Ruth Cohn und die Gestalttherapie eine nicht ganz einfache Beziehung

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ZEITSCHRIFTENARCHIV

Helmut Johach

Ruth Cohn und die Gestalttherapie – eine nicht ganz einfache Beziehung

Themenzentrierte Interaktion Anstoß nehmen – Anstoß geben. Dr. h.c. Ruth C. Cohn (1912–2010) 26. Jahrgang, 1/2012, Seite 16–25 Psychosozial-Verlag

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Themenschwerpunkt: Anstoß nehmen – Anstoß geben. Dr. h.c. Ruth C. Cohn (1912–2010)

Helmut Johach

Ruth Cohn und die Gestalttherapie – eine nicht ganz einfache Beziehung

Zum Autor Helmut Johach, Jg. 1941, Dipl.theol., Dr. phil.; TZI-Diplom, Supervisor; ehemals Suchttherapeut und Vorsitzender WILLFranken. helmut.johach@ web.de

Allmählich droht in Vergessenheit zu geraten, dass in der Anfangszeit eine enge Verbindung zwischen Themenzentrierter Interaktion und Gestalttherapie bestand. Auch ist wenig bekannt, dass neben Fritz Perls seine Ehefrau Laura viel zur Entwicklung der Gestalttherapie beigetragen hat. Es wird geschildert, was Ruth Cohn mit Fritz und Laura Perls verband, aber auch, was sie – speziell an der Version von „Selbstverwirklichung“, die Fritz Perls zeitweise vertrat – kritisierte. Auch wenn sich Gestalttherapie und TZI auf getrennten Wegen weiterentwickelt haben, sollte die Möglichkeit einer Verbindung nicht aufgegeben werden. Little by little, we seem to be forgetting that in the beginning, there was a close link between Theme-Centered Interaction and Gestalt Therapy. Neither do most of us realize that alongside Fritz Perls himself, his wife Laura contributed a great deal to the development of Gestalt Therapy.This is an account of what Ruth Cohn had in common with Fritz and Laura Perls, but also of what aspects of their work she criticized – and especially the version of “self realization”, which Fritz Perls supported intermittently. Although Gestalt Therapy and TCI have ultimately gone their separate ways, let us not give up on the possibility of a connection between the two. Bedingt durch die Ausdifferenzierung verschiedener Richtungen und Methoden der Humanistischen Psychologie seit dem „Psychoboom“ der 70er und 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts und die zunehmende Professionalisierung auf dem Fortbildungssektor, scheint allmählich in Vergessenheit zu geraten, dass es in den Anfängen eine enge Verbindung zwischen Themenzentrierter Interaktion und Gestalttherapie gab. Letzteres lässt sich unter anderem daran ablesen, dass etliche MitarbeiterInnen der „ersten Stunde“, die zusammen mit Ruth Cohn für die Verbreitung der TZI in Europa sorgten, auch Gestalttherapie praktizierten bzw. darin ihren eigentlichen Schwerpunkt sahen. Dies gilt z. B. für Elisabeth v. Godin, die sich nach der Ausbildung am New Yorker

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WILL-Institut im Jahr 1970 als Gestalttherapeutin in München niederließ und die dortige WILL-Region mit ins Leben rief. Es gilt ebenso für Ruth Ronall, eine Freundin von Laura Perls, die bis in die 80er Jahre regelmäßig von New York in die Schweiz reiste, um im Rahmen der TZI-Ausbildung Gestalt-Kurse anzubieten, und es trifft auch auf John Brinley – mit ursprünglichem Namen Hans Brinitzer – zu, der zu den Gründungsmitgliedern des WILL-Instituts in New York gehörte, jedoch in Deutschland (unter anderem im Gruppen-Zentrum Franken unter Leitung von Anne Thurn, wo ich die „neuen“ Methoden erstmals kennen lernte) überwiegend als Gestalttherapeut tätig war. Gleiches gilt für Norman Liberman, der die Bezeichnung „Living Learning“ in die Organisation der TZI einbrachte und in Deutschland lange Jahre in der TZI-Ausbildung mitwirkte, sich jedoch Leitung nach TZIgleichzeitig als „Perls-Anhänger“ (Liberman, 1973, 61) ou- Prinzipien schloss tete. Das heißt, dass im Unterschied zur heutigen Situation, gestalttherapeuin der klar zwischen gestalttherapeutischer und gruppenpä- tische Interventionen dagogischer Methodik getrennt wird, die Grenzen damals nicht aus fließend waren. In der Regel schloss – zumal wenn es um „Selbsterfahrung“ in Persönlichkeits-Kursen ging – die Leitung nach TZI-Prinzipien gestalttherapeutische Interventionen und Methoden keineswegs aus. Auch Ruth Cohn wandte in den von ihr geleiteten Gruppen häufig Gestalt-Techniken an, ohne sie allerdings in der Theorie der TZI zu verankern. Dazu möchte ich ein Beispiel schildern, das schon länger zurück liegt. Anfang der 80er Jahre hatte ich Gelegenheit, an einem von Ruth Cohn geleiteten Kurs in der Schweiz zum Thema „TZI und Politik“ teilzunehmen. Es gelang mir erst im zweiten Anlauf, einen Platz zu bekommen, da ihre Kurse sehr gefragt waren und eine schriftliche Begründung für den Wunsch nach Teilnahme erforderlich war. Unter anderem wollte sie vorweg von mir wissen, was ich aus eigener Erfahrung zum Thema beisteuern könne. Als ich in der Vorstellungsrunde meine Verwirrtheit äußerte (so viele illustre Leute hier und ich als Greenhorn dazwischen…), kam von ihr, wie aus der Pistole geschossen: „Sei verwirrt!“ – eine gestalttherapeutische Intervention, die darauf abzielte, mir mein Gefühl bewusst zu machen, ohne es als unpassend abzuwerten. So kam ich sofort mit mir, mit ihr und den anderen in Kontakt. Das war die erste Situation, in der Ruth Cohn für mich als Person präsent war – hellwach und sehr spontan. 1 Die folgenden Ausführungen basieren im Wesentlichen auf Da etliche Begegnungen mit Fritz Perls in Ruth Cohns Biografie dem Kapitel über Ruth Cohn eine bedeutende Rolle gespielt haben, wie aus ihrer Schilderung in in H. Johach: Von Freud zur der Gelebten Geschichte der Psychotherapie (Farau/Cohn, 1984, Humanistischen Psychologie. 1 299ff.) hervorgeht, möchte ich näher darauf eingehen. Therapeutisch-biographische Im Jahr 1946 fällt Ruth Cohn in New York ein Sonderdruck in Profile. Bielefeld 2009, die Hände. Der Titel: „Here and Now”. Der Autor: Frederick Perls. 263ff. 17

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Der Artikel beschäftigt sie sehr – weist er doch darauf hin, dass der Therapeut bzw. die Therapeutin sich auf Gefühle und Wahrnehmungen beim Klienten und bei sich selbst konzentrieren soll, die sich in der Gegenwart abspielen, anstatt in die Vergangenheit auszuweichen. Dieser Gedanke, der ein Grundprinzip der damals erst im Aufbau befindlichen Gestalttherapie formuliert, ist für sie als Noch-Analytikerin neu. Sie findet heraus, dass der Autor nicht weit entfernt von ihrer Praxis wohnt und ruft ihn an. Er antwortet: „Come over“. Und dann folgt der Satz: „Wir sprachen nur englisch miteinander, immer, wie fast alle deutsch-jüdischen Flüchtlinge“ (Farau/Cohn, 1984, 299). Die erste Begegnung mit Fritz Perls endet abrupt und lässt Ruth Cohn verwirrt zurück, denn er geht wortlos aus dem Zimmer und kehrt nicht mehr zurück, als sie darauf beharrt, mit ihm über seinen Artikel zu diskutieren; seiner Aufforderung, sich auf die Couch zu legen, wollte sie nicht nachkommen. Die kurze Szene zeigt aber auch, dass „Fritz“ (so nannte er sich später in seinen Workshops) schon damals gern das Handeln dem Reden vorzog und dabei vor Schroffheiten nicht zurückschreckte. Es dauert mehr als fünfzehn Jahre, bis Ruth Cohn Anfang der 60er Jahre bei den Veranstaltungen der American Academy of Psychotherapists wieder mit Fritz Perls zusammentrifft. Diesmal kommt ein dauerhafter Kontakt zu Stande. Perls demonstriert in seinen Workshops, wie die Konzentration auf das „Hier und Jetzt“ zu einer Intensivierung des eigenen Erlebens – einschließlich der Körperwahrnehmung und des Kontakts mit dem anderen – führt, er achtet auf Mimik und Gestik, vor allem wenn sie etwas anderes ausdrücken, als was der Betreffende verbal äußert, er lässt innere Konflikte durch äußere Hilfsmittel (z.B.Wechsel von einem Stuhl zum andern) repräsentieren oder mitgebrachte Träume bewusst weiterträumen und den Träumer sich mit verschiedenen im Traum auftauchenden Personen, Inhalten und Gegenständen identifizieren, er zeigt, wie „unerledigte Geschäfte“ (z.B. ein nicht ausgetragener Konflikt mit einem Elternteil) den Energiefluss blockieren – Perls verfügt m.a.W. über ein unerschöpflich scheinendes methodisches Repertoire, mit denen die Konflikte, die in der Psychoanalyse in oft mühsamer Annäherung verbal diagnostiziert und bearbeitet werden, in direktem Zugriff erfahrbar gemacht und einer möglichen emotionalen Lösung zugeführt werden können. Von entscheidender Bedeutung ist dabei der „Impass“ – mit „Engpaß“ nur unzureichend übersetzt: die Leere, das Einfach-nicht-mehrWeiterwissen-und-können, wenn alle Aspekte des Problems benannt und alle Möglichkeiten durchgespielt sind. Denn der Engpass öffnet den „Durchgang zum ‚Sein, die ich bin’ und ‚Werden, die ich werden könnte/wollte/sollte’“ (Farau/Cohn, 1984, 303). Ruth Cohn ist von der Konzentration, dem Gespür und der 18

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Sicherheit, mit der Fritz Perls zu dem lebenswichtigen „unerledigten Geschäft“ vorstößt, so beeindruckt, dass sie ihn zu einem zweijährigen Fortbildungskurs mit erfahrenen Therapeuten – zu denen auch einige spätere Gründungsmitglieder von WILL gehören − nach New York einlädt. Im Verlauf dieses Kurses, der auf mehrtägige Workshops verteilt ist, kommt es auf ihre Bitte hin auch zu einer persönlichen Einzel-Arbeit mit Fritz Perls, was eine große Ausnahme bedeutet, da Einzelarbeit außerhalb der Workshops „damals eine große Seltenheit“ (ebd., 305) war. Im Verlauf der dreistündigen Sitzung mit Fritz (Motto: „Listen to me!“) erlebt sich Ruth als schreienden, weinenden Säugling, den niemand hört, und als sechsjähriges Mädchen, dem der Vater nicht zuhört, weil er sich für ihre Puppen nicht interessiert, das stattdessen die Querstraßen zum Kurfürstendamm und die Wagner-Opern in der richtigen Reihenfolge hersagen muss; aber sie erlebt auch die Not des Vaters. Diese Geschichte aus ihrer Kindheit hatte sie schon oft erzählt, auch in therapeutischen Settings, und sie war dabei auf Verständnis und Mitgefühl gestoßen, aber so intensiv im Hier-undJetzt erlebt hatte sie die Geschichte noch nie. Dass jemand so voll für sie da ist, der sie in der Kindrolle befragt und ihr als Erwachsener zuhört, ist für sie neu. Die Tränenausbrüche, die das Erlebte begleiten, zeigen, wie tief der Schmerz sitzt. Doch dies ist nur der eine Teil. Die fast noch wichtigere Erfahrung ist der Engpass: „(…) nämlich die grausame Wirklichkeit, in der ein legitimer und unabdingbarer Anspruch des kleinen Mädchens und ein sich als impotent erlebender Vater einander in ihrer gemeinsamen Existenznot begegneten. Und jetzt hier eine erwachsene Frau, die diese Tragik explizit macht und sie nicht aufheben kann, weil sich der Konflikt zwischen vergangenen Kontrahenten ereignet hat.“ (Farau/Cohn, 1984, 308)

Als sie das realisiert, entsteht in ihr eine innere Leere. Am Vergangenen ist nichts mehr zu ändern. Aber aus der Leere entsteht das Bild eines fruchtbaren Lebensbaumes, ein „Gefühl des Erfülltseins, eines lebendigen Friedens, des Rauschens einer inneren Quelle“ (ebd.). Sie kann wieder um sich schauen und Ihr Gegenüber wahrnehmen. Und ihr Fazit lautet: „Der Kleinmädchen-Anspruch und die Trauer des versagenden Vaters sind nicht mehr im Fluß meines Lebens. Diese Gestalt war und ist beendet. Nur Narben sind geblieben, wie von jedem tiefen Schmerz, und sie tun weh, wenn Menschen, die ich sehr liebe, mich nicht hören können oder wollen. Aber die Quelle ist frei.“ (ebd., 309)

Sicher ist, dass das geschilderte eigene Erleben und die Erfahrung aus den Workshops mit „Fritz“ Ruth Cohn sehr beeindruckt haben. 19

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Sie hat ihn als Therapeuten bewundert. Was manchen als Hexerei erschien, nämlich dass der bei Freud mit den Worten „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“ (Freud, 1975, 207ff.) beschriebene Prozess bei Perls in enormer Intensität und Verdichtung ablief, beruhte allerdings auf einer „Kombination von Genialität, sauberen Konzepten, geschulter Intuition, lebenslangem Fleiß und ungeheurer Erfahrung“ (Farau/Cohn, 1984, 304), Workshops mit und das wusste sie. Sie hält Perls’ Fähigkeit, neurotisierende „Fritz“ machten Vergangenheit durch die Kombination psychoanalytischen tiefen Eindruck Wissens mit Gestalttechniken in die therapeutische Hierauf Ruth Cohn und-Jetzt-Begegnung zu bringen, für den „Höhepunkt psychotherapeutischer Entwicklung“ (Cohn, 1975, 101). Sein therapeutisches Vorgehen lässt sich jedoch nicht kopieren oder schematisch in Form bestimmter „Techniken“ praktizieren. Bei unerfahrenen und intuitiv weniger begabten Therapeuten kann die „Technik“ sogar schädlich wirken − das ist mit ein Grund, weshalb Ruth Cohn bei der TZI später nicht mehr von „Methode“ spricht, sondern mehr die innere Haltung betont. Sicher ist schließlich, dass die Bewunderung für Fritz Perls bei ihr nicht so weit ging, dass sie alles, was von ihm kam, unkritisch akzeptiert hätte. So erregte das in späteren Jahren am Esalen Institute in Kalifornien entwickelte und massenhaft in Posterform verbreitete „Gestalt Prayer“ ihre Empörung und ihren Zorn, dem sie 1973 in einem Artikel über „Die Erlebnistherapien – Autismus oder Autonomie?“ (Cohn, 1975, 97ff.) Luft machte. Man muss dazu berücksichtigen, dass damals in der Encounter-Bewegung und im „Human Potential Movement“, in dem Fritz Perls aktiv war, viel von „Selbst-Verwirkli­chung“ (F. Perls, 1980, 150) die Rede war. Ruth Cohn akzeptiert die positive Bedeutung des Wortes, die mit der Vorstellung eines sich selbst bestimmenden und die eigenen Potenziale entfaltenden Individuums verbunden ist. Zugleich sieht sie jedoch in der Art, wie „Selbstverwirklichung“ damals von vielen verstanden wurde, eine höchst problematische Tendenz, die mit der Philosophie des „doing my own thing“ zu tun hat, d. h. mit der Aufforderung, „ohne Rücksicht auf humanistische oder mich transzendierende Verantwortlichkeit“ (Cohn, 1975, 97) nur das eigene Wohl zu verfolgen. Gegen diese Art von Selbstverwirklichung, das neue „goldene Kalb“ der damals in den USA und später in Europa aufkommenden Psycho-Szene, ist ihr Artikel gerichtet. Fritz Perls hat das „Gestalt-Gebet“ einem seiner Bücher aus der Zeit am Esalen-Institute, die größtenteils aus Therapieprotokollen bestehen, als Motto vorangestellt: „Ich tu, was ich tu; und du tust, was du tust. Ich bin nicht auf dieser Welt, um nach deinen Erwartungen zu leben. 20

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Und du bist nicht auf dieser Welt, um nach den meinen zu leben. Du bist du, und ich bin ich. Und wenn wir uns zufällig finden – wunderbar. Wenn nicht, kann man auch nichts machen.“ (F. Perls, 1974, 13)

Diese gebetsartig rezitierte und massenhaft in Posterform verbreitete Spruchweisheit wurde zu Recht als Proklamation einer Ego-Trip-Einstellung interpretiert. Ruth Cohn sieht insbesondere in den letzten beiden Zeilen (im Original: „I am I and you are you and if by chance we find each other, it’s beautiful, if not, it can’t be helped“) eine „Ermunterung zum ScheuklappenEgoismus“ (Cohn, 1975, 102). Sie bezweifelt jedoch, dass das resigniert-unpersönliche „it can’t be helped“ von Perls stammt, da es seiner sonstigen Einstellung zuwiderläuft. Zu den Grundprinzipien der Gestalttherapie wie der Themenzentrierten Interaktion gehört vielmehr, sich im Kontakt zu anderen der eigenen Handlungsmöglichkeiten bewusst zu werden und Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen. Im Gestalttherapie und Vier-Faktoren-Modell der TZI ist mit der Betonung des TZI betonen Verant„Wir“ eine ausgesprochen soziale Komponente angelegt, wortung für das die in Perls’ Gestaltarbeit in Gruppen – mit dem Dialog eigene Tun zwischen dem einzelnen Teilnehmer und dem Gruppenleiter im Vordergrund und der Gruppe im „Hintergrund“ (vgl. Cohn, 1983, 13) − fehlt. Im System der TZI soll bekanntlich aus mehreren „Ichs“ in sachgerichtetem, zugleich das Emotionale berücksichtigendem Zusammenwirken ein „Wir“ werden, bei dem jeder der Beteiligten seine spezifischen Fähigkeiten einbringen und entfalten kann. Zugleich ist das aus Ich, Wir und Es bestehende Dreieck eingebettet in den „Globe“. Ruth Cohn unterscheidet zwischen einer „individualistischen“ und einer „humanistischen“ Auffassung von Selbstverwirklichung und macht für letztere die gegenseitige Rücksichtnahme und „Förderung der Selbstverwirklichung anderer“ (Farau/Cohn, 1984, 435f., Hervorhebung H.J.) zur Bedingung. Ihre Kritik am „Gestalt-Gebet“ läuft auf eine abgewandelte Version hinaus: „Ich kümmere mich um meine Angelegenheit, ich bin ich. Du kümmerst dich um deine, du bist du. Die Welt ist unsere Aufgabe; Sie entspricht nicht unseren Erwartungen. Doch wenn wir uns um sie kümmern, wird sie sehr schön sein; Wenn nicht, wird sie nicht sein.“ (Cohn, 1975, 101)

Damit wird nicht nur ein soziales Miteinander in einem Prozess, der zu einem Wir führt, sondern auch die gemeinsame Verantwor21

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tung für den „Globe“ betont – die letzte Zeile in der Version von Ruth Cohn kann man als Anspielung auf das in der Zeit des Kalten Krieges herrschende Wettrüsten zwischen den Supermächten und die sich damals ebenfalls schon abzeichnenden ökologischen Probleme interpretieren. Einem Streben nach Selbstverwirklichung auf Kosten von Mit- und Umwelt wird bei ihr eine klare Absage erteilt. Zugleich spricht sich in ihren Worten ein ungebrochenes Zutrauen in die Möglichkeit aus, die uns umgebenden Verhältnisse in positivem Sinne beeinflussen und verändern zu können. Nicht zuletzt aufgrund der von Ruth Cohn geäußerten Kritik hat Fritz Perls kurz vor seinem Tod eine abweichende Schlussversion des „Gestalt-Prayer“ propagiert, die von Hilarion Petzold wie folgt zitiert wird: „Erst muss ich mich finden, um Dir begegnen zu können. Ich und Du, das sind die Grundlagen zum Wir, und nur gemeinsam können wir das Leben in der Welt menschlicher machen.“ (Petzold, 1980, 11)

Es mag zwar sein, dass Fritz Perls in seinem letzten Lebensjahr, nach der Gründung des Gestalt-Kibbuz am Lake Cowichan in Kanada, zu einer anderen Auffassung gekommen ist, die mehr die soziale Verantwortung in den Vordergrund rückt. Größere Breitenwirkung entfaltete jedoch die ursprüngliche Fassung, Keine Selbstverwirklichung in der das „Wir“ und die gemeinsame Verantwortung für auf Kosten von Mit- den „Globe“ keine Rolle spielten. Diese individualistische Auslegung kann jedoch nicht als repräsentativ für und Umwelt die gesamte Humanistische Psychologie und auch nicht für die Gestalttherapie gelten. Sie entspricht z. B. nicht dem, was Laura Perls unter „Commitment“ versteht (vgl. L. Perls 2005, 115ff.), einem tragenden Grundbegriff in ihrer Version von Gestalttherapie, mit dem sie wesentlich stärker als Fritz Perls das Sich-Einlassen auf den jeweils Anderen und die wechselseitige Verantwortung betont. Im Unterschied zu den vielfältigen Begegnungen mit Fritz Perls, die Ruth Cohn in der Gelebten Geschichte der Psychotherapie ausführlich schildert, scheint der Kontakt zu Laura Perls, deren eigenständiger Beitrag zur Entwicklung der Gestalttherapie erst relativ spät erkannt und gewürdigt wurde, für sie nicht von großer Bedeutung zu sein, da der Frau von Fritz Perls im Buch nur wenige Sätze gewidmet sind (vgl. Farau/Cohn, 1984, 317, 583f.). Doch dieser Eindruck täuscht. Immerhin erwähnt Ruth Cohn, dass Laura Perls ihr auf Befragen mitgeteilt habe, sie sei an der Entstehung von Theorie und Praxis der Gestalttherapie „viel stärker beteiligt“ gewesen, als es „durch Fritz bekannt“ (ebd., 317) geworden sei.Vor 22

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allem dass Konzepte der Gestaltpsychologie, die Laura gründlicher als Fritz Perls studiert hatte, und körperbewusste Tanz-, Bewegungsund Gymnastikmethoden in die Gestalttherapie mit aufgenommen wurden, führt Ruth Cohn auf Lauras Einfluss zurück. Laura Perls hatte bereits vor ihrer Flucht vor den Nazis bei Elsa Gindler in Berlin Unterricht genommen (vgl. L. Perls 1997, 59), während Ruth Cohn etwa zur gleichen Zeit bei der Gindler-Schülerin Carola Spitz − in den USA nannte sie sich später Speads – körpertherapeutische Methoden kennen lernte. Diese frühe biografische Parallele schuf bei der späteren Begegnung zwischen beiden Frauen sicherlich ein gewisses Maß an gegenseitigem Vertrauen und gegenseitiger Sympathie, nachdem Laura Perls in New York im gleichen Haus, in dem Ruth Ronall und Ruth Cohn wohnten, öfters zu Besuch weilte (vgl. Farau/Cohn, 1984, 582). Nach der ersten Begeisterung für die Art, wie Fritz Perls in den frühen 60er Jahren gestaltEntdeckung von therapeutische Methoden praktizierte, scheint Ruth Cohn in Gemeinsamkeiten späteren Jahren mehr Interesse für die Richtung entwickelt zwischen Laura Perls zu haben, die Laura Perls in der Gestalttherapie vertrat. Ihr und Ruth Cohn Vorgehen war weniger spektakulär als bei Fritz Perls, jedoch gründlicher in klinisch-diagnostischen Details und weitaus mehr von „support“ bestimmt, während Fritz bei den Kandidaten, mit denen er arbeitete, oft bis an die Schmerzgrenze konfrontativ vorging. Dies hat sich, bedingt durch die Gründerpersönlichkeiten, bis in unsere Tage in der Differenz zwischen einem gestalttherapeutischen „Ostküstenstil“ und einem „Westküstenstil“ fortgesetzt (vgl. Petzold, 1984, 36f.) – eine Trennung, die erst allmählich überwunden wird. Man muss dazu berücksichtigen, dass Laura und Fritz Perls in den 60er Jahren nicht mehr zusammen lebten, dass jedoch Laura diejenige war, die für den Zusammenhalt des Gestalt-AusbildungsInstituts in New York sorgte, während Fritz am Esalen Institute in Big Sur/Kalifornien „Therapie für Normale“ mit Gestalt-Methoden praktizierte und dabei allmählich zu individueller Berühmtheit aufstieg. Wie Ruth Cohn den Kontakt zwischen beiden sah, geht aus einer Bemerkung hervor, die sie mir als Kommentar zu einer Passage über Fritz Perls in einem früheren Beitrag für die TZI-Zeitschrift (Johach, 1999, 11ff.), geschickt hat. Ihre Bemerkung lautet: „Sicher ist Fritz nie sehr gebunden gewesen, weder an Frauen, noch Freunde, noch Länder. (…) In New York fasste er nicht Fuß, wo es eigentlich leicht war, wahrscheinlich wegen Lore (die dort Laura hieß), während er an sich die Bindung an sie nie total aufgab, sondern wenn immer er nach New York kam, in ihrer Wohnung schlief. Sie litt sowohl unter seiner Abwesenheit, als auch unter seinen Anwesenheiten.“ (Brief vom 13.8.1998.)

An dieser Stelle weiter auf die Persönlichkeit von Fritz Perls einzugehen, würde zu sehr ins Detail führen. Sicherlich war er kein 23

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„pflegeleichter“ Mensch, sondern eher jemand, der sich selbst und anderen das Leben und vor allem das Zusammenleben schwer machen konnte. Die Bewunderung, die Ruth Cohn für ihn hegte, bezog sich in erster Linie auf seine schöpferischen Fähigkeiten als Therapeut, nicht sosehr auf seine menschlichen Qualitäten. Zu beachten ist in jedem Fall, dass Fritz Perls nicht allein als der Begründer der Gestalttherapie gelten kann; vielmehr hat seine Ehefrau Lore/Laura, ebenso wie Paul Goodman, viel zur Entstehung, zur theoretischen Fundierung und praktischen Ausgestaltung der Gestalttherapie beigetragen (vgl. Petzold, 1984, 27ff.). Zu berücksichtigen ist nicht zuletzt, dass einige MitbegründerInnen des Workshop Institute for Living Learning mit dem New Yorker Gestalt-Institut in Verbindung standen, das noch bis weit in die 70er Jahre von Laura Perls geleitet wurde. Ruth Cohn hielt es für erforderlich, eigens darauf hinzuweisen, dass die TZI „kein Abkömmling der Gestalttherapie“, sondern aus ihrem, Ruth Cohns „besonderen Background“ heraus entstanden sei, zu dem die Psychoanalyse, die Anfänge der Gruppentherapie und speziell die Erfahrungen mit dem Gegenübertragungsworkshop seit Mitte der 50er Jahre gehörten. Der „Irrtum“, die TZI als „Kind der Gestalttherapie“ anzusehen, sei dadurch entstanden, dass sie sich selbst gelegentlich als „Schülerin“ von Fritz Perls bezeichnet habe; dies beziehe sich jedoch nur auf die Methodik der Gestalttherapie, nicht auf deren Gesamtkonzept (vgl. Farau/ Cohn, 1984, 585f.). An dieser Notiz ist bemerkenswert, dass TZI und „Gestalt“ anscheinend noch Anfang der 80er Jahre, als Ruth Cohn am Buch über die „Gelebte Geschichte der Psychotherapie“ arbeitete, als so eng miteinander verwandt galten, dass die Themenzentrierte Interaktion als „Abkömmling“ der Gestalttherapie angesehen werden konnte. Im Vergleich zur heutigen Situation, in der das Ruth Cohn Institut und die zahlreichen Gestalt-Institute kaum mehr Notiz voneinander nehmen, wurden damals augenscheinlich eher die Gemeinsamkeiten gesehen. Nachdem ich in meiner früheren Berufspraxis als Therapeut in einer Fachklinik für junge Suchtkranke etliche Jahre mit Gestalttherapeuten zusammengearbeitet und selbst öfter gestalttherapeutische „Techniken“ (wie z. B. den „leeren Stuhl“) angewendet habe, empfinde ich die inzwischen eingetretene Entfremdung zwischen TZI und „Gestalt“ als einen Verlust. Bei aller Spezialisierung sollte zumindest die Möglichkeit einer Verbindung aufrechterhalten werden, wozu das Beispiel von Ruth Cohn und anderen Menschen aus der Gründergeneration als Vorbild dienen kann.

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