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z Qualitätssicherung vonseiten des betreuenden (Haus- oder Fach-)Arztes Dem Haus- und Facharzt kommt bei der psychologischen Betreuung die Funktion zu, psychologische Manifestationen am Bewegungsapparat zu erkennen, psychisch überlagerte funktionelle Störungen zu benennen und psychosoziale Probleme und Konflikte bei Patienten mit chronischen entzündlich-rheumatischen Erkrankungen zu beurteilen. Dabei kann er sowohl diagnostisch tätig sein wie auch basispsychotherapeutische Funktionen ausüben im Sinne der sog. „psychosomatischen Grundversorgung“. Voraussetzungen hierfür sind Kenntnisse und Wissen in Psychologie, tiefenpsychologie und Verhaltensmedizin sowie möglichst eigene Erfahrungen im reflektierten Umgang mit Patienten, z. B. in Balintgruppen. Die ersten Hinweise auf psychosoziale Faktoren findet der Arzt in der Regel schon in der allgemeinen Anamnese.

Anamnestische Indikatoren auf psychische Mitverursachung rheumatischer Beschwerden Durch mechanische Ursachen und einen organischen Befund nicht erklärbare, meist polytope Schmerzen im Bereich der Weichteile (im klassischen Vorbild: Fibromyalgiesyndrom, Kap. 3.3.34 und 5.5.30) haben oft einen psychosozialen Hintergrund. Schon spontan geäußerte Angaben der Patienten anlässlich der üblichen Anamnese lassen sich in typische Hinweiskategorien einordnen: z Häufiger Arztwechsel: „Herr Doktor, Sie sind der letzte, der mir noch helfen kann.“ „Ich war schon bei vielen Ärzten, jeder hat etwas anderes gesagt.“ z Unwirksamkeit oder Unverträglichkeit aller therapeutischen Maßnahmen: „Alle Medikamente haben mir bisher nicht geholfen, aber es muss doch etwas geben, das mir hilft.“ „Tabletten vertrage ich grundsätzlich nicht.“ „Mit Gymnastik brauchen wir gar nicht erst anzufangen, die hat alles eher noch schlimmer gemacht.“ z Trotz schon lang dauernder und oft immer stärker werdender Beschwerden keine sichtbaren Veränderungen: „Meine Schmerzen haben sich immer weiter ausgebreitet und sind immer schlimmer geworden, aber kein Arzt hat etwas finden können.“ z Bereits von mehreren Ärzten gestellte, sich oft widersprechende Diagnosen, die aber meist nicht weiter verfolgt wurden: „Vor mehreren Jahren ist mal ein Hirntumor gefunden worden, der dann aber nicht weiter bestätigt wur-

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de, weil ein anderer Arzt sagte, alles sind nur Verschleißerscheinungen der Halswirbelsäule.“ z Unbestimmte Beschwerden vonseiten des Magens, Herzens usw., die vielleicht als „nervös bedingt“ bezeichnet wurden: „Ich hatte früher mal Herzstiche, aber es ist kein Grund dafür gefunden worden, das EKG war normal. Der Arzt hat sie als nervös bezeichnet, sie sind dann auch wieder vergangen; dann kamen aber die entsetzlichen Schulterschmerzen.“ z Früher gestellte Diagnosen, die auf eine psychosomatische Beteiligung hinweisen: „Mein Hausarzt hat gemeint, dass alles nur nervös bedingt ist, das kann auch sein, ich bin in letzter Zeit sehr nervös.“ „Nach vielen anderen Hinweisen hat man schließlich eine vegetative Dystonie festgestellt.“ „Ein anderer Arzt hat gemeint, dass ich es an der Psyche habe, zu dem bin ich aber nicht wieder hingegangen.“ z Meist als ganz extrem und hypochondrisch geschilderte Beschwerden mit irrationalen Vergleichen (bei chronischen Schmerzen): „wahnsinnige Schmerzen“, „so, als ob tausend Nadeln da herumbohrten“, „als ob ich mit heißem Wasser überbrüht würde“, „als ob ich keine Haut mehr hätte, die mich zusammenhält“ „als ob mir der Rücken mitten durchbricht.“

Diagnostische Kriterien für psychisch bedingte rheumatische Beschwerden Ergeben sich hierin erste Anhaltspunkte für psychische Faktoren, so können durch gezielte Fragen schon die folgenden diagnostischen Kriterien für psychisch bedingte rheumatische Beschwerden erhoben werden: z Polytopie. Beschwerden in mehreren topographisch nicht zusammengehörenden Körperregionen, wobei keine Folgen einer akuten oder chronischen Überbeanspruchung (einschließlich repetitiver Bewegungsabläufe oder andauernder Zwangshaltung) vorliegen. z Inadäquanz. Inadäquate, affektiv gefärbte Schilderungen der Beschwerden (s. o.). z Ungenauigkeit (Diffusität). Auf Nachfragen können keine genauen Angaben über Lokalisation und zeitliches Auftreten gemacht werden (überall – mal hier, mal dort – immer gleich – immer schlimmer – schon immer). z Diskrepanz. Objektiv leichte körperliche Arbeiten werden subjektiv als schwere Überforderung erlebt, z. B. das Auftreten von Schmerzen bei alltäglichen Verrichtungen. z Gesprächigkeit. Schwer unterbrechbarer Redefluss, weitschweifend, wiederholend, pathetisch. z Suggestibilität. Erhöhte Empfänglichkeit, leichte Beeinflussbarkeit (schon beim Zeigen auf eine potenziell schmerzhafte Stelle äußert der Patient eine Schmerzreaktion). z Persistenz. Lang dauernde, wiederholt vorgebrachte Klagen über körperliche Beschwerden werden trotz gründlicher Abklärung, bei der sich ein adäquater Befund nicht erheben lässt, wieder und wieder vorgetragen. z Nervostität. Zittern, Muskelspannung, Herzklopfen, Schwitzen, Unfähigkeit, sich zu entspannen, Sich-gestresst-Fühlen, innere Unruhe, Konzentrationsstörungen und Rastlosgikeit.

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z Depressivität. Hinweise auf gedrückte Stimmung, Interessenverlust, Verlust der Genussfähigkeit, Sich-nicht-freuen-Können, frühmorgendliches Erwachen vor der gewohnten Zeit, Antriebsminderung, morgendliches Tief, Appetit-, Gewichts-, Libidoverlust. z Funktionelle Beschwerden außerhalb des Bewegungssystems. Schlafstörungen (Ein- und Durchschlafstörungen, frühes Erwachen, unerholsamer Schlaf, verstärkte Traumtätigkeit), Kopfschmerzen, Migräne, kardiovaskuläre (Herzphobien, Kreislaufregulationsstörungen, Herzstiche), urogenitale (Dysurie, Menstruationsbeschwerden), Atembeschwerden. z Hypochondrie. Unbegründete Furcht, an einer schweren Krankheit zu leiden bzw. eine solche zu bekommen (z. B. im Rollstuhl landen, Karzinom, multiple Sklerose, HIV-Infektion). z Arzt-Patienten-Beziehung. Häufiger Wechsel, beidseitig als unangenehm erlebte Arzt-Therapeuten-Beziehung, sich entwickelndes Misstrauen, hartnäckiges Fordern neuer Untersuchungen, häufiger Wechsel der Medikamentenverordnung, Aufbau von Aggression beim Arzt. z Psychosomatische Vordiagnosen. Der Patient gibt an, dass bereits von anderen Ärzten Diagnosen, wie z. B. „vegetative Dystonie“, „nervöse Störung“, „depressive Verstimmung“, geäußert worden seien. z Kontroverse Beurteilung in Vorbefunden. Der Patient beruft sich auf z. T. widersprüchliche körperliche Diagnosen, die die Beschwerdesymptomatik nicht erklären (z. B. degenerative Wirbelsäulenveränderungen, schiefes Becken, Gleitwirbel, M. Scheuermann). z Therapieresistenz. Erlebte Unwirksamkeit von Maßnahmen oder Medikamenten, u. U. nach kurzfristigem Ansprechen, erhöhte Nebenwirkungsbereitschaft. Die Patienten lehnen alle vorgeschlagenen Maßnahmen ab. Aus einer dann folgenden erweiterten Anamnese oder einem Interview kann eine Klassifizierung psychosomatischer Störungen am Bewegungssystem in Somatisierungsstörung (ICD-10: F 45), Konversionsstörung (F 44), Angststörung (F 41) oder depressive Störung (F 32) vorgenommen werden [2].

z Arzt-Patient-Interaktion In neueren Forschungsansätzen findet in diesem Zusammenhang auch die Interaktion von Behandler und Patient immer mehr Aufmerksamkeit [2]. Es zeichnet sich ab, dass bestimmte Interaktionsstile im Umgang mit chronischen Schmerzpatienten besser geeignet sind, deren Bedürfnisse im Behandlungsalltag zu berücksichtigen. Hier soll vor allem das Vorgehen nach der Shared-decision-Methode Erwähnung finden. Dieser Ansatz nimmt eine Mittelstellung ein zwischen den beiden Extrempolen der direktiv-paternalistischen Handlungsweise des Arztes (alle Entscheidungsverantwortung liegt beim Arzt allein, Bedürfnisse des Patienten finden wenig Beachtung) und der Herangehensweise nach der Informed-choiceMethode (die Behandlungsverantwortung liegt alleim beim Patienten, der

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Arzt stellt lediglich sein Expertenwissen zur Verfügung). Beim Vorgehen nach der Shared-decision-Methode wird eine gemeinsam getroffene und somit gemeinsam getragene Therapieentscheidung angestrebt, nachdem der Arzt dem Patienten alle benötigten medizinischen Informationen zur Verfügung gestellt hat und der Patient gleichzeitig Gelegenheit hatte, persönliche Präferenzen und Befürchtungen offen zu legen und Fragen zu klären. Das Vorgehen lässt bei chronischen Schmerzpatienten eine Steigerung der Arzt- und der Patientenzufriedenheit erkennen. Towle und Godolphin [6] empfehlen folgende Schritte um das „shared decision making“ in die Praxis umzusetzen: z Aufbau einer positiven Beziehung zum Patienten, z Informationsbedarf des Patienten in Erfahrung bringen (z. B. Umfang und Form), z klären, inwieweit der Patient am Entscheidungsprozess beteiligt werden möchte, z Ideen, Befürchtungen und Erwartungen des Patienten in Erfahrung bringen und berücksichtigen, z Therapiemöglichkeiten darstellen und Forschungsergebnisse in Bezug auf den Patienten bewerten, z Patienten bei der Reflexion über Therapieentscheidungen unterstützen und Bedeutung von Therapiealternativen unter Berücksichtigung von Werten und Lebensumständen des Patienten herausarbeiten, z gemeinsames partnerschaftliches Treffen oder Aushandeln einer Entscheidung und Konfliktmanagement, z konkrete Vorgehensweise beschließen und Folgekontakte vereinbaren.

z Psychosoziale Reaktionen bei entzündlich-rheumatischen Erkrankungen Dem hohen Informations- und Aufklärungsbedürfnis der Patienten folgend, sollten bereits bei der Diagnosemitteilung gezielte medizinische und psychologische Hinweise gegeben werden und mögliche Ängste des Patienten (z. B. vor Verkrüppelung, vor aggressiver Medikation usw.) angesprochen werden, um den „Diagnoseschock“ zu mildern und die Kooperation zu fördern. Alle chronischen Erkrankungen, so auch die entzündlich-rheumatischen Leiden, haben bestimmte psychosoziale Folgen, die der Arzt erkennen und bei der Betreuung des Patienten berücksichtigen muss. Die wichtigsten von ihnen sind der nachfolgenden Aufstellung (nach Raspe und Rehfisch [5]) zu entnehmen. z Psychische Veränderungen: – Unsicherheit, – Sinn- und Schuldfragen, – Ängstlichkeit und Sorgen, – Informationsbedürfnis, Informationsabwehr, – Verleugnung, Aggression, Depression. z Verhaltensänderungen: – Beeinträchtigungen bei Tätigkeiten des täglichen Lebens,

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– Störungen der Sexualität, – sozialer Rückzug. z Familiäre Probleme: – Verschlechterung des Familienklimas, – vermehrte Abhängigkeit, – Beeinträchtigungen bei Freizeitaktivitäten und Hobbys. z Beruf: – Schwierigkeiten bei Aus- und Weiterbildung, – Arbeitsplatz- und Einkommensverlust, – sozialer Funktionsverlust. Primär sollten diese Probleme vom Hausarzt oder Rheumatologen erkannt und mit dem Betroffenen beraten werden. In schweren Fällen, bei zeitlicher und methodischer Überforderung ist jedoch eine fachpsychologische (Mit-) Betreuung sinnvoll. Indikationen zur Konsultation eines Psychologen, Psychotherapeuten bzw. Psychiaters: z zur weiteren Diagnostik, z zur Analyse psychosozialer Folgen (s. o.), z zur Therapie (Krankheits-, Schmerzbewältigung, Sexualberatung (z. B. mit Entspannungs- und Biofeedbackverfahren, verhaltenstherapeutischen Schmerzbewältigungsverfahren, partner- und familientherapeutischen Ansätzen.

z Qualitätssicherung vonseiten des behandelnden Psychologen In seiner Ausbildung sollte er Erfahrung, Kenntnisse und Wissen im Umgang mit rheumakranken Patienten und Schmerzpatienten gesammelt haben. Eine differenzierte Weiterbildung zu einem Schmerzpsychologen erfolgt in verschiedenen schmerzpsychologischen Arbeitskreisen (z. B. durch den Bund Deutscher Psychologen), eine Zusatzqualifikation zum „psychologischen Schmerztherapeuten“ wird von einigen Gesellschaften angestrebt.

z Qualitätssicherung bei Gruppenbehandlungen Nahezu für alle rheumatischen Erkrankungen gibt es mittlerweile Gruppentherapien. Die meisten davon sind Selbsthilfegruppen, deren Qualität unterschiedlich ist und von den teilnehmenden Personen abhängt. Für die häufigsten rheumatischen Erkrankungen, wie die rheumatoide Arthritis, die ankylosierende Spondylitis und die Fibromyalgie gibt es evaluierte Gruppentherapien (s. auch Kap. 16, Patientenschulung). Die Inhalte bestehen in der Regel aus mehreren Modulen, die kombiniert angewandt werden. Es handelt sich dabei um Einheiten mit Information, Schmerzbewältigung, krankheitsorientierter Bewegungstherapie sowie Alltagsbewältigung.

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z Literatur 1. Basler HD, Franz C, Kröhner-Herwig B, Rehfisch HP, Seemann H (Hrsg) (1993) Psychologische Schmerztherapie. Springer, Heidelberg New York 2. Charles C, Galni A, Whelan T (1997) Shared decision making in the medical encounter: what does it mean? (Or it takes at least two to tango). Social Science and Medicine 44:681–692 3. Gesellschaft für Psychosomatik in der Rheumatologie (Hrsg) (1995) Psychosomatische Befunde in der rheumatologischen Diagnostik. EULAR, Basel 4. Mathies H (1993) Erweiterte Anamnese und psychodiagnostische Einordnung bei psychosomatischen Rheumapatienten. Z Rheumatol 52:215–218 5. Raspe HH, Rehfisch HP (1996) In: Basler HD, Franz C, Kröhner- Herwig B (Hrsg) Entzündliche rheumatische Erkrankungen. Springer, Heidelberg New York, S 401–425 6. Towle A, Godolphin W (1999) Framework for teaching and learning informed shared decision making. British Medical Journal 319:766–769