Ethik als Wissenschaft

Ethik als Wissenschaft Vor dem Hintergrund der Aristotelischen Theorie lassen sich nun die grundsätzlichen Begrifflichkeiten der praktischen Philosop...
Author: Hella Scholz
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Ethik als Wissenschaft

Vor dem Hintergrund der Aristotelischen Theorie lassen sich nun die grundsätzlichen Begrifflichkeiten der praktischen Philosophie und die relevanten Konfliktfelder menschlichen Handelns erläutern. Hierzu werden zunächst drei Ebenen separiert: die Individual-, die Korporations- und die Politikebene. Auf der ersten Ebene, der Individualebene, geht es um die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Handeln von Menschen, ihren Interaktionen als Akteuren des sozialen Handelns. Dies ist die Ebene der Ethik (êthos). Gegenstand der Ethik ist das konkrete Verhalten von Menschen in konkreten Situationen, in denen Konflikte friedlich und gerecht gelöst werden sollen. Auf der zweiten Ebene, der Korporationsebene, finden sich kleinere Gruppen von Menschen, die in einem gemeinsamen Haus leben oder arbeiten und mit anderen Häusern Waren und Leistungen austauschen. Diese zweite Ebene ist die Ökonomie (oîkos = Haus). In der klassischen antiken Gesellschaft ist das Haus zugleich eine Wirtschaftsgemeinschaft, die Handelsbeziehungen zu anderen Häusern unterhält. Der oîkos besteht aus einer Familie, der ein freier Athener Bürger vorsteht, seinen Verwandten und seinen Arbeitern, die zumeist Sklaven sind. Die Sklaven sind üblicherweise Kriegsgefangene aus anderen Ländern oder Schuldknechte und verdienen ihren Lebensunterhalt mit körperlicher Arbeit auf den Feldern, als Hausdiener oder Hauslehrer. Sie gelten als Sacheigentum des oîkos und sind wie der Landbesitz das Kapital eines Hauses. Oftmals sind die Sklaven der wertvollste Besitz eines Athener Bürgers. Auf der dritten Ebene findet sich die Politik. Der klassische griechische Stadtstaat (pólis) besteht geografisch aus dem Stadtkern sowie dem Umland und politisch aus einer Selbstverwaltung durch die Volksversammlung, den Rat und den Magistrat. In der Vollversammlung stimmen die erwachsenen, männlichen und freien Athener Bürger per Mehrheitsbeschluss über die gemeinsamen Angelegenheiten ab; Ämter im Rat und im Magistrat werden per Losverfahren vergeben. J. Rommerskirchen, Das Gute und das Gerechte, DOI 10.1007/978-3-658-08069-3_2, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015

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Sklaven sind von der Politik ausgeschlossen und die Athener Frauen gelten zwar als Bürger, dürfen aber in der Volksversammlung nicht abstimmen. Auch die sogenannten Metöken, freie Männer, die in der Polis leben und arbeiten, jedoch keine gebürtigen Athener sind, werden nicht zur Volksversammlung zugelassen. Metöken sind Gastarbeiter, die zumeist als Handwerker wirtschaftliche Freiheit genießen, aber keine politischen Rechte besitzen (vgl. Walzer, 2006, S. 94 ff.). Insgesamt ist also nur ein Bruchteil der in der Polis lebenden Menschen auch an den politischen Prozessen beteiligt. Für die Athener Bürger sind das individuelle Handeln und das wirtschaftliche Handeln grundsätzlich auf die Gemeinschaft der Polis ausgerichtet. Ethik, Ökonomie und Politik sind eine homogene Einheit, die durch Sozialisation, kollektive Handlungsnormen und Wertvorstellungen miteinander verwoben sind. In diesem Netz der Wertegemeinschaft befindet sich auch Sokrates, als er vor Gericht steht, und die wechselseitigen Bezüge zwischen ethischem Handeln und politischer Identität lassen ihm nur eine Handlungsoption: das Todesurteil zu akzeptieren. Eine Flucht aus dem Gefängnis und Widerstand gegen die Polis sind für den Philosophen Sokrates unethisch und wären nichts anderes als ein Akt der subjektiven Willkür und der Ungerechtigkeit gegen die Gemeinschaft. Auf diesen drei Handlungsebenen, der Individual-, der Korporations- und der Politikebene, finden sich jeweils unterschiedliche Handlungsorientierungen, mit denen der Akteur seine Überlegungen und sein Handeln an der Gemeinschaft ausrichtet. Das zwischenmenschliche Handeln orientiert sich an der Moralität, das korporative Handeln an der Normativität und das politische Handeln an der Rechtmäßigkeit. Um diese Beziehungen zwischen Handlungsebenen und Handlungsorientierungen nachzuvollziehen, werden zunächst einige der zentralen Begrifflichkeiten der praktischen Philosophie vorgestellt und in ihrer Bedeutung untersucht.

2.1 Ethik und Moral Der Begriff Ethik (êthos) wurde vermutlich erstmals von Sokrates verwendet, um die Bedeutung von bestimmten Handlungen und ihre Attributierungen als gut oder als gerecht zu untersuchen. Von Aristoteles stammen dann die ersten philosophischen Abhandlungen, die sich speziell mit der Ethik und mit ethischen Themen beschäftigen, was ihn zum Urheber der Ethik als eigenständige Disziplin in der praktischen Philosophie und als eigenständige Wissenschaft macht. Wenn man sich die Verwendung des Begriffs Ethik bei den antiken Philosophen Sokrates, Platon und Aristoteles ansieht, dann wird schnell deutlich, dass dieser Begriff in mehreren Bedeutungen verwendet wird. In seiner allgemeinsten

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Bedeutung bezeichnet der altgriechische Begriff êthos den Lebensraum eines Lebewesens. Der Lebensraum der Fische ist das Wasser, der Vögel die Luft und der Rehe der Wald. Die meisten Tiere haben also einen klar umgrenzten Lebensraum, der ihre Instinkte und ihr Verhalten prägt. Der Mensch kennt einen solchen ihn einschränkenden und sein Verhalten prägenden Lebensraum nicht; er ist in der Lage, sich den unterschiedlichsten Lebensräumen anzupassen und seine Umwelt so zu gestalten, dass er in ihr leben kann. Von den Wüsten bis zum Eismeer ist der Mensch frei in Bezug auf seinen Lebensraum. Da es aber keine grenzenlose Freiheit gibt, muss das Lebewesen Mensch andere Einschränkungen hinnehmen. Etymologisch stammt der Begriff êthos von der Bezeichnung der Hirtenwiese ab, also einem Lebensraum, in dem sich Menschen begegnen und ihr Verhalten zueinander regeln sowie aufeinander abstimmen müssen. Auf der Hirtenwiese mit ihrer begrenzten Fläche und ihren begrenzten Ressourcen müssen die hier verkehrenden Menschen möglichst unstrittige und konfliktfreie Verhaltensweisen – ein êthos – entwickelt. Aus der allgemeinen Bedeutung von êthos als Lebensraum lassen sich nun für den Menschen zwei weitere, engere Bestimmungen des Begriffs herleiten. Zum einen bezeichnet ethos (ἔθος, mit kurzem e) die gemeinverbindlichen Regeln des Handelns, also die Gewohnheiten und die Gebräuche der Menschen an einem Ort. Zum anderen meint der Begriff êthos (ἦθος, mit breitem e) die individuelle Entscheidung für eine bestimmte Handlung und zielt damit auf den Charakter eines Menschen ab, seine für ihn üblichen Verhaltensweisen und Tugenden sowie die von ihm als Gut (agathón) erkannten Ziele. Beide Begriffe – ethos und êthos – verweisen aufeinander, da die individuellen Entscheidungen für ein Gut immer auch in einem sozialen Kontext entstehen. Der Charakter und die Tugenden, die Werte und die Ziele, die im gemeinsamen Handeln umgesetzt werden, sind immer auch sozial geprägt und wurden vor dem Hintergrund der Sozialisation eines Menschen in einer Gemeinschaft gewählt (s. Abb. 2). Dies schließt aber keineswegs Konflikte zwischen êthos und ethos aus: Das individuell Gute muss nicht notwendig mit dem übereinstimmen, was die meisten oder alle anderen für ein Gut halten. Heute verstehen wir den Begriff der Ethik im Sinne des êthos, also der Individualethik mit ihren subjektiven Überlegungen, Entscheidungen und Handlungsweisen. Ethisch gute Handlungen entstehen in diesem Sinn durch einen entsprechenden Charakter; sie berücksichtigen Verhaltensweisen, Tugenden und Handlungsziele, die der Einzelne als gut anerkennt. Die Leitfrage der Ethik ist die nach dem Guten. Daraus abgeleitete Handlungsfragen der Ethik wären daher: Ist die Handlung (für mich und an sich) gut ? Sind die Folgen einer Handlung (für mich und an sich) gut ? Ist das angestrebte Ziel (für mich und an sich) gut ? Führen diese Handlungen und diese Ziele zu einem gu-

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Abbildung 2

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Ethik und das Gute

ten Leben ? In diesen ethischen Fragestellungen lautet der Antagonismus: gut oder schlecht. Eine Handlung und ihr Motiv oder ihr Ziel, der Charakter oder die Lebensführung eines Menschen können im ethischen Sinne gut oder schlecht sein. Moral Die begriff liche Bestimmung des ethos als Gewohnheiten einer Gemeinschaft wurde durch Cicero mit dem lateinischen Begriff mos übersetzt, aus dem sich der deutsche Begriff Moral ableitet. Moral meint seither etwas anderes als Ethik. Moral als sozialer ethos umfasst die gültigen und allgemein anerkannten Regeln, die Gebote und Verbote, die Normen und Werte einer Gemeinschaft von Menschen. Moralische Handlungen sind folglich definitionsgemäß immer auch sozial erwünschte Verhaltensformen und gelten als legitime Handlungen. Die Moralität ist daher zugleich die Handlungsorientierung im zwischenmenschlichen Handeln auf der Individualebene. Ethik und Moral unterscheiden sich ebenfalls durch verschiedene Leitfragen in Bezug auf eine Handlung. Die Leitfrage der Moral ist die nach dem Richtigen. Daraus abgeleitete Handlungsfragen wären nun: Ist es richtig, dies zu tun ? Sind

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die Folgen einer Handlung (für mich und die Gemeinschaft) moralisch richtig und sozial akzeptabel ? Ist das Ziel einer Handlung in der Gemeinschaft moralisch anerkannt ? Unterstützen diese Handlungen und Ziele die kollektiven Vorstellungen über das moralisch Richtige sowie die Normen und Werte der Gemeinschaft ? Der Antagonismus der Moral lautet daher: richtig oder falsch. Hierbei geht es um die Bewertung einer Handlung, ihrer Folgen und Ziele in Bezug auf die Übereinstimmung mit den geltenden, das heißt von einer Gemeinschaft kollektiv anerkannten Grundsätzen der Moral, ihrer Normen und Werte als moralisch richtig oder moralisch falsch. Derartige moralische Grundsätze sind üblicherweise Sollens-Sätze: Du sollst dies tun, jenes sollst du unterlassen. Die Begründung dieser Sollens-Sätze ist normativ, sie formulieren eine Regel, die für jeden handelnden Menschen in der Gemeinschaft verbindlich sein soll. Sie fordern die Einhaltung der moralischen Regeln durch den Handelnden als Mitglied einer Gemeinschaft, in der diese Normen und Werte kollektiv gelten. Daher kann man die Normativität auch als Handlungsorientierung von Akteuren als Gemeinschaftsmitglieder auf der Korporationsebene verstehen. Insofern fordert die Moral den Respekt vor den kollektiven Normen und Werten, die jedem Akteur im gemeinsamen Handeln Gleichheit verleihen. Ohne diese moralische Gleichheit wären das Handeln und das Leben überkomplex: Jener darf dieses tun, jene darf dieses nicht fordern und so weiter. Moralische Richtigkeit fordert von Akteuren in der Gemeinschaft den gleichen Respekt vor dem Sollen: Du sollst richtig handeln, und du sollst nicht falsch handeln. Der Respekt vor dem Leben, dem sozialen Miteinander und dem Eigentum anderer Menschen sind klassische Beispiele für moralische Handlungsbestimmungen, die typischerweise in einer Kultur religiös kodifiziert sind. In der sogenannten westlichen Kultur – die aus den drei abrahamitischen Religionsgemeinschaften der Juden, Christen und Muslime entstanden ist – stehen die Zehn Gebote des Alten Testaments (Dekalog) exemplarisch für moralisch und religiös verankerte Sollens-Bestimmungen: Du sollst nicht töten, Du sollst nicht lügen, Du sollst nicht stehlen. Diese Sollens-Bestimmungen beschreiben das moralische Verhalten von Menschen in einer Gemeinschaft, die sich einer friedlichen und kooperativen Sozialität verschrieben hat. Sitten Von diesen moralischen Sollens-Bestimmungen sind die Sitten als Verhaltenskonventionen zu unterscheiden. Gesellschaftliche Konventionen und Gebräuche sind Verhaltensweisen, die das soziale Miteinander in einer Gemeinschaft erleichtern und angenehm oder nützlich sind. Die Fragestellung lautet hier: Ist es angemessen,

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dies so zu tun ? Die Frage appelliert daher an den Respekt vor dem anderen und die Kenntnisse kultureller und sozialer Kann-Erwartungen, mit denen die Mitglieder einer Gemeinschaft sich ihrer gegenseitigen Wertschätzung vergewissern. Zumeist beruhen sie auf Traditionen und Gewohnheiten, die sich in einer Gemeinschaft entwickelt haben. Daher werden die Sitten zumeist unter die Moral subsumiert. Sitten und Konventionen sind folglich Verhaltenserwartungen, die man in bestimmten sozialen Situationen erfüllen kann. Es gilt als höflich oder respektvoll gegenüber den anderen, wenn man sie befolgt. Ihre Einhaltung zeigt dem anderen, dass man die kulturgebundenen Bedeutungen von Handlungen kennt und durch ihre Einhaltung die Situation und den anderen als respektwürdig bewertet. Typische Beispiele hierfür sind bestimmte Begrüßungsrituale oder das Aufhalten einer Türe für Nachfolgende. Die Nicht-Einhaltung von Sitten demonstriert hingegen, dass man unwissend ist, die Sitten ignoriert oder gar den Respekt bewusst verweigert. Die Sitten sind immer auch kulturell eingebettet und unterscheiden sich; sprichwörtlich gelten in anderen Ländern andere Sitten. So ist es in einigen Ländern üblich, beim Essen Messer und Gabel zu benutzen, in anderen Ländern Essstäbchen. Das pünktliche Erscheinen zu einem vereinbarten Termin wird in einigen Gesellschaften strikter erwartet als in anderen. In einigen Gesellschaften sind eine formale Anrede, Siezen oder Verbeugungen zur Begrüßung üblich, andere Gesellschaft kennen die sprachliche Unterscheidung zwischen Siezen und Duzen nicht (angloamerikanischer Sprachraum) oder verzichten bewusst darauf (skandinavische Länder).

2.2 Recht und Gerechtigkeit Das Recht bezeichnet ein System von Regeln für das soziale Handeln. In einem Rechtsstaat wird das sogenannte objektive Recht von den Mitgliedern der Gesellschaft oder ihren politischen Repräsentanten beschlossen und kodifiziert, von der Exekutive durchgesetzt und bei Zuwiderhandlungen von der Judikative mit Sanktionen bestraft. Recht und Gesetze verweisen auf eine straffreie Erlaubnis oder ein strafbares Verbot einer Handlung und sind mit dem Imperativ › Du musst ! ‹ verknüpft. Die Wahrung des Lebens und des Eigentums anderer, der Austausch von Waren gegen Geld oder das Halten vor einer roten Ampel sind rechtlich geregelte Verhaltensweisen, deren Nichtbeachtung die Gesellschaft des Rechtsstaates (» Im Namen des Volkes «) bestraft. Die Gesetze schützen sogenannte Rechtsgüter. Rechtsgüter sind Zustände, beispielsweise das Leben und die körperliche Unversehrtheit oder das Eigentum, und

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Abläufe von Handlungen, beispielsweise die Tauschprozesse von Waren und Leistungen. Was als Rechtsgut gilt, steht nicht in den Gesetzen, sondern wird von der Gesellschaft zum Rechtsgut erhoben. Grundlage dafür sind die Moralvorstellungen, die Werte und Traditionen einer Gemeinschaft von Menschen, die sich verändert und entwickelt. Rechtgüter werden im Rechtsstaat folglich nicht vorgefunden oder beschlossen, sondern » in der jeweiligen Gesellschaft gemacht « (Fischer, 2014). Jene Gesetze, die Rechtgüter schützen, spiegeln insofern immer auch die jeweiligen Vorstellungen über legitimes Handeln wider und verschärfen moralische Regeln über das richtige oder falsche Handeln von Menschen, indem sie es zulassen oder mit strafrechtlichen Normen verbieten. Rechtskonform und legal sind all jene sozialen Handlungen, die in Übereinstimmung mit den geltenden Gesetzen vollzogen werden. Eine legale Handlung impliziert das Recht auf ihren Vollzug und es besteht ein Anspruch auf eine bestimmte Verhaltensweise, den andere Menschen respektieren müssen – auch dann, wenn diese Handlung deren Verhalten einschränkt. Mit anderen Worten: Jedes Recht des Einen impliziert die Pflicht aller anderen, diesen legalen Anspruch zu beachten. Beispielsweise impliziert das Recht auf Leben und Eigentum die Pflicht aller anderen, diesen Rechtsanspruch zu respektieren. Für die soziale Ordnung einer Gemeinschaft gibt es daher einen Rahmen des Rechts, der einerseits von den Gesetzen und andererseits von der Moral durch Sanktionen begrenzt wird. Moral und Recht sind aber beide auf das Gute bezogen – sie müssen deshalb nicht in jedem Fall übereinstimmen, orientieren sich aber zumindest an einer subjektiven Vorstellung über die kollektive Anerkennung eines moralisch und rechtlich Guten (s. Abb. 3). Zumeist stimmen jedoch die subjektiven Vorstellungen des Guten mit den sozialisierten Ansprüchen der Moral und des Rechts mit den Gesetzen überein, das heißt, aus dem objektiven Recht, wie es in Gesetzen niedergeschrieben ist, lassen sich moralkonforme Befugnisse des subjektiven Rechts ableiten und als gutes Handeln umsetzen. Allerdings ist der Dreiklang aus Moral (gr.: ethos, lat.: mos), Recht (gr.: díkē, lat.: ius) und Gesetz (gr.: nómos, lat.: lex) keinesfalls unproblematisch oder gar notwendig kongruent. Die moralischen Vorstellungen über das Richtige verändern sich im Lauf der Zeit und das Recht und die Gesetze müssen darauf reagieren. Typische Beispiele aus Deutschland sind die Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Männer und Frauen von 1918, die Aufhebung des strafrechtlichen Verbots von Homosexualität im Jahr 1969, die Straffreiheit von Schwangerschaftsabbrüchen im Jahr 1976 und die Tatsache, dass Ehefrauen auch ohne die Genehmigung ihres Gatten einer beruflichen Tätigkeit erst seit 1977 (!) nachgehen dürfen. Die aktuellen Debatten um die Sterbehilfe für todkranke Menschen zeigen, dass der Konflikt zwischen Recht, Moral und Gesetzen keineswegs beendet ist,

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Abbildung 3

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Ethik, Moral und Recht

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sondern ein fortschreitender Prozess der gesellschaftlichen Debatte über die gemeinsamen Normen und Werte bleiben wird. Die Beziehung zwischen Moral und Recht ist das zentrale Thema der Rechtsethik (vgl. Pfordten, 2005). Sie verweist darauf, dass das Recht zumeist aus der Moral erwächst, das heißt, in den Urgesellschaften waren Recht und Moral deckungsgleich und haben sich erst später in unterschiedliche Bereiche fortentwickelt (genetisch-kausale Beziehung). Die besonderen Problematiken der Gentechnik und des Umgangs mit Embryonen zeigen, dass Recht und Moral jedoch nicht notwendig einen gemeinsamen Ursprung haben und daher neuerer moralischer und rechtlicher Regelungen bedürfen: Technische und soziale Änderungen müssen sowohl auf Seiten der Moralität als auch auf Seiten der Rechtskonformität des Handels und des Sollens umgesetzt werden. Die Rechtsethik verweist aber auch darauf, dass es zwischen Moral und Recht eine Kohärenz geben muss (pragmatische Beziehung). Wenn moralische und rechtliche Normen in einen Widerspruch geraten, sind die Rechtsnormen und die daraus abgeleiteten Gesetze zumeist nicht haltbar und werden von den Mitgliedern der Gemeinschaft nicht anerkannt. Nur in Einzelfällen können Rechtsnormen auch eine » sittenbildende Kraft « (Pfordten, 2005, S. 213) entwickeln und die moralischen Vorstellungen in einer Gesellschaft verändern (intentional-generierende Beziehung). Beispielsweise war es in den 1970er Jahren noch unüblich, sich beim Autofahren anzuschnallen. Erst nachdem 1984 eine Rechtspflicht (mit Bußgeld) eingeführt wurde, entwickelte sich auch ein moralisches Bewusstsein für den Schutz des eigenen Lebens und der Gesundheit anderer durch einen Sicherheitsgurt. Zumeist entwickelt sich aus diametral entgegengesetzten normativen Vorstellungen über die Moral und das Recht eine eskalierende Konfliktsituation. In diesen massiven Konflikten spielen Überlegungen zur Notwehr oder zum sogenannten übergesetzlichen Notstand eine wichtige Rolle. Typische, allerdings auch umstrittene Beispiele hierfür wären die gewaltsame Abwehr eines Angriffs, der eigene gewaltsame Angriff auf einen Bombenleger oder der Arzt, der die Tötung eines ungeborenen Kindes für die Rettung der Mutter akzeptiert. In diesem Fall gibt es einen Konflikt zwischen der Legitimität und der Legalität des Handelns. Gewalt gegen andere oder gar die Tötung sind gesetzlich verboten und damit illegal, können aber in derartigen Notsituationen legitim sein und auch juristisch zum entschuldigenden Notstand (§ 35 StGB) führen. Die Ethik ist für die Moral und das Recht gleichermaßen konstitutiv. Beide, Moral und Recht, reflektieren im besten Fall die ethischen Grundhaltungen und Entscheidungen der Menschen in einer Gemeinschaft und beschreiben die kollektiv anerkannten Vollzüge ethischer Wertvorstellungen. Moral und Recht, legitimes und legales Handeln stützen sich daher auf ethische Überlegungen der

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Akteure und definieren die Rahmenbedingungen der Sozialität. Umgekehrt prägen die moralischen und rechtlichen Bestimmungen die ethische Sozialisation der Mitglieder einer Gemeinschaft und formen ein anerkennungsfähiges Gut des Handelns. Gerechtigkeit Gerechtigkeit (dikaiosýnē) wird durch eine soziale Handlung verwirklicht, wenn die Handlung selbst oder das mit ihr verknüpfte Ziel von den Beteiligten als angemessen und passend bewertet wird. Die Handlung unterliegt damit immer einer normativen und intersubjektiven Prüfung, da Gerechtigkeit als Ergebnis einer sozialen Handlung nur im Bezugsrahmen kollektiver Werte anerkannt werden kann. Gerechtigkeit ist zudem mehr als Rechtskonformität, und wer gerecht handelt, obwohl er sich anders verhalten könnte und dürfte, verdient die Anerkennung seiner Mitmenschen als gerecht Handelnder. Hierbei müssen jedoch zwei Bedeutungen des Begriffs Gerechtigkeit differenziert werden: Gerechtigkeit in objektiver Hinsicht unterstellt einen überzeitlichen Wertekanon – dieser kann sich beispielsweise auf ein Naturrecht, die tradierte Gültigkeit von religiösen Geboten oder universelle Menschenrechte beziehen – oder einen institutionellen Rahmen mit rechtlichen Normen, der Gerechtigkeitskonflikte lösen kann. Gerechtigkeit in subjektiver Hinsicht berücksichtigt hingegen die individuellen Ansprüche und Leistungen eines Akteurs und prüft deren Reziprozität, indem sie die geforderten Ansprüche mit den erbrachten Leistungen abgleicht und bewertet. Vermutlich wollen die meisten Menschen gerecht handeln. Gerechtigkeit ist ein Ziel, das üblicherweise als erstrebenswert gilt. Sobald jedoch unterschiedliche Akteure und deren Handlungen miteinander um das jeweils höhere Maß an Gerechtigkeit ringen, entstehen Konflikte. Ein klassischer Konflikt ist jener zwischen dem (individuellen) Recht auf Freiheit und dem (kollektiven) Recht auf Gleichheit: Ist die Anerkennung der Gleichbehandlung ähnlicher Akteure gerechter als die Anerkennung der Handlungsfreiheit einzelner ? Oder: Inwieweit ist die Einschränkung der Freiheit einzelner zugunsten der Gleichheit der Gemeinschaft noch gerecht ? Bei der zuvor erwähnten Einführung der Anschnallpflicht war es beispielsweise lange Zeit umstritten, ob ein liberaler Staat einen mündigen Bürger und erfahrenen Autofahrer in seiner Handlungsfreiheit derart einschränken dürfte. Für einige mag ein höheres Maß an Gleichheit gerecht sein, für andere ein höheres Maß an Freiheit. Daher mag jeder nach Gerechtigkeit streben, sie ist vor dem Hintergrund kollektiver Werte und deren subjektiver Anerkennung jedoch oftmals konfliktbehaftet. Eine kleine Geschichte, die der Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen in seinem Buch Die Idee der Gerechtigkeit erzählt, verdeutlicht die Konflikte: Drei

http://www.springer.com/978-3-658-08068-6