Rechtliches Verhalten und die Idee der Gerechtigkeit

Hammacher • Rechtliches Verhalten und die Idee der Gerechtigkeit Klaus Hammacher Rechtliches Verhalten und die Idee der Gerechtigkeit Ein anthropolo...
Author: Harry Hausler
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Hammacher • Rechtliches Verhalten und die Idee der Gerechtigkeit

Klaus Hammacher

Rechtliches Verhalten und die Idee der Gerechtigkeit Ein anthropologischer Entwurf

ISBN 978-3-8329-5477-2

Nomos

http://www.nomos-shop.de/12393 Prof. Dr. Klaus Hammacher

Rechtliches Verhalten und die Idee der Gerechtigkeit Ein anthropologischer Entwurf

Nomos

http://www.nomos-shop.de/12393 Prof. Dr. Klaus Hammacher em. Prof. für Philosophie an der Rhein.-Westf. Technischen Hochschule Aachen – Mitglied der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt Umschlagabbildung: Allegorie der Gerechtigkeit von Giotto aus den Fresken der Cappella degli Scrovegni in Padua

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8329-5477-2

1. Auflage 2011 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2011. Printed in Germany. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

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Prolegomena

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§1 §2 §3

15 23 29

Erläuterung der titelgebenden und vorausgesetzten Begriffe . . . . . Rechtliches Verhalten und Handlungslogik . . . . . . . . . . . . . . Die Methode einer „transzendierenden Analyse“ . . . . . . . . . . .

Kapitel 1 Erörterung der das Rechtsverhältnis bildenden Grundbegriffe 39

§4 §5 §6 §7 §8 §9 § 10 § 11

Rechtsgeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tausch als Ursprung des Rechtsverhältnisses . . . . . . . . . . . . . Das Förmliche im Recht und die Ritualisierung der Transzendenz . . Der förmliche Charakter des Rechts als symbolische Handlung . . . Die Tabuisierung von Rechten durch das Gewissen . . . . . . . . . Die Idee der Gerechtigkeit und die Frage nach den Werten . . . . . Legitimation des Rechts durch die Religion und die Idee der Utopie Praktizierte Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kapitel 2 Gebot, Verbot, Gesetz, Norm

§ 12 § 13 § 14 § 15 § 16

Die Bundestheologie und das Gebot Das Erlaubnisgesetz . . . . . . . . . Recht und Pflicht . . . . . . . . . . Norm und Pflicht . . . . . . . . . . Sanktion und Rechtsvollzug . . . . .

39 57 65 69 75 83 88 94 123

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Kapitel 3 Die Einteilung in austeilende und ausgleichende Gerechtigkeit161

§ 17 § 18 § 19 § 20 § 21 § 22 § 23 § 24

Wie ist Gerechtigkeit durchsetzbar? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die aristotelische Einteilung der Rechtssphären und die Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritische Erörterung der ausgleichenden Gerechtigkeit . . . . . . . Die geschichtliche Transformationen des aristotelischen Modells . . Die Entstehung der Gewaltenteilungslehre. . . . . . . . . . . . . . . Die Gewaltenteilungslehre und die Verrechtlichung des Lebens . . . Die Durchführung der ausgleichenden Gerechtigkeit im Vertragsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nichtvertragliche Formen des Zivilrechts . . . . . . . . . . . . . . .

161 168 170 174 179 185 189 192

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Inhaltsverzeichnis Kapitel 4 Das Gericht und die Gerichtsbarkeit

§ 25 § 26 § 27 § 28 § 29 § 30 § 31 § 32

201

Gerichtswesen: anthropologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . 201 Das Subjektive im Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Das Gericht und der Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Das Gericht als Instanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 Das Gericht als Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Die Gerichtsverfassung und die freiwillige Gerichtsbarkeit . . . . . 219 Zivilrechtliche Verfahren als Abwicklung „enttäuschter Erwartungen“ 223 Der Rechtsanwalt als Verteidiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226

Kapitel 5 Das Strafrecht

231

§ 33 § 34

231

§ 35 § 36 § 37 § 38 § 39 § 40 § 41 § 42 § 43 § 44 § 45 § 46 § 47

Gedanke und Tat im menschlichen Verhalten und die Schuldfrage . . Begriffliche Verwirrung und menschliche Verirrung im Abtreibungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtfertigungstheorien der Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die wissenschaftliche Erkenntnis und die strafrechtliche Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Tötungsdelikte: Aufhebung der Todesstrafe . . . . . . . . . . . Rechtlich verbindliche geschichtliche Elemente im Strafrecht . . . . Das Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strafprozeß und Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Institutionalisierte Rechtsberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strafrechtlich verfolgte politische Delikte . . . . . . . . . . . . . . Bekenntnis und Geständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Tötungsdelikte und die Begnadigung . . . . . . . . . . . . . . . Das Gewissen im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Strafmonopol des Staates und das Ermittlungsverfahren . . . . Das Disziplinarstrafrecht und die Fortgeltung ethischer Tugenden im Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kapitel 6 Menschenrecht und Grundrechte

§ 48 § 49 § 50 § 51 § 52 § 53 § 54 § 55 § 56 § 57 § 58 6

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ . . . . . . . Die »Habeas-Corpus-Akte« . . . . . . . . . . . . . . . Schutz des Eigentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eigentum verpflichtet . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schutz der Privatsphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . Ehe und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gleichheit vor dem Recht und Gleichheit an Rechten . Recht auf freie Berufswahl . . . . . . . . . . . . . . . Religionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Recht auf freie Religionsausübung . . . . . . . . . Die rechtliche Sonderstellung der christlichen Kirchen .

238 244 250 258 260 264 268 269 270 272 275 278 280 283 291

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Inhaltsverzeichnis § 59 § 60 § 61 § 62 § 63 § 64 § 65 § 66

Die Bürgerfreiheiten . . . . . . . . . . . . . Freie Berufswahl und „Recht auf Arbeit“ . . Freizügigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . Meinungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . Meinungsfreiheit und Toleranz . . . . . . . Meinungsfreiheit und andere Freiheitsrechte Die Medien und die Freiheit . . . . . . . . Demonstrationsrecht . . . . . . . . . . . .

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345 349 352 353 359 360 363 364

Kapitel 7 Der souveräne Staat

379

§ 67 § 68 § 69 § 70 § 71 § 72 § 73 § 74 § 75 § 76 § 77 § 78 § 79 § 80 § 81 § 82 § 83 § 84 § 85 § 86 § 87 § 88 § 89

379 384 387 390 392 396 398 400 405 407 410 411 413 414 416 421 425 428 431 433 434 439

§ 90 § 91 § 92 § 93 § 94

Der Gesellschaftsvertrag und die Machtfrage . . . . . . . . . . . . . Das Verhältnis von Macht und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Souverän und die Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Gewaltmonopol des Souveräns und die Vertragsstruktur . . . . Der Vertrag als Grundmodell der Rechtfertigung der Staats-Macht . Der Volkssouverän als „Dritter im Bunde“ . . . . . . . . . . . . . . Die Transzendenzbefugnis des Souveräns . . . . . . . . . . . . . . Die rechtliche Selbsteinholung der Transzendenz in der Demokratie Die rechtliche Bindung des repräsentativen Volkssouveräns . . . . . Der Verfassungsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die souveräne Gewalt des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Sonderstellung der Gewaltenteilung in der Demokratie . . . . . Die Vollziehung der souveränen Gewalten durch den Staat . . . . . Grenzen der Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Jurisdiktion im demokratischen souveränen Staat . . . . . . . . Das Gewohnheitsrecht und der souveräne Staat . . . . . . . . . . . Volkssouverän und repräsentativer Souverän . . . . . . . . . . . . . Die legislative Gewalt im souveränen Staat . . . . . . . . . . . . . . Die ausübende und ausführende Gewalt (Exekutive) des Souveräns . Der souveräne Staat als politische Größe . . . . . . . . . . . . . . . Der Souverän als Regierungs- und Verwaltungsinstanz . . . . . . . Die „innenpolitischen“ Rechte der Exekutive . . . . . . . . . . . . Polizei und Verwaltung — ausführende oder vollziehende Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Gewaltenteilung und die Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . Die Unterwerfung unter den förmlichen Amtseid . . . . . . . . . . Die öffentlich-rechtliche Organisation der Verwaltung . . . . . . . . Militär als „Exekutive“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Staat als Rechtsgemeinschaft- Übergang zur austeilenden Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

440 443 445 447 451 453

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Inhaltsverzeichnis Kapitel 8 Die soziale Gerechtigkeit und der Wohlfahrtsstaat

463

§ 95 § 96 § 97 § 98 § 99 § 100 § 101 § 102 § 103 § 104

463 468 471 475 481 488 494 495 497

§ 105 § 106 § 107

Das „Zuteilungsrecht“ des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ableitung der Rechtsstruktur in der Wirtschaft . . . . . . . . . . . . Gemeinwohl im Wirtschaftsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirtschaftlichkeit und Steuer als soziale Gerechtigkeit . . . . . . . . Das Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Haftung. Pflichtversicherung und die Sozialgesetzgebung . . . . Die indirekten Steuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Öffentliche Einrichtungen und Wirtschaftsfreiheit . . . . . . . . . . Grundversorgung und die Privatisierung der öffentlichen Aufgaben . Die Grundversorgung und das bedingungslose Grundgehalt für Jeden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Chancengleichheit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Arbeitskampf und die Rolle der Gewerkschaften . . . . . . . . Das Problem der Arbeitslosigkeit und die soziale Gerechtigkeit . . .

506 511 518 521

Kapitel 9 Völkerrechtliche Probleme

533

§ 108 § 109 § 110

533 537

§ 111 § 112 § 113 § 114 § 115 § 116 § 117 § 118 § 119 § 120 § 121 § 122 § 123 § 124 § 125 § 126 § 127

Die Gliederung des Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weltbürger und Friedensreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Legalität aufgrund der Allgemeinverbindlichkeit der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Menschenrechtscharta und ihr geschichtlich begründeter Geltungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Menschenrechte und Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die völkerrechtliche Funktion der Religion . . . . . . . . . . . . . . Menschenrechte als Grundlage der Maßnahmen der UNO . . . . . . Kriegsrecht und Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weltfriedensordnung ethisch oder rechtlich begründet? . . . . . . . Völkerrechtliche Zuständigkeiten nach den „Gewalten“ . . . . . . . Weltbürgerstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Völkerstrafrechtsprobleme des Terrorismus . . . . . . . . . . . . . Internationale Schiedsgerichtshöfe als Appellationsgerichte? . . . . Die Rechtmäßigkeit der UNO und die Gewaltenteilungslehre . . . . Die Rechtsform der Vielstaatengebilde, und der Nationalstaat . . . . Staatengemeinschaften und ihre nationalstaatlichen Grundlagen . . . Legislative Überschreitungen der Volkssouveränität im internationalen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Europäische Union: Staatenbund oder ein Bundesstaat? . . . . . Die Weltwirtschaft und ihre völkerrechtlichen Grundprobleme . . . Völkerrechtliche Möglichkeiten einer Steuerung der Finanzmärkte .

Zu den Abbildungen

8

542 546 553 557 565 567 574 579 584 586 590 593 597 599 600 602 619 624 641

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Inhaltsverzeichnis Literaturverzeichnis

643

Sachregister

672

Personenregister

684

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Vorwort Nach den Kulturbrüchen des 20. Jahrhunderts steht die Menschheit wieder vor einem neuen Anfang. Das Bewußtsein davon drückt sich meist jedoch nur in einer ungeschichtlichen Denkweise aus, die selbst wissenschaftlich immer mehr um sich greift, und dort folgerichtig zu einem naturwissenschaftlichen, und das heißt in diesem Falle rein biologischen Verständnis des menschlichen Verhaltens führt. In den genannten Brüchen sind hingegen die kulturellen Verhaltensmuster durch Revolutionen, soziale und wissenschaftliche, schließlich durch die beiden großen Weltkriege zusammengebrochen und auf die Urformen zwischenmenschlichen Umgangs reduziert worden. Mitte des vergangenen Jahrhunderts kennzeichnete Arnold Gehlen, einer der Begründer der modernen Anthropologie als philosophische Wissenschaft, bereits diese Situation mit dem Titel seiner zweiten großen Schrift: Urmensch und Spätkultur.1 Ich habe den Weg zum menschlichen Verhalten wie Arnold Gehlen über die Transzendentalphilosophie Fichtes gefunden,2 was mich aber zu einem anthropologischen Konzept führte, das im Unterschied zu Gehlen den transzendentalphilosophischen Ansatz beibehielt und ihn nur um die anthropologische Dimension erweiterte. Diese hatte mittlerweile durch die vergleichende Verhaltensforschung und die Emergenztheorie eine neue Grundlage für eine solche Anknüpfung erhalten. Große Gedanken behalten ihre Gültigkeit, wenn sie auch durch den Bewußtseinswandel, wie er sich mit den gesellschaftlichen Umbrüchen und wissenschaftlichen Entdeckungen vollzogen hat, für viele unzugänglich geworden sein mögen und deshalb erst wieder in Erinnerung gerufen werden mussen. Deshalb lege ich dieser Schrift neben den juristischen auch einige klassische philosophischen Begriffe zugrunde, die immer noch in unserem Denken über das, was wir als Recht und Unrecht ansehen, nicht nur vorausgesetzt sind, sondern die auch noch im Recht, ob bewußt oder auch nicht mehr bewußt, rein gewohnheitsmäßig mitvollzogen werden. Wie das gegenwärtige Rechtsbewußtsein sie überlagert hat, soll in den Prolegomena geklärt werden. Von dem Reichtum der Vergangenheit können und sollen wir uns nicht befreien. Und es bleibt deshalb nur, sich ihr zu stellen, schon um nicht in dem engen Horizont der eigenen zeitlichen Situation befangen zu bleiben. Jedoch konfrontiere ich den Leser bei diesem Unternehmen mit einigen Traditionen des philosophischen Denkens, die auch manchem Kenner der Philosophie ungewöhnlich erscheinen mag, so neben Aristoteles und Grotius, Thomasius und Savigny insbesondere mit Kant und Fichte, deren Gedanken — trotz einiger problematischer Äußerungen des letztgenannten — 1 2

Arnold Gehlen: Urmensch und Spätkultur, Bonn 1956, II. Teil. Gehlen faßte sie jedoch als divergent auf und sah nicht ihre heutige Wiederkehr. Verwiesen sei für Gehlen insbesondere auf seine Theorie der Willenfreiheit von 1933.

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Vorwort m. E. die letzte große klassische Periode der Rechtsphilosophie ausmachen, die ich transzendentale Rechtslehre genannt habe.3 Dass diese für mich grundlegend wurde, statt etwa der Hegels, wie auch diejenige von Spinoza statt der von Hobbes, ergibt sich aus der von mir entworfenen Konzeption einer Praxis als Verhaltenslehre. Dazu mußte das Denken der Vergangenheit auf unseren Bewußtseinsstand gebracht werden, oder sagen wir es bescheidener, vergegenwärtigt werden. Das ist die Aufgabe der Philosophie heute wie ehemals. Ich gehe dabei davon aus, dass die begriffsgeschichtliche Analyse des Rechtssystems, die sich der philosophischen Betrachtung auferlegt, wenn sie auch dem Rechtskundigen keinen unmittelbaren Leitfaden zur Lösung seiner Probleme geben, ihm dennoch Horizonte für solche eröffnen kann. Diese Möglichkeit ergibt sich m. E. insbesondere durch die Darstellung des Rechts aus einer Verhaltenslehre, da wir an unserem Verhalten die Strukturen des Rechts immer selbst überprüfen. In der Rechtswissenschaft wird dagegen primär ein am positiv geltenden Recht orientierter Standpunkt eingenommen, der auch geschichtlich gut abgestützt ist. Diese geschichtliche Entwicklung des Rechts dient deshalb auch mir immer wieder zum Einstieg und zur kritischen Analyse der Probleme. Hier ist jedoch noch Dank zu sagen für vielfache Unterstützung und Hilfe, aber auch noch einiges zur leichteren Lektüre anzumerken. Das Buch verfügt über einen doppelten Anmerkungsapparat. Neben den Fußnoten folgen am Ende eines jeden Kapitels Exkurse. Sie behandeln Probleme und historische Zusammenhänge, die nicht unmittelbar zur systematischen bzw. thematischen Entwicklung der Kapitel gehören. Hervorhebungen des Verfassers und Buchtitel sind immer kursiv gesetzt. Französische Anführungszeichen (» und «) werden für Artikel und Zeitschriftenbeiträge, aber auch für Begriffe gebraucht, die in anderen Systemen oder in der Rechtswissenschaft eine Rolle spielen, aber nicht für die hier entwickelte Systematik entscheidend sind. Sind sie das einmal doch, so werden sie sowohl durch Kursivsetzung als auch mit den genannten Anführungszeichen ausgezeichnet, aber immer nur da, wo eine neue Bestimmung hinzukommt. Zitate erscheinen mit den üblichen deutschen Anführungszeichen. Die zahlreichen Vor- und Rückverweise in den Anmerkungen (Referenzen), sollen es dem Leser erleichtern, den systematischen Aufbau dieser Rechtsphilosophie nachzuvollziehen. Das erschien mir notwendig, da der Aufbau keiner der üblichen oder tradierten Einteilungen des Rechtswesens folgt. Dieser Aufbau ergab sich aus der Konzeption einer rechtlichen Verhaltenslehre. Dies Buch hat eine lange Inkubationszeit gehabt. Es ist aus Vorlesungen in den letzten zehn Jahren entstanden. Die Themen wurden dann mit einigen nach meiner Emeritierung verbliebenen Schülern weiter diskutiert. Für die kritischen Anmerkungen, die ich von ihnen erhielt, danke ich besonders Herrn Achim Cerw und Herrn Dipl. Biologen Guido Rosenbaum. Herr Jörg Kremers, M.A. hat darüber hinaus als kritischer Leser zweimal Korrektur gelesen. Nicht nur Korrekturvorschläge, sondern fachlich kompetente Hilfe erhielt ich besonders von Frau Dr. iur. et phil. Katja V. Ta3

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So bereits in einigen vorbereitenden Abhandlungen, die im folgenden auch berücksichtigt werden.

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ver (Basel). Wenn ich ihren Einwänden auch nicht immer stattgeben konnte, schmälert das nicht den Dank, den ich ihr schulde. Die aktuellen Gesetze und Verträge machte mir Herr Dr. Stefan Cuypers zugänglich. Für Unterstützung und die Einarbeitung in ein spezielles Programm (LATEX), das mir durch Sachregister und Referenzen eine leicht nachvollziehbare systematische Darbietung des Textes ermöglichte, danke ich Herrn Christoph Roeper sowie Herrn Dipl. Ing. Nico Scheiffert. Die vielen kleinen Hilfen von ehemaligen Schülern, Freunden und Kollegen bei Recherchen und Literaturbeschaffung, die dafür nicht namentlich aufgeführt erden wollten, sollen jedoch nicht unerwähnt bleiben. Dem Nomos-Verlag danke ich für die Aufnahme dieses Buches in sein Programm. Nicht zuletzt danke ich meiner Frau für ihre unermüdliche Teilnahme und die Geduld, mit der sie das langsame Heranreifen meiner Gedanken begleitet hat! Mit ihr habe ich auf unseren Spaziergängen die Themen immer zuerst und immer wieder durchgesprochen. Da dieses Buch erst mit der Vollendung meines 80. Lebensjahres erscheint, sei es mit gestattet, mich bei einigen Details persönlich an den Leser zu wenden um thematisch aus dem Gang meiner eigenen Bildungsgeschichte gewisse Probleme nahe zu bringen. Das macht sich hoffentlich nicht störend bemerkbar. Es ist nun einmal ein Wesenszug der Philosophie, dass sie persönlich geprägt ist. Aachen, den 10. Mai 2011

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Prolegomena4 § 1 Erläuterung der titelgebenden und vorausgesetzten Begriffe

Diese Rechtsphilosophie ist als zweiter Teil einer Praxis als Verhaltenslehre gedacht. Mit dieser Kennzeichnung stehen gleich zwei Begriffe für eine programmatische Erklärung an: der Praxisbegriff und der Verhaltensbegriff. Der von mir gebrauchte Praxisbegriff schließt an den von Hannah Ahrendt aus der klassischen griechischen Tradition entwickelten Begriff vom zwischenmenschlich verbindlichen Handeln an. Solches Handeln hebt sich von poiesis (πο´ıησις), vom verfertigenden Tun, oder für unseren Zusammenhang treffender übersetzt, vom herstel´ lenden Handeln als „Praxis“ (πραξις) ab.5 Es ist von grundlegender Bedeutung für unsere Untersuchungen, zu erkennen, dass das zwischenmenschliche Handeln eine ganz andere Struktur hat als das bloß zweckmäßig herstellende Handeln, das zunächst im planenden Denken auf Gegenstände angewandt wird, alsdann aber auch in gewissem Maße auf die unsere zwischenmenschlichen Verhältnisse bestimmenden Einrichtungen übertragen wurde. Das zweitgenannte Modell des Handelns ist in der Rechtsund Staatsphilosophie seit Thomas Hobbes sogar vorherrschend geworden, wie insbesondere die französische Schule der nouveaux philosophes herausgearbeitet hat.6 Wir werden uns bei der Erörterung des Zweckbegriffs, der für das Recht traditionell von entscheidender Bedeutung ist, grundsätzlich mit diesem Interpretationsmodell des Handelns auseinanderzusetzen haben. Ehe wir zu dem Verhaltensbegriff übergehen können, muß ein ganz anderer Ansatz einbezogen werden, der mit der klassischen Rechtsphilosophie der Neuzeit aufkam: — wobei Thomas Hobbes, obwohl er dazu gehörte, eine Ausnahmestellung einnahm — 4

5 6

Diese Prolegomena sind nur für Leser, die schon eine Rechtstheorie haben, bestimmt. Kant ließ seine „Prolegomena“, welche die Erläuterungen seiner Methode enthalten, sogar erst zwei Jahre nach seiner Kritik der reinen Vernunft (1783) erscheinen. Sie als Nachtrag zu geben, war in der damaligen Zeit sicher angebracht. Sie seien hier vorausgeschickt, um der Kritik des methodisch um Dimensionen kritischer vorgeprägten Bewußtseins unserer Zeit zu entsprechen. Der nur an der Sache des Rechts interessierte Leser braucht sich jedoch nicht bei diesen methodischen Vorüberlegungen aufzuhalten. Alle Gedanken werden in der Untersuchung selbst vollständig für jeden nicht voreingenommenen Leser entwickelt. In Vita activa. Vom tätigen Leben, Stuttgart 1966. Es sei exemplarisch hierfür verwiesen auf André Glucksmann : Les maîtres penseurs, Paris 1977, dt.: Die Meisterdenker, Reinbek bei Hamburg 1978. Die Denker der Gruppe „Nouveaux Philosophes“ haben zwar den Grundgedanken von Hannah Ahrendt übernommen, dass die neuzeitlichen Staatstheorien auf dem falschen, nämlich herstellenden Handlungsbegriff aufgebaut sind, ihn aber dann an weniger typischen Beispielen exemplifiziert, so z.B. auch an Fichte, bei dem sich — wie wir sehen werden — auch der richtige „Praxis“-Begriff durchgesetzt hatte.

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Prolegomena und die in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg auf neuer Ebene wieder aufgenommen wurde: derjenigen der Naturrechtslehre. Hier muß nämlich gleich eingeflochten werden, dass in der gesamten europäischen Rechtstradition der Begriff „Natur des Menschen“ dabei in doppeldeutiger Weise verwendet wurde. Wenn wir von Naturrecht reden, meint man mit Natur nicht nur das Lebewesen Mensch, sondern zumeist seine durch die Vernunft bestimmte „Natur“, die man als sein „Wesen“ verstand. Diese doppeldeutige Verwendung des Begriffs „Natur“ geht auf Aristoteles zurück und hat das gesamte abendländische Denken bis heute bestimmt. Insbesondere die protestantischen Naturrechtslehren arbeiteten mit der Doppeldeutigkeit des Naturbegriffs weiter, indem sie „Natur“ mit „Wesen“ gleichsetzten. Auch der neuzeitliche Naturrechtsbegriff basiert noch auf dem aristotelischen doppeldeutigen Naturbegriff, nach dem "Natur" einmal als das verstanden wurde, das nicht erst dadurch, dass ihm ein Etwas "Form" gibt und es zu dem macht, was es ist, sondern das durch sich selbst begründet ist, zweitens "Natur" selbst als das, was das "Wesen" überhaupt ausmacht, bedeutet, d.h. als das, was eine Sache zu dem macht, was sie ist, um diese wichtige Entschlüsselung antiker philosophischer Begriffe, wie sie Martin Heidegger vorgenommen hat, einzuführen. Erst Martin Heidegger hat die begriffliche Unsicherheit bzw. Doppeldeutigkeit des Naturbegriffs, der sich letztlich viele grundlegende Fehleinschätzungen des Menschen, selbst noch die materialistische und biologistische Auffassung vom Menschen als Naturwesen verdanken, aus der griechischen Denktradition, die für uns bis heute verpflichtend ist, erklärt.i Das Thema "Natur" in diesem erstgenannten Sinne als das allein in sich selbst Begründete war schon seit Thomas Hobbes' in die Rechtsphilosophie eingeflossen. Er hat als erster das naturalistische Verständnis des Menschen in die Begründung der Lehre vom Gesellschaftsvertrag eingeführt.ii Erst Spinoza nahm das Thema konsequent auf und leitete das Recht selbst aus der Ordnung der Natur ab.7 Dies naturalistische Rechtsverständnis liegt auch noch einigen der im folgenden betrachteten Rechtstheorien zugrunde.8 Kommen wir zurück auf die Titelbegriffe! Der Begriff des Verhaltens ist weiter als der des Handelns. Verhalten schließt auch alle psychischen Vorgänge ein und sieht ihre „praktische“ Mitwirkung im Entscheiden, da sie eine Wirkung auf die Hand7

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Im IV. Buch der Ethica, (im folgenden: E IV) cap. 32 machte sich bei Spinoza jedoch ein Konflikt zwischen der Ordnung der Natur und der Rechtsordnung bemerkbar, der auch im Anhang zum 4. Buch der Ethik zum mindesten angezeigt wurde. Es heißt in E IV, cap. 26 dass durchaus eine Unangemessenheit zwischen der Ordnung der Natur und dem Nutzen des Menschen besteht:"adeóque quicquid in rerum naturâ extra homines datur, id nostrae utilitatis ratio conservare non postulat" Diese wird von Spinoza durch eine metaphysische Konzeption ausgeräumt, mit der er auch die rechtliche Ordnung allein, und zwar eben aus der Alleinheit Gottes rechtfertigte. (Vgl. dazu E IV, Prop. 35 corr.2 u. Schol. Prop. 37 Schol. 1 u. 2, Tractatus Politicus cap. 2, § 3 und § 5.) Ich gehe auf Spinoza hier so genau ein, da sein Beitrag zur Konstitution des Rechtssystems m. E. unverzichtbar ist, wie sich im weiteren, insbesondere bei der rechtliche Begründung des Demokratiegedankens und des Verhältnisses von Recht und Macht zeigen wird. So noch den im folgenden erörterten Theorien von Durkheim, Ihering und Kelsen .

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§ 1 Erläuterung der titelgebenden und vorausgesetzten Begriffe lung durch emotionale Bewertungen, Dispositionen und Triebtendenzen ausüben, und insofern selbst zwischenmenschlich Handlungen auslösen können.9 Diese Untersuchungen legen aber einen spezifisch menschlichen Verhaltensbegriff zugrunde, obwohl sie auch — wie gleich erwähnt wird — den biologischen Verhaltensbegriff berücksichtigen werden. Auch der soeben genannte Begriff der »Disposition« wird in den naturwissenschaftlichen und psychologischen Abhandlungen über den Menschen in verschiedenster Weise verwendet. Ich schließe mich hier dem derzeitigen philosophischen Sprachgebrauch an und verstehe darunter mit einer neuen Definition des philosophischen Wörterbuchs "habituelle Bereitschaften zu aktuellem Verhalten".10 Damit stoßen wir auf den Faktor des Gewohnheitsmäßigen im Verhalten, das wiederum bereits seit Aristoteles in seiner Bedeutung für das Handeln erkannt worden ist. Wir werden zwar auch mit dem davon abweichenden psychologischen Verständnis des Dispositionsbegriffs zu tun bekommen, können uns vorläufig jedoch mit der o.a. Definition begnügen, die sich auch an die Tradition der aristotelisch-scholastischen Philosophie anzulehnen scheint, welche sich ihrerseits ausdrücklich bereits auf die innere Ausrichtung des menschlichen Verhaltens bezog; bezeichnete er bei Aristoteles doch schon genau das Verhalten, wie es beim Menschen durch den "Logos", das Denken, bestimmt wird.11 Eine ethische Argumentation bestand dieser Konzeption von Disposition gemäß dann eigentlich darin, dass in der Disposition durch Entdecken eines "Grundes" für das Auftauchen einer Emotion ein Gegenaffekt entwickelt wird. Dies führte im 17. Jahrhundert zu einer "Affektenlehre" als Ethik.12 Man hielt sich dabei an eine Verhaltensänderung, die am Ausdrucksverhalten erkannt werden kann, und insofern auch rechtswirksam werden kann, wie wir sehen werden. Solches Ausdrucksverhalten ist nämlich allein objektivierbar. Es erlaubt, deshalb Erkenntnisse über die 'natürlichen' Antriebe zu gewinnen, wie sie die Ethologie oder vergleichenden Verhaltenslehre per Analogie für das menschliche Verhalten induziert hat. Das hat in ganz neuer Weise dann die Soziologie zum Anlaß genommen, das Verhalten des Menschen in Analogie zu tierischen Verhaltensäußerungen zu interpretieren, was auch auf gewisse Rechtstheorien ausgestrahlt hat. Das heißt, gemäß der Ethologie oder vergleichende Verhaltenslehre sollen bestimmte menschliche Verhaltensweisen erkennbar werden, deren emotionale Bedeutung sich deshalb auch aus bestimmten angeborenen und evolutionär geprägten Verhaltensmustern erschließen lassen. 9 10 11

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Insofern sind sie selbst im Recht als Handlungen zu betrachten. Art. von J.Pongratz in Historisches Wörterbuch der Philosophie hrsg. von Joachim Ritter , Bd.2, Sp.265. Nach dem Dispositionsbegriff des Aristoteles wird das Verhalten des Menschen aus der seelischen Verfassung und als seinem "Wesen" gemäß bestimmt, was man später (s. o.) mit „seiner ‚Natur’ gemäß“ übersetzte (Politeia 1323b 13ff.). Diese Bestimmung war eine der Quellen des „Naturrechts“. Die hervorragendsten Vertreter dieser Ethik als Affektenlehre sind Descartes , Spinoza und im 18. Jahrhundert David Hume . Siehe dazu Spinoza betreffend Kapitel 4, und Exkurs I, sowie das Literaturverzeichnis, insbesondere den Beitrag des Verf. »Ethik als Affektenlehre«’.

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