elitäre Latein als Sprache der Wissenstradition verdrängen. Der Buchdruck sorgt für sprachliche Vereinheitlichung trotz weiterhin bestehender Dialekte in der mündlichen Kommunikation. 7. Mündlich tradiertes Wissen, vor allem das Wissen, das handwerkliche Techno­ logien betrifft, wird verschriftlicht und „im Druck als augenblicklich (aktueller!) Stand des Wissens und als Anregung zur Verbesserung präsentiert“ (Luhmann 1997:295). Nun kann der Stand des Wissens gesichtet, sortiert, systematisiert werden. Unbrauchbares und Überholtes kann aussortiert, Verbleibendes verglichen und verbessert werden. 8. Beim Abschreiben der Texte war bei jeder Abschrift mit Verschlechterungen der Texte zu rechnen: Alte Fehler wurden oft nicht entdeckt, neue schlichen sich unbemerkt ein. Doch beim Druck blieb von Edition zu Edition das Erreichte auf jeden Fall bewahrt, und es wurden zusätzlich Verbesserungen vorgenommen. Da dank des Drucks viele gleichzeitig Lebende als LeserInnen angesprochen werden, ist mit einer gesteigerten Verbesserungs- und Vermehrungswahrscheinlichkeit von Wissen zu rechnen. 9. Mit dem Druck wendet sich das Geschriebene nicht mehr an einzelne Adressa­ tInnen, sondern an die breite Öffentlichkeit. Die klassischen, praktisch exklusiven Kanäle der politischen Einflussnahme vor alle über persönliche Beziehungen in Ständen, Gilden, Städten oder zu den Mächtigen werden unterlaufen. Ten­ denziell kann nun jeder seine mehr oder weniger radikalen Forderungen in die öffentliche Diskussion einbringen. Diese Tendenz wird mit dem Web 2.0 enorm dynamisiert und radikalisiert – mit noch unabsehbaren Folgen. 10. Die mit dem Buchdruck eröffneten Möglichkeiten führen zu einer Individualisierung der Teilnahme an gesellschaftlicher Kommunikation im doppelten Sinne: a. Man verrät sogleich, wie gebildet oder ungebildet man ist, was man gelesen hat und was nicht; und man muss sich sein Wissen wie Nichtwissen selbst zuschreiben: „Ich habe (nicht) genug gelesen.“ b. Man fühlt sich eingeladen, sich angesichts des Bekannten durch abweichende Meinungen individuell zu profilieren: „Das sehe ich ganz anders.“ Ab dem 18. Jahrhundert wurde eine solche Haltung als positiv honoriert, da man hofft, auf diese Weise für ‚natürliche Korrektive‘ des durch die Aufklärung angelaufenen gesellschaftlichen Wandels zu sorgen.

6

Vertiefungstexte

11. Mit dem Buchdruck werden Inkonsistenzen der Tradition sichtbar. Man stößt auf Verschiedenheiten und Widersprüchlichkeiten, die sich für eine gewisse Zeit noch durch unterschiedliche Datierung ‚logisch entschärfen‘ lassen: „Man hat halt zu anderen Zeiten anders gedacht.“ Diese Art der Historisierung des Wissens höhlt allerdings alle traditionalen Begründungen (z. B. von Herr­ schaftspositionen oder Weltanschauungen) aus und lässt sie als ideologische Optionen erscheinen. 12. Die gesellschaftliche Funktion des Buchdrucks kann darin gesehen werden, der Gesellschaft – z. B. in Form von Bibliotheken und Archiven – eine Art Gedächtnis zur Verfügung zu stellen. Geschichte hängt nicht länger mehr von mehr oder weniger zufälligen persönlichen Erinnerungen der Lebenden ab. Sie wird vielmehr in Bibliotheken und Archiven eingelagert und unabhängig vom Generationenwechsel immer wieder aktualisiert. 13. Mit der Digitalisierung der Bücher- und Schriftwelt wird die alte Beruhigungs­ formel, dass man das, was schwarz auf weiß zu lesen ist, getrost nach Hause tragen könne, hinfällig. Alles, auch das Geschriebene, lässt sich ohne großen Aufwand ändern. Der Rhythmus, in dem Bücher und Schriften aktualisiert werden, hat sich enorm beschleunigt, seit sich die Materialität der Bücher und der Schrift in die digitalen Codes der Computerprogramme transformiert hat.

Text 09: Schrift als Grundvoraussetzung der Wissenschaft

Arbeitsblatt zu Vertiefungstext 09: Schrift als Grundvoraussetzung der Wissenschaft Was sind die wesentlichen Veränderungen, die durch die Schrift in die Gesellschaft getragen wurden?

7

8

Vertiefungstexte

Warum ist die Schrift – und nicht schon die Rede – Grundvoraussetzung für eine Wissenschaft im modernen Sinne?