Psychotherapie im Dialog 3• 2015

Psychodynamische Therapie, Systemische Therapie, Verhaltenstherapie, Humanistische Therapien

Psychosen • Heft 3 • 2015 • 16. Jahrgang • Seite 1–112

Psychosen Das Recovery-Konzept Sinnerfülltes Leben mit der Erkrankung

Das Programm MKT+ Durch Säen von Zweifeln den Wahn erschüttern

Pharmakotherapie Welche Risiken bergen Neuroleptika?

Seite 22

Seite 64

Seite 75

Psychotherapie im Dialog  3• 2015

Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes, aber bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die Regel. Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844–1900)

Editorial

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

in Anbetracht von Finanzkrise, Grexit, Asylpolitik oder UkraineKonflikt wollen wir gar nicht versuchen, dieses Zitat weiter auszuführen – es wäre vermutlich ernüchternd. Ziehen wir uns lieber auf das Individuum zurück, das unsere Hilfe besser annehmen kann. Nach der Änderung der Psychotherapierichtlinien im letzten Herbst gehören Schizophrenie, schizotype oder wahnhafte Störungen soDr. phil. Michael Broda, Dipl.-Psych. Schriftleitung PiD

wie bipolare affektive Störungen jetzt zum Indikationsbereich der Psychotherapie. Bis dahin galt eine psychotherapeutische Behandlung dieser Krankheitsbilder nur für Folge- oder Restsymptoma­ tiken bei nachgewiesenen psychischen Einflussfaktoren auf den ­Verlauf als gerechtfertigt. Die S3-Leitlinie Schizophrenie ist in Überarbeitung, sie wird den Ergebnissen neuerer Studien angepasst. Da liegt es nahe, ein Schwerpunktheft zu diesem Themenkreis vorzustellen und die Unsicherheiten zu reduzieren, die möglicherweise durch die Änderung entstanden sind. Freuen wir uns – zumindest an diesem Punkt hat sich die Gesundheitspolitik überraschend vernünftig gezeigt … Wir wünschen Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, neue Erkenntnisse und Hilfsmöglichkeiten nach der Lektüre der neuen PiD! Ihr

Michael Broda

Herausgegeben von: M  aria Borcsa, Michael Broda, Christoph Flückiger, Volker Köllner, Henning Schauenburg, Barbara Stein, Silke Wiegand-Grefe, Bettina Wilms

1

Psychotherapie im Dialog  3• 2015

Herausgebergremium

Psychotherapie im Dialog

Herausgebergremium Prof. Dr. phil. Maria Borcsa, Dipl.-Psych. (*1967)

Prof. Dr. rer. nat. Silke Wiegand-Grefe, Dipl.-Psych. (*1964)

ist Professorin für Klinische Psychologie an der Hochschule Nordhausen. Nach Ausbildung und Tätigkeit an der Psycho­ therapeutischen Ambulanz der Universität Freiburg i.Br. und einer Psychosomatischen Fachklinik war sie in eigener Praxis als ­approbierte Psychologische Psychotherapeutin (VT) und Fami­ lientherapeutin tätig. Sie ist Dozentin für Systemische Beratung und Therapie im In- und Ausland und Supervisorin in Verhaltensund Systemischer Therapie. Seit 2013 ist sie Präsidentin der European Family Therapy Association (EFTA).

ist Psychologische Psychotherapeutin (Psychoanalyse, Tiefenpsy­ chologie), Paar- und Familientherapeutin und hat den Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Fakultät für Humanwissenschaften der MSH Medical School Hamburg, University of Applied Sciences and Medical University, inne. Dort leitet sie auch das Zentrum für klinisch psychologische Forschung und Familienforschung und die Psychotherapeu­ tische Hochschulambulanz. Außerdem ist sie als Dozentin und Supervisorin an mehreren Ausbildungsinstituten tätig.

Dr. phil. Michael Broda, Dipl.-Psych. (*1952) Schriftleitung

Dr. med. Bettina Wilms (*1964)

ist Psychologischer Psychotherapeut, Supervisor und Lehrthera­ peut für Verhaltenstherapie. Nach universitärer Lehr- und Forschungstätigkeit im Bereich der Rehabilitationspsychologie war er leitend in einer psychosomatischen Fachklinik tätig. Seit 1997 arbeitet er niedergelassen in eigener Praxis in Dahn. Er ist Mitherausgeber der Lehrbücher „Praxis der Psychotherapie“ (mit W. Senf) und „Technik der Psychotherapie“(mit W. Senf und B. Wilms) sowie Fachgutachter Verhaltenstherapie (KBV). PD Dr. phil. Christoph Flückiger, Dipl.-Psych. (*1974) ist Psychologischer Psychotherapeut, Supervisor und Referent an Ausbildungsinstituten für kognitive Verhaltenstherapie in der Schweiz, Deutschland und den USA. Er arbeitet als Forschungs­ gruppenleiter und Dozent an den Universitäten Zürich und Bern mit Schwerpunkt in klinischer Interventionspsychologie /  Psychotherapie.

ist Fachärztin für Psychiatrie, und Psychotherapie (Systemische Familientherapie und Verhaltenstherapie). Seit 2004 arbeitet sie als Chefärztin der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Südharzk Klinikum gemeinnützige GmbH, Nordhausen. Ihre Schwerpunkte sind Angsterkrankungen und berufliche Belastungssyndrome.

Dr. phil. Andrea Dinger-Broda, Dipl.-Psych. (*1957) Leitung des Redaktionsbüros ist Psychologische Psychotherapeutin (Verhaltenstherapie), Super­ visorin, Lehrtherapeutin und Dozentin an Weiterbildungsinstituten. Nach wissenschaftlicher Mitarbeit an den Universitäten Freiburg (Rehabilitationspsychologie) und Bochum (Medizinische Psycho­ logie) war sie als Leitende Psychologin an onkologischen, kardio­lo­gischen und psychosomatischen Rehabilitationskliniken tätig. Seit 1997 arbeitet sie niedergelassen in eigener Praxis in Dahn.

Prof. Dr. med. Volker Köllner (*1960) ist nach Ausbildung zum Facharzt für Psychosomatische Medizin mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie und Tätigkeit als Oberarzt am Universitätsklinikum Dresden seit 2004 Chefarzt der Fachklinik für Psychosomatische Medizin an den Bliestal­ kliniken, Bliestal. Er ist Professor für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Fakultät Homburg / Saar und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für klinische Psychotherapie und Psychosomatische Rehabilitation (DGPPR). Prof. Dr. med. Henning Schauenburg (*1954) ist Arzt für Neurologie und Psychiatrie, Arzt für Psychosomati­ sche Medizin und Psychotherapie, Psychoanalyse. Er arbeitet als Professor für Psychosomatik und Psychotherapie an der Univer­ sität Heidelberg sowie als stellvertretender Ärztlicher Direktor der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik am Universitätsklinikum Heidelberg.

Dr. phil. Barbara Stein, Dipl.-Psych. (*1960) ist nach dem Studium der Psychologie und Ausbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin seit 2005 als Leitende Psychologin an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Klinikum Nürnberg tätig. Ihre Schwerpunkte sind tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie, Paar- und Familientherapie, psychologische Beratung und Behandlung von körperlich Kranken, Supervision sowie Fort- und Weiterbildungs­ tätigkeit im Bereich der Psychosomatik und Psychologie für im Gesundheitswesen tätige Berufsgruppen.

Gründungsherausgeber Wolfgang Senf, Essen Michael Broda, Dahn Steffen Fliegel, Münster Arist von Schlippe, Witten Ulrich Streeck, ­Göttingen Jochen Schweitzer, Heidelberg Beirat Cord Benecke, Kassel Ulrike Borst, Zürich Michael Brünger, ­Klingenmünster Manfred Cierpka, Heidelberg Michael Geyer, Erfurt Stephan Doering, Wien Ulrike Ehlert, Zürich Sabine Herpertz, ­Heidelberg Jürgen Hoyer, Dresden Johannes Kruse, Gießen Hans Lieb, Edenkoben Wolfgang Lutz, Trier Dietrich Munz, Stuttgart Hans Reinecker, Salzburg Babette Renneberg, Berlin Martin Sack, München Silvia Schneider, Bochum Gerhard Schüßler, Innsbruck Bernhard Strauß, Jena Kirsten von Sydow, Berlin Kerstin Weidner, Dresden Ulrike Willutzki, Witten/Herdecke

Leserbeirat Siegfried Hamm, Köln Karl Mayer, Freren Heinz-Peter Olm, Wuppertal Uta Preissing, Stuttgart Jessica Schadlu, Düsseldorf Verlag Georg Thieme Verlag KG Rüdigerstraße 14 · 70469 Stuttgart Postfach 301120 · 70451 Stuttgart www.thieme-connect.de/ejournals www.thieme.de/pid Besuchen Sie die PiD im Internet! Auf der Website sind die Zusammen­ fassungen aller Beiträge frei zugänglich. Indexiert in: PSYNDEX

3

Psychotherapie im Dialog  3• 2015

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

3 • 2015

Psychosen Psychotherapeutische Verfahren sind in der Behandlung von Menschen mit Psychosen noch immer die Ausnahme – obwohl der GBA im Herbst 2014 die Psychotherapie als mögliches „First Line Treatment“ anerkannt hat. Wie kann die Versorgung dieser großen und wichtigen Patientengruppe verbessert werden? PiD



Für Sie gelesen

6

Depression und Angst –



Psychotherapie per Telefon und SMS entlastet Patienten

7

Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer –



Achtung, Entzugssymptome!

8

Revision der ICD-10 –



Welche Diagnosen sind überflüssig?

9

Kognitive Verhaltenstherapie –



Arbeitsplatzbezogenes Modul fördert



schnelle Rückkehr an den Arbeitsplatz

stellt aktuelle Herangehensweisen und hilfreiche Konzepte vor: pragmatisch, praxiserprobt und zunehmend auch evidenzbasiert.

Editorial

12

Vom Umgang mit den sogenannten heiligen Kühen

14 Essentials Standpunkte

16

Ätiologie der Psychosen



Frauke Schultze-Lutter, Stefanie J. Schmidt



Alles was Recht ist

22

Psychotherapie bei schizophrenen Psychosen

10

Terminuntreue Patienten:



Mario Pfammatter, Wolfgang Tschacher



Ausfälle vermeiden – Recht auf Ausfallhonoar

28

Bedürfnisorientierter Ansatz und Offener Dialog



Jaako Seikkula, Birgitta Alakare



Aus der Praxis

4

34

Psychotische Störungen – Aspekte zur Diagnostik



Arno Deister

38

Früherkennung von Psychosen



Anne Karow, Daniel Lüdecke, Mary Sengutta,



Linus Wittmann, Martin Lambert

43

Die Suche nach dem Subjekt im psychotischen Erleben



Joachim Küchenhoff

Psychotherapie im Dialog  3• 2015

48

Psychodynamische Psychotherapie von



Menschen mit Psychosen



Dorothea von Haebler

53

Wie ereignen sich Psychosen



und was können wir daraus lernen?



Michael Dümpelmann

58

KVT bei Wahn und Halluzinationen



Stephanie Mehl, Tania Marie Lincoln

64

Individualisiertes metakognitives Therapie-



programm für Menschen mit Psychose (MKT+)



Eva Krieger, Martina Fieker,



Steffen Moritz, Matthias Nagel



Ein Fall – verschiedene Perspektiven

69

Gesprächspsychotherapie für Menschen mit Psychosen

106

Multiple psychosomatische und psychische



Torsten Flögel



Beschwerden – „Ich bin eine schlechte Mutter … “

73

Pharmakotherapie von Psychosen



Bettina Wilms

75

Neuroleptika minimal



Volkmar Aderhold

81

Genesungsbegleitung in der



psychiatrischen Versorgung



Luciana Degano Kieser, Christian Kieser

85

Home Treatment und gemeindenahe

Unterstützungsangebote

Nils Greve



Über den Tellerrand

89

Soteria Bern

Sehenswert



Markus W. Haun, Holger Hoffmann

110

Nymphomaniac – Vergiss die Liebe

92

CME-Fragen



Backflash

111

Der 5-Sterne-Urlaub

Interview

94

Das System hinter den Stimmen verstehen –

  3 Herausgebergremium



„Was, bitteschön, soll denn da explodieren?“

112

Vorschau: Das nächste Heft



Dialog Links

97



Impressum auf der letzten Seite

Hilfe in einer ver-rückten Welt



Johanna Tränkner



Dialog Books

100

Psychosen – Bücher zum Thema



Lisa Erhardt

Resümee

104

Psychotherapie mit psychotischen Patienten –



ein neues (und altes) Feld

5

Psychotherapie im Dialog  3• 2015

Für Sie gelesen

Depression und Angst

Psychotherapie per Telefon und SMS entlastet Patienten

Um Menschen mit psychischen Störungen schneller und besser helfen zu können, etablieren sich zurzeit verschiedene Modelle der Psychotherapie via Telefon, E-Mail und Videotelefonie. Neeltje van den Berg und Kollegen der Universität Greifswald haben in ihrer randomisiert-kontrollierten Studie untersucht, ob sich die Symptome von Patienten mit Angst und Depression stärker verbessern, wenn sie eine tele-psychotherapeutische Ergänzungsbehandlung erhalten.

Patienten mit den stärksten Symptomen zeigte sich, dass sowohl Ängste als auch Depressionen in SG 1 signifikant stärker abgenommen hatten als in der Kontrollgruppe (p = 0,036 bzw. 0,046). Die durch die SMS intensivere Intervention in SG 2 wirkte sich anscheinend besonders positiv auf die Angstsymptome aus: In der gesamten SG 2 war der BSI-18-Angstscore nach 6 Monaten 2,04 Punkte niedriger als in der Kontroll-

Die Wissenschaftler evaluierten eine in

Die Anrufe bestanden aus einem freien

Mecklenburg-Vorpommern entwickelte

­Gesprächsteil und einem standardisierten

unterschieden sich im Angstscore allerdings

­telemedizinische Interventionsmethode für

Interview zur Erfassung der Symptome

nicht signifikant.

Patienten mit psychischen Problemen. Sie

Angst, Depression und Somatisierung mit

rekrutierten ihre Stu­dienteilnehmer aus 3

18 Items (Brief-Symptom-Inventory, BSI-18).

In SG 2 war der BSI-18-Depressionsscore

psychiatrischen Tageskliniken aus Meck-

Bei Bedarf konnten die Patienten der bei-

tendenziell niedriger als in der Kontroll-

lenburg-Vorpommern. Die Patienten waren

den Studiengruppen die Pflegekräfte zu den

gruppe (p = 0,1). Der durchschnittliche Be-

dort 6–8 Wochen in Behandlung gewesen

­Bürozeiten zusätzlich telefonisch erreichen.

handlungseffekt lag bei -1,73. Hinsichtlich

und bereiteten sich auf ihre Entlassung vor.

gruppe (p = 0,042). SG 1 und Kontrollgruppe

der BSI-18-Somatisierungsscores zeigten An den Interviews zu Beginn der Studie

sich keine Unterschiede zwischen den Inter-

Die Studienteilnehmer wurden auf 3 Be-

nahmen 123 Patienten (35 Männer, 88 Frau-

ventionsgruppen und der Kontrollgruppe.

handlungsarme randomisiert:

en) teil. Die Follow-up-Analyse 6 Monate

▶▶ Die Teilnehmer der Kontrollgruppe er-

später konnten die Wissenschaftler mit

Fazit

hielten eine Standardbehandlung, also

113 Teilnehmern durchführen. Das Durch-

Regelmäßige Anrufe bzw. SMS durch ge-

Psychotherapie und Psychopharmako-

schnittsalter der Patienten betrug zu Stu-

schulte Pflegekräfte unterstützen anschei-

therapie nach Bedarf, Wunsch und Mög-

dienbeginn 44 Jahre. 91 % der Teilnehmer

nend die Wirkungen der Standardbehand-

lichkeiten des Gesundheitssystems.

wiesen mindestens eine Diagnose aus dem

lung von Patienten mit Depressionen und

▶▶ Die Patienten der Studiengruppe 1

Bereich der affektiven Störungen gemäß

Angststörungen. Gerade wenn Patienten

(SG 1) wurden zusätzlich zur Standard-

F30-F39 nach ICD-10 auf. Knapp 46 % der

eine psychiatrische Klinik verlassen, bietet

behandlung regelmäßig von speziell

Teilnehmer litten an neurotischen, stress-

die Telemedizin gute Anschlussmöglichkei-

ausgebildeten Pflegekräften angerufen.

bezogenen oder somatoformen Störungen

ten. Der positive Effekt der tele-therapeuti-

Diese Intervention dauerte 6 Monate,

(F40-F48 nach ICD-10).

schen Betreuung zeigte sich besonders

wobei die Telefongespräche im 1. Monat 1x wöchentlich, danach 1x monatlich stattfanden. Falls notwendig, wurde die Zahl der Telefonkontakte erhöht.

deutlich bei Patienten mit Angststörungen.

SMS verstärken die Wirkung der Telefonate

▶▶ In Studiengruppe 2 (SG 2) wurde ebenso verfahren, doch erhielten die Patienten

6

Die Patienten der Interventionsgruppe

zusätzlich auf sie zugeschnittene wö-

nutzten durchschnittlich 12 Telefongesprä-

chentliche SMS. Diese konnten sich auf

che mit einer durchschnittlichen Dauer von

spezielle aktuelle Themen beziehen oder

je 57 Minuten. 55 % der Patienten hatten in

enthielten allgemeine Aussagen, z. B.

der Follow-up-Zeit mindestens einen Kon-

gute Wünsche für das Wochenende.

takt zu einem Psychotherapeuten. Bei den

Dr. Dunja Voos, Pulheim Literatur van den Berg N, Grabe H-J, Baumeister SE et al. A Telephoneand Text Message-Based Telemedicine Concept for Patients with Mental Health ­ ­ Disorders: Results of a ­Randomized Controlled Trial. ­Psychother Psychosom 2015; 84: 82–89 Beitrag online zu finden unter http://dx.doi.org/10.1055/s-0041-102161

Psychotherapie im Dialog  3• 2015

Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer Achtung, Entzugssymptome!

Entzugssyndrom, Rückfall oder Rebound? Es ist nicht immer leicht, die Entzugssymptome als solche zu erkennen. Manchmal sind gezielte Fragen nach entsprechenden Beschwerden notwendig, hilfreich können auch spezifische Messinstrumente sein, wie die Checkliste Discontinuation Emergent Signs and Symptoms (DESS). Nicht selten wird ein Entzugssyndrom fälschlicherweise ©Maksym Yemelyanov / Fotolia.com

Ob Citalopram, Escitalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin oder Sertalin – was die möglichen Entzugssymptome nach dem Absetzen angeht, gibt es kaum Unterschiede zwischen den verschiedenen SSRI.

In den 1990er-Jahren eroberten die selektiven Serotonin-­ Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) die Pharmakotherapie von ­Depressionen. Im Vergleich zu den bis dahin vorwiegend verwendeten ­trizyklischen Antidepressiva galten sie als deutlich nebenwirkungs­ ärmer. Bald wurden aber auch erste Fallberichte und größere Studien veröffentlicht, die von Entzugsreaktionen nach Absetzen von SSRI berichteten. Ein Literaturreview hat diese jetzt zusammengetragen.

als Rückfall interpretiert. Als Unterscheidungsmerkmal kann helfen, dass Entzugssymptome meist innerhalb weniger Tage auftreten, während sich ein Rückfall eher graduell bemerkbar macht – es gibt allerdings Ausnahmen. Auch ein Rebound kann auftreten: eine rasche Verschlimmerung der ursprünglichen Symptome nach Absetzen der Medikation. Fazit Erprobte Behandlungsmöglichkeiten gibt es nicht. Therapeuten können Patienten aber beruhigen, dass die Symptome i. d. R.

Die Forschungsgruppe um Giovanni A.

Hinweise darauf, wer besonders gefährdet

von kurzer Dauer und nicht bedrohlich sind.

Fava fand 15 randomisierte kontrollierte

ist, ein Entzugssyndrom zu erleiden. Auch

Den abgesetzten SSRI wieder einzusetzen

Studien, 4 offene Studien, 4 retrospektive

ein Ausschleichen der Medikation scheint

oder eine andere Substanz der Gruppe, ist

Untersuchungen und 38 Fallberichte. Die

die Wahrscheinlichkeit nicht zu vermindern.

nur auf den ersten Blick sinnvoll – in der

Wissenschaftler aus Bologna und New

Praxis hat sich gezeigt, dass diese Strategie

York beschreiben die Studien als schwer

Die Symptome können vielfältig sein – von

eher zu einer Verlängerung und Verstär-

vergleichbar, weil oft keine verlässlichen

grippeähnlichen Beschwerden, Müdigkeit

kung der Symptome führt.

Kriterien für das Vorliegen eines Entzugs-

und Atemnot über Schwindel, Sehstörun-

syndroms verwendet wurden. Trotzdem ist

gen und vermehrtes Schwitzen bis hin zu

nach der Literaturanalyse klar: Entzugssym-

kognitiven Beeinträchtigungen und Halluzi-

ptome können nach allen SSRI auftreten (in

nationen. I. d. R. treten die Symptome inner-

den Studien untersucht wurden Citalopram,

halb weniger Tage nach Absetzen des Medi-

Escitalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Par-

kaments auf und halten einige Wochen an.

oxetin und Sertalin). Mit Abstand am häu-

Auch hier gibt es aber große Schwankungen,

figsten waren sie allerdings nach Paroxetin.

darunter einen späten Symptombeginn

Ob ein Entzugssyndrom auftritt, ist im Ein-

schwerden.

Dr. Nina Drexelius, Hamburg Literatur Fava GA, Gatti A, Belaise C, Guidi J, Offidani E. Withdrawal symptoms after selective serotonin reuptake inhibitor discontinuation: A systematic review. Psychother Psychosom 2015; 84: 72–81

und ein deutlich längeres Anhalten der Bezelfall kaum vorherzusehen. Es gibt keine

Beitrag online zu finden unter http://dx.doi.org/10.1055/s-0041-102162

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Psychotherapie im Dialog  3• 2015

Für Sie gelesen

Revision der ICD-10

Welche Diagnosen sind überflüssig?

Die International Classification of Diseases (ICD) wird von vielen Fachleuten kritisiert: Es seien Diagnosen enthalten, die dort so nicht hingehörten. Gerade ist die World Health Organization (WHO) dabei, die ICD-10 zu revidieren und die ICD-11 auf den Weg zu bringen. ­Rebeca Robles, Mexiko, und Kollegen haben Psychotherapeuten ­befragt, auf welche D ­ iagnosen der ICD-10 verzichtet werden könnte.

lungsstörungen schulischer Fertigkeiten“ schreibt ein Psychotherapeut: „Lernpro­ bleme bei Kindern sind keine psychiatrische Erkrankung. Das Problem erfordert eher die Intervention spezieller Erzieher als die eines Psychotherapeuten.“ Zu oppositionellem Trotzverhalten schreibt ein Psychotherapeut: „Hier handelt es sich lediglich um schlechte Erziehungskompetenz der Eltern.“

Die Autoren bezogen 505 erfahrene Psycho-

die Grenze zwischen psychischer und kör-

therapeuten aus Brasilien, China, Indien, Ja-

perlicher Störung nicht klar. Manchmal seien

Interessant waren auch die unterschiedli-

pan, Mexiko, Nigeria, Spanien und den USA

Diagnosen auch falsch einsortiert. So gehöre

chen Ansichten je nach Herkunftsland: Wäh-

in ihre Studien ein. Die Psychotherapeuten

etwa die „vaskuläre Demenz“ in die Neuro-

rend insbesondere spanische (ca. 35 % der

sollten anhand einer Liste von 60 repräsen-

logie und nicht zu den psychischen Erkran-

spanischen Teilnehmer), indische und mex­ ikanische Therapeuten die „Geschlechts­

tativen Störungen erklären, welche der Di-

kungen. Wieder andere Diagnosen erschie-

agnosen aus ihrer Sicht gestrichen werden

nen den Psychotherapeuten nicht plausibel,

identitätsstörung“ aus der ICD entfernen

könnten, und ihre Entscheidung begründen.

nicht behandelbar oder gar nicht existent.

würden, wurde dieser Vorschlag von japanischen (ca. 10 % der japanischen Teilnehmer)

305 (60,4 %) der Befragten benannten min-

Hier einige Beispiele von Diagnosen, die

Teilnehmern seltener, von den nigeriani-

destens eine ihrer Meinung nach nicht not-

aus Sicht der Studienteilnehmer überflüssig

schen Teilnehmern gar nicht gemacht.

wendige Diagnose. Durchschnittlich waren

oder unklar sind: Bei der primären Insom-

diese Teilnehmer dafür, 3,5 Diagnosen zu

nie etwa sei die Grenze zwischen krank-

Fazit

entfernen (Range: 1–29). Diese 305 Teil-

hafter Störung und normalen Lebensbedin-

Die Mehrheit der befragten Psychothera-

nehmer unterschieden sich statistisch nicht

gungen unklar. Bezüglich der „gemischten

peuten hielten mindestens eine ICD-10-­

hinsichtlich Alter, Ausbildung oder Erfah-

Angst- und depressiven Störung“ wurde an-

Diagnose für überflüssig. Am häufigsten

rung von den 212 Teilnehmern (40,6 %), die

gemerkt, dass man klar zwischen Angst und

wurde

die

Geschlechtsidentitätsstörung

keine der vorgegebenen Diagnosen aus-

Depression differenzieren müsse. Die „schi-

genannt, die aus Sicht der Psychotherapeu-

schließen wollten. 226 (74,1 %) von ihnen

zotypische Störung“ gehört aus Sicht einiger

ten die Patienten unnötig stigmatisiert.

waren Psychiater, 73 (23,9 %) Psychologen

Psychotherapeuten in das Psychosespek­

Überflüssig seien u. a. auch einige Diagno-

und 6 (1,96 %) Pfleger oder Sozialarbeiter.

trum und sei keine Persönlichkeitsstörung.

sen aus dem Kapitel der Entwicklungsstö-

Das Durchschnittsalter lag bei 42 Jahren

Bei Kindern wurde die Diagnose „kindliche

rungen bei Kindern. Einige Diagnosen stel-

(Range: 25–76 Jahre).

Trennungsangst“ als problematisch angese-

len den Studienteilnehmern zufolge keine

hen, sie sei eine natürliche Reaktion. Auch

Krankheit, sondern normale menschliche

die „Anpassungsstörung“ sei nicht krank-

Reaktionen und Persönlichkeitszüge dar.

Warum Diagnosen streichen?

haft, Menschen brauchten einfach Zeit, um sich an neue Bedingungen anzupassen.

Eine Ursache für den Wunsch, Diagnosen

Dr. Dunja Voos, Pulheim

zu streichen, war, dass sich manche Diag-

Besonders auch Diagnosen, die zur Stigma-

nosen nur schwer von anderen psychischen

tisierung führen könnten, fanden die The-

Störungen abgrenzen lassen. Auch gebe es

rapeuten problematisch, z. B. die Störungen

­Diagnosen, die es schwer machten, zwischen

der Geschlechtsidentität. Es handle sich

gesund und krank zu unterscheiden. Bei ei-

schlicht um eine Frage der sexuellen Prä-

nigen Diagnosen war aus Sicht der Befragten

ferenz. Zu den „umschriebenen Entwick-

8

Literatur Robles R, Fresàn a, Medina-Mora ME et al. Categories That Should Be Removed From Mental Disorders Classifications: Perspectives and Rationales of Clinicians From Eight Countries. J Clin Psychol 2015; 71: 267–281 Beitrag online zu finden unter http://dx.doi.org/ 0.1055/s-0041-102163

Psychotherapie im Dialog  3• 2015

Kognitive Verhaltenstherapie

Arbeitsplatzbezogenes Modul fördert schnelle ­Rückkehr an den Arbeitsplatz durch Lohnfortzahlung von 16 727 Euro auf 13 085 Euro pro Arbeitnehmer errechnet – eine Kostenersparnis von gut 20 %. Gegen Ende des 12-monatigen Katamnese-­ Zeitraums war die große Mehrzahl der Teilnehmer in beiden Gruppen wieder ins Berufsleben eingestiegen (mit ArbeitsplatzModul: 96 %, ohne Zusatzmodul: 91 %), zumeist stufenweise. Der Unterschied war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr signifikant. ©Thomas Möller

Schneller wieder in der Besprechung – auch das kann ein Ziel von Psychotherapie sein.

Für psychisch erkrankte Menschen bringt eine ­Arbeitsunfähigkeit ­vielfältige Probleme mit sich. Je länger die Abwesenheit vom Arbeitsplatz, desto schwerer ist außerdem die Rückkehr. Eine ­niederländische ­Arbeitsgruppe hat deshalb für Patienten mit leichten bis moderaten ­psychischen Erkrankungen mit Arbeitsunfähigkeit das Modul „­return to work“ („Rückkehr ins Erwerbsleben“) entwickelt.

Fazit Die Integration des arbeitsplatzbezogenen Moduls in die kognitive Verhaltenstherapie fördert die schnellere Rückkehr an den Arbeitsplatz – mit einem bescheidenen, aber signifikanten Vorsprung gegenüber der Verhaltenstherapie ohne Zusatzmodul. Auf die psychische Symptomatik scheint sich dies nicht auszuwirken. Zurzeit ist das Modul ­allerdings nur für leichte bis mittelgradige Störungen evaluiert. Eine Arbeitsgruppe der Medizinischen Hoch-

Das Modul, das in eine ­ambulante kognitive

Angststörungen. In beiden Gruppen besser-

schule Hannover hat das Modul ins Deutsche

Verhaltenstherapie integriert werden kann,

te sich die psychische Symptomatik signifi-

übersetzt. Das Modul in deutscher Sprache

besteht aus 12 Einzeltherapiesitzungen, in

kant, zwischen den Gruppen bestand hier

und die Arbeitsblätter können dort angefor-

denen verhaltenstherapeutische Techniken

jedoch kein wesentlicher Unterschied.

dert werden (Kontakt: Prof. Kai G. Kahl, Kli-

mit Fokus auf arbeitsplatzbezogene Themen

nik für Psychiatrie, Medizinische Hochschule

eingesetzt werden. Zum Zeitpunkt des Wie-

Hannover, [email protected]).

dereinstiegs ins Erwerbsleben können Symptome einer psychiatrischen Erkrankung

… bei etwas schnellerer ­Rückkehr an den Arbeitsplatz

durchaus noch bestehen.

Dr. Nina Drexelius, Hamburg

Teilnehmer mit dem arbeitsplatzbezogenen

Ähnliche Besserung psychischer Symptomatik …

Modul kehrten im Schnitt einen Tag früher an den Arbeitsplatz zurück. Aus Sicht des einzelnen Patienten möglicherweise kein großer Gewinn, für die Studiengruppe mit

In einer ersten Evaluation hat das Team die

insgesamt 65 Arbeitstagen mehr aber ein

kognitive Verhaltenstherapie mit und ohne

statistisch signifikanter Unterschied. Und

arbeitsplatzbezogenes Modul verglichen.

für die Arbeitgeber ein deutliches wirt-

Die 168 Teilnehmer litten größtenteils unter

schaftliches Plus: Die Autoren haben eine

Anpassungsstörungen, Depressionen und

durchschnittliche Reduktion der Kosten

Literatur Winter L, Kraft J, Boss K, Kahl KG. Rückkehr ins Erwerbsleben: Ein Arbeitsplatz-bezogenes Modul zur Integration in die kognitiv-behaviorale Therapie bei psychischen Erkrankungen. Psychother Psych Med 2015 Apr 28 [Epub ahead of print] Lagerveld SE, Blonk RWB, Brenninkmeijer V et al. Workfocused treatment of common mental disorders and return to work: A comparative study. J Occup Health Psychol 2012; 17: 220–234 Beitrag online zu finden unter http://dx.doi.org/10.1055/s-0041-102164

9

Psychotherapie im Dialog  3• 2015

Alles was Recht ist

Terminuntreue Patienten

Ausfälle vermeiden – Recht auf Ausfallhonorar

Immer wieder stehen Psychotherapeuten vor dem Problem, dass Patienten kurzfristig Termine absagen oder, ohne Bescheid zu geben, nicht zu vereinbarten Terminen erscheinen. Was kann man tun? Wann ist es sinnvoll, ein Ausfallhonorar zu verlangen? ­Bei der ­Beantwortung dieser Fragen müssen organisatorische, ­wirtschaftliche und juristische Aspekte berücksichtigt werden.

Fallbeispiele: 1.  Eine 47-jährige Lehrerin kommt verzweifelt zum Erstgespräch: Sie bräuchte unbedingt Hilfe, sei hoffnungslos überfordert, könne sich kaum mehr konzentrieren und bekomme momentan kaum etwas auf die Reihe. Sie unterschreibt die ihr mitgegebenen Patienteninformationen, u. a. auch den Passus: „Sollten Sie einmal verhindert sein, sagen Sie uns bitte rechtzeitig Bescheid

Ausnahme: Therapieabbruch  Von ei-

(spätestens 48 Stunden vor der Sitzung).

einer Bestellpraxis, d.h. Sitzungstermine

ner kurzfristigen Absage bzw. dem Nicht-

Spätere Absagen oder unentschuldigtes Fehlen

werden vorab fest vereinbart. Erscheint

erscheinen des Patienten muss aber ein

können mit einem Betrag von 50.– € privat in

ein Patient dann nicht zum vereinbarten

Therapieabbruch unterschieden werden.

Rechnung gestellt werden.“ Zum 2. Termin

Termin oder sagt er kurzfristig ab, ist es

Ein Therapieabbruch ist eine Kündigung des

kommt sie 15 Minuten zu spät, da sie im Stau

dem Psychotherapeuten meist nicht mehr

Dienstverhältnisses und kann jederzeit er-

gestanden habe. Den nächsten Termin sagt sie

möglich, den vakanten Termin neu zu

klärt werden. In einem solchen Fall besteht

am Tag vorher ab, da sie überraschend an einer

belegen. Dies bedeutet wirtschaftliche

i. d. R. kein Anspruch auf ein Ausfallhonorar.

Konferenz teilnehmen müsse, den übernächsten

Psychotherapeuten arbeiten i. d. R. in

Einbußen für den Psychotherapeuten, da nicht durchgeführte Sitzungen durch die Krankenkassen nicht bezahlt werden.

Anspruch bei Annahmeverzug

Termin 30 Minuten vor der Sitzung, da ihr Auto

Vereinbarung eines ­Ausfallhonorars

nicht anspringe. Einen weiteren vereinbarten Termin nimmt sie nicht wahr und meldet sich auch nicht mehr. 2.  Ein junger arbeitsloser Mann mit den Diag-

Berufsrechtliche Perspektive  Aus zivil-

nosen ADHS und Internetsucht lässt ca. jeden

rechtlicher Sicht muss ein Ausfallhonorar

2. bis 3. Termin aus, mit der Entschuldigung, er

Regelung im BGB  Das Verhältnis des

grundsätzlich nicht vereinbart werden. Be-

habe es nicht gepackt, dies sei ja sein Problem,

Psychotherapeuten zum Patienten ist im

rufsrechtlich ist der Psychotherapeut aber

er komme nicht vom Computer los. Er zeigt sich

zivilrechtlichen Sinn ein sog. Dienstverhält-

in jedem Fall verpflichtet, den Patienten

gegenüber der Problematik einsichtig, „kann“

nis. Die allgemeinen juristischen Grundsät-

auf ein möglicherweise entstehendes Aus-

jedoch sein Verhalten trotz aller therapeuti­scher

ze des Bürgerlichen Gesetzbuches gelten

fallhonorar hinzuweisen. Nach § 7 Absatz 2

Bemühungen nicht ändern.

also auch hier. Das bedeutet, dass ein An-

Satz 3 der Musterberufsordnung für die

3.  Ein mittelloser, schwer depressiver Arbeits­

spruch auf Schadensersatz bestehen kann,

Psychologischen Psychotherapeuten und

loser, der wegen eines nahezu unverkäuflichen

wenn sich der Patient in Annahmeverzug

Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeu-

heruntergekommenen Einfamilienhauses nicht

(§ 615 BGB) befindet.

ten (MBO) hat der Psychotherapeut den Pa-

ALG-II-berechtigt ist, kommt wegen Antriebs­

tienten vor Beginn der Behandlung über die

schwierigkeiten unentschuldigt zu manchen

Rahmenbedingungen, insbesondere über

Terminen nicht in die Praxis. Er hat ohnehin

§ 615 BGB besagt: Wenn der Dienstberech-

Honorarfragen aufzuklären. Gemäß § 14

kaum Geld, um sich über Wasser zu halten.

tigte (Patient) mit der Annahme der Dienste

Absatz 3 MBO sind Abweichungen von den

4.  Eine jüngere Pharmareferentin mit extrem

in Verzug kommt, der Patient die Therapie-

gesetzlichen Gebühren schriftlich zu ver-

vollem Terminkalender muss mehrere Termine

sitzung also nicht in Anspruch nimmt, kann

einbaren. Die Berufsordnungen der Landes-

kurzfristig absagen. Sie kommentiert dies mit

der Dienstverpflichtete (Psychotherapeut)

psychotherapeutenkammern sehen ähnlich

der Bemerkung: „Es tut mir wirklich furchtbar

für die infolge des Verzugs nicht geleisteten

formulierte Regelungen vor. Einige Landes-

leid – aber rechnen Sie den Termin einfach mit

Dienste die vereinbarte Vergütung verlangen.

psychotherapeutenkammern geben konkret

meiner Krankenkasse ab, dann verzichte ich

vor, dass Ausfallhonorare schriftlich verein-

eben auf ein paar Gespräche …“

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Psychotherapie im Dialog  3• 2015

bart werden müssen. Aus berufsrechtlicher Sicht ist also eine schriftliche Vereinbarung eines Ausfallhonorars notwendig.

Grund hierfür ist die Regelung des § 615

Klauseln, die den Patienten unangemessen

Satz 2 BGB, wonach sich der Dienstverpflich-

benachteiligen, oder einzelne überraschende

tete das anrechnen lassen muss, was er infol-

Regelungen, mit denen der Patient nicht zu

ge des Ausfalles erspart hat, was er infolge

AGB vs. Individualvereinbarung  Da Aus-

rechnen braucht, sind kein wirksamer Ver-

des Ausfalles eingenommen hat, aber auch

fallhonorarvereinbarungen i. d. R. nicht nur

tragsbestandteil. Auf deren Grundlage kann

das, was er böswillig zu erwerben unterlas-

für einen Patienten getroffen werden, son-

also auch kein Ausfallhonorar verlangt werden.

sen hat. Eine Anrechnung findet auch dann

dern für eine unbestimmte Anzahl von Pati-

statt, wenn der Psychotherapeut die Zeit des

enten schriftlich vorformuliert sind, handelt

Ausfalles anders genutzt hat oder nutzen

es sich um sog. Allgemeine Geschäftsbedin-

könnte, z. B. zur Erstellung eines Berichtes

gungen (AGB). Beim Vorliegen von AGB muss

Verschulden des Patienten

die Einhaltung der Vorschriften der §§ 305 ff.

an den Gutachter. In diesem Fall ist die entsprechende Gebühr nach dem Einheitlichen

BGB beachtet werden. AGB müssen wirksam

Die Gerichte beantworten die Frage, ob ein

in den Vertrag einbezogen werden, d. h., dem

Ausfallhonorar nur dann verlangt werden

Bewertungsmaßstab (EBM) anzurechnen.

Patienten muss die Möglichkeit der Kennt-

kann, wenn dem Patienten ein Verschul-

Fazit

nisnahme gegeben werden, und er muss sich

den für das Versäumnis des Termins vorzu-

Die Gerichte entscheiden über die geltend

mit der Geltung der AGB einverstanden er-

werfen ist, unterschiedlich. Grundsätzlich

gemachten Ansprüche auf ein Ausfallho-

klären. Bestenfalls unterschreibt der Patient

geben die gesetzlichen Regelungen zum

norar sehr unterschiedlich. Dabei kommt

die Formulierung. Wenn keine AGB verein-

Annahmeverzug keine Notwendigkeit ei-

es v. a. auf die besonderen Konstellationen

bart werden, sondern ein Ausfallhonorar in

nes Verschuldens vor. Viele, aber nicht alle

jedes einzelnen Falles an: Es ist nicht nur re-

Form einer Individualvereinbarung getroffen

Gerichtsentscheidungen bestätigen, dass es

levant, ob der Patient einen Termin absagt

wird, die im Übrigen auch der Geltung von

nicht darauf ankommt, aus welchem Grund

hat oder einfach nicht erschienen ist, wann

AGB vorgeht, muss sich diese Vereinbarung

ein Termin abgesagt wird. Ein Anspruch auf

abgesagt und ob ein Ausfallhonorar ver-

nicht an den §§ 305 ff. BGB messen lassen.

das Ausfallhonorar soll unabhängig vom

einbart wurde; von größter Wichtigkeit ist

Verschulden bestehen, also beispielsweise

auch, welche konkrete Vereinbarung über

auch beim Ausbleiben aus Krankheitsgrün-

das Ausfallhonorar mit dem Patienten ge-

den. Anders sieht dies das Landgericht Ber-

troffen wurde. Bei der Vereinbarung eines

lin – jedenfalls dann, wenn das Ausfallhono-

Ausfallhonorars sowie vor einer gerichtli-

rar in Form von AGB vereinbart wurde (s.o.).

chen Geltendmachung eines möglicherwei-

Keine unangemessene ­Benachteiligung der Patienten Wenn es sich um AGB handelt, darf die Ver-

se bestehenden Anspruches sollten immer

einbarung Patienten u. a. nicht unangemes-

die Auswirkungen eines Ausfallhonorars auf

sen benachteiligen (§ 307 BGB). Eine unan-

Bemühen um Terminneuvergabe

den therapeutischen Prozess, auf die besonders vertrauensvolle Beziehung zwischen

gemessene Benachteiligung könnte man z. B. annehmen, wenn für den Fall des Therapie-

Ein Ausfallhonoraranspruch entfällt jedoch

Psychotherapeut und Patient sowie auf das

abbruchs für weitere möglicherweise be-

vollständig, wenn der Termin neu vergeben

Wohl des Patienten bedacht werden.

reits geplante Sitzungen ein Ausfallhonorar

wurde und dem Psychotherapeuten kein

zu zahlen wäre. Auch bei der Vereinbarung

Schaden entstanden ist. Aber auch wenn

zu langer Absagefristen kann eine unan-

der Termin nicht neu vergeben wird, kann

Carolin Böhmig

gemessene Benachteiligung des Patienten

der Ausfallhonoraranspruch vollständig

vorliegen. In der Rechtsprechung gilt eine

oder zum Teil entfallen, denn eine weitere

Referentin Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) Klosterstraße 64 10179 Berlin

Absagefrist von 24–48 Stunden in aller Regel

Voraussetzung für den Anspruch auf ein

noch als angemessen. Das Landgericht Berlin

Ausfallhonorar ist, dass der Psychothera-

hat in einer Entscheidung vom 15.04.2005

peut sich ernsthaft um die Neubelegung

(Az.: 55 S 310/04) bei der Überprüfung ei-

des Termins mit einem anderen Patienten

ner Vereinbarung eines Ausfallhonorars für

bemüht.

einen Zahnarztbesuch eine Vereinbarung als unangemessene Benachteiligung bewertet, die keine Ausnahmeregelung für den Fall ei-

Nur wenn ein Termin trotz des Bemühens

nes unverschuldeten Fernbleibens vorsieht.

um seine Neuvergabe vakant bleibt, kann

Nach Ansicht des Gerichtes wird der Patient

ein Ausfallhonorar verlangt werden.

in diesem Fall schutzlos gestellt.

Carolin Böhmig ist Juristin und Referentin bei der Bundespsychotherapeutenkammer. Vor ihrer Tätigkeit bei der BPtK arbeitete sie als Rechtsanwältin mit sozialrechtlichem Schwerpunkt in ihrer eigenen Kanzlei in Leipzig. Dieser Beitrag gibt ausschließlich ihre persönliche Einschätzung wieder. Beitrag online zu finden unter http://dx.doi.org/10.1055/s-0041-102165

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