Rechtswissenschaftliches Institut Zivilverfahrensrecht (Master) Thema: Prozessuale Grundrechte

Rechtswissenschaftliches Institut Zivilverfahrensrecht (Master) Thema: Prozessuale Grundrechte FS 2015 Prof. Dr. Tanja Domej Rechtswissenschaftlich...
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Zivilverfahrensrecht (Master) Thema: Prozessuale Grundrechte FS 2015 Prof. Dr. Tanja Domej

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Überblick • Art. 6 Ziff. 1 EMRK: Recht auf – Verhandlung über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen – vor einem o unabhängigen und o unparteiischen, o auf Gesetz beruhenden Gericht – in einem fairen Verfahren, – öffentlich und – innerhalb angemessener Frist

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Überblick • Art. 9 BV: Willkürverbot, Anspruch auf Behandlung nach Treu und Glauben • Art. 29 Abs. 1 BV: Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist

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Überblick • Art. 29 Abs. 2 BV: Anspruch auf rechtliches Gehör • Art. 29 Abs. 3 BV: Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege und unentgeltlichen Rechtsbeistand • Art. 29a BV: Rechtsweggarantie • Art. 30 Abs. 1 BV: Anspruch auf ein durch Gesetz geschaffenes, zuständiges, unabhängiges und unparteiisches Gericht

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Überblick • Art. 30 Abs. 2 BV: Wohnsitzgerichtsstand • Art. 30 Abs. 3 BV: Öffentlichkeit • Art. 191 BV: Zugang zum Bundesgericht

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Bedeutung • Träger: natürliche und juristische Personen (str. bei unentgeltlicher Rechtspflege) • Umsetzung in einfachgesetzlichen Normen • Bedeutung bei der Auslegung

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Bedeutung • Bedeutung bei der Beschwerde an das Bundesgericht – Rügeprinzip – Prüfung von Grundrechtsverletzungen vor Bundesgericht nur, wenn entsprechende Rüge in Beschwerde vorgebracht und begründet (Art. 106 Abs. 2 BGG) – bei vorsorglichen Massnahmen nur Rüge der Verletzung verfassungsmässiger Rechte (Art. 98 BGG) – bei subsidiärer Verfassungsbeschwerde nur Rüge der Verletzung verfassungsmässiger Rechte (Art. 116 BGG) – Revision wegen Verletzung der EMRK (Art. 122 BGG)

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Im Besonderen: Justizgewährungsanspruch • Staatsvertragliche und verfassungsrechtliche Grundlagen: Art. 6 Ziff. 1 EMRK, Art. 29a BV • Garantie des effektiven Zugangs zum Gericht – kein förmlicher Ausschluss – keine unzumutbare Erschwerung oder Behinderung – keine unzumutbar hohen Gerichtskosten und -vorschüsse – vgl. auch Art. 29 Abs. 3 BV – Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege

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Im Besonderen: rechtliches Gehör • Staatsvertragliche und verfassungsrechtliche Grundlagen: Art. 6 Ziff. 1 EMRK, Art. 29 BV, Art. 9 BV • Ergänzung und Gewährleistung des Justizgewährungsanspruchs • Zusammenhang mit Menschenwürde (Art. 7 BV) und Rechtsgleichheit (Art. 8 BV)

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Im Besonderen: rechtliches Gehör • Bedeutung für die Ermittlung der materiellen Wahrheit • unabhängig von Geltung des Verhandlungs- oder Untersuchungsgrundsatzes • grundsätzlich auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (EGMR 15.10.2009, Micallef/Malta, Az. 17056/06)

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Rechtliches Gehör – Tragweite • formelle Natur (Verletzung führt unabhängig davon zur Aufhebung des Entscheids, ob sich die Gehörsverletzung auf den Inhalt des Entscheids ausgewirkt hat) • Zusammenhang mit subjektiver Reichweite der Entscheidwirkungen • Erstreckung von Entscheidwirkungen auf Dritte nur bei Gelegenheit, sich am Verfahren zu beteiligen oder bei gerechtfertigter prozessualer Repräsentation

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Rechtliches Gehör – Tragweite • zumindest vorgängige oder nachträgliche Gewährung • ggf. Heilung einer Verletzung möglich, wenn nachträglich (in gleichwertiger Weise!) Gehör gewährt wird • Verzicht – ausdrücklicher Verzicht auf einzelne Stellungnahmemöglichkeiten (kein Vorabverzicht) – konkludent durch Unterlassung von Prozesshandlungen

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Rechtliches Gehör – Tragweite • Gewährung zur bestimmten Zeit, am bestimmten Ort (Säumnisfolgen und Präklusion verspäteten Vorbringens mit Recht auf Gehör vereinbar) • Recht, keine Pflicht der Partei (kein Zwang zur Mitwirkung, nur prozessuale Nachteile bei Passivität)

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Rechtliches Gehör – Inhalt • Prozessuale Waffengleichheit • Zustellung von Vorladungen und Rechtsschriften • Anhörung in der Verhandlung bzw. Berücksichtigung von Rechtsschriften • Vorbringen von Tatsachen

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Rechtliches Gehör – Inhalt • Zustellung jedes Vorbringens der Gegenpartei und anderer Verfahrensbeteiligter („Orientierungsrecht“) und Möglichkeit der Stellungnahme dazu („Replikrecht“) BGE 132 I 42; 133 I 98; 133 I 100; 137 I 195; 138 I 484; 139 I 189 = Pra 102 (2013) Nr. 112 EGMR 18.2.1997, Az. 18990/91, Nideröst-Huber/Schweiz; 28.10.2010, Az. 41718/05, Schaller-Bossert/Schweiz; 15.11.2012, Az. 43245/07, Joos/Schweiz; 22.10.2013, Az. 50478/06, Wyssenbach/Schweiz; 22.7.2014, Az. 49396/07, Schmid/Schweiz

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Rechtliches Gehör – Inhalt • Recht auf Beweis → Anspruch auf Abnahme formrichtig und rechtzeitig angebotener, erheblicher Beweise • Problem «antizipierte Beweiswürdigung» • Recht auf Mitwirkung an der Beweiserhebung • Recht auf Stellungnahme zum Beweisergebnis • Recht auf Akteneinsicht und Anfertigen von Kopien

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Rechtliches Gehör – Inhalt • Recht auf Stellungnahme zur Sache in rechtlicher Hinsicht • Verbot der Überraschungsentscheidung → Gericht, das dem Entscheid eine Rechtsansicht

zugrundelegen will, mit der die Parteien nach dem Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen hatten, muss Parteien vorgängig dazu hören

• Recht, sich im Verfahren beraten und vertreten (oder begleiten) zu lassen • Recht auf Prüfung und Entscheidbegründung

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1. Fall A erlitt in den Räumlichkeiten der B AG in Zürich einen Unfall, bei dem sie sich die rechte Hand schwer verletzte. Sie klagt nun vor Handelsgericht Zürich gegen B AG auf Zahlung einer Genugtuung von CHF 50‘000.–. Zwei der drei Handelsrichter, mit denen die Kammer für den Rechtsstreit besetzt wird, sind leitende Angestellte von Versicherungsgesellschaften (H1 und H2); der dritte Handelsrichter (H3) ist ein «Geschädigtenanwalt». A stellt ein Ausstandsbegehren gegen H1 und H2 mit der Begründung, es sei nicht davon auszugehen, dass diese Richter als Vertreter der «Versicherungslobby» unbefangen über ihren Anspruch entscheiden würden. B AG stellt ein Ausstandsbegehren gegen H3, da dieser im vergangenen Jahr in einem Haftpflichtprozess gegen sie die dortige klagende Partei vertreten habe. Wie ist über die Ausstandsbegehren zu entscheiden?

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2. Fall X reichte gegen Y beim Bezirksgericht Zürich eine Klage auf Auskunftserteilung nach dem Datenschutzgesetz (DSG) ein. Die Klage wurde in erster Instanz gutgeheissen; daraufhin reichte Y Berufung ein. Die Berufungsantwort von X wurde Y zur Kenntnisnahme zugestellt. Y ersuchte das Obergericht am 14.2.2014 um Ansetzung einer 20-tägigen Frist zur Stellungnahme zur Berufungsantwort. Das Obergericht reagierte darauf nicht, sondern erliess am 28.2.2014 einen Entscheid, in dem es die Berufung als unbegründet abwies. Durfte das Obergericht so vorgehen?