Interkultureller Weg der Philosophie als eine Wissenschaft des Friedens

Interkultureller Weg der Philosophie  als eine Wissenschaft des Friedens  von Hamid Reza Yousefi  Einleitende Gedanken  Der Ausdruck ›Wege zur Wissens...
Author: Leander Egger
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Interkultureller Weg der Philosophie  als eine Wissenschaft des Friedens  von Hamid Reza Yousefi  Einleitende Gedanken  Der Ausdruck ›Wege zur Wissenschaft‹ weist auf die Pluralität differieren‐ der  Geschichten,  Sichtweisen,  Zugänge  und  methodischer  Ausrichtungen  und  solchen  hin,  die  sich  ergänzen,  überlappen  oder  bekämpfen.  Er  zeigt  ferner,  daß  keiner  dieser  Wege  sich  in  den  absoluten  Stand  setzen  kann,  was  häufig  getan  wird.  Der  interkulturelle  Weg  der  Philosophie  als  einer  Wissenschaft des Friedens ist eine denkerische Tätigkeit, mit einem dialog‐ theoretischen  und  dialogpraktischen  Charakter  auf  der  Grundlage  einer  empirisch‐hermeneutischen  Methode.  Interkulturelle  Philosophie  blickt  nach  Außen, und  zwar  nach  allen Seiten,  und fragt nach  den  Konsequen‐ zen  solcher  Betrachtungsweisen  für  die  Zielsetzungen  im  Inneren.  Sie  ist  darauf  ausgerichtet,  den  Vertretern  unterschiedlicher  Weltanschauungen,  Kulturen,  Religionen,  Philosophien  und  Wissenschaftskonzeptionen  die  Wahrnehmung  der  jeweils  anderen  auf  gleicher  Augenhöhe  zu  ermögli‐ chen und das Gespräch mit diesen anderen mit Gewinn für alle Beteiligten  und  ohne  Gewalt  jedweder  Struktur  gelingen  zu  lassen.  Hier  geht  es  um  eine neue Kultur des Philosophierens.  Davon nicht zu trennen sind naturgemäß die Fragen, welche Hindernisse  sich einer friedlichen Begegnung und einem konstruktiven Austausch zwi‐ schen  den  Kulturen,  Denksystemen  und  Wissenschaftskonzepten  in  den  Weg  stellen,  welche  Beschaffenheit  diese  Hindernisse  haben,  was  sie  be‐ dingt  oder  wer  sie  zu  welchen  Zwecken  konstruiert  (hat),  woran  sie  zu  erkennen und wie sie möglicherweise zu überwinden sind.1 Insofern räumt  1  

Macht  ist  ein  zentrales  Hindernis  jeder  Form  von  interkultureller  Ausrichtung,  auf die im Kontext des vorliegenden Beitrags nicht eingegangen werden kann. 

26 interkulturelle  Philosophie  Frage‐  und  Problemstellungen  Vorrang  vor  philosophischen Traditionen ein. Sie läßt sich am besten als ein auf keinen  Abschluß und kein bestimmtes Ergebnis gerichteten Prozeß im Bewußtsein  einer  stets  ›orthaften  Ortlosigkeit  der  Philosophie‹2  begreifen,  welche  der  Einsicht  verpflichtet  ist,  daß  Philosophen  den  Werten  und  Selbstbildern  ihrer Heimatländer nolens volens verhaftet bleiben, Philosophien vom Zeit‐ geist  und  Ort  ihrer  Entstehung  mitbestimmt  werden,  Philosophieren  an  sich jedoch überall und jederzeit möglich war, ist und bleiben wird.  Es ist ein geschichtsträchtiges und wirkungsmächtiges Vorurteil, daß nur  die griechisch‐europäische Tradition den Weg der ›Philosophie‹ und ›Wis‐ senschaft‹ geebnet und den gesamtmenschlichen Geist in eine kritische und  rationale Dimension erhoben habe. Wer nach diesem Muster »denkt, denkt  griechisch,  auch  wenn  er  es  gar  nicht  vermutet«  (Jacqueline  de  Romilly).  Die Entstehung der Philosophie und Wissenschaft ausschließlich mit Grie‐ chenland  zu  verknüpfen,  läßt  unweigerlich  das  Bild  des  chinesischen  Brunnenfrosches aufkommen, der seine Weltsicht hypostasiert und verab‐ solutiert. Das ist die traditionelle Philosophie.  Die  Fundamente  der  europäischen  Philosophie  und  Wissenschaft  gehen  zweifelsohne  auf  die  griechische  Tradition  zurück,  die  viele  Elemente  an‐ derer,  nichteuropäischer  Traditionen  übernommen  hat.  Diesem  Kultur‐ raum  jedoch  eine  führende  Stellung  gegenüber  den  anderen  Traditionen  einzuräumen,  stellt  eine  einseitige  und  ausschließlich  vom  europäischen  Standpunkt  ausgehende  Betrachtungsweise  dar,  die  durch  Dominanz  der  Macht universalisiert und indoktriniert worden ist. Philosophie essentiali‐ stisch aufzufassen oder sie nur unter bestimmten Bedingungen als relevant  erklären  zu  wollen,  widerspricht  dem  Kern  philosophischer  Reflexion  selbst.  In  diesem  Sinne  verwendet  Ninian  Smart  »den  Begriff  ›Philoso‐ phien‹  im  Plural;  etliche  Philosophen  des  Westens  nehmen  dagegen  den  Singular,  weil  sie  sich  nur  auf  eine  Art  der  westlichen  Philosophie  bezie‐ hen«.3  2  

Vgl.  hierzu  Yousefi,  Hamid  Reza  u.a.  (Hrsg.):  ›Orthafte  Ortlosigkeit  der  Philoso‐ phie‹. Eine interkulturelle Orientierung: Festschrift für Ram Adhar Mall zum 70.  Geburtstag, Nordhausen 2007.  3  Smart, Ninian: Weltgeschichte des Denkens. Die geistigen Traditionen der Mensch‐ heit, Darmstadt 2002 S. 15. 

27 Die Frage nach der Heimat der Philosophie  Diesem  Grundsatz  zufolge  gibt  es  eine  reine,  eigene  Philosophie  ebenso‐ wenig  wie  es  eine  reine,  andere  Philosophie  gibt.  Philosophie  kennt  ver‐ schiedene Wege und trägt unterschiedliche Namen.4 Die regulative Einheit  der einen ›philosophia perennis‹ ist kompatibel mit der Vielfalt ihrer kon‐ kreten  kulturellen  Gestalten.  Es  ist  »die  philosophia  perennis,  welche  die  Gemeinsamkeit  schafft,  in  der  die  Fernsten  miteinander  verbunden  sind,  die  Chinesen  mit  den  Abendländern,  die  Denker  vor  2500  Jahren  mit  der  Gegenwart«5.  In  ihr  ist  alles  mit  allem  verbunden.  Sie  gibt  es  nicht  in  der  Gestalt  eines  systematischen  Bestandes  von  Erkenntnissen,  die  für  jeder‐ mann  gelten  und  zwingend  eingesehen  werden  können.  Wer  glaubt,  in  welchem Kontext auch immer, »die philosophische Wahrheit liege vor und  brauche nur gelernt zu werden, wird nie zur Philosophie kommen.«6  Die Idee der ›Philosophia perennis‹ geht dem Philosophiebegriff grund‐ sätzlich  voraus.  Die  Akzeptanz  dieser  Prämisse  ist  ein  Schlüssel  zu  einer  universalen und friedensorientierten Kommunikation, die der dialogischen  Konzeptualisierung  einer  Weltgeschichte  der  Philosophie  das  Wort  redet.  Geschichtsschreibung  und  Geschichtsbewußtsein  spielen  in  der  Formung  persönlicher, kultureller und sozialer Identität eine wesentliche Rolle. Auch  jeder historische Prozeß ist ein Faktor der ›philosophia perennis‹, »um die  alle  Philosophien  kreisen und  die  niemand  besitzt,  an  der  jeder  eigentlich  Philosophierende  teilhat  und  die  doch  nie  die  Gestalt  eines  für  alle  gülti‐ gen, allein wahren Denkgebäudes gewinnen kann«7. Damit soll gesagt sein,  daß ›philosophia perennis‹ keine Vorurteile kennt, keinen Ort privilegiert,  keine Tradition hat und keine Sprache als ihre Muttersprache spricht8. Phi‐ losophie bedeutet »die Weise, wie der Mensch sich des Seins der Welt und  4  

Vgl.  hierzu  Yousefi,  Hamid  Reza  u.a.  (Hrsg.):  Wege  zur  Philosophie.  Grundlagen  der Interkulturalität, Nordhausen 2006.  5  Jaspers, Karl: Weltgeschichte der Philosophie. Einleitung. Aus dem Nachlaß hrsg. v.  Hans Saner, München 1982 S. 56.  6  Ebenda, 1982 S. 60.  7   Jaspers,  Karl:  Was  ist  Philosophie.  Ein  Lesebuch,  hrsg.  v.  Hans  Saner,  München  21997 S. 193.  8   Vgl. Mall, Ram Adhar: Philosophie im Vergleich der Kulturen. Interkulturelle Philo‐ sophie – Eine neue Orientierung, Darmstadt 1995 S. 7. 

28 seiner  selbst  bewußt  wird  und  wie  er  aus  diesem  Bewußtsein  im  Ganzen  lebt. Daher ist Philosophie so alt wie der Mensch«9.  Das folgende Beispiel soll dies verdeutlichen: Ein Inder, ein Chinese, ein  Grieche  und  ein  Araber  stritten  darüber,  was  sie  als  Nachtisch  zum  Käse  kaufen  wollten.  Der  Inder  wollte  ›angur‹  kaufen,  der  Chinese  hingegen  ›pútaó‹; während der Grieche auf den Kauf von ›stafil‹ bestand, wollte der  Araber  nicht  auf  ›inab‹  verzichten.  Weil  sie  sich  nicht  verständigen  konn‐ ten, gingen sie zu einem Übersetzer, der aller vier Sprachen mächtig war.  Er wurde damit beauftragt, ›angur‹, ›pútaó‹, ›stafil‹ und ›inab‹ zu kaufen.  Nachdem der Übersetzer zurückkam, freuten sich die Streitparteien; jeder  hatte das, was er wollte, nämlich Weintrauben. Daß die Streitparteien nun  wissen,  daß  Weintrauben  in  jeder  Sprache  anders  heißen,  braucht  nicht  besonders erwähnt zu werden.  Wenn die Streitparteien nach dem Begriff der Philosophie fragen, so er‐ halten  sie  wiederum  vier  verschiedene,  aber  im  Kern  gleichbedeutende  Ausdrücke. Arbeitet man universalhistorisch, so ist man auf weiten Gebie‐ ten  auf  Übersetzungen  angewiesen,  da  niemand  alle  Sprachen  kennt,  in  denen philosophiert wurde und wird. Philosophisches Denken geht immer  dem  Philosophiebegriff  voraus.  Man  kann  beispielsweise  »von  Mathema‐ tik« nicht dort »sprechen, wo man dafür ein Fachwort geprägt hat.«10  Kontroverse im Altertum  Die  Frage  nach  dem  Geburtsort  der  Philosophie  hat  eine  lange  Tradition,  die  sich  bis  ins  ›europäische  Altertum‹  zurückverfolgen  läßt.  Der  syrische  Satiriker Lukian (um 120‐180 n.u.Z.) beschäftigt sich in seinem Dialog ›Die  entlaufenen Sklaven‹ mit dem Ursprung, dem Inhalt und dem Begriff der  Philosophie, wobei Lukian außereuropäische Philosophien bevorzugt und  den Geburtsort der Philosophie nach Persien und Indien verlegt.  Jupiter,  Merkur,  Herkules,  die  Philosophie,  Orpheus,  die  Entlaufenen  und ihre Herren sowie ein Ehepaar kommen hier zu Wort. Er läßt die Phi‐ losophie selbst reden: »Mein erster Ausflug war nicht zu den Griechen. Ich  hielt es für schicklicher, mich sogleich an die schwerste Arbeit zu machen 



Jaspers, Karl: Weltgeschichte der Philosophie,1982 S. 105. 

10  Holenstein, Elmar: Philosophie‐Atlas: Orte und Wege des Denkens, Zürich 2004 S. 

17. 

29 und  vors erste  die Barbaren  in  meine  Zucht  zu  nehmen.  Ich  ging  also  die  Griechen vorbei, die ich viel leichter zu bemeistern und gar bald an meinen  Zaum zu gewöhnen hoffte, und eilte zuerst zu dem größten Volke des Erd‐ bodens,  den  Indern,  die  ich  mit  ziemlich  leichter  Mühe  überredete,  von  ihren Elefanten herabzusteigen und sich zu mir zu halten: kurz, ich brachte  es  so  weit,  daß  die  Brachmanen,  eine  zwischen  den  Nechräern  und  Oxy‐ drakern  wohnende  glückselige  Menschenrasse,  ganz  nach  meiner  Vor‐ schrift leben und deswegen bei allen ihren Nachbarn in besonderem Anse‐ hen stehen; wie sie denn auch eine sehr seltsame Art aus der Welt zu gehen  haben«11.  Beim  anschließenden  Besuch  bei  den  Griechen  soll  die  Philoso‐ phie  anfangs  »ziemlich  kaltsinnig  empfangen«12  worden  sein.  Außer  bei  ›sieben Lehrjüngern‹ habe sie in Griechenland kein Echo gefunden, da dort  das Geschlecht der Sophisten aufgeblüht sei, »Leute, die, ohne tief genug in  meine  Lehren  einzudringen,  um  ihren  Geist  und  Zweck  zu  fassen,  doch  sozusagen  einerlei  Ton  mit  mir  hielten  […],  nicht  ganz  unwissend,  aber  ebensowenig  fähig,  mich  scharf  ins  Auge  zu  fassen  […]  und  […]  nur  ein  undeutliches, halb verblichnes Gespenst und Schattenbild von mir erblick‐ ten«13.  Der griechische Historiker Diogenes Laertius (um 2.‐3. Jh. n.u.Z.) hinge‐ gen  übt  implizit  Kritik  an  Lukian  und  verlegt  den  Ursprung  der  Philoso‐ phie  zu  den  Griechen.  Er  verfaßte  die  vollständig  erhalten  gebliebene  Schrift ›Leben und Meinungen berühmter Philosophen‹, in der viele Philo‐ sophen des Altertums zur Darstellung kommen. Im ersten Band beschäftigt  sich  Diogenes  mit  dem  Inhalt  und  Ursprung  des  Begriffs  ›Philosophie‹.  Dort  heißt  es,  die  Entwicklung  der  Philosophie  habe  ihren  Anfang  nicht,  ›wie  manche  behaupten‹,  in  Indien  und  Persien  genommen.  Zwar  hätten  die Perser ihre Magier, die Babylonier und Assyrer ihre Chaldäer und die  Inder ihre Gymnosophisten gehabt, aber »indes man täuscht sich und legt  fälschlich den Barbaren die Leistungen der Griechen bei; denn die Griechen 

  Lukian: Die entlaufenen Sklaven, in: Werke in drei Bänden (Übers. von Christoph  Martin  Wieland),  hrsg.  v.  Jürgen  Werner  und  Herbert  Greiner‐Mai,  Bd.  2,  Wei‐ mar 1981 (49‐64), S. 51 f.  12  Ebenda, S. 52.  13  Ebenda, S. 53.  11

30 waren es, die nicht nur mit der Philosophie, sondern mit der Bildung des  Menschengeschlechtes überhaupt den Anfang gemacht haben«14.  Neue Wege im 17. und 18. Jahrhundert  Immanuel Kant (1724‐1804), der die Philosophie in einen Schul‐ und einen  Weltbegriff unterteilt15, sieht die Philosophie als Weltbegriff, in sensu cosmi‐ co,  zur  Wissenschaft  »von   d e r   hö ch s te n   Ma xime   d es   Gebra uchs  u ns er er   Vernu nf t«16.  Er  behandelt  und  entwickelt  in  seiner  Sittenlehre  und seinem ›Entwurf zum Ewigen Frieden‹ grundlegende Kategorien, die  zwar  die  Menschheit  als  Gesamtheit  angehen,  aber  aus  einer  bestimmten  Tradition  heraus  entworfen  sind,  die  sich  in  vielerlei  Hinsicht  verabsolu‐ tiert.  Kant  schreibt  allen  anderen  Völkern  ein  »geringeres  Talent«  zu  als  den Europäern17. In seinen anthropologischen Schriften ist zu lesen, ›orien‐ talische Nationen werden sich niemals verbessern‹. An anderer Stelle ver‐ tritt  er  die  Ansicht,  »daß  der  Eu ro päe r   einzig  und  allein  das  Geheimnis  gefunden  hat,  sinnlichen  Reiz  einer  mächtigen  Neigung  mit  so  viel  […]  Moralischem  zu  durchflechten  […].  Der  Bewohner  des  Orients  ist  in  die‐ sem  Punkte  von  sehr  falschem  Geschmacke.  Indem  er  keinen  Begriff  hat  von dem sittlich Schönen«18.  Es steht Kants eigener Forderung nach dem kategorischen Imperativ dia‐ metral  entgegen,  wenn  er  Menschen  dazu  auffordert,  so  zu  handeln,  daß  die Maxime ihres Handelns zur allgemeinen Gesetzgebung werden könnte,  dann aber die  »Vollkommenheit«  des Menschen  nur  in »temperierten  Zo‐ nen«, nämlich in Europa, erreicht sieht.    Diogenes  Laertius:  Leben  und  Meinungen  berühmter  Philosophen.  Band  I‐X,  Ham‐ burg 1967 S. 3 f.  15  Vgl. Kant, Immanuel: Logik, in: Kants gesammelte Schriften, hrsg. v. der König‐ lich Preußischen Akademie der Wissenschaften und Nachfolgern, Bd. IX, Berlin  1923 S. 23 f.  16  Ebenda, S. 24.  17  Kant,  Immanuel:  Physische  Geographie,  in:  Kants  Gesammelte  Schriften,  hrsg.  v.  der  Königlich  Preußischen  Akademie  der  Wissenschaften  und  Nachfolgern  (A‐ kademie‐Ausgabe), Bd. IX, Berlin 1923 S. 316.  18  Kant,  Immanuel:  Beobachtungen  über  das  Gefühl  des  Schönen  und  Erhabenen,  in:  Kants  gesammelte  Schriften,  hrsg.  v.  der  Königlich  Preußischen  Akademie  der  Wissenschaften und Nachfolgern, Bd. II, Berlin 1902 S. 254.  14

31 Im Gegensatz zum vorherrschenden Geist des 18. und 19. Jahrhunderts,  in  dem  westliche  Kolonialherrscher  Einheitlichkeit  und  »Totalwissen«19  anstrebten,  machte  sich  seit  dem  späten  17.  Jahrhundert  eine  immanente  Kritik an dieser Denkart breit. Hier seien Gottfried Wilhelm Leibniz (1646‐ 1716),  Christian  Wolff  (1679‐1754),  Friedrich  Wilhelm  Joseph  Schelling  (1775‐1854) und Arthur Schopenhauer (1788‐1860) genannt, die neue Wege  suchten.  Leibniz vertrat die Auffassung, von den Chinesen könnten Erkenntnisse  übernommen  werden,  die  in  der  europäischen  Ethik  und  Politik  mit  gro‐ ßem  Gewinn  anzuwenden  seien.  Insbesondere  die  Vernunft,  die  in  China  wirkte,  schien  Leibniz  dieselbe  zu  sein  wie  in  Europa20.  Auch  Wolff  be‐ schäftigte  sich  mit  der  chinesischen  Philosophie  und  hielt  sie  für  wesent‐ lich.  Er  behandelte  sie  indes  weder  »neutral«  noch  »historisch‐distanziert  […],  sondern  versuchte  ihre  Grundgedanken,  die  in  den  klassischen  Bü‐ chern  enthalten  sind,  mit  seinen  eigenen  Kriterien  aufzuarbeiten,  zu  ord‐ nen, zu bewerten und für das eigene Nachdenken fruchtbar zu machen«21.  Schelling rückt von der These ab, es gebe nur in Deutschland Philosophie  und in der übrigen Welt nicht. Er weist auf die unterschiedlichen Denkwei‐ sen hin und vertritt die Ansicht, daß »die wahrhaft allgemeine Philosophie  […]  unmöglich  das  Eigentum  einer  einzelnen  Nation  sein«  kann,  »und  solange  irgendeine  Philosophie  nicht  über  die  Grenzen  eines  einzelnen  Volkes hinausgeht, darf man mit Zuversicht annehmen, daß sie doch nicht  die wahre sei, wenn vielleicht auch auf dem Weg dazu«22. Für die Philoso‐ phie Schopenhauers spielte die indisch‐buddhistische Sicht des Lebens und  der  Welt  eine  wichtige  Rolle.  Bereits  in  jungen  Jahren  interessierte  er  sich  für östliche Weltanschauungen. Sein Werk ›Die Welt als Wille und Vorstel‐ lung‹ beginnt mit einer Wahrheit aus dem Buddhismus: ›die Welt ist meine    Jaspers, Karl: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949 S. 172.    Vgl.  Leibniz,  Gottfried  Wilhelm:  Das  Neuste  von  China  (1697),  Novissima  Sinica,  übersetzt,  erläutert,  hrsg.  v.  Heinz‐Günter  Nesselrath  und  Hermann  Reinbothe  (Deutsche China‐Gesellschaft e. V. Nr. 2), Köln 1979 S. 11.  21  Albrecht,  Michael:  Einleitung,  in:  Wolff,  Christian:  Oratio  de  Sinarum  philo‐ sophia practica (Rede über die praktische Philosophie der Chinesen), übersetzt,  eingeleitet und hrsg. v. Michael Albrecht, Hamburg 1985 S. LXVII.  22  Schelling,  Friedrich  Wilhelm  Joseph  von:  Zur  Geschichte  der  neueren  Philosophie,  Münchner Vorlesungen, Darmstadt 1959 S. 170.  19 20

32 Vorstellung‹23.  Diese  Gedanken  sind,  im  Vergleich  zu  späteren  Generatio‐ nen, von großer Hellsichtigkeit geprägt.  Zentrismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert  Jochen Hörisch kritisiert den expansiven Eurozentrismus und weist darauf  hin, daß Mitteleuropa »ab 1800 verstärkt in allen Bereichen an der Austrei‐ bung von Pluralitäten« arbeitet, »[…] wird doch aus den vielen Sinnen der  eine  Sinn, aus  den  vielen Geschichten die  eine  (Welt‐)Geschichte,  aus  den  vielen  Wahrheiten  die  eine  Wahrheit,  aus  den  vielen  Geistern  (und  Buch‐ staben)  der  eine  Geist.  Der  Monotheismus  siegt  im  europäischen  19. Jahr‐ hundert auch auf nichtreligiösem Terrain«24.  Ein  Beispiel  hierfür  ist  Georg  Wilhelm  Friedrich  Hegel  (1770‐1831),  der  das  tertium  comparationis  ausschließlich  in  der  griechisch‐europäischen  philosophischen  Tradition  fixiert.  Für  Hegel  ist  das  historische  Denken  bzw.  das  historische  Bewußtsein  ein  Monopol  des  Westens.  Über  Afrika  führt  er  aus:  »Was  wir  eigentlich  unter  Afrika  verstehen,  das  ist  das  Ge‐ schichtslose und Unaufgeschlossene, das noch ganz im natürlichen Geiste  befangen ist und das hier bloß an der Schwelle der Weltgeschichte vorge‐ führt  werden  müßte«25.  Nach  Hegel  ist  es  ebenso  unmöglich,  sich  in  die  Natur eines Afrikaners einzufühlen wie in die Seele eines Hundes.  Hegel wirft, gemäß seiner teleologischen Geschichtstheorie, dem chinesi‐ schen Geist ›Phantasielosigkeit‹ vor, den Indern spricht er zuviel Phantasie  zu. Das alte Persien sieht er immerhin als theokratische Monarchie, der er  eine  Stelle  zwischen  der  asiatischen  und  der  westlichen  Welt  zuweist.  In  Ägypten  schreite  der  Geist  ein  Stück  weiter  fort  und  stelle  einen  inneren  Übergang zum griechischen freien Leben dar. Bei den Griechen nehme das  philosophische  Denken  überhaupt seinen  Anfang, wenn  auch  erst  im Sta‐ dium  des  Jünglingsalters:  »Bei  den  Griechen  fühlen  wir  uns  sogleich  hei‐

  Obwohl Schopenhauer die indische Philosophie ernst nimmt, muß sein Bild der  indischen Metaphysik, Ethik und Religion jedoch kritisch diskutiert werden; vgl.  hierzu  Mall,  Ram  Adhar:  Wie  indisch  ist  das  Indienbild  Schopenhauers?,  in:  Scho‐ penhauer‐Jahrbuch, Bd. 76 Würzburg 1995 (151–172).  24  Hörisch, Jochen: Die Wut des Verstehens, Frankfurt/Main 1988 S. 67.  25  Hegel,  Georg  Wilhelm  Friedrich:  Philosophie  der  Weltgeschichte,  Bd.  1,  hrsg.  v.  Georg Lasson, Leipzig 1944 S. 224.  23

33 matlich,  denn  wir  sind  auf  dem  Boden  des  Geistes«26.  Für  Hegel  beginnt  »die  eigentliche  Philosophie  im  Okzident.  Erst  im  Abendlande  geht  diese  Freiheit des Selbstbewußtseins auf, das natürliche Bewußtsein in sich unter  und  damit  der  Geist  in  sich  nieder.  Im  Gegensatz  zum  Morgenland  ver‐ schwindet  das  Individuum  nur;  das  Licht  wird  im  Abendlande  erst  zum  Blitz des Gedankens, der in sich selbst einschlägt und von da aus sich seine  Welt erschafft«27. In der Euphorie der sogenannten Erfolge im Zeitalter von  Kolonialismus  und  Missionarismus  und  bedingt  durch  die  innere  Logik  seines  Systems  geht  er  so  weit  zu  meinen:  »Mit  dem  Eintritt  des  christli‐ chen  Prinzips  ist  die  Erde für  den  Geist  geworden. Die  Welt  ist umschifft  und  für  die  Europäer  ein  Rundes.  Was  noch  nicht  von  ihnen  beherrscht  wird,  ist  entweder  nicht  der  Mühe  wert  oder  aber  noch  bestimmt,  be‐ herrscht zu werden.«28  Auch Edmund Husserl (1859‐1938) und Martin Heidegger (1889‐1976) ge‐ hen  von  der  Reinheit  der  europäischen  Philosophie  und  Wissenschaft  aus.  Husserl  sieht  in  Europa  »etwas  Einzigartiges,  das  auch  allen  anderen  Menschheitsgruppen an uns empfindlich ist als etwas, das, abgesehen von  allen  Erwägungen  der  Nützlichkeit,  ein  Motiv  für  sie  wird,  sich  im  unge‐ brochenen Willen zu geistiger Selbsterhaltung doch immer zu europäisieren  […].  Ich  meine,  wir  fühlen  es  (und  bei  aller  Unklarheit  hat  dieses  Gefühl  wohl sein Recht), daß unserem europäischen Menschentum eine Entelechie  eingeboren  ist,  die  den  europäischen  Gestaltenwandel  durchherrscht  und  ihm den Sinn einer Entwicklung auf eine ideale Lebens‐ und Seinsgestalt als  einen ewigen Pol verleiht«29.    Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschich‐ te, Hamburg 1955 S. 528.  27  Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschich‐ te, hrsg. v. Gerd Irrlitz und Karin Gurst, Bd. I, Berlin 1984 S. 96. Heinz Kimmerle  kritisiert  die  philosophiegeschichtliche  Auffassung  Hegels,  vgl.  Kimmerle,  Heinz: Georg Wilhelm Friedrich Hegel interkulturell gelesen, Nordhausen 2005.  28  Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschich‐ te, 1955 S. 763.  29  Husserl, Edmund: Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie, in:  Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänome‐ nologie.  Eine  Einleitung  in  die  phänomenologische  Philosophie,  (Husserliana,  Bd. VI), Den Haag 21962 S. 320.  26

34 Heidegger  greift  diese  Einstellungen  auf  und  vertritt  die  Auffassung:  »Deshalb sind sie [die Europäer] heute imstande, der Geschichte des Men‐ schen  auf  der  ganzen  Erde  die  spezifische  Prägung  zu  geben«30.  Heideg‐ gers  Bild  des  Griechischen  wird  aber  angesichts  folgender  Begebenheit  fraglich:  »An  einem  Frühlingsmorgen  des  Jahres  1962  steht  der  Tourist  Martin  Heidegger  an  der  Reling  des  Kreuzfahrtschiffes  ›Jugoslavija‹  und  blickt auf die Küste der Insel Korfu […]. Der Philosoph ist jedoch vom An‐ blick der Insel enttäuscht: was er sieht, stimmt so gar nicht mit dem über‐ ein,  was  er  im  6.  Buch  der  Odyssee  bei  Homer  gelesen  hatte  […].  Kurz  zweifelt er daran, ob seine Eindrücke wirklich authentisch sind, denn ›Goe‐ the  erfuhr  doch  in  Sizilien  zum  ersten  Mal  die  Nähe  des  Griechischen‹.  Doch dann entschließt er sich, nicht an Land zu gehen«31.  Alfred  Holzbrecher  sieht  in  der  Weigerung  Heideggers  die  Angst,  »sich  auf das Fremde, auf das Risiko des Lernens einzulassen« und »sein von der  klassischen  Literatur  geprägtes  und  ›stimmiges‹  Bild  in  Frage  stellen  zu  müssen.  Es  ist  die  Angst,  sich  eingestehen  zu  müssen,  daß  der  Enttäu‐ schung die Täuschung vorausging, – die Angst, daß sich unsere Bilder der  Realität als Konstruktionen erweisen könnten, mit denen die Realität nicht  mehr  begreifbar  erscheint«32.  Auch  sei  an  Heideggers  Dialog  mit  einem  japanischen Philosophen erinnert, den er als ›Antwortenden‹ und ›Denker‹  bezeichnet und behandelt, während er als fragender ›Philosoph‹ über ihm  steht33. Die Ansichten Heideggers zeigen, wie ein intrakulturelles Problem  zum  interkulturellen  wird.  Heidegger  behauptet  einerseits,  daß  »nur  A‐ bendland und Europa, und nur sie […], in ihrem innersten Geschichtsgang 

   Heidegger, Martin: Was ist das – die Philosophie? (1955), Pfullingen 51972 S. 7.  31  Terkessidis, Mark: Das Land der Griechen mit dem Körper besuchen. Über deutschen  Alternativtourismus  in  Griechenland,  in:  Mayer,  Ruth  und  Mark  Terkessidis  (Hrsg.): Globalkolorit: Multikulturalismus und Populärkultur, St. Andrä 1998 S.  65.  32  Holzbrecher,  Alfred:  »Vielfalt  als  Herausforderung«,  in:  Holzbrecher,  Alfred  (Hrsg.): Dem Fremden auf der Spur. Interkulturelles Lernen im Pädagogikunter‐ richt, (Didactica nova) Bd. 7, Hohengehren 1999 S. 2.  33  Vgl.  hierzu  Heidegger,  Martin:  Aus  einem  Gespräch  von  der  Sprache,  Zwischen  ei‐ nem  Japaner  und  einem  Fragenden,  in:  Unterwegs  zur  Sprache,  Pfullingen  1959  (83‐155).  30

35 ursprünglich  philosophisch«34  sind,  andererseits  denkt  er  über  die  »Ret‐ tung Europas oder seine Zerstörung« nach und beschwört die »Bewahrung  der europäischen Völker vor dem Asiaten«35.  Die  Vertreter  der  interkulturellen  Philosophie  sind  einstimmig  der  An‐ sicht, daß ein polyhistorischer Dialog zwischen unterschiedlichen philoso‐ phischen  Traditionen  keinen  Sinn  macht,  wenn  wir  stufentheoretisch  ver‐ fahren: »Europa ist nur ein Teil der Welt, auch geistig macht es nur einen  Teil des Ganzen aus. Eine dialogisch orientierte interkulturelle Philosophie  setzt  die  Überwindung  des  apriorischen  Universalismus  voraus.  Dies  be‐ deutet Europa europäisch und Nicht‐Europa nicht‐europäisch sein zu las‐ sen.«36  Versuche des Ausgleichs  Im  20.  Jahrhundert  waren  vor  allem  Max  Scheler  (1874‐1928),  Helmuth  Plessner  (1892‐1985)37  und  Karl  Jaspers  (1883‐1969)38  in  unterschiedlichen  Phasen darauf bedacht, geschichtliche Vorurteile zu überwinden. Während  Scheler vom ›Weltalter des Ausgleichs‹ spricht, siegt Europa nach Plessner  mit dem Verzicht auf die Verabsolutierung des eigenen Wert‐ und Katego‐ riensystems. Hier geht Jaspers von einer offenen Philosophie aus.  Karl Jaspers  Jaspers, der in der frühen Phase seines Schaffens eine eurozentrische Philo‐ sophie betrieben hatte, kam allmählich zur Erkenntnis, daß »die Idee einer  kommenden  Weltphilosophie«39  unumgänglich  sei.  Nach  ihm  können  die    Heidegger, Martin: Was ist das – die Philosophie?, 1963 S. 13.    Heidegger, Martin: Europa und die deutsche Philosophie, in: Europa und die Philo‐ sophie,  hrsg.  v.  Hans‐Helmuth  Gander,  Frankfurt/Main  1993  (1–34),  S.  31.  Im  Gegensatz zu Heidegger hält Georg Misch (1878‐1965) die Auffassung, Philoso‐ phie sei europäisch und kenne nur eine einzige Geschichte, für historisch falsch.  Misch unternimmt den Versuch, Philosophie in einem globalen Zusammenhang  zu sehen. Vgl.  Misch, Georg: Der Weg in die  Philosophie. Eine Philosophische Fi‐ bel, Berlin 1926.  36  Mall,  Ram  Adhar:  Essays  zur  interkulturellen  Philosophie,  eingeleitet  u.  hrsg.  v.  Hamid Reza Yousefi, Nordhausen 2003 S. 178.  37  Vgl. Dejung, Christoph: Helmuth Plessner interkulturell gelesen, Nordhausen 2005.  38  Vgl. Paprotny, Thorsten: Karl Jaspers interkulturell gelesen, Nordhausen 2006.  39  Jaspers, Karl: Weltgeschichte der Philosophie, 1982 S. 56.  34 35

36 Menschen  aus  der  Vielheit  der  Ursprünge  heraus  miteinander  in  Aus‐ tausch  kommen40.  Seine  Philosophie  ist  eine  existenzphilosophische,  die  durch universelle  Kommunikation  das Menschsein an  sich  erwecken  will.  Philosophie »ist überall, wo Menschen sich ihres Daseins denkend bewußt  werden«41. Jaspers, in dessen Denken Philosophie, Individuum und Gesell‐ schaft  untrennbar  miteinander  verbunden  sind,  fordert  ein  praktisches  Engagement  für  die  bürgerliche  Philosophie  als  Ganzes.  Eine  verordnete  Unifizierung der Philosophie hat für ihn eine zentristische Einstellung zur  Folge,  welche  die  Möglichkeit  eines  offenen  und  umfassenden  Dialogs  zwischen  den  Philosophien,  Kulturen  und  Religionen  gemäß  ihrer  Natur  nicht  zuläßt.  Philosophie  sucht  »immer  in  Gestalt  der  Bemühung  eines  Einzelnen […], die Universalität zu verwirklichen, die Offenheit des Men‐ schen zu bewahren, das Einfache herauszuheben, es zu konzentrieren und  in seiner Unergründlichkeit zu erhellen«42. Diese Philosophie hat den Trieb  zur  ständigen  Erweiterung  ihres  Horizontes:  »Das  Philosophieren  selbst  muß  im  universalgeschichtlichen  Entwurf  Ordnung  und  Struktur  hervor‐ bringen«43.  Seit 1937 vertritt Jaspers eine implizit interkulturelle Philosophie. Für ihn  liegt das zentrale Anliegen darin, eine Kommunikation unter den philoso‐ phischen Traditionen zu bewirken, die bislang unterdrückt wurde. Jaspers  weist den Anspruch, im Besitz der philosophia perennis zu sein, zurück. Wer  philosophiert, »kann es nicht auf Grund einer Vollmacht tun, die ihm von  einer Instanz in der Welt erteilt ist. Er tut es auf eigene Verantwortung vor  einer  Instanz,  die  er  sich  selber  setzt,  indem  er  sie  vorfindet  im  Philoso‐

  Auch  ist  an  dieser  Stelle  Johann  Wolfgang  von  Goethe  (1749–1832),  der  häufig  aus  dem  Geist  eines  Weltbewußtseins  heraus  dachte  und  handelte,  als  klassi‐ sches Beispiel in Europa zu nennen. Der ›West‐östliche Divan‹ 1819 ist Ausdruck  dieses  Bewußtseins.  Goethe  dichtete  hier:  »Wer  sich  selbst  und  andere  kennt,  /  Wird auch hier erkennen: / Orient und Okzident / Sind nicht mehr zu trennen.«  Im  Gegensatz  hierzu  behauptet  der  englische  Kolonialdichter  Rudyard  Kipling  (1865–1936) in einer berühmten Ballade: »Ost ist Ost, West ist West, sie werden  nie zueinander kommen.«  41  Jaspers, Karl: Philosophie und Welt. Reden und Aufsätze, München 1963 S. 9.  42  Jaspers, Karl: Der philosophische Glaube (1948), München 61974 S. 89.  43  Jaspers, Karl: Weltgeschichte der Philosophie, 1982 S. 163.  40

37 phieren der Jahrtausende«44. Für ihn gibt es ›keinen Weg um die Welt her‐ um‹,  sondern  nur  ›durch die  Welt‹.  Es  gibt  ebenfalls  ›keinen  Weg  um  die  Geschichte‹,  sondern  nur  ›durch  die  Geschichte‹.  Die  Idee  der  »Philoso‐ phiegeschichte möchte jene ewige Philosophie treffen, welche als ein in sich  zusammenhängendes  Leben  sich  geschichtlich  ihre  Organe,  ihre  Kleider  und Werkzeuge schafft, aber in ihnen nicht aufgeht«45.  Jaspers  formulierte  über  die  philosophischen  Themenbereiche  im  A‐ bendland  hinaus  als  erster  das  offene  Konzept  einer  ›Weltgeschichte  der  Philosophie‹.  Diese  bietet einen  gangbaren Weg  für eine  neue interkultu‐ relle  Historiographie  der  Philosophie,  die  eine  Kommunikation  zwischen  Philosophien  überhaupt  erst  zu  ermöglichen  vermag.  Eine  dialogische  Philosophie bedeutet nach Jaspers ständiges »Arbeiten an den Vorausset‐ zungen der Möglichkeit universeller Kommunikation«46.  Demnach  befaßt  sich  die  Philosophie  nach  Jaspers  im  Gegensatz  zur  Wissenschaft, die etwas zum Gegenstand ihrer Untersuchung erhebt und  nach  dessen  allgemeinen  Merkmalen  fragt,  mit  den  ›Grenzsituationen‹,  durch  die  sich  das  Individuum  als  einmalig‐selbständiges  Wesen  erfährt.  Der Mensch entwickelt seine eigene Existenz in Kommunikation mit ande‐ ren Menschen. Dieser Prozeß der Kommunikation ist unabschließbar und  Ausdruck der Geschichtlichkeit der Existenz. Aus dieser offenen Systema‐ tik heraus kommt Jaspers zur Erkenntnis, daß wir uns »vom Abendrot der  europäischen  Philosophie  durch  die  Dämmerung  unserer  Zeit«  hin  zur  »Morgenröte der Weltphilosophie«47 bewegen.  Zentristische Haltungen in der Gegenwart  In den 1970er Jahren führte Joachim Schickel für eine Sendereihe unter dem  Titel ›Philosophie in Deutschland‹ eine Reihe von Gesprächen mit Philoso‐

  Jaspers, Karl: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung (1962), München  21963 S. 477.  45  Jaspers, Karl: Einführung in die Philosophie, (1950), München 61958 S. 134.  46  Jaspers,  Karl:  Philosophische  Autobiographie  (1953),  erweiterte  Neuausgabe,  Mün‐ chen 1977 S. 121.  47  Jaspers,  Karl:  Rechenschaft  und  Ausblick.  Reden  und  Aufsätze  (1951),  München  21958 S. 391. Vgl. auch ders: Philosophische Autobiographie (1953), erweiterte Neu‐ ausgabe, München 1977 S. 122.  44

38 phen, vor allem mit Günther Patzig (*1926) und Carl Friedrich von Weizsä‐ cker (1912‐2007), über die Bedeutung außereuropäischen Denkens für diese  Personen.  Nach  Patzig  ist  Philosophie  »nur  denkbar  als  abendländische  Philosophie«48. Diese Antwort Patzigs läßt »die eigentliche Frage Schickels  redundant werden, so als ob jemand auf die Frage Kants: wie sind synthe‐ tische Urteile a priori möglich, antworten würde, es gibt sie nicht«49.  Auch Weizsäcker fixiert den Vergleichsmaßstab ausschließlich in der eu‐ ropäischen  Tradition:  »Philosophie,  so  wie  sie  bei  uns  entwickelt  ist  und  nur bei den Griechen – das ist eine griechische Erfindung –, wäre ich bei‐ nahe  bereit  zu  behaupten,  habe  ich  in  Ostasien  überhaupt  nicht  getroffen  und in Indien nur rudimentär […]. Die Gedanken, soweit ich sie habe as‐ similieren  können,  scheinen  mir  Gedanken  sehr  kluger  Menschen,  die  et‐ was  interpretieren,  was  sie  erfahren  haben,  aber  nicht  eigentlich  Philoso‐ phie  in  den  Sinne,  wie  ich  das  Wort  gelernt  habe«50.  Schickel  bezeichnet  solche Urteile als eurozentrisch oder gar eurochauvinistisch und weist die  These  zurück,  daß  es  zwischen  Kulturen  und  Philosophien  eine  ›unüber‐ brückbare Kluft‹ gibt.  In der abendländisch‐westlichen Welt herrscht überwiegend die Vorstel‐ lung,  andere  Nationen  nicht  nur  besser  (Mutter‐Kind‐Diskurs)  zu  verste‐ hen, als diese sich selbst verstehen, sondern faktisch zu wissen, was für sie  gut, besser oder am besten ist (Mitleid‐ und Bevormundungsdiskurs). Häu‐ fig besteht die Ansicht, die Bedürfnisse des Anderen zu kennen, ohne daß  diese  von  jenen  je  explizit  ausgesprochen  wurden  (Romantisierungsdis‐ kurs).  Dieses  mit  der  Macht  einhergehende  Hindernis  des  Dialogs  hat  seine  Wurzeln  im  eurozentrischen  und  expansionistischen  Geist  Europas.  »Wir  brauchen  eine  neue  auswärtige  Kulturpolitik:  Statt  fremde  Gesellschaften  zu  belehren,  müssen  wir  bereit  sein,  von  ihnen  zu  lernen«,  verlangt  Wolf  Lepenies  und  spricht  über  das  »Ende  der  intellektuellen  Ideologie  der  Ü‐

   Schickel,  Joachim  (Hrsg.):  Grenzenbeschreibung:  Gespräche  mit  Philosophen,  unter  Mitwirkung von Margherita von Brentano, Hamburg 1980 S. 194.  49  Mall, Ram Adhar: Philosophie im Vergleich der Kulturen, 1995 S. 163.  50  Schickel, Joachim (Hrsg.): Grenzenbeschreibung: Gespräche mit Philosophen, 1980 S.  214 f.  48

39 berheblichkeit«, die von vielen »europäischen Denkschulen«51 geteilt wird.  Gestern  Kolonialismus,  worunter  die  gegenwärtigen  Beziehungen  auf  in‐ ternationaler Ebene leiden und heute durch den Vorwand der Demokrati‐ sierung,  die  Kriege  und  feudalistische  Kommunikationsstrukturen  legiti‐ mieren soll.  Grundlagen interkultureller Philosophie  Interkulturalität ist eine Orientierung im Denken und im Handeln, die von  der ›Einheit aus der Vielheit‹ ausgeht. Dies bedeutet die Bewahrung eigen‐ kultureller  und  die  Akzeptanz  fremdkultureller  Andersheiten.  Kulturen  sind im Kontext des Interkulturellen keine Kugeln, die aufeinanderprallen,  sondern  Fäden  eines  Gewebes,  die  auf  vielfältige  Weise  miteinander  ver‐ woben  sind52.  Sie  sind  offene  Handlungsmuster  und  weisen  Gemeinsam‐ keiten  und  erhellende  Unterschiede  auf.  Hier  liegt  das  Gewicht  auf  dem  Gemeinsamen, das verbindet.  Interkulturalität betrachtet die Vorstellung von der ›totalen‹ Reinheit ei‐ ner  Kultur,  Religion,  Philosophie  oder  Wissenschaftskonzeption  als  Fikti‐ on53. Sie setzt bei der Enge kulturalistischer Tendenzen an, die das tertium  comparationis  auf  allen  fachwissenschaftlichen  Gebieten  von  vorneherein  für alle Vergleiche und für alle Kommunikationen festlegen. Hierauf beru‐ hen  Theorien  und  Lehren,  in  deren  Namen  Gewalt  ausgeübt  wurde.  Die  erwähnten  Gewalttaten  Kolonialismus,  Imperialismus,  Expansionismus  und  heutige  Versuche  der  Zwangsdemokratisierung  sind  Beispiele  hier‐ für.54  Das  eigentliche  Defizit  vieler  vergleichender  Studien  ist,  wie  wir  sahen,  daß sie den Maßstab des Vergleichs in einer bestimmten Tradition fixieren.  Es  wird  vorwiegend  das  Eigene  im  Fremden  gesucht.  Eigene  kulturelle  Handlungsweisen  werden  als  Meßlatte  hypostasiert,  verabsolutiert  und  mit fremden Handlungsweisen beliebig verglichen. Jede Form von Kompa‐

51  Vgl. DIE ZEIT Nr. 48 vom 24.11.1995. 

  Vgl. Holzbrecher, Alfred: ›Vielfalt als Herausforderung‹, 1999 S. 9.    Vgl. Mall, Ram Adhar: Philosophie im Vergleich der Kulturen, 1995 S. 1.  54  Vgl. hierzu Yousefi, Hamid Reza und Sarah Ginsburg: Kultur des Krieges. Ameri‐ kanismus – Zionismus – Islamismus, Nordhausen 2007.  52 53

40 ratistik bleibt ohne eine grundsätzlich interkulturelle Orientierung in Theo‐ rie und Praxis ein Muster ohne Wert.  Interkulturalität als Basis der interkulturellen Kommunikation setzt eine  vierfach offene Hermeneutik voraus, die berücksichtigt, wie ich mich selbst  verstehe, wie ich das Fremde verstehe, wie das Fremde sich selbst versteht  und  wie  das  Fremde  mich  versteht55.  Diese  analogische  Hermeneutik56  weist  sowohl  eine  strenge,  essentialistische  Strukturidentitätsthese,  als  auch  eine  radikale  Inkommensurabilität  zurück.  Die  analogische  Herme‐ neutik verbindet die unvermeidbare Kulturgebundenheit der Hermeneutik  mit  ihrer  Universalität.  Wenn  wir  an  einem  effektiven  und  ergebnisorien‐ tierten Kommunikationsprozeß ernsthaft interessiert sind, dann müssen wir  uns stets dessen bewußt sein, daß die Verletzung der Achtungspflicht ge‐ genüber dem Anderen in diesem Prozeß Rivalitäten erzeugt und zum Ab‐ bruch der Kommunikation führt.  Eine  weitere  Aufgabe  der  Interkulturalität  besteht  darin,  Paradigmen‐ wechsel und Perspektivenerweiterungen im Denken und in der autonomen  Vernunft  jedes  Einzelnen  zu  bewirken:  »Alle  Versuche,  die  unheilvollen  Spaltungen im Leben der Völker organisatorisch zu überwinden, sind letz‐ ten Endes zum Scheitern verurteilt, wenn nicht in tieferen Zonen menschli‐ cher Existenz als in denen politischer oder wirtschaftlicher Willensbildung  grundlegende  Wandlungen  sich  vollziehen«57.  Ohne  die  Etablierung  eines  Verantwortungsbewußtseins der Vernunft im Zusammenhang mit ethisch‐ moralischen Maximen kann dies nicht erreicht werden.  Beim Paradigmenwechsel kommen der i n tra kulturellen und der inter‐ kulturellen  Tiefenstruktur  jeweils  unterschiedliche  Bedeutung  zu.  Wäh‐ rend  erstere  notwendige  Bestandteile  liefert,  die  aufzeigen,  wie  die  beob‐ achtbaren Elemente der Einzelstruktur zu verstehen sind, beinhaltet letzte‐ re die Elemente aller Kulturen, die sicherstellen, daß zwischen den Kultu‐ ren  überhaupt  ein  dialogisches  Verstehen  in  Gang  kommen  kann.  Verste‐

  Vgl.  Yousefi,  Hamid  Reza  und  Ina  Braun:  Interkulturelles  Denken  oder  Achse  des  Bösen, Nordhausen 2005 S. 258.  56  Vgl. hierzu Mall, Ram Adhar: Interkulturelle Ästhetik. Ihre Theorie und Praxis, in:  Singularitäten – Allianzen, hrsg. v. Jörg Huber, Wien 2002 (85‐107), S. 85 f.  57  Mensching,  Gustav:  Die  Bedeutung  einer  Weltuniversität  als  Pflegestätte  religiöser  Toleranz (unveröffentlichtes Manuskript) 1955 S. 1.  55

41 hen‐Wollen  und  Verstanden‐Werden‐Wollen  gehören  im  Dialog  zusam‐ men.  Der  expansionistische  europäische  Geist  wollte  und  will  jedoch  nur  verstanden  werden.  Hier  liegt  eine  strukturelle  Gewalt  vor,  die  theoreti‐ scher und praktischer Natur ist.  Strukturen und Aufgaben  Interkulturelle Philosophie ist als eine Wissenschaft des Friedens nicht nur  interdisziplinär und angewandt, sondern auch konfliktorientiert. Konflikte  erscheinen  zwar  oft  als  Ausdruck  der  Unversöhnlichkeit,  aber  sie  können  einerseits  neue  Arten  von  Interaktionen  zwischen  Partnern  bzw.  Diskurs‐ beiträgen schaffen, die zuvor ohne Berührung waren, und andererseits den  inneren Zusammenhalt verstärken.  Interkulturelle  Philosophie  ist  kein  Teilgebiet  der  traditionellen  Philoso‐ phie,  sondern  ihr  Korrektiv  und  ihre  Erweiterung.  Es  geht  nicht  nur  dar‐ um,  »daß  die  interkulturelle  Philosophie  als  eine  größere  oder  kleinere  Spezialdisziplin  der  Philosophie  anerkannt  wird.  Der  philosophische  Bei‐ trag  zur  Neubestimmung  des  Verhältnisses  der  Kulturen  zueinander  ent‐ scheidet  über  den  Status  der  heutigen  Philosophie.  Denn  er  betrifft  eines  der  Kernprobleme  unserer  Zeit,  von  dessen  Lösung  die  Ermöglichung  menschlichen  und  menschenwürdigen  Lebens  wesentlich  mit  abhängt.  Deshalb wird die Philosophie interkulturell sein, oder sie wird nichts An‐ deres sein als eine akademische Beschäftigung ohne gesellschaftliche Rele‐ vanz«58.  Neben  der  Forderung  nach  interkultureller  Kommunikation  ist  eine  der  zentralen  Aufgaben  der  interkulturellen  Philosophie  die  praktische  Be‐ schäftigung  mit  der  gesamten  materiellen  und  geistigen  Kultur  der  Menschheit.  Dabei  verwirft  sie  aprioristische  und  dogmatisierte  Behaup‐ tungen und Positionen, welche die Empirie ignorieren. Die offene Perspek‐ tive  im  Rahmen  der  interkulturellen  Philosophie  erscheint  in  besonderer  Weise  geeignet,  zum Verständnis  und zur  Erklärung  aktueller  politischer,  ethnischer und religiöser Konflikte beitragen zu können, und unter Berück‐ sichtigung der gesamten Palette vorliegender Forschungen Lösungsansätze 

58

  Kimmerle, Heinz: Die Dimensionen des Interkulturellen: Philosophie in Afrika – afri‐ kanische  Philosophie.  Supplemente  und  Verallgemeinerungsschritte,  Amsterdam  1994 S. 31. 

42 anzubieten. Von besonderer Bedeutung ist hierbei die interkulturelle Tole‐ ranz‐ und Kommunikationsforschung, da Beziehungen zwischen den Kul‐ turen nur dann friedlich gepflegt werden können, wenn Dialoge zwischen  ihnen auf der Grundlage wechselseitiger Toleranz geführt werden.59  Diese  offene  Perspektive  setzt  die  primäre  Anerkennung  der  Gleichbe‐ rechtigung  aller  Stimmen  als  unbedingte  Grundlage  des  Toleranz‐Dialogs  voraus. Nur im Dialog selbst kann sich erweisen, ob diese Voraussetzung  tatsächlich erfüllt ist. Ausgehend von der Vermutung, daß es mehr als die  eine  technokratische  und  oft  bewaffnete  Vernunft  gibt,  der  sich  die  Men‐ schen  einer  globalisierten  Welt  immer  direkter  und  immer  vollständiger  ausgeliefert fühlen, verfolgt interkulturelle Orientierung das Ziel, den Weg  für die Durchsetzung einer ›kommunikativen Vernunft‹ zu ebnen, die sich  auch  in  interkulturellen,  interreligiösen,  interideologischen,  interwissen‐ schaftlichen und interpolitischen Diskursen niederschlägt.  Interkulturelle Philosophie geht von der Konzeption einer interkulturellen  Vernunft aus. Die Universalität philosophischer, soziologischer oder ethno‐ logischer  Rationalität  besteht  im  menschlichen  Streben,  für  Ansichten,  Er‐ kenntnisse und Werte Argumente zu liefern. Die kulturspezifische Rationa‐ lität erweist sich in der konkreten Art und Weise der Begründung und Be‐ weisführung. Jaspers geht einen deutlichen Schritt weiter, setzt die Vernunft  mit einem ›grenzenlosen Kommunikationswillen‹ gleich und nimmt an, daß  ein  Primat  der  Kommunikation  vor  dem  Konsens  besteht.  Dies  gilt  intra‐  und interkulturell. Nach diesem Muster fühlt sich ein europäischer Empirist  einem chinesischen Empiristen näher als einem europäischen Rationalisten.  Interkulturelle  Philosophie  geht  von  der  Tatsache  aus,  daß  auch  andere  Völker Vernunft und Rationalität besitzen. Hier wird die oft gestellte Frage  beantwortet,  ›wozu  überhaupt  interkulturelle  Philosophie‹.  Dementspre‐ chend  besteht  eine  Aufgabe  der  interkulturellen  Philosophie  darin,  den  selbsterhobenen  Universalitätsanspruch  der  reduktiven  Philosophieauffas‐ sungen nicht nur ideengeschichtlich und philosophiegeschichtlich, sondern  auch  entwicklungsgeschichtlich  zu  hinterfragen  und  zu  relativieren,  damit  ein  Dialog  zwischen  den  Denktraditionen  auf  gleicher  Augenhöhe  geführt  werden kann.  59  Vgl.  hierzu  Yousefi,  Hamid  Reza  u.a.  (Hrsg.):  Wege  zur  Kommunikation.  Theorie 

und Praxis interkultureller Toleranz, Nordhausen 2006. 

43 Interkulturelle  Philosophie  weist  alle  Philosophien  und  Lehrmeinungen  zurück,  die  sich  verabsolutieren  oder  dogmatisiert werden,  ob  europäisch  oder  nichteuropäisch.  Mutatis  mutandis  gilt  dies  ebenso  für  Wissenschaft,  Religion, Kultur usw.  Interkulturelle  Philosophie  begreift  Geschichte  als  Weltgeschichte  und  Geschichte der Philosophie als Weltgeschichte der Philosophie. Grundsatz‐ forderungen  der  interkulturellen  Philosophie  sind  die  Entkolonialisierung  geisteswissenschaftlicher  Begriffe,  die  geschichtlich  stufentheoretisch  ge‐ bildet  worden  sind60,  die  Säkularisierung  europäisch‐westlicher  Philoso‐ phie, die intern dialogisch und extern konservativ und monologisch inter‐ agiert.  Diese  Eindimensionalität  hat  das  Fremde  fast  nie  in  sich  gesucht,  sondern der Sache nach nur das Eigene im Fremden, das zwangsläufig zur  Exotisierung des Fremden führt.  Interkulturelle Philosophie und Geschichtsschreibung  Die  Geschichte  der  Philosophie  ist  ein  integraler  Bestandteil  der  Philoso‐ phie im Vergleich der Kulturen. Als interkulturelle Orientierung weist sie  eine  philosophische  Apartheid  zurück.  Westliche  Historiker  sind  nach  Kwasi Wiredu »seit langem stolz auf ihre […] ›Objektivität‹«61. Deren »Sub‐ jektivität« muß aber stets berücksichtigt werden, wenn hinter die Tendenz  einer  Darstellung  historischer  Ereignisse  als  »Bereich  der  Intersubjektivi‐ tät«62  gesehen  werden  soll.  Konstruierte  Geschichtsschreibung  muß  auf  ihren  Gehalt  hin  untersucht  werden,  da  sie  häufig  »von  plattem  Optimis‐ mus geleitet«63 ist und nicht den Grundsatz beherzigt, daß »Philosophiege‐ schichte […] universal sein«64 muß.  Die  »Weltgeschichte  der  Philosophie«  ist  »nur  im  ganzen  Umfang  der  Menschheit zu sehen«65. Das Kommunikative an diesem universalistischen    Vgl.  hierzu  Wiredu,  Kwasi:  Cultural  Universals  and  Particulars.  African  Perspec‐ tive, Bloomington 1996 S. 12.  61  Wiredu,  Kwasi:  Cultural  Universals  and  Particulars.  African  Perspective,  Bloom‐ ington 1996 S. 44.  62  Ricœur, Paul: Geschichte und Wahrheit, München 1974 S. 40 u. 59.  63  Schopenhauer,  Arthur:  Welt  und  Mensch.  Eine  Auswahl  aus  dem  Gesamtwerk,  Stuttgart 1992 S. 22.  64  Jaspers, Karl: Weltgeschichte der Philosophie, 1982 S. 69.  65  Ebenda, S. 70.  60

44 Geschichtsbewußtsein  liegt  darin,  daß  Menschen  aus  der  Vielheit  der  Ur‐ sprünge miteinander in Berührung und in Verständigung kommen. Daher  liegt  die  Grenze  unserer  geschichtlichen  Auffassung  »im  Verstehen  der  alten Philosophie«66.  Fortschritt  und  Entwicklung  sind  keine  konstanten  Eigenschaften  eines  bestimmten historischen Denkens. Eine interdisziplinäre und interkulturelle  Vergleichsanalyse  von  Logik,  Struktur  und  Funktion  des  Geschichtsbe‐ wußtseins würde Aufschluß darüber geben, daß die Erörterung der Eigen‐ art  beispielsweise  des  europäischen  historischen  Denkens  ohne  fundierte  Kenntnisse anderer historiographischer Traditionen konstruiert ist.67 Selbst‐ bescheidung  ist  also  für  Historiker  und  Philosophen  die  Voraussetzung  einer  philosophischen  Geschichtsschreibung,  weil  kein  Mensch  von  sich  behaupten kann, die gesamten Werke aller Philosophen und alle Sprachen  ausreichend zu kennen, in denen philosophiert worden ist.  Philosophische  Geschichtsschreibung  kann  kein  fixiertes  System  oder  Schema  befolgen.  Sie  ist  eine  Kommunikation,  in  der  sich  Ursprünge  in  mannigfaltigen Formen erhellen. Man kann alles, was es gibt, als wahr oder  falsch beurteilen, als wünschenswert oder verwerflich. Man kann aber auch  jede Beurteilung suspendieren, alles auffassen, ohne es zu kritisieren oder  hinnehmen als Faktum.68 Eine kritische Interpretation »kann nur wahr blei‐ ben,  wo  eine  Scheu  vor  dem  geschichtlich  Großen  unzerstört  wirksam  bleibt.  Man  muß  […]  nicht  von  einem  vorgegebenen  eigenen  Standpunkt  das Fremde äußerlich rubrizieren und abtun […], sondern in es selber ein‐ treten, in seinen immanenten Gedankenbewegungen die Grenzen des Un‐ stimmigen erreichen«69.  Interkulturelle  Philosophie  steht  einseitigen  Periodisierungen  der  Philo‐ sophiegeschichte  ablehnend  gegenüber.  Die  Aufteilung  in  Altertum,  Mit‐ telalter,  Neuzeit,  Gegenwart  und  die  Beurteilung  aller  philosophischer  Traditionen  nach  diesem  engen  Muster  macht  in  einem  interkulturellen 

  Ebenda, S. 87.    Vgl. Burke, Peter: Westliches historisches Denken in globaler Perspektive – 10 Thesen,  in:  Westliches  Geschichtsdenken.  Eine  interkulturelle  Debatte,  hrsg.  v.  Jörn  Rü‐ sen, Göttingen 1999 (31‐52), S. 31 f.  68  Ebenda, S. 133.  69  Ebenda, S. 133.  66 67

45 Kontext  einer  Weltgeschichte  der  Philosophie  wenig  Sinn,  da  mit  ihr  die  gesamte  Entwicklung  der  Philosophie  mit  einem  bestimmten  Ort  unzer‐ trennlich  verbunden  wird.  In  allen  philosophischen  Traditionen  gibt  es  unterschiedliche  Periodisierungen70,  die  in  der  europäischen  Historiogra‐ phie  kaum  Erwähnung  finden.  Deshalb  geht  es  nicht  nur  um  eine  neue  Zielsetzung  der  Philosophiegeschichte,  sondern  auch  um  ein  neues  Ge‐ schichtsverständnis, Geschichtsbild und eine neue Historiographie.  Eine  strukturelle  Reflexion  über  die  Geschichte  der  Wissenschaft  zeigt  vergleichend  die  Bedeutung  und  Grenzen  des  Gedankens  einerseits  und  erörtert  andererseits  die  empirischen  Beziehungen,  die  im  Vergleich  der  Kulturen  sehr  verschieden  sein  können.  Die  Reflexion  zieht  dann  Konse‐ quenzen mit dem Ziel, das noch Verborgene in der Geschichte zu enthüllen  und  es  ins  Bewußtsein  zu  heben.  Eine  sachlich  geführte  Reproduktion  ist  abhängig  von  der  Entfaltungskraft  eigenen  Denkens  und  Reflektierens.  Dies  setzt  voraus,  daß  wir  das  bereits  in  der  Philosophiegeschichte  Ge‐ schriebene vermittels eigener Anschauung der Quellen erneut überprüfbar  machen.  Aus dieser Perspektive heraus gesehen sind weder Philosophie noch Phi‐ losophiegeschichte  endgültig,  sondern  vorläufig  und  unabschließbar.  Da‐ bei  darf  nur  Rücksicht  »auf  den  Leser«  und  nicht  »auf  die  Autoren«71  ge‐ nommen  werden.  Das  ist  ein  Grund,  warum  »Urteile  der  Weltgeschichte  […]  ständig  zu  revidieren«72  sind.  Wird  Geschichtsschreibung  ohne  diese  Voraussetzungen  betrieben,  so  gibt  es  nicht  nur  in  der  theoretischen  Dar‐ stellung einen Sieger und einen Verlierer: »Der Vorrang der Sieger hat die  Folge,  daß  der  Besiegte  nicht  nur  seinen  Lebensraum,  sondern  auch  sein  Wort verliert«.73  Schluß  Während die meisten Denker seiner Zeit, gemäß der Diversitäten kolonia‐ ler  Politik  und  Philosophie  für  eine  Europäisierung  der  Welt  standen,    Vgl. Roetz, Heiner: Die chinesische Ethik der Achsenzeit. Eine Rekonstruktion unter  dem Aspekt des Durchbruchs zu postkonventionellem Denken, Frankfurt/Main  1992 S. 46 ff.  71  Jaspers, Karl: Weltgeschichte der Philosophie, 1982 S. 175.  72  Ebenda, S. 161.  73  Ebenda, S. 159.  70

46 macht  Jaspers  als  ein  bedeutender  Vorläufer  der  interkulturellen  Philoso‐ phie  deutlich,  Philosophie  sei  allgegenwärtig,  ohne  als  solche  benannt  zu  werden.74  Denkweisen,  die  sich  als  unverzichtbare  Größen,  für  universal  und  sakrosankt  halten,  sind  gewalttätig.  In  der  absoluten  Immanenz,  die  den Menschen zum Maß aller Dinge erheben will und dadurch die Trans‐ zendenz  leugnet,  erblickt  Jaspers  eine  anthropozentrische  Wahrnehmung,  die  er  zurückweist.75  Er  weist  eine  verordnete  Einheitlichkeit  der  Philoso‐ phie und damit die Auflösung des Pluralen ebenfalls zurück.  Nach Jaspers hat der Mensch lediglich eine Idee von der Philosophie, be‐ zeichnet  aufgrund  dessen  »sehr  viele  Erscheinungen  als  Philosophie  und  nenn[t]  ungemein  verschiedene  Menschen  Philosophen.«  Es  gilt  anzuer‐ kennen,  daß  keine  Möglichkeit  besteht,  »die  Philosophie  und  Philoso‐ phen«76  exakt  zu  definieren,  jedoch  besteht  eine  Spannbreite  dessen,  was  unter philosophischem Denken zu verstehen ist.  Interkulturelle  Philosophie  erfüllt  als  eine  Wissenschaft  des  Friedens  gleichsam  eine  aufklärerische  Funktion.  Diese  ist  die  Emanzipation  des  Menschen  aus  seiner  bewußten  oder  unbewußten  Unreflektiertheit  über  andere Völker, Kulturen, Religionen, Philosophien und Wissenschaftskon‐ zeptionen.  Alle interkulturell philosophischen Bemühungen bleiben jedoch unwirk‐ sam,  wenn  eine  strukturelle  Machtasymmetrie  besteht,  wo  ein  Machtzen‐ trum  sich  zum  alleinigen  Argument  erhebt  und  eine  Ohnmachtperipherie  bedingt.  Ein  polyhistorischer  Dialog  zwischen  unterschiedlichen  Traditio‐ nen  kann  nur  unter  der  Voraussetzung  einer  Machtsymmetrie  Früchte  tragen.  Interkulturelle  Philosophie  geht  als  eine  Wissenschaft  des  Friedens  von  einer  neuen  Kultur  des  Philosophierens  aus,  die  historische  bzw.  gegen‐ wärtige Monologe dialogisieren will. 

  Vgl. Jaspers, Karl: Philosophie und Welt, 1963 S. 9.    Vgl. Jaspers, Karl: Der philosophische Glaube, 61974 S. 106 f.  76  Jaspers,  Karl:  Provokationen.  Gespräche  und  Interviews,  hrsg.  v.  Hans  Saner,  München 1969 S. 47.  74 75

47 Literaturangabe:  Yousefi, Hamid Reza: Interkultureller Weg der Philosophie als eine Wissenschaft des  Friedens, in: Wege zur Wissenschaft. Geschichten und Gehalte eines umstrit‐ tenen Begriffs, hrsg. v.  mit  Klaus Fischer, Rudolf Lüthe und  Peter Gerdsen,  Nordhausen 2008 (25‐46). 

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