Petra Gropp Szenen der Schrift

Petra Gropp Szenen der Schrift Petra Gropp (Dr. phil.) arbeitet als Lektorin für deutschsprachige Literatur im S. Fischer Verlag. Sie publiziert im...
Author: Erich Fleischer
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Petra Gropp Szenen der Schrift

Petra Gropp (Dr. phil.) arbeitet als Lektorin für deutschsprachige Literatur im S. Fischer Verlag. Sie publiziert im Bereich Literatur und Medien (»Schreiben. Szenen einer Sinngeschichte«, Tübingen 2002) und ist u.a. Mitherausgeberin der Anthologie »Perspektiven interdisziplinärer Medienphilosophie«, Bielefeld 2003.

Petra Gropp Szenen der Schrift. Medienästhetische Reflexionen in der literarischen Avantgarde nach 1945

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2006 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung & Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Petra Gropp Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-404-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT Siglen

9

Dank

11

Einleitung

13

1.

Perspektiven einer Medienästhetik der Literatur

17

1.1

Die medienwissenschaftliche Wende der Geisteswissenschaften Medientheoretische Reflexionen von Schrift und Literatur Entwürfe einer medienästhetischen Perspektive auf Schrift und Literatur Roland Barthes’ écriture-Begriff in medienästhetischer Perspektive

1.2 1.3 1.4

2.

2.1

2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3

17 27 34 44

Experimentalisierung von Schrift und Literatur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts

59

Ästhetik des Experimentellen im intermediären Feld von Literatur und Wissenschaft

59

Wissenschaftspoetik der potenziellen Literatur. Oulipo Poetik im intermediären Feld von Schrift und Mathematik Methoden und Formen potenzieller Literatur »Theoretische Literatur« und Medienkunst

72 72 81 92

2.3

Ästhetik des Spiels als Inszenierung permanenter Grenzüberschreitungen 2.3.1 ’Pataphysische Wissenschaftsphantastik 2.3.2 Experimentelle Schreibprojekte potenzieller Literatur

104 104 118

3.

Experimentelle Ästhetik der Schrift. Georges Perec

Entwurf einer auf die Reflexion der Schrift zentrierten Poetologie 3.1.1 Am Nullpunkt der Schrift 3.1.2 Mythopoetik und Ästhetik 3.1.3 Theatralität der Schrift. Kreuzworträtsel, Theatertext, Hörspiel

121

3.1

Der Roman im selbstreflexiven Spiel von Medialität und Phantastik 3.2.1 Von der écriture zum Roman 3.2.2 Der Roman als Ordnungssystem. »La Vie mode d’emploi« 3.2.3 Ästhetik des trompe l’œil

121 121 125 137

3.2

3.3 Entwurf einer anthropologischen Ästhetik der écriture 3.3.1 Topografische Ordnungen 3.3.2 Autobiographie als phantastische Topografie. »W ou le souvenir d’enfance« 3.3.3 Schrift als Geste einer Erinnerungspraxis

4.

4.1 4.2 4.3 4.4

Medienphilosophische Ästhetik der Schrift. Vilém Flusser Von der Sprachphilosophie zu einer Theorie der Medien Medienphilosophie und Ästhetik Medienphilosophie der Schrift Inszenierung medienästhetisch reflektierter Verkörperungsformen der Schrift

145 146 151 167 183 183 199 215

229

230 237 254 264

5.

Medienästhetik der Pop-Literatur. Rainald Goetz

Pop-Literatur als medienästhetische Reflexion von Schrift und Literatur 5.1.1 Pop-Literatur als medienästhetische Praxis 5.1.2 Popliterarische Erkundungen (trans-)medialer Dimensionen der Schrift. Rolf Dieter Brinkmann

285

5.1

5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4

Schrift als Affektmedium Inszenierung kognitiver Zusammenbrüche. »Irre« Schrift als Diktat und Ereignis. »Kontrolliert« Schrift als terroristischer Akt. »Hirn« Schrift als Performance. »Subito«

5.3 Medientheatrale Inszenierungen der Schrift 5.3.1 Theatrale Verkörperungen der Schrift. »Krieg« 5.3.2 Inszenierte Medientheatralität. »Festung« 5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4 5.4.5

Medienästhetik der Schrift. Das Projekt »Heute Morgen« Kunst als medienästhetische Inszenierung. »Jeff Koons« Medienästhetik der DJ-Culture. »Rave« Das Schreiben des Medien-Romans als medienkünstlerischer Akt. »Dekonspiratione« Schrift in der Medienkunst der DJ-Culture. »Celebration« Schrift als transmediale Verkörperungsform zwischen Internet und Buch. »Abfall für alle«

285 285 288 300 300 310 318 326 330 330 337

358 361 365 373 380 392

Schluss. Perspektiven einer Medienkunst der Schrift

407

Literaturverzeichnis Literatur-, Medien- und Kulturwissenschaften Medienästhetik, Literatur und Schrift. Experimentelle Literatur, Medienphilosophie und Pop-Literatur Oulipo und Collège de ’Pataphysique Georges Perec Vilém Flusser Rainald Goetz

409

409 429 434 442 444

SIGLEN 1989.1 1989.2 1989.3 A ACID BaH C CT D E F FSL H I JK K Kontr. Kri. Kro. M OC I OC II OC III R RB S SFL SPM St. SZ V VME Z

R. Goetz: 1989 (Bd. 1) R. Goetz: 1989 (Bd. 2) R. Goetz: 1989 (Bd. 3) R. Goetz: Abfall für alle R.D. Brinkmann/R.-R. Rygulla (Hg.): ACID. Neue amerikanische Szene R.D. Brinkmann: Briefe an Hartmut 1974-1975 R. Goetz: Celebration R. Barthes: Cy Twombly R. Goetz: Dekonspiratione V. Flusser: Eine neue Einbildungskraft R. Goetz: Festung R. Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe R. Goetz: Hirn R. Goetz: Irre R. Goetz: Jeff Koons V. Flusser: Kommunikologie R. Goetz: Kontrolliert R. Goetz: Krieg R. Goetz: Kronos V. Flusser: Medienkultur R. Barthes: Œuvres complètes. Bd. I 1942-1965 R. Barthes: Œuvres complètes. Bd. II 1966-1973 R. Barthes: Œuvres complètes. Bd. III 1974-1980 R. Goetz: Rave R. Barthes: Über mich selbst V. Flusser: Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft? R. Barthes: Sade. Fourier. Loyola V. Flusser: Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdung R.D. Brinkmann: Standphotos R. Barthes: S/Z V. Flusser/L. Bec: Vampyroteuthis infernalis G. Perec: La Vie mode d’emploi V. Flusser: Zwiegespräche

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DANK Mein Dank gilt all jenen, die mich über Jahre hinweg in meiner Begeisterung für die Literatur und die Wissenschaft begleitet und unterstützt haben, in erster Linie meiner Familie und meinem Freund Dr. Joachim Koch. Diese Arbeit ist einem Umfeld entstanden, in dem das Ausloten neuer Territorien mit Engagement, kritischem Geist und intellektueller Experimentierfreude betrieben wird. Für diese Freiheiten, ihre Anregungen und Förderungen danke ich meinen beiden Betreuern Prof. Dr. Christian Schärf und PD Dr. Matthias Bauer. Die Notwendigkeit, mich in der Theaterwissenschaft, Philosophie und anderen Nachbardisziplinen nach geeigneten Konzepten, Begriffen und Modellen umzusehen, hat es mir erlaubt, mit Kollegen anderer Fächer zusammenzuarbeiten, und auch für diese Offenheit und die Möglichkeit, in Gespräche, Veranstaltungen und Publikationsprojekte die Fragen und Überlegungen der eigenen Arbeit einbetten zu können, möchte ich danken. An dieser Stelle gilt mein Dank auch Dr. Christoph Ernst, dessen intellektuelle Brillanz, praktische Tatkraft und Freundschaft gemeinsame Seminare, verzwickte Diskussionen und zahlreiche Projekte zu einer großen fachlichen und persönlichen Bereicherung haben werden lassen. Mein Dank gilt nicht zuletzt dem Fachbereich 05 der Johannes Gutenberg-Universität für die Zuerkennung des Promotionspreises. Gefördert wurde die Arbeit durch ein Promotionsstipendium des Fachbereiches sowie anschließend durch ein Stipendium der Landesgraduiertenförderung Rheinland-Pfalz.

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EINLEITUNG »Je n’écris pas pour dire que je ne dirai rien, je n’écris pas pour dire que je n’ai rien à dire. J’écris: j’écris parce que nous avons vécu ensemble, parce que j’ai été un parmi eux, ombre au milieu de leurs ombres, corps près de leurs corps; j’écris parce qu’ils ont laissé en moi leur marque indélébile et que la trace en est l’écriture: leur souvenir est mort à l’écriture; l’écriture est le souvenir de leur mort et l’affirmation de ma vie.« Georges Perec 1

Georges Perec habe den Akt des Schreibens neu erfunden, so sieht es Harry Mathews. 2 Schreiben als Erinnerung eines Todes, als Prozess eines Erinnerns. Im Schreiben wird nicht das Erinnerte zurückgeholt, sondern der Akt des Schreibens wird zur Erinnerungspraxis, die Verkörperung der Schrift zur Inszenierung eines Erinnerns. Von der Schrift her denkend, Schrift in ihrer Medialität und als Kulturtechnik, wird Literatur zum Ort, an dem diese Reflexionen verhandelt und vorgeführt werden. Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts werden diese Fragen nach Medien und Medialität, nach der Schrift, nach dem Schreiben als medialem und kulturellem Akt zu einem zentralen Ausgangspunkt des literarischen Arbeitens. Das Poetologische wird von der Schrift her gedacht. Damit steht Literatur in einer kulturellen Konstellation, die man als medial turn bezeichnen könnte, Wissenschaft, Technik und Kunst setzen sich mit der Frage nach Medien und Medialität auseinander. Literatur greift diese Theorien, Modelle und Methoden auf und positioniert sich in diesem Feld mit Entwürfen einer Ästhetik der Schrift. Konzeptionen der Schrift werden in Praktiken des Schreibens überführt, Literatur führt Schrift in ihrer Medialität und als kulturelle Handlung vor, setzt die Grenzbereiche des Medialen und kulturell Sinnhaften in Szene. In der experimentellen Inszenierung der Schrift wird Literatur zum ästhetischen Akt. Literatur entwickelt Poetologie und literarische Verfahren in Interaktion mit zeitgenössischen Konzeptionen der Schrift – kybernetisch-systemtheoretischer, kommunikationswissenschaftlicher, semiotischer, kulturhistorischer, grammatologischer oder kognitivistischer Orientierung. Aus der Reflexion der Schrift werden Formen des Schreibens abgeleitet und poetologische Konzeptionen wie Fiktionalität und Autorschaft reformuliert. In der Verschiebung der Horizonte von Wissenschaft, Kulturtechnik und Kunst, wie sie mit der Reflexion von Medien und Medialität, in selbstreflexiver Wendung der Wissenschaften, Techniken und Künste, neue Bewegungen erfahren hat und erfährt, in der auch das Literarische in stetigem Selbstentwurf begriffen ist, wird das Ästhetische zu einem zentralen Aspekt, den es mit Blick auf das Mediale neu zu bestimmen gilt. Als viel versprechend erweisen sich hier Zusammenführungen von Literaturtheorie, Medien- und Kulturwissenschaften mit dem Fokus auf der Frage 1 2

Georges Perec: W ou le souvenir d’enfance, Paris 1975, S. 59. »Perec a repensé et réinventé l’acte d’écrire lui-même.« Harry Mathews: »Le catalogue d’une vie«, in: Magazine littéraire 193 (1983), S. 14-20, hier S. 14.

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SZENEN DER SCHRIFT

nach dem Medialen und dem Ästhetischen, wie sie im ersten Kapitel ansatzweise und vorläufig unternommen werden. Es gilt Ausgangspunkte zu entwickeln, um einen Blick auf Schrift und Literatur werfen zu können, wie sie in medienästhetischer Perspektive reflektiert werden. Diese medienästhetische Orientierung steht erst am Beginn ihrer Ausarbeitung. Verkreuzungen entstehen dadurch, dass Literaturwissenschaft und Autoren sich derselben Reflexionen zu Schrift und Sprache, Lektüre und Literatur bedienen. Literaturwissenschaft versucht, ein interdisziplinäres Instrumentarium, Begriffe und Modelle zu entwickeln, um die poetologischen Reflexionen und künstlerischen Praktiken der Literatur beschreibbar zu machen. In der Literatur nach 1945 lassen sich zwei Richtungen ausmachen, die diese Reflexionen des Medialen und des Ästhetischen, von der Schrift her kommend, in differenzierter und vielfältiger Weise unternehmen: die so genannte experimentelle Literatur und die so genannte Pop-Literatur. Diese in der literaturwissenschaftlichen Perspektive oftmals als marginal eingestuften literarischen Richtungen rücken in der Frage einer Medienästhetik der Schrift und der Literatur in den Mittelpunkt des Interesses, weil sie Reflexionen, Erkundungen, Grenzgänge unternehmen, die für die Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts richtungweisend sind. Literarische Verfahren und Formen der Moderne werden aufgegriffen, Überlegungen im Zeichen der neuen Medien, zeitgenössischen Theorien und aktuellen ästhetischen Fragen fortgeführt und im Horizont der veränderten kulturellen Konstellation reformuliert. Experimentelle Literatur, die konkrete und visuelle Poesie in Deutschland wie die Werkstatt für potenzielle Literatur in Frankreich, bestimmen zentrale Kategorien des Literarischen im Zwischenbereich von kybernetischer Wissenschaft und Computertechnologie neu und entwerfen Gestaltungen und Praktiken der Schrift als medienkünstlerische Aktionen. Die Interaktionen von Mathematik und Literatur, Wissenschaft und Phantastik stellen spielerische Inszenierungen kultureller Ordnungsprozesse und deren performative Überschreitung vor, insbesondere die Arbeiten und Praktiken des Collegium ’Pataphysikum. Georges Perec entwickelt mit diesem experimentellen Ansatz, in der Auslotung der Schwellenbereiche symboltechnischer Konstruktionen und medialer Verkörperungsakte, eine Poetik der Literatur und eine ästhetische Praxis der Schrift, die eine Vielfalt literarischer Formen gestalten, bis hin zu einem mit der Pluralform »Romane« benannten romanesken Mammutwerk »Das Leben Gebrauchsanweisung«. Im Erkunden des Entwerfens von Raumund Zeitordnungen erhält Perecs Arbeit eine medienanthropologische Wendung, im Spiel mit Fiktionalität und Phantastik wird Literatur als Archiv, Gedächtnismedium und Erinnerungspraxis reflektiert. Es werden Gestaltungsformen der Schrift entworfen, um Dimensionen des Autobiographischen, mediale Selbstentwürfe der Autorfigur in Szene setzen zu können. Medienphilosophische Reflexionen nehmen eine Scharnierfunktion ein, insofern der aus der kybernetisch-mathematischen Richtung kommende und um Aspekte der französisch-poststrukturalistischen écriture ergänzte SchriftBegriff mit medienphilosophischen Überlegungen erweitert werden kann. Die Frage nach dem Medialen und dem Ästhetischen lässt sich mit aktuellen Perspektiven der Medienphilosophie sowie exemplarisch mit Vilém Flusser als einem der zentralen Vordenker differenzieren. Ansätze einer kybernetisch-kommunikationstheoretisch orientierten Medienreflexion werden mit phänomenologischen Überlegungen im Hinblick auf das mediale Weltent14