Politische Kommunikation in der Mediendemokratie

Fakultät für Gesellschaftswissenschaften Zwischen Schmierenkomödie und Staatstheater: Politische Kommunikation in der Mediendemokratie CDU-Spendens...
Author: Gregor Hase
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Zwischen Schmierenkomödie und Staatstheater:

Politische Kommunikation in der Mediendemokratie CDU-Spendenskandal, SPD-Flugaffäre, ein Verteidigungsminister mit Gefährtin am Pool, andere Spitzenpolitiker im Big Brother-Container oder am Fallschirm und viele kleine Flugmeilen-Sünder — das sind negative Schlagzeilen aus den letzten Jahren und Monaten politischer Berichterstattung in Deutschland, die noch vielen Bürgern in Erinnerung sind. Fast könnte man meinen, die Massenmedien, allen voran Presse und Fernsehen, beschäftigen sich immer mehr mit den Fehltritten und Skandalen der „politischen Klasse“ und immer weniger mit ihrer eigentlichen Aufgabe, „Medium und Faktor der öffentlichen Meinungsbildung“ zu sein (so das Bundesverfassungsgericht 1961 in seinem 1. Rundfunkurteil). Was ist dran an dieser Beobachtung? Zunächst einmal ist festzuhalten: Moderne Demokratien sind ohne die vielfältigen Leistungen der Massenmedien schlechthin nicht funktionsfähig. Deshalb ist die Handlungs- und Gestaltungsfreiheit der Medien in allen westlichen Verfassungen besonders geschützt, in Deutschland z. B. in Artikel 5 des Grundgesetzes, der neben der Informations- und Meinungsfreiheit des Bürgers die Freiheit von Presse, Rundfunk und Film garantiert. Gerade im politischen Bereich sind die Massenmedien nicht nur passives Transportmittel für den Informationsaustausch zwischen Bürger und Staat, sondern selbständige Akteure im politischen Kommunikationsprozess. Zu ihren Aufgaben gehören insbesondere: • die Herstellung von Öffentlichkeit für gesellschaftliche Problemlagen und Missstände, die Artikulation der Interessenlagen von Individuen und Gruppen, die Berichterstattung über politische Ziele und Aktivitäten von Verbänden, Parteien, Parlament, Regierung und Verwaltung; • die Kritik und Kontrolle politischer Machtträger auf allen staatlichen Ebenen zur Gewährleistung ihrer Gemeinwohlorientierung; • die politische Sozialisation der Bürger durch Förderung von Integration und Identifikation mit dem demokratischen Gemeinwesen, die Weckung von politischem Interesse und Bereitschaft zur Beteiligung.

Diese durch Verfassung, Gesetze und Staatsverträge erfolgte Zuweisung politischer Aufgaben an die Massenmedien wurde lange Zeit mit der Annahme verbunden, die Medien seien auch Willens und in der Lage, diese Aufgaben in hinreichender Quantität und Qualität wahrzunehmen. Ihre wirtschaftlichen Eigeninteressen — vor allem bei Presse und privatem Rundfunk — galten als mit den Zielen der Politik harmonisierbar; es wurde ein „symbiotisches“ Verhältnis von Massenmedien und Politik unterstellt. Dieses recht idealistische Modell politischer Kommunikation in der Demokratie wird seit einigen Jahren in der kommunikations- und politikwissenschaftlichen Forschung zunehmend in Frage gestellt. Galt das politische System der Bundesrepublik Deutschland bis dahin wegen der starken Stellung der politischen Parteien im öffentlichen Leben als „Parteiendemokratie“, so spricht man heute immer häufiger von einem Strukturwandel hin zu einer „Mediendemokratie“. Mit diesem Begriff soll eine Reihe von Veränderungen im Wechselverhältnis von Politik und Massenmedien bezeichnet werden, die sich wie folgt zusammenfassen lassen:

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Bild 1: Homepages der Parteien

• Die Massenmedien emanzipieren sich von der Inpflichtnahme durch die Politik und verfolgen verstärkt kommerzielle Ziele, was sich in dem Bestreben nach erhöhter Massenattraktivität äußert. Die intensivierte Skandalberichterstattung ist ein Indikator für diese Tendenz. • Die politischen Parteien, vor allem ihre Führungseliten, versuchen, ihr Handeln in zunehmendem Maße durch Präsenz in den Massenmedien, besonders im Fernsehen, zu legitimieren. Nicht-mediale, also persönliche Kommunikation innerhalb der Parteiorganisationen und zwischen diesen und dem Bürger ist entsprechend rückläufig, ebenso die herkömmliche Legitimation durch regelgebundenes (und effektives!) politisches Handeln außerhalb des Scheinwerferlichts der Medien. • Um trotz der neuen „Medienlogik“ weiterhin Zugang zur Öffentlichkeit zu finden, professionalisieren politische Institutionen und Parteien ihre Öffentlichkeitsarbeit und suchen neue Wege für ein „Going public“, um die wachsende Gruppe der politisch Uninteressierten oder Resignierten („Politikverdrossenheit“) dennoch zu erreichen und wieder in den politischen Kommunikationsprozess einzubinden. Wie diese neue „Mediendemokratie“ in der Praxis aussieht, lässt sich gut am Beispiel der Behandlung des Zuwanderungsgesetzes in Bundestag und Bundesrat sowie bei der abschließenden Unterzeichnung durch den Bundespräsidenten veranschaulichen. Beispiel Zuwanderungsgesetz Die Zuwanderung von Ausländern nach Deutschland hatte nach dem Höhepunkt im Jahre 1992 (mit rund 600.000 Personen) in den letzten Jah-

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ren stark nachgelassen (im Jahre 2000 noch rund 100.000 Personen), war aber aus der Sicht von Politik und Wirtschaft insofern unzureichend geregelt, als es keine zahlenmäßige Begrenzung für die Zuwanderung gab, keine klare Unterscheidung zwischen „Wirtschaftsflüchtlingen“ und „echten“ Asylsuchenden, keine Handhabe zur Begünstigung der (gewünschten) Einwanderung qualifizierter Arbeitskräfte und keine zur Forcierung der sprachlichen und kulturellen Integration bereits in Deutschland lebender Ausländer. Mit ihrem im Jahre 2001 vorgelegten Entwurf eines Zuwanderungsgesetzes versuchte die rot-grüne Bundesregierung — nicht zuletzt durch weit gehende Zugeständnisse an die Opposition im Deutschen Bundestag —, eine von allen Parteien getragene Konsenslösung für die geschilderten Missstände zu erreichen. Dies scheiterte jedoch, weil die CDU/CSU vor allem aus parteipolitischen Überlegungen der amtierenden Regierung Schröder im Wahljahr 2002 nicht den Erfolg der Realisierung eines so wichtigen Gesetzes gönnen wollte. So wurde das Gesetz im Bundestag nur mit der so genannten „Kanzlermehrheit“ verabschiedet. Die zusätzlich notwendige Zustimmung des Bundesrates sollte in dessen Sitzung am 22. März 2002 erfolgen. Die Voraussetzungen, dieses Ziel zu erreichen, waren insofern schwierig, als die SPD-geführten Länder wegen der knappen Mehrheitsverhältnisse darauf angewiesen waren, dass das Land Brandenburg geschlossen für die Gesetzesvorlage stimmte, das Land aber andererseits von einer Großen Koalition aus SPD (Ministerpräsident Manfred Stolpe) und CDU (Innenminister Jörg Schönbohm) regiert wurde — und der Letztere unter

massivem Druck der CDU/CSU stand, im Bundesrat nicht mit „ja“ zu stimmen. Konflikt nach Drehbuch Der weitere Verlauf ist bekannt. Wie man nachträglich den Gazetten entnehmen konnte, haben sowohl die Vertreter der SPD als auch die der CDU/CSU am Vorabend der Bundesratssitzung ihr Verhalten für die Abstimmung am nächsten Tage exakt geplant und mit verteilten Rollen und festgelegten Texten durchgespielt — wie man das eben bei einer Generalprobe macht, bevor man sich zur Premiere auf der Vorderbühne dem erwartungsvollen Publikum präsentiert. Die CDU/CSU-Vertreter wussten, dass Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit als amtierender Bundesratspräsident versuchen würde, die erwartet uneinheitliche Stimmabgabe des Landes Brandenburg unter Mitwirkung von Stolpe in eine einheitliche Stimmabgabe umzuwandeln, und die SPD-Vertreter wussten, dass die daraufhin unterliegenden CDU/CSU-Vertreter den Vorgang aufs Heftigste missbilligen würden. Beide Seiten spekulierten aber auf einen hohen, wahlkampfrelevanten Bonus durch die Medienberichterstattung, wenn sie ihre Rolle eben so spielten: Wenn es der SPD gelang, das Gesetz mit Mehrheit zu verabschieden, konnte sie sich in einer breiten Öffentlichkeit als Wohltäter für Wirtschaft und Gesellschaft darstellen, wenn nicht, konnte sie die CDU/CSU als „Blockierer“ einer so wichtigen Reform „vorführen“. Seitenverkehrt das Kalkül der CDU/CSU: Wenn es ihr gelang, die Stimmabgabe von Brandenburg zu neutralisieren, konnte sie die SPD als durchsetzungsschwach darstellen, vor allem aber das Thema Zuwande-

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rung für ihren eigenen Bundestagswahlkampf „retten“, und wenn nicht, konnte sie die „Kungelei“ der SPDSeite geißeln. Fazit: Beide Seiten fühlten sich in einer doppelt gesicherten Gewinnsituation und sahen deshalb keinen Anlass, auf den medienwirksamen „Show down“ im Bundesrat zu verzichten. Dass sie durch ihr Verhalten dem öffentlichen Ansehen des Bundesrates Schaden zufügen und sich selber unglaubwürdig machen könnten, kam ihnen entweder nicht in den Sinn oder es erschien ihnen als ein hinzunehmender „Kollateralschaden“. Erst recht hatte niemand an eine öffentliche Kritik des Verfahrens durch den

Bundespräsidenten gedacht — wohl im Vertrauen darauf, dass dieser, wie vor den Zeiten der „Mediendemokratie“ üblich, eventuelle Vorbehalte dezent in der vertraulichen Atmosphäre des Bundespräsidialamtes oder auf schriftlichem Wege äußern würde.

haben wir verabredet. Das war Theater, aber legitimes Theater!“ Von den Massenmedien wurde diese Inszenierung jedoch kritisch aufgenommen und überwiegend als „Schmierenkomödie“ bewertet, weil sie nicht authentisch wirkte. Aus der Kommunikationsforschung weiß man, Theater im Theater dass in solchen Fällen häufig ImageEs kam anders — und das nicht verluste entstehen, weil das Publikum zuletzt, weil der saarländische Mini- — und zuvor die kritischen Journalisterpräsident Peter Müller nach der sten — durchschauen, dass die von Bundesratssitzung im Saarbrücker den politischen Akteuren gezeigten Staatstheater (!) zur allgemeinen Ver- Emotionen nicht echt und spontan blüffung offen zugab: „Die im Bun- sind, sondern ihr Verhalten in manidesrat geäußerte Empörung (der pulativer Absicht allein auf die angeCDU/CSU-Ministerpräsidenten) ent- strebte Publikumswirkung abzielt. stand nicht spontan. Die Empörung Diese Fehleinschätzung der CDU/ CSU-Ministerpräsidenten und ihrer „Spin Doctors“ (so bezeichnet man die modernen Kommunikationsberater, die den Reden der Politiker vor allem im Wahlkampf den richtigen Dreh — amerikanisch: „spin“ — geben sollen) löste drei Monate später eine zweite politische Inszenierung aus, diesmal jedoch auf hohem staatspolitischnormativen Niveau: ein „Going Public“ von Bundespräsident Johannes Rau als würdevolles „Staatstheater“. „Rau unterschreibt und rügt“ titelte die FAZ auf Seite 1 ihrer Ausgabe vom 21. Juni 2002, nachdem der Bundespräsident am Vortrag nach gründlicher Prüfung der verfassungsrechtlichen Implikationen das Zuwanderungsgesetz unterschrieben und dies vor den versammelten Berliner Fernseh- und Pressejournalisten bekannt gegeben hatte. Rau verband diese Mitteilung mit einer in Tonlage und Direktheit überraschenden Verurteilung der ausgeklügelten InsBild 2: Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 21.06.2002 zenierung der Bundesratssitzung

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Fakultät für Gesellschaftswissenschaften vom 22. Februar: „Die Art und Weise, wie einige der Beteiligten den Ablauf der Sitzung abgesprochen und politisch inszeniert haben“, habe bei vielen Menschen „Unmut und Empörung“ ausgelöst und dem „Ansehen von Staat und Politik Schaden zugefügt“. Um dieser „Schelte vom Patriarchen“ (Bild 2) den notwendigen Nachdruck zu verleihen, griff Rau seinerseits zu Mitteln der politischen Inszenierung, allerdings nicht mit der Absicht der Vortäuschung falscher Tatsachen — also inauthentischer Kommunikation —, sondern mit dem Ziel der visuellen Verkörperung staatlicher Autorität und der Würde seines Amtes: Das Foto des Vorgangs in der FAZ zeigt ihn in konzentrierter, ernster Haltung an dem von einem Bundesadler gezierten Rednerpult, im Hintergrund ein weiterer Bundesadler auf einer Leinwand und zusätzlich die offizielle Flagge des Bundespräsidenten.

Mediendemokratie im Medienland Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer und ein Beispiel noch keinen Trend. Beim gegenwärtigen Stand der kommunikations- und politikwissenschaftlichen Erforschung der Erscheinungsformen, Ursachen und Wirkungen der „Mediendemokratie“ kann man noch nicht von gesicherten Erkenntnissen zu diesen Zusammenhängen sprechen. Aber es verdichten sich die Befunde, die auf einen wirklichen Trend deuten. Besonders die politische Kommunikation in Wahlkampfzeiten auf Bundes- und zunehmend auch auf Landesebene zeigt in den letzten Jahren verstärkt Merkmale in Richtung „Mediendemokratie“. Einige dieser Befunde sollen abschließend vorgestellt werden. Hauptbezugspunkt hierfür ist eine im vergangenen Jahr vom Rhein-Ruhr-Institut für Sozialforschung und Politikberatung (RISP), einem An-Institut der Duisburger Universität, in Zusammenarbeit

auf die Qualität der Politikherstellung durchschlagen müsse („plebiszitärer Schulterschluss“ statt sachorientierte Politik); • dass eine weitere „Mediatisierung“ des politischen Prozesses zu einem verschärften Wettbewerb zwischen den Parteien führen müsse („Amerikanisierung“ der Wahlkämpfe usw.) mit einer entsprechenden Emotionalisierung der politischen Kommunikation und langfristig negativen Auswirkungen auf die Stabilität der Demokratie. Amerikanisierung der Politik? Die wichtigsten Ergebnisse dieser Untersuchung waren: • Es gibt auch in NRW deutliche Anzeichen für eine systematische Erhöhung der Professionalität des Wahlkampfmanagements, im untersuchten Fall vor allem bei der FDP. Von großer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die inten-

Fotos: RTL, Köln

Bild 3: Besuch des FDP-Politikers Westerwelle in der umstrittenen Container-Show „Big Brother“

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Logik der Medien Aus dieser Inszenierung kann man schließen, dass der Bundespräsident und seine PR-Berater offensichtlich sehr gut wissen, nach welcher Logik die Medien arbeiten, das heißt welches die „Nachrichtenfaktoren“ sind, die entscheiden, ob ein politisches Ereignis von den Medien aus der Masse der Agenturmeldungen zur Berichterstattung ausgewählt wird oder nicht. Im vorliegenden Falle waren es insbesondere die Faktoren „Prominenz“ (seiner Person wie die der Gescholtenen), „Konflikt“ (Parteienstreit und Konflikt zwischen Staatsorganen), „Schaden“ (Imageschaden der gerügten Parteipolitiker), „Überraschung“ (ungewöhnliche Art des öffentlichen Auftritts des Bundespräsidenten) und „gesellschaftliche Relevanz“ (des Zuwanderungsthemas).

mit einer Forschungsgruppe der Universität Landau durchgeführte Untersuchung im Auftrag der Landesanstalt für Medien NRW zum Thema „Mediendemokratie im Medienland? Inszenierungen und Themensetzungsstrategien im Spannungsfeld von Medien und Parteieliten am Beispiel der nordrhein-westfälischen Landtagswahl 2000“. Ausgangspunkt der Studie war die gemeinsame Sorge von Auftraggeber und Auftragnehmern, • dass der Wandel hin zur Mediendemokratie die ohnehin schon bestehenden Tendenzen zu einer „Topdown-Demokratie“ verstärken und damit zu einer gesteigerten Politikbzw. Parteienverdrossenheit an der Basis führen müsse; • dass eine der „Medienlogik“ angepasste Form der Politikdarstellung

sivere Nutzung von Bevölkerungsumfragen, die — zeitlich immer enger gestaffelt — jede Meinungsschwankung in der Wählerschaft registrieren. • Eine solche „Modernisierung“ der Wahlkampfführung ist ferner zu sehen in der von allen Parteien bestätigten Bedeutung des Fernsehens als Leitmedium im Wahlkampf. Daneben versprechen sich die Parteien aber auch vom zunehmenden Einsatz des Internet einen Imagegewinn bezüglich der eigenen Modernität (Bild 1). • Eine Anpassung der Wahlkampfkommunikation an die Medienlogik ist auch in dem Versuch zu sehen, vermehrt fernsehgerechte Ereignisse zu erzeugen („Event producing“). Insbesondere der FDP gelang im NRW-Wahlkampf durch vielfältige

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Fotos: Pressestelle der FDP des Landes NRW

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Bild 4: Anderer Wahlkampf — ähnliches Muster: Selbstinszenierung des FDPPolitikers Möllemann im Bundestagswahlkampf 2002

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Selbstinszenierungen der eigenen Kampagne oder einzelner Bestandteile, Medienaufmerksamkeit auf sich zu lenken (Bild 4). Die Wahlkampfführung wird damit zu einem eigenständigen Medienthema. • Auffallend war auch die medieninduzierte Tendenz zur Personalisierung des Wahlkampfs. Mit Ausnahme der PDS und etwas gedämpft bei den Grünen stellten alle Parteien vor allem ihre Spitzenkandidaten in den Vordergrund. • Als ein weiteres Merkmal der Modernität von Wahlkämpfen war die „Entertainisierung“ der Politikvermittlung zu beobachten, das heißt die zunehmend unterhaltsame Gestaltung der Selbstdarstellung von Spitzenpolitikern und ihrer Parteien, z. B. durch Teilnahme an neuen Formen und Orten von Gesprächssendungen. Ein Paradebeispiel hierfür ist der Besuch des FDP-Politikers Westerwelle in der umstrittenen Container-Show „Big Brother“ (Bild 3). Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Auftritte in derartigen Sendeformaten, natürlich aber auch jene in den eher politischen Talk-Shows vor Publikum neuartige, hohe Anforderungen an die „Media-Fitness“ der Politiker stellen. Während diese Befunde die These vom Trend hin zur „Mediendemokratie“

deutlich unterstützen, deuten andere Untersuchungsergebnisse darauf hin, dass sich diese Entwicklung doch nicht so reibungslos und geradlinig vollziehen wird, wie man annehmen könnte. Misst man nämlich diesen Übergang am so genannten „Agenda-SettingEffekt“, das heißt an dem Maß, in dem die Themenstruktur der Presse- und Fernsehberichterstattung mit der Rangfolge der von der Wahlbevölkerung für wichtig gehaltenen Probleme übereinstimmt, so lässt sich — jedenfalls für den NRW-Landtagswahlkampf — nur ein recht schwacher Zusammenhang nachweisen. Hinzu kommt, dass trotz einer gewissen Vorrangstellung der Spitzenkandidaten in der Medienberichterstattung die politischen Parteien insgesamt bei weitem nicht so stark in den Hintergrund treten, wie man das von amerikanischen Wahlkämpfen inzwischen kennt. Auch in dieser Hinsicht ist also Vorsicht geboten gegenüber vorschnellen Behauptungen einer zunehmenden „Amerikanisierung“ der Wahlkämpfe in der Bundesrepublik Deutschland.

Kein Waschmittel-Wahlkampf Aufgrund dieser Untersuchungsergebnisse muss man zu der Einschätzung kommen, dass das Land NRW bisher allenfalls erste Schritte in Richtung auf eine „Mediendemokratie“ getan hat. Diese beziehen sich überwiegend auf die Angebotsseite des politischen Kommunikationsprozesses, insbesondere auf das Wechselverhältnis von Parteieliten und Medien, während die Rezeptionsseite, die Wahlbevölkerung also, mehrheitlich noch von vielen „eigensinnigen“, eher traditionellen Orientierungen und Verhaltensmustern geprägt ist. Aus demokratietheoretisch-normativer Sicht gibt das bisher in NRW erreichte Stadium des politisch-medialen Strukturwandels somit noch keinen Anlass zu ernsthaften Sorgen im Hinblick auf die eingangs genannten kritischen Bezugspunkte wie den Verlust der Basisnähe der Politik, eine fortschreitende Politikverdrossenheit, die Popularisierung und Veroberflächlichung der Politikherstellung sowie die Emotionalisierung der politischen Kommunikation — selbst in Wahlkampfzeiten. Insofern ist NordrheinWestfalen derzeit noch erfreulich weit von einem Zustand entfernt, wie er sich dank einer ungehemmten Kommerzialisierung der Wahlpropaganda und des daraus resultierenden Stilwandels des politischen Journalismus inzwischen in den USA entwickelt hat. Aber man muss die weitere Entwicklung im Auge behalten.

Kontakt Prof. Dr. Heribert Schatz Rhein-Ruhr-Institut für Sozialforschung und Politikberatung GmbH Heinrich-Lersch-Str. 15 47057 Duisburg ☎ 02 03 / 28 09 90 [email protected] http://www.uni-duisburg.de/ Institute/RISP/abtpro/mkt/

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Fragt man einen Menschen nach der Uhrzeit und erhält weder eine Antwort noch eine sonstige Reaktion, gerät man ins Grübeln. Sei es, dass man sein Gegenüber für stur hält, für taubstumm, der deutschen Sprache nicht mächtig oder in ihm das Mitglied eines Schweigeordens auf Freigang vermutet — seine Unterlassung gibt zu denken. Was beweist: Obwohl der Angesprochene eigentlich nicht kommuniziert, kommuniziert er doch etwas. Denn der Mensch kann nicht nicht handeln — auch wenn er nichts tut. Und wenn er handelt, orientiert er sich am Anderen, am Mitmenschen und an der Situation, in der er sich befindet. Damit seine Orientierung beim Anderen aber ankommt, bedarf es der Kommunikation, die immer selektiv vorgeht, Informationen mit Hilfe von Verhaltensweisen in Mitteilungen und Mitteilungen in Verstehen verwandelt. Dieses Spannungsfeld aus menschlichen Beziehungen, Erwartungen, Erleben und Handeln beschäftigt Soziologen der Gerhard-Mercator-Universität auf so unterschiedlichen Feldern wie dem Konflikt zwischen Polizei und Minderheiten, Armut und Reichtum in Deutschland, dem Wandel des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern oder der Wirkung der Medien.

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gebraucht zu werden. Die Moral von dieser soziologischen „G’schicht“ ist der manipulative Mensch, dem es nicht selten gelingt, äußerst effektiv zu kommunizieren. Im Gewande des Maskenträgers und Rollenspielers demonstriert der Kommunikator, dass es gar nicht notwendig ist, freundlich zu sein, um wie ein Freund zu handeln, verliebt zu sein, um wie ein Liebhaber zu agieren, und geschätzt zu werden, um respektabel zu sein. debitel, Stutgart

Das erklärte Ziel jedes Menschen ist kommunikatives Handeln, das Verständigung herstellt. Insofern stimmt Ludwig Wittgensteins berühmter Ausspruch, dass die Grenzen unserer Sprache die Grenzen unserer Welt seien, mit Niklas Luhmanns Definition von Gesellschaft als dem umfassenden „Sozialsystem aller kommunikativ füreinander erreichbaren Handlungen“ überein. Kommunikation vollzieht sich zwischen den Gedanken der Beteiligten und stellt durch die symbolische Sinnwelt der Kultur eine Kontinuität zwischen dem Gestern und Heute sowie eine verbindende Kraft zwischen den Menschen her. Der Begriff des sozialen Handelns stellt aus gutem Grund den gemeinsamen Nenner aller Definitionen des soziologischen Forschungsgegenstands dar — nicht zuletzt, weil sich die soziologische Disziplin auf den Menschen als handelndes Wesen bezieht. Das soziale Handeln führt weiter zu den sozialen Beziehungen, die sich zu sozialen Institutionen verfestigen, wenn deren Erwartungen auf Dauer gestellt und in bestimmten Lebensbereichen (z. B. Familie, Schule, Betrieb, Universität, Kirche) zu Verhaltensmustern gebündelt werden. Der Mensch ist ein Kommunikator, im Hauptberuf ein Manager von Eindrücken, wie der amerikanische Soziologe Erving Goffman überzeugend dargelegt hat. Diese Eindrücke gründen in den Bedeutungen, die wir den Gesten, Erscheinungen und Worten geben. Mensch sein heißt daher auch, Sprache zu gebrauchen und von ihr

Werbung ist Kommunikation von erwünschter Wirklichkeit

Mission Impossible? Die Mission der geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung in diesem Kontext scheint mehr denn je eine doppelte zu sein: Einerseits sollte sie sich nicht als Transporteur für das Märchen von der einen Wissenschaft in der einen Welt, die uns die Naturwissenschaftler versprochen haben, missbrauchen lassen. Die Welt, zumal die soziale Welt, zerfällt in viele kleine Welten, in denen man sich auskennen muss, um mit Prognosen und Eingriffen erfolgreich zu sein. Die harten Daten der Natur- und Ingenieurwissenschaftler verlangen als Ergänzung geradezu nach den weichen Einsichten der Geistes- und Sozialwissenschaftler.

Andererseits dürfen sich weder die Geistes- noch die Sozialwissenschaften in die Rolle von „Theaterkritikern“ oder „Resteverwertern“ (ab)drängen lassen. Als Theaterkritikerin würde die Soziologie nur auf die soziale und kulturelle Bedingtheit alles Wirtschaftens und politischen Handelns verweisen, während sie als Resteverwerterin bestenfalls die von den Ökonomen und Technikern ungeliebten Themen der zwischenmenschlichen Beziehungen, informellen Gruppen, Werthaltungen und sozialen Schichten bearbeitet. Die von Ökonomen, Technikern und Politikern zu behandelnden Sachverhalte sind aber nicht unabhängig von den sozialen Voraussetzungen und kulturellen Folgen, wie die auf Hochtouren laufende Globalisierungsdebatte eindrucksvoll demonstriert. Schließlich leitet sich die Identität eines Landes nicht von seiner Technik und Wirtschaft, sondern von seiner Kultur, seinen Lebensweisen ab. Wie diese theoretische Einsicht sich in der soziologischen Praxis Duisburger Forscher niederschlägt, erläutern die folgenden Beispiele. Keine Spur von Schimanski: Polizeialltag in Duisburg Seit September 2001 arbeitet ein Forscherteam unter Leitung von Hermann Strasser und Thomas Schweer an einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierten Forschungsprojekt über den beruflichen Alltag der Polizei. Ziel ist es, die Arbeit der operativen Polizeikräfte besser zu verstehen, Gründe für aktuelle Prob-

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neue Herausforderungen — Stresssituationen führen zu enormen physischen und psychischen Belastungen. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Polizisten dazu neigen, Problemsituationen, die für sie belastend sind, möglichst nicht mit anderen zu diskutieren, denn im Umgang der Gesetzeshüter untereinander wird häufig noch ein überkommenes Männlichkeitsideal gepflegt. Insbesondere der polizeiliche Umgang mit Angehörigen ethnischer Minderheiten weist einige Besonderheiten auf. So stellt der einzelne Polizist zunächst ein staatliches Organ dar, das auf die Demonstration der Stärke ausgerichtet ist. Fremde gehören dagegen überwiegend zu jenen Gruppen, denen im Alltag der deutschen Gesellschaft häufig ihre Schwäche vorgeführt wird. Zudem wird die Polizei als eine Organisation der deutschen Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen, die Ausländer hingegen als eine Minderheit. In manchen Stadtteilen dreht sich aus der Perspektive des Polizisten allerdings das Mehrheits-Minderheitsverhältnis regelrecht um. Zudem werden Vernehmungen oft durch Sprachbarrieren erschwert, wodurch beim Polizeibeamten das Gefühl entsteht, er sei nicht mehr Herr der Situation bzw. der Tatverdächtige nutze diese zu seinen Gunsten aus. Durch das Kommunikationshemmnis der unterschiedlichen Sprachen können unter Umständen gerichtsverwertbare Beweise nicht erbracht werden, und manche Täter gehen sogar straffrei aus — was bei den Ermittlern Frustrationen auslöst,

die in aggressiven Handlungen münden können. Aber auch die „normale“, alltägliche Auseinandersetzung mit sozialen Randgruppen enthält Konfliktstoff. Abgesehen von der latent vorhandenen Gewaltbereitschaft in bestimmten Milieus treffen operative Kräfte häufig auf Zustände der Verwahrlosung und Verelendung, die bei ihnen wiederum Befremden hervorrufen. Auch die gesundheitliche Gefährdung der Polizisten ist nicht zu unterschätzen. So ist die Befürchtung, sich mit AIDS oder Hepatitis zu infizieren, nicht unbegründet, wie das Beispiel von Drogenstraftätern zeigt, die der Aufforderung, ihre Taschen vollständig auszuleeren, nicht nachkommen — und wo die Beamten bei der Durchsuchung der Tatverdächtigen noch ein benutztes Spritzbesteck finden. Schließlich sollte nicht verschwiegen werden, dass einige ausländische Tatverdächtige die Unterstellung, Polizisten seien fremdenfeindlich, instrumentalisieren und die positive Stigmatisierung dazu nutzen, einer Strafverfolgung zu entgehen.

Von ethnischen Minderheiten wird die Polizei als Organisation der (stärkeren) Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen.

Die Polizei als Reparaturwerkstätte von Sozialschäden in Ballungsräumen? Fotos: Andreas Probst / WAZ

leme in den Beziehungen der Polizei zu ethnischen Minderheiten und sozialen Randgruppen aufzuspüren sowie Vorschläge für Konfliktlösungen und Fortbildungsprogramme für Polizisten zu erarbeiten. Zu diesem Zweck wird die Arbeits- und Lebenswelt von Polizisten und Minderheiten in Duisburg unter die sozialwissenschaftliche Lupe genommen. Der mit tief greifenden Veränderungen auch in der Alltagswelt vieler Bewohner einhergehende Strukturwandel im Ruhrgebiet äußert sich auf der Ebene der zwischenmenschlichen Kommunikation vermehrt in Unsicherheiten sowie in sozialen Konflikten. Hohe Arbeitslosigkeit und Zuwanderung, ansteigende Kriminalität in großen Städten und massive Integrationsprobleme von Ausländern und Aussiedlern sowie die Lockerung traditioneller Bindungen zu Familie, Schule, Kirche, politischen Parteien und sozialer Schicht führen u. a. zu mehr Gesetzesübertretungen. Das gilt vor allem für die Problemstadtteile großer Ballungsräume. Ist ein Teil der Bevölkerung nicht in der Lage, seine „Lebensziele“ zu verwirklichen, kommt es häufig zu abweichendem Verhalten, und nicht selten bilden sich „Parallelwelten“ in sozial benachteiligten Stadtteilen heraus. Wo sich der Staat zurückzieht, läuft die Polizei Gefahr, zur Reparaturwerkstatt für gesellschaftlich produzierte Sozialschäden wie z. B. die Armutskriminalität zu werden. Mit diesen Entwicklungen sieht sich die Polizei täglich konfrontiert, ist oft jedoch weder von der Organisationsstruktur noch von der Ausbildung her hinreichend darauf vorbereitet. Gerade der Umgang mit ethnischen Minderheiten und sozialen Randgruppen stellt die Beamten immer wieder vor

Foto: Andreas Probst / WAZ

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Nicht immer ist die Polizei in Organisation und Ausbildung den Stresssituationen vor Ort gewachsen.

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Fakultät für Gesellschaftswissenschaften Den skizzierten Situationen und den daraus resultierenden Hypothesen gehen die Duisburger Soziologen mit Hilfe eines breiten Methodenspektrums systematisch auf den Grund. So wurden bereits im Vorfeld der Studie enge Kontakte zur Polizeiführung, zum Innenministerium des Landes NRW sowie zu den Konfliktberatern der Polizei hergestellt. Im vergangenen Jahr begann die empirische Phase des Projekts mit der regelmäßigen Begleitung — im Fachjargon: mit der teilnehmenden Beobachtung — der Einsatztrupps zur Bekämpfung der Straßenkriminalität, aber auch mit detaillierten Untersuchungen der Arbeit des Wach- und Wechseldienstes, der Einsatzhundertschaft und der Kriminalwache. Foto: Andreas Probst / WAZ

entwickelt, um das Miteinander von Polizei und Minderheiten künftig zu erleichtern und Konfliktpotenziale abzubauen. Überdies werden Konzepte erarbeitet, die es den Angehörigen der operativen Kräfte ermöglichen, eine effektive Eigensicherung im polizeilichen Alltag zu praktizieren. Die Untersuchung ist auf die Situation der Duisburger Polizei zugeschnitten, um der Forderung nach lokalen und regionalen Aus- und Fortbildungsprogrammen für die Polizei gerecht zu werden. Dies schließt eine bundesweite Übertragbarkeit der wichtigsten Ergebnisse keineswegs aus.

Die „teilnehmende Beobachtung“ der Forscher beginnt bei der Kontaktaufnahme mit den operativen und Führungskräften der Polizei.

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Um einen umfassenden Eindruck der Verhältnisse zu gewinnen, wird der Polizeialltag in mündlichen Interviews und in einer schriftlichen Befragung von annähernd 1000 Polizeibeamten beleuchtet. Da natürlich auch die Angehörigen der ethnischen Minderheiten und der sozialen Randgruppen gehört werden sollen, sind eine standardisierte Telefonbefragung von Duisburger Bürgern, aber auch Straßenbefragungen von Obdachlosen, Prostituierten und Angehörigen der offenen Drogenszene geplant. Schließlich soll eine Medieninhaltsanalyse das Bild der Polizei in der Öffentlichkeit rekonstruieren. Auf der Grundlage der wissenschaftlichen Befunde werden nach dem Konzept der gemeindeorientierten Polizeiarbeit (Community Policing) Fortbildungsprogramme und Projekte

Den Deutungsmustern auf der Spur Dem vertieften kommunikationstheoretischen Verständnis sozialer Beziehungen widmen sich zwei weitere Forschungsvorhaben der Duisburger Soziologen Strasser und Nollmann. So geht es etwa in den Arbeiten zu den Deutungsmustern sozialer Ungleichheit um die zentrale Frage, wie die Menschen soziale Über- und Unterordnung in der modernen Gesellschaft erleben. Denn erstaunlich ist es schon festzustellen, dass — so ungleich gesellschaftliche Stellung, Einkommen und Vermögen unter den „oberen“ und „unteren“ Mitgliedern unserer Gesellschaft auch verteilt sein mögen — das gesellschaftliche Miteinander sich angesichts dieser scheinbaren Ungerechtigkeit erstaunlich konfliktarm darstellt. Doch auch dieses scheinbare Paradox lässt sich mit Hilfe des bereits erwähnten systemtheoretischen Kommunikationsbegriffs von Niklas Luhmann klären. Im Gegensatz zum „Mainstream“ der soziologischen Lehrmeinung sieht dieser nämlich nicht das Bewusstsein von Menschen als den entscheidenden Urheber von Handlungen, sondern vielmehr die im jeweiligen Zusammenhang geregelten, sozialen Zurechnungserwartungen, die den Individuen entgegentreten. So lassen sich die klassenspezifischen Deutungsstrukturen rekonstruieren, die die erstaunliche Konstanz der „Zuweisung“ der Klassenmitglieder zu ihren jeweiligen gesellschaftlichen Positionen über Generationen hinweg erklärbar machen. Das langfristige Forschungsziel ist dabei eine Längsschnitt-Erfassung und Messung

von klassenspezifischen Regelvorstellungen über die Ursachen von Berufswahl, Bildungsentscheidungen und Karrieren. Eine erste Anwendung dieses kommunikationstheoretischen Modells ist in einer Kooperation mit einem renommierten deutschen Großkonzern in der Gruppe der Führungskräfte geplant. Ähnliche Phänomene untersucht Nollmann am Beispiel des Wandels des Geschlechterverhältnisses. Die seit einigen Jahrzehnten zu beobachtende verstärkte Teilhabe von Frauen an Bildung und Berufswelt hat gleichzeitig zur Folge, dass Frauen nur noch wenig als „natürlich“ und vieles als auf bewussten Entscheidungen beruhend erleben. Alles, was ehedem als „natürlich“ und damit als normativ richtig galt, löst sich auf und hinterlässt eine sich immer weiter aufdrängende Geschlechterthematik, in deren Zentrum die Frage nach Gleichheit und Ungleichheit steht. Dabei sind die individuelle Wahrnehmung von weiblichen Entscheidungsspielräumen einerseits und die tatsächlichen Wahlmöglichkeiten der Einzelnen andererseits deutlich unterschiedlich ausgeprägt. Obwohl sich das Erleben und Handeln der modernen Männer und Frauen immer mehr als auf zurechenbaren Entscheidungen beruhend deuten lässt, sind übergreifende, von Entwicklungen der Berufe, Arbeitsmärkten, Branchen, Konjunkturen und nicht zuletzt der Globalisierung ausgehende Zwänge unverändert wirksam. Die in jüngerer Zeit immer wieder hervorgehobene Individualisierung der Geschlechterrollen beschreibt deshalb nicht nur eine klassische Anforderung an die Selbstdarstellung des modernen Individuums. Sie verweist auch auf ein immer wichtiger werdendes Deutungsmuster sozialer Ungleichheit, sagt gleichzeitig jedoch nichts über ein echtes Mehr oder Weniger an Gestaltungsmöglichkeiten und Wahlfreiheiten — ganz zu schweigen von einer Auflösung sozialstrukturell bedingter Ungleichheiten. Sie weist nur darauf hin, dass die entscheidungsorientierte Zurechenbarkeit von Erleben und Handeln die sich als individualisiert deutenden Individuen zu immer mehr Selbstrechenschaft über ihre sozialen Beziehungen nötigt.

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WER SEINE PHANTASIE BESCHRÄNKT, TRITT IM WETTBEWERB MEIST AUF DER STELLE. Phantasie beflügelt unsere Vorstellungskraft. Seit jeher ist sie die unerschöpfliche Quelle für den Erfindungsreichtum des Menschen. Was wir uns vorstellen können, lässt sich auch in die Tat umsetzen. Wer seine Phantasie beschränkt, bleibt auch darauf beschränkt, nur nachzuahmen, was andere ihm vormachen. Seit 245 Jahren nutzt Haniel die Phantasie als treibende Kraft für innovative Lösungen auf den Geschäftsfeldern Handel, Dienstleistung und Produktion. Das Vertrauen in Mitarbeiter mit Mut zu unkonventionellem Denken und eine anspruchsvolle Klientel, die dieser Unternehmensführung aufgeschlossen gegenübersteht, haben die beispielhafte Entwicklung des Familien-

unternehmens zum Konzern mit weltweit 41.000 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von 19 Milliarden Euro entscheidend mitgeprägt. Wer schneller als andere mit neuen Konzepten auf die stetig steigenden Kundenanforderungen reagiert, der hat auch bessere Chancen, den Wettbewerb zu überflügeln. Das kann sich jeder vorstellen. Dazu gehört nicht einmal besonders viel Phantasie.

F ranz Haniel & Cie. GmbH , 47118 Duisburg www.haniel .de

Ganz schön konstruiert Schließlich ist auch die soziale Konstruktion der Wirklichkeit ein zentrales Thema der Duisburger Soziologie. In einer zunehmend von Medien bestimmten Gesellschaft stellt sich die Frage, inwieweit die Medien Gesellschaft konstituieren. Dabei entpuppt sich die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit — so eine der Hauptthesen von Marcus S. Kleiner — als eine kommunikative Konstruktion. Einerseits sind wir es selbst, die im kommunikativen Miteinander die Wirklichkeit gestalten. Andererseits tragen auch die Massenmedien dazu bei, die Wirklichkeit zu konstruieren. Doch entscheidend ist, so Kleiner, dass die Massenmedien eben nur dazu beitragen, die Wirklichkeit zu konstruieren — sie konstruieren sie aber nicht allein. Gerade die Bezugnahme

Kontakt Prof. Dr. Hermann Strasser Institut für Soziologie ☎ 02 03 / 3 79-27 32 Fax 02 03 / 3 79-14 24 [email protected] http://soziologie.uni-duisburg.de /PERSONEN/strasser.html Dr. Gerd Nollmann Institut für Soziologie Projekt „Deutungsmuster“ ☎ 02 03 / 3 79-40 52 [email protected] http://soziologie.uni-duisburg.de /PERSONEN/nollmann.html Dr. Thomas Schweer Rhein-Ruhr-Institut für Sozialforschung und Politikberatung (RISP) Forschungsgruppe „Abweichendes Verhalten und soziale Kontrolle“ Projekt „Polizeialltag“ ☎ 02 03 / 2 80 99 12 [email protected] http://soziologie.uni-duisburg.de /PERSONEN/schweer.html Marcus S. Kleiner M.A. Institut für Soziologie Projekt „Medienwelt“ ☎ 02 03 / 3 79-27 31 Fax 02 03 / 3 79-14 24 [email protected] http://soziologie.uni-duisburg.de /PERSONEN/kleiner.html http://www.quadratur-online.de

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auf die These der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit kann so eindrucksvoll belegen, dass die Medien nie automatisch wirken. Vielmehr ist immer die Mit-Wirkung der MedienNutzer notwendig. Die Medien wirken nur durch die Individuen hindurch, weil es nur Dank der MitWirkung der Medien-Nutzer Wirkung gibt. Damit wird sichtbar, wie zufällig die Wirkung der Medien ist, wie viel von den Individuen selbst abhängt, von deren Umgang mit den Medieninhalten, von der Situation der Medienrezeption und dem sozialen Umfeld, in dem die Rezeption stattfindet. Von einem Mediendeterminismus kann daher nicht die Rede sein. Die Medien haben demnach weder einen Exklusivitätsanspruch auf Realitätskonstruktion, noch steht die Wirkung eines Medieninhaltes von vornherein fest. Deshalb muss man korrekt von einer doppelten Konstruktion sprechen: In dem komplexen Spiel der Wirklichkeitskonstruktion sind die Medien und wir als ihre Nutzer wechselseitig aufeinander angewiesen. Mit seiner Untersuchung der medialen Konstruktion sozialer Wirklichkeit verfolgt Kleiner daher ein doppeltes Ziel: erstens Grundlagen für eine sozialwissenschaftliche Theorie der Mediengesellschaft zu erarbeiten und zweitens eine mediale Sozialtheorie zu entwerfen. Spaßgesellschaft am Ende? Jenseits der skizzierten Einzelprojekte steht für die Soziologie sogar die Frage auf der Agenda, ob die Lebenslüge der Spaßgesellschaft, Inhalte durch Kommunikation zu ersetzen,

Photodisc

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sich spätestens seit dem 11. September 2001 selbst entlarvt hat. „Die Kommunikation ist gut, aber die Verständigung ist so schwer,“ wie ein Aphorismus von Ken Kaska die Lage treffend umschreibt. Das tut auch das folgende Gedicht von Wolfgang Bittner aus dem Gedichtband „Vom langen Warten auf den neuen Tag“:

Komjunikeschn Hello, hier Handyman! Wer da? Aha. Wie ist die Lage? Keine Frage. Grau in grau. Whau! Vermiss’ dich, beeil’ mich. Hier Regen, die Kollegen ... Massig Verkehr, ja, dann bis nachher. Okay/Hei! Bye! Der „Handyman“, der ganz neue Muster der Kommunikation erzeugt, wäre ein weiteres Thema, an dem aufgezeigt werden könnte, wie schön — und fruchtbar — Soziologie sein kann.

Weiterführende Literatur • Thomas Schweer, "Der Kunde ist König”: Organisierte Kriminalität in Deutschland. Frankfurt/M. u.a. Peter Lang Verlag, 2002. • Gerd Nollmann und Hermann Strasser, "Individualisierung als Deutungsmuster sozialer Ungleichheit: Zum Problem des Sinnverstehens in der Ungleichheitsforschung.” Österreichische Zeitschrift für Soziologie 27 (2002), 3, in Druck. • Gerd Nollmann, "Die Hartnäckigkeit der Geschlechterungleichheit: Geschlecht als Deutungsmuster dreifacher Vergesellschaftung.” Soziale Welt 53 (2002), 2, S. 131-158. • Hermann Strasser, "Das Schmiermittel der Gesellschaft.” In: Süddeutsche Zeitung vom 2. April 2002 (NRW Ausgabe). • Marcus S. Kleiner und Marvin Chlada, "Die neuen Heiligen der Mediengesellschaft.” In: Neue Zürcher Zeitung vom 24. August 2002. • Marcus S. Kleiner und Hermann Strasser, "Postskriptum zur Spassgesellschaft – Worüber man lacht, wenn es nichts mehr zum Lachen gibt.” In: Neue Zürcher Zeitung vom 3. November 2001.

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Künstliche Welten:

Neue Medien in Forschung und Ausbildung In virtuellen Welten und komplexen Cyber-Szenarien werden heute nicht nur Piloten oder Mediziner auf ihren Berufsalltag vorbereitet — künstliche Welten eröffnen auch der akademischen Forschung und Lehre neue Möglichkeiten. Die Aktivitäten der Arbeitsgruppe um Edgar Heineken am Institut für Kognition und Kommunikation der Universität Duisburg verdeutlichen die vielfältigen Einsatzfelder virtueller Umgebungen. In virtuellen Räumen wird erforscht, wie sich Menschen in ihrer Umwelt orientieren. In virtuellen Unternehmen untersucht man, wie Führungskräfte mit „schwierigen“ Mitarbeitern umgehen. Studierende erhalten in einem virtuellen Labor ihre Methodenausbildung. In der virtuellen Welt des Internet bereiten sie wissenschaftliche Fragen und Zusammenhänge im Online-Magazin „PsychoMag“ journalistisch verständlich und alltagsnah auf. Künstliche Cyber-Welten lassen sich mittlerweile relativ einfach erzeugen. Durch den Einsatz der Virtual Reality Technologie können in Kombination mit so genannten „HeadMounted Displays“ faszinierend reale Eindrücke der künstlich erzeugten räumlichen Umgebung und der vermeintlichen eigenen Bewegung in dieser virtuellen Welt vermittelt werden. Aber wie orientieren sich Menschen in den computergenerierten Landschaften und Szenarios? Ob Kirchtürme, Hochhäuser, charakteristische Straßenkreuzungen, Brücken oder auch markante Landschaftsformen — in unserer realen Umgebung spielen

„Landmarken“ eine wichtige Rolle für die räumliche Orientierung. Gilt dies auch für die künstlichen Welten?

Lost in Cyberspace? Dieser Frage wird derzeit in einem Forschungsprojekt nachgegangen. Wie sich künstliche Landmarken auf die Orientierung auswirken, wird im „virtuellen Labyrinth“ untersucht. Das Labyrinth besteht aus sechs Hauptfluren mit jeweils zwei Nebengängen. Dieser Grundriss bleibt stets gleich, während die Ausstattung der Flure variiert: Bei der ersten Versuchsanordnung gibt es im Labyrinth keinerlei Landmarken, während bei der zweiten Variante dort 18 unterschiedliche Gegenstände als Landmarken zu finden sind. Die Versuchsteilnehmer müssen nun das Labyrinth so oft durchlaufen, bis sie zweimal hintereinander das Ziel erreicht haben, ohne eine falsche Abzweigung gewählt Bild 2: Aufsicht des Labyrinths zu haben. Erfasst wird, wie

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viele Durchgänge sie dazu benötigten und wie oft sie sich in den einzelnen Durchgängen verirren. Die Ergebnisse der Versuchsreihen sind eindeutig: Wie in der Wirklichkeit beeinflussen Landmarken auch in virtuellen Umwelten, wie wir uns orientieren — die Teilnehmer lernen den Weg durch das Cyber-Labyrinth sehr viel schneller, wenn ihnen Landmarken als Orientierungshilfe zur Verfügung stehen. Diese Erkenntnis, dass die Orientierung in virtuellen und natürlichen Räumen einander ent-

Bild 1: Über das Head-Mounted Display wird einer Versuchsteilnehmerin die computergenerierte virtuelle Welt präsentiert

Bild 3: Anfangsbild des virtuellen Labyrinths mit Landmarken

spricht, ist von Bedeutung für die psychologische Forschung; es lassen sich Experimente zur räumlichen Orientierung unter optimalen Kontrollbedingungen durchführen, die in natürlichen Umgebungen nicht ohne extrem hohen organisatorischen Aufwand zu realisieren wären.

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Bild 4: Benutzeroberfläche des Computerszenarios „Motivator One“. Im unteren Feld des „Spielfeldes“ können Informationen über betriebswirtschaftliche Entwicklungen abgerufen werden. Auf der oberen Hälfte des Spielfeldes kann Information über die drei Abteilungsleiter eingeholt werden (Anklicken des jeweiligen Bildes). Bei Anklicken des Namens erscheint ein Gesprächsmenü. In diesem Gesprächsmenü können diejenigen Aussagen ausgewählt und angeklickt werden, die die Führungskraft im Gespräch mit dem jeweiligen Mitarbeiter verwenden will. Es ist möglich, auch mit allen drei Mitarbeitern gleichzeitig das Gespräch zu führen.

Besser führen lernen mit Motivator One Auch führungspsychologische Zusammenhänge lassen sich in virtuellen Umgebungen erforschen. Die Aufgaben einer Führungskraft sind äußerst komplex — muss sie doch zahlreiche, undurchsichtig miteinander verwobene Prozesse berücksichtigen und gleichzeitig zwischen widersprüchlichen individuellen, sozialen, betrieblich-unternehmerischen und ökologischen Zielen vermitteln. Da sich die Rahmenbedingungen zudem noch dauernd verändern und die wirklichen Zusammenhänge für die Person selbst oft unklar bleiben, kann sie über jeweilige Ursachen und Wirkungen zumeist nur spekulieren. Diese Komplexität ist an sich belastend und wird per se als „stressig“ empfunden. Zusätzlicher Druck kann die Führungskraft schnell überfordern. Neben permanentem Erfolgszwang kann beispielsweise fehlende Unterstützung durch Vorgesetzte und Mitarbeiter als weiterer Stressor wirken. Wie aber bestimmen solche Stressoren Führungsverhalten und Führungseffizienz? Und wie können Führungskräfte trainiert werden, mit diesen Anforderungen angemessen umzugehen? Das Computerszenario Motivator One hilft, solche Fragen zu beantwor-

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ten. In diesem virtuellen Unternehmen kann das Führungsverhalten von Versuchsteilnehmern oder Trainees lückenlos protokolliert werden, ohne dass betriebliche Abläufe gestört werden. Dies wäre in der Alltagswirklichkeit unmöglich. Da Führungsfehler im virtuellen Unternehmen zudem keine „realen“ Konsequenzen haben, Führungsverhalten und -effizienz den Handelnden dennoch detailliert rückgemeldet werden, eignet sich Motivator One hervorragend für Forschung und Praxis und wird bereits seit einigen Jahren im Führungskräftetraining mit großem Erfolg eingesetzt.

Virtueller Boss, künstlicher Kollege In dem computergenerierten Unternehmen übernehmen die Teilnehmer die Geschäftsleitung, wobei sie betriebliche Kennzahlen und Prozesse aller Art — vom Lagerbestand über Produktion oder Rohstoffpreise bis hin zu Absatzzahlen und zur Mitarbeiterzufriedenheit — jederzeit abrufen, aber nicht direkt verändern können. Denn entscheidend für die erfolgreiche oder weniger erfolgreiche Unternehmensführung ist allein ihr kommunikativer Umgang mit drei ausgewählten virtuellen Mitarbeitern. Die Teilnehmer beeinflussen das Betriebsergebnis, indem sie in Gesprächen mit diesen virtuellen Abteilungsleitern der Bereiche Einkauf, Produktion und Verkauf geeignete motivierende Aussagen aus-

wählen. Die virtuellen Mitarbeiter reagieren darauf individuell und situationsspezifisch — abhängig von ihrer vorher definierten „Persönlichkeit“ und der aktuellen betrieblichen Entwicklung. In Forschung und Training können mit Motivator One sehr differenzierte Problemsituationen geschaffen werden, da sich situative Bedingungen und Persönlichkeiten der virtuellen Abteilungsleiter fast beliebig variieren lassen. Das dynamische Zusammenspiel der vielen Szenario-Variablen garantiert, dass die Kommunikation zwischen Führungskraft und virtuellen Mitarbeitern nicht nach simplen Aktions-Reaktions-Mustern abläuft und die Unternehmensentwicklung vom Führungsverhalten der Teilnehmer wirklichkeitsnah beeinflusst wird. Mit dieser virtuellen Führungsrealität wurde in Duisburg auch untersucht, wie „Druck von oben“ und „Druck von unten“ das Führungsverhalten bestimmen. „Druck von oben“ wurde durch regelmäßige kritische Rückmeldungen des Vorgesetzten erzeugt — unabhängig von der tatsächlichen Leistung der Teilnehmer. „Druck von unten“ ging dagegen von einem negativ auftretenden virtuellen Abteilungsleiter aus, wobei die Führungskraft durch den positiv auftretenden Leiter einer anderen Abteilung unterstützt wurde. Die virtuellen Abteilungsleiter „programmierte“ man so, wie Führungskräfte aus der Industrie zuvor in einer Befragung angenehme bzw. unangenehme Mitarbeiter beschrieben hatten: Das Verhalten des „positiv auftretenden“ Mitarbeiters ist

Bild 5: Beurteilung eines „negativen“ und eines „positiven“ Mitarbeiters durch Führungskräfte der Stahlindustrie auf den Dimensionen „Zuwendung — Abgrenzung“, „Aufgaben- und Normorientierung — Nonkonformismus“ und „Einflussnahme — Zurückhaltung“

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Fakultät für Gesellschaftswissenschaften freundlich und aufgabenorientiert, das des „negativ auftretenden“ Mitarbeiters dagegen unfreundlich und emotional. Wie die Ergebnisse zeigen, beeinträchtigt „Druck von oben“ die Führungseffizienz in allen Leistungsaspekten (vgl. Bild 6). „Druck von unten“ bindet die Aufmerksamkeit der Führungskraft in hohem Maße: Es werden deutlich mehr Informationen über die Abteilung des negativen Mitarbeiters angefordert als über die des positiven Mitarbeiters. Gleichzeitig wird auf den negativen Mitarbeiter stärker eingegangen, mit ihm werden mehr Gespräche geführt als mit dem positiven Mitarbeiter (vgl. Bild 7). Dabei sind die Führungskräfte aber nicht unbedingt erfolgreich, sondern bewirken durch ihr Verhalten oft das Gegenteil von dem, was sie beabsichtigen. Die bisherigen Experimente mit Motivator One konnten dazu beitragen, die weitgehend ausgeblendeten „dunklen“ Seiten des Verhaltens von Führungskräften transparenter zu machen. Wichtigstes Ergebnis: Unter Druck ist das Führungsverhalten in aller Regel wenig effizient. Die virtuellen Führungssituationen können aber nicht nur zur Analyse, sondern auch zum Training durchgespielt werden. Motivator One ermöglicht es, schwierige Führungssituationen „hautnah“ zu erleben, Unzulänglichkeiten des eigenen Verhaltens zu durchschauen und neue Bewältigungsformen zu erproben. Das virtuelle Lab.OR Nicht nur in Forschung und Schulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen, sondern auch in der Ausbildung von Studierenden gewinnen virtuelle Umgebungen an Bedeutung. Forschungspraktisches Wissen nimmt im Rahmen des Psychologiestudiums eine zentrale Stellung ein. Studierende lernen in experimentalpsychologischen Praktika, Experimente zu planen und durchzuführen. Bislang sind derartige Praktika sehr aufwändig, die Kosten für Räume und Ausstattung sind hoch. Als innovative und kostengünstige Alternative wurde das virtuelle Experimentallabor „Lab.OR“ (Laboratorium für Online Research) entwickelt. Dieses web-basierte Labor ist als Lern-

umgebung so gestaltet, dass Studierende sämtliche Schritte des experimentellen Forschungsprozesses vollziehen können wie bei einem Training im klassischen Laboratorium. Sie gestalten im Lab.OR die experimentellen Anordnungen, formulieren die Instruktionen für die Versuchsteilnehmer und führen die Versuche im Internet durch. Die Betreuer verfolgen dies online und können unterstützend oder korrigierend eingreifen. Versuchsberichte werden online präsentiert und sind so auch den Versuchsteilnehmern zugänglich. Das Lab.OR orientiert sich in der Oberflächengestaltung konsequent an den Räumlichkeiten eines klassischen experimentalpsychologischen Laboratoriums, wie es seit der Gründung des ersten experimentalpsychologischen Labors durch Wilhelm Wundt vor mehr als 100 Jahren eingeführt ist. Es schafft damit eine unmittelbar bedienbare Umgebung für alle in einem experimentalpsychologischen Laboratorium handelnden Personen. So bietet das Lab.OR eine bislang beispiellose zeit- und ortsunabhängige Plattform für die Entwicklung, Durchführung und Auswertung von Experimenten und Befragungen. Dabei fördert es trotz — oder vielleicht sogar wegen — ihrer räumlichen und zeitlichen Trennung die Zusammenarbeit verschiedener Nutzergruppen beim forschenden Lernen. Das virtuelle Labor ermöglicht neue Formen der Kooperation der Lernorte Schule und Hochschule, die für den Psychologieunterricht der gymnasialen Oberstufe und die Ausbildung angehender Psychologielehrer gleichermaßen fruchtbar sind. Das virtuelle Laboratorium löst viele Kapazitätsprobleme in der universitären Methodenausbildung — räumliche, zeitliche und personelle Beschränkungen werden weit gehend aufgehoben. Da die Online-Forschung und das Online-Experimentieren zudem wissenschaftlich besonders vielversprechend erscheinen, wird die Arbeit im virtuellen Laboratorium die methodologische Ausbildung in Zukunft wesentlich mitbestimmen. Lernen in Projekten: Psychologie online In universitären Studiengängen dominiert traditionell die Vermittlung

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Bild 6: „Druck von oben“ — kritische Leistungsrückmeldungen durch den Vorgesetzten — beeinträchtigt die Führungsleistung im virtuellen Unternehmen

Bild 7: Der „negative“ Mitarbeiter bindet die Aufmerksamkeit der Führungskraft stärker als der „positive“ Mitarbeiter

Veröffentlichungen zum Thema: • Heineken, E., Ollesch, H. & Stenzel, M. (in Druck). Führungsverhalten unter Streß — ein organisationspsychologisches Experiment in virtueller Umgebung. Zeitschrift für Arbeitsund Organisationspsychologie. • Heineken, E. & Ollesch, H. (in Druck). „The capture of the invisible“ — Der erste Schritt auf dem Weg zur Wissenschaftpropädeutik im Psychologieunterricht. In Krampen, G. & Zayer, H. (Hrsg.). Psychologiedidaktik und Evaluation IV. Bonn: Deutscher Psychologen Verlag • Heineken, E., Schulte, F.P. & Ollesch, H. (in Druck). Experimentalpsychologische Ausbildung im virtuellen Labor: Das Laboratorium für Online-Research (Lab.OR). In Krampen, G. & Zayer, H. (Hrsg.). Psychologiedidaktik und Evaluation IV. Bonn: Deutscher Psychologen Verlag • Ollesch, H. & Heineken, E. (in Druck). Zur Valididät von Computerszenarios als Trainingstools. In Krampen, G. & Zayer, H. (Hrsg.). Psychologiedidaktik und Evaluation IV. Bonn: Deutscher Psychologen Verlag • Heineken, E. & Schulte, F.P. (2000). Acquiring Distance Knowledge in Virtual Environments. In: What is essential for Virtual Reality Systems to meet Military Human Performance Goals? Proccedings to the NATO RTO HFM Workshop, Den Hague, NL, März 2000.

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Bild 8: Das psychologische Experimentallabor vor 100 Jahren und heute

von Theorien- und Methodenwissen, während die praktische Anwendung auf konkrete Probleme eher vernachlässigt wird. In einem Modellstudiengang wird dieses Verhältnis nun vom Kopf auf die Füße gestellt. Im Studiengang „Angewandte Kommunikations- und Medienwissenschaft“, einem interdisziplinären

Informatik, Angewandte Literaturwissenschaft und Gestaltung, Sozialwissenschaft und Psychologie stehen den Projektgruppen als Berater zur Verfügung. Für die zeitgerechte Realisierung ist die Projektgruppe jedoch selbst verantwortlich. Die Gestaltung eines psychologischen Online-Wissenschaftsmagazins

da es thematisch vielfältige Anknüpfungspunkte zum Unterricht ermöglicht. In den interdisziplinären Praxisprojekten entwickeln die Studierenden im Team ein gemeinsames Ziel. Erst durch diese Zielvereinbarung erfüllt das Projekt eine zentrale Voraussetzung für das Lernen — die akademi-

Bachelor/Master-Studium, nehmen die Studierenden bereits in den ersten vier Semestern an drei verschiedenen interdisziplinären Praxisprojekten teil. Die Projekte umfassen jeweils zehn Stunden pro Woche, fast ein Drittel des gesamten Stundenvolumens. Projektgruppen von etwa 10-15 Studierenden erhalten konkrete Aufträge, wie die Erstellung multimedialer, interaktiver Informationssysteme. Wissenschaftler der beteiligten Disziplinen

„PsychoMag“ für Schüler ist ein typisches Beispiel eines solchen interdisziplinären Praxisprojektes. Wie Detektive „verfolgen“ die Studierenden dabei die jeweiligen Auswirkungen und Hintergründe eines psychologischen Phänomens in den verschiedensten Alltagsbereichen. Jede neue Ausgabe des Magazins entdeckt die psychologische Wirklichkeit in einem anderen Themenfeld. In leicht lesbaren Beiträgen macht es neugierig auf Psychologie. Die Textseiten sind übersichtlich gestaltet und mit multimedialen Komponenten wie Bildern oder Filmen angereichert. Psychologielehrer stehen vor der schwierigen Aufgabe, den eigentlich „unsichtbaren“ Gegenstand der Psychologie im Unterricht sichtbar zu machen. Bei der Bewältigung dieser Herausforderung leistet das OnlineMagazin eine wichtige Hilfestellung,

sche Lernsituation wird dadurch lebensnäher. Wie bei realen Problemen werden auf dem Weg zum Ziel bestimmte „Hindernisse“ und Fragen deutlich, die neugierig machen — und so das Interesse an theoretischem und methodischem Hintergrundwissen fördern. Die einseitige TheoriePraxis-Trennung herkömmlicher Studiengänge wird aufgehoben.

Kontakt Prof. Dr. Edgar Heineken ☎ 02 03 / 3 79-25 19 [email protected] Dr. Heike Ollesch ☎ 02 03 / 3 79-22 53 [email protected] Frank P. Schulte ☎ 02 03 / 3 79-22 53 [email protected]

Bild 9: Startseite der Magazinausgabe „Geruchs- und Geschmacksdesign“. Der Leser wird von den Comicfiguren in animierten Szenen zu den verschiedenen Textbeiträgen geführt.

Bild 10: Eine Textseite aus der Magazinausgabe „Geruchs- und Gechmacksdesign“

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Institut für Kognition und Kommunikation Informationen im Internet: http://inkk.uni-duisburg.de/ http://heineken.uni-duisburg.de/ http://heineken.uni-duisburg.de/labor/ http://psychomag.uni-duisburg.de

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Photo: rasch.

Der Bundestagswahlkampf 2002 gehörte zu den langweiligsten in der Geschichte der Republik. Spannung entstand einzig durch die völlige Ungewissheit des Ausgangs. Es fehlten die ideenreiche inhaltliche Auseinandersetzung, die polarisierende Profilierung um Zukunftslösungen, der kantige Schlagabtausch von Persönlichkeiten. Zur Ideenarmut gesellte sich die personalisierte Präsidentialisierung auf Kosten der kleineren Parteien, die phasenweise völlig aus dem Blickwinkel der Medien herausfielen. Dagegen war der Wahlkampf aufregungsgeprägt wie selten zuvor — die Rhythmen der Aufregung haben sich verkürzt. Nachhaltige und messbare Wirkungen hinterließen diese Dramatisierungen selten. Dabei war die inhaltliche Qualität der Aufgeregtheit äußerst unterschiedlich — von der Hunziger-Affäre bis zu großen Firmenpleiten.

Der Wahlkampf schleppte sich über viele Monate träge dahin, so dass sich die Medien bemüht sahen, eine Inszenierung durch Fernsehduelle zu erzwingen. Erstmals in der Geschichte unserer Wahlkämpfe kam es zum unmittelbaren Rededuell im Fernsehen zwischen dem Amtsinhaber und dem Herausforderer. Bislang hatte der kleinere Koalitionspartner solche Duelle erfolgreich verhindert. Juniorpartner Genscher hätte in der Koalition mit der Union niemals einem Kohl-Duell mit einem SPD-Herausforderer zugestimmt. Hinzu kommen andere Überlegungen, die ein solches Spektakel kritisch einschätzen lassen: Da wir Parteien und keinen Präsidenten wählen, fehlte bisher diese mediale Zuspitzung. So fand die überwiegende Mehrzahl der Wähler auf dem Stimmzettel weder den Namen Stoiber noch Schröder. Die so genannten „Elefantenrunden“ im öffentlich-rechtlichen Fernsehen mit den Parteivorsitzenden aller Bundestagsparteien am Donnerstag vor der Bundestagswahl entsprachen in

zurückliegenden Zeiten dagegen viel eher der Logik unseres Wahlsystems. Kandidatenduell wirkte eher subtil Doch die zunehmende Präsidentialisierung — „Er oder ich?“ — macht aus Bundeskanzlern in parlamentarischen Systemen immer häufiger Kanzlerpräsidenten, die Allparteien-Koalitionen schmieden müssen, um doppelte Mehrheiten — nicht nur die eigene — im Bundestag und Bundesrat tagessensibel zu gewinnen. Mit medial inszenierten Auftritten versuchen die Hauptakteure Stimmungen zu erzeugen, aus denen sich wiederum Mehrheiten gewinnen lassen. Die Präsidentialisierung ist in unserer Kanzlerdemokratie nicht vorgesehen, doch sie schreitet gerade in Wahlzeiten weiter voran, wie das Duell belegt. Unmittelbar wahlentscheidend sind diese nach dem Vorbild der US-Präsidentenwahlen angelegten Treffen nur, wenn sich ein Kandidat sehr grobe Fehlleistungen vor laufender Kamera erlaubt. Wählerwanderungen waren nach Sendeschluss ohne solche

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Schnitzer nicht zu erwarten. Im Zentrum der Wahlentscheidung steht für die Mehrheit der Wähler die unterstellte Problemlösungs-Kompetenz der Parteien und der Kandidaten.

Die Wahlforschung spricht in diesem Kontext von einem so genannten Kausalitätstrichter: Ausgangspunkt ist eine unterstellte Parteibindung. Diese filtert die Wahrnehmung der Themenund Problemlösungsangebote. Parteibindung und Themenkompetenz sind langfristig wirkende Faktoren der Wahlentscheidung. Situative, kurzfristige Faktoren stellen hingegen

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aktuelle Tagesereignisse und vor allem die Persönlichkeitswerte der politischen Hauptakteure dar. Sympathie- und Persönlichkeitswerte werden von den Medien gerade auch durch Sendeformate des Infotainment dramatisiert. Sie entsprechen den medialen Regeln. Bei steigender Zahl unentschlossener Wähler wächst zeitgleich die Wirkung solcher Formate. Dabei hat der kalte Charme von Bildschirm-Debatten zweifellos seinen Reiz, doch seine Wirkung ist subtiler als von den Wahlzentralen geplant. Denn eine direkte Wählerwanderung war nicht messbar. Doch indirekt sind zwei zentrale Aspekte wirkungsmächtig. Zum einen hat die Duellierung den kleinen Parteien geschadet. Zum anderen ging Stoiber in die Polarisierungsfalle.

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Von Kanzlermachern und Kanzlerverhinderern Doch zunächst zu den kleinen Parteien. Sie sind in der Koalitionsdemokratie der Bundesrepublik die Kanzlermacher wie im Falle der Grünen 1998 und 2002 oder die Kanzlerverhinderer wie die FDP. Die Duellierung der großen Volksparteien reduziert die Wahrnehmung der kleineren Parteien. Doch ohne sie kommt keine Kanzlermehrheit zustande. Die Gewissheit wuchs im Vorfeld der Wahl — und das knappe Ergebnis bestätigt die Vorahnungen —, dass auch in Deutschland erstmals eine handlungsfähige Mehrheit durch die Wahl nur schwer zustande kommen könnte. Beim Einzug der PDS in den Bundestag wäre eine sehr lange Zeit der Regierungsbildung gefolgt. Während die eine Wirkung des Fernsehduells systemisch ausgerichtet war — ein Tribut an die Präsidentialisierung —, zielte eine zweite Linie auf den Mobilierungsstrang. Monatelang war die SPD in der Defensive. Die hohe Unzufriedenheit mit der Regierungsarbeit und die vielen Pannen brachten Pluspunkte für die Union, ohne jedoch viel zu deren eigener Popularität beizutragen. Der Kompetenzwahlkampf war daher die einzig mögliche Strategie eines konservativ profilierten Kanzlerkandidaten, der in der Mitte neue Wähler gewinnen musste. Ab-

wartend-lauernd und mit Weichzeichner-Optik ging die Union in den Wahlkampf. Sie bot keine Angriffsflächen, keine Reibungspunkte, um eine Gegenmobilisierung des SPDKlientels zu ermöglichen. Die Union wich jeder Polarisierung aus. Erst im zweiten Fernsehduell gelang es Schröder vor einem Millionenpublikum, Stoiber in die Polarisierungsfalle zu locken. Krieg oder Frieden, dahinter steckt eine Polarisierungs-Wucht, die eine argumentative Gegenstrategie unmöglich macht. Problematisch blieb bis zum Schluss, dass die Union das Kompetenz-Wahlszenario um keine wärmende Leitidee ergänzte. Zukunftskompetenz muss sich mit politischen Symbolen, attraktiven einfachen Formeln verbinden und nicht nur in der gebetsmühlenartig vorgetragenen Monotonie der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit verharren. Weder von der SPD noch von der Union wird uns ein Slogan für die Wahlen 2002 in Erinnerung bleiben. Das war 1998 noch deutlich anders: Innovation und Gerechtigkeit, Neue Mitte — so lauteten die Chiffren eines Wahlversprechens, die eine neue Wählergemeinschaft für Rot-Grün mobilisierten. Medien im Wahlkampf mit doppelt wichtiger Rolle Mit diesen beiden Aspekten einer Präsidentialisierung und einer Polarisierung haben die Fernsehduelle eine nachhaltige Wirkung entfaltet. Dieses Ergebnis ist unabhängig von Sympathie oder Kompetenzwerten, die normalerweise in der Wahlforschung dominant behandelt werden. Wenn

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Fakultät für Gesellschaftswissenschaften somit im Rückblick die besondere Rolle der Medien im Bundestagswahlkampf 2002 gewürdigt wird, dann in dieser doppelten Hinsicht. Denn auch ohne die Zuspitzung in den Duellen kam dem Fernsehen eine besondere Rolle zu. Das lag nicht daran, dass mehr oder anders berichtet wurde, als in zurückliegenden Wahlkämpfen. Vielmehr sind die Wähler durch die Erosion der Volksparteiendemokratie wählerischer als früher. Wechselnde „Tagesthemen“ unterstützen eine hysterisch wandelbare öffentliche Meinung. Wenn Wähler ungebunden sind, zeigen sie sich extrem tagessensibel auf den frei floatenden Wählermärkten. Damit steigt ein Gut, das verlässlich Orientierung bietet, nämlich die Führungsleistung der Hauptakteure. Die Effizienz des Regierungsmanagements, das Erscheinungsbild eines modernen Regierungsstils werden ebenso prämiert wie Problemlösungskompetenz. Politische Führung muss immer darauf aus sein, Mehrheiten aus sehr unterschiedlichen Interessengruppen zu schmieden: improvisieren, taktieren, abwägen. Gleichzeitig ist bei jeder politischen Handlung die eigene Wiederwahl zu berücksichtigen. Politische Führung ist deshalb häufig mehr pragmatische Moderation als strikte hierarchische Steuerung. Doch als Projektionsfläche für alle Wechselwünsche eignen sich solche grauen Vermittler in der Regel nicht. Deshalb steigt in der Politik der Wunsch nach Idolen. Die Deutschen sagen mehrheitlich: „eine starke politische Führung sei nötig“. Sie wünschen sich Entscheider-Typen. Machtworte mit dem Charme einer Chefsache sind äußerst populär. So entscheiden Führungsstile zunehmend auch über Sieg und Niederlagen bei Wahlen. In allen sozialen Milieus ist der Bedarf an demokratischer Führung gewachsen. Gerade weil politische Gewissheiten an Prägekraft verlieren und sich die Muster von politischer Gefolgschaft verändern, steigt die Sehnsucht nach politischer

Führung. Sie lässt sich telegen personalisieren. Mediencharisma ist hilfreich, aber nicht absolut entscheidend. Die Führungsperson erscheint als Problemlöser, als verlässlicher Lotse im Alltag. Zeitgleich ist sichtbar, dass gerade der Entscheidungsspielraum für einzelne Akteure in einer sehr verflochtenen Gesellschaft zunehmend geringer wird. Doch die Chefsache lebt vom Mythos und vom Heldenmotiv: Der Politiker muss zumindest den Eindruck erwecken, dass er allein die Entscheidung durchsetzen könnte. MacherImage ist heute die Grundbedingung für Erfolg in der Politik. Hinter dieser Fassade nehmen die Bürger allerdings sehr verschiedene Persönlichkeiten wahr. Abgestuft werden weitere Eigenschaften durchaus vom Wähler belohnt. So favorisiert der Osten Führung eher väterlich gemildert, aber entscheidungs-, willensund durchsetzungsstark. Die Ministerpräsidenten Vogel, Stolpe, Biedenkopf entsprechen oder entsprachen vollständig diesem Wunsch. Schröders kraftstrotzendes, mitunter fröhliches Rebellentum kommt hingegen ebenso an wie Stoibers strebsame Prinzipienfestigkeit. Bei all der Vielfalt

der Macher-Typen muss eins gewährleistet sein: authentisch zu bleiben. Nur wer unverstellt vor einer inszenierten MedienFassade wirkt, punktet als Macher beim Wähler. Flut und Irak-Debatte — die Themen sind kaum vorhersehbar Neben dem TV-Duell kam vor diesem Hintergrund der Flut-Katastrophe eine besondere Bedeutung zu, um die Aufhol- und Überholjagd der SPD einzuordnen. Darin konnte der Kanzler Regierungseffizienz an einem existentiellen Thema vorführen, während der Opposition nur kommentierende Worte blieben. Beide Ereignisse jedoch, von denen die SPD strategisch profitierte — die Flut und die Irak-Debatte — kamen von außen, eher zufällig auf die Agenda der Wahlplaner. Trotz großer Kampagnenstäbe und zum Teil jahrelanger Vorüberlegungen punktete die SPD mit Themen, die nicht vorhersehbar waren. Rund 6.000 Zweitstimmen trennten schließlich Union und SPD bei der zurückliegenden Bundestagswahl. Deutlicher kann nicht dokumentiert werden, wie sehr die Deutschen eine Hassliebe zum Status Quo umtreibt. Die alte Regierung schien nicht völlig ausgezehrt.

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Fakultät für Gesellschaftswissenschaften sogar zum zweiten Mal hintereinander. Für die Geschichtsbücher der Republik hat er sich mit dieser Besonderheit verewigt. Vermutlich gilt das auch für seinen Herausforderer.

Photos: ZDF-Bilderdienst, Mainz

Gleichzeitig entfachte der versprochene Neuanfang keinen ausreichenden Wechselcharme. Aus tiefer Sehnsucht nach Sicherheit soll sich zwar vieles ändern, aber nur mit dem gleichzeitigen Versprechen, dass alles so bleibt wie es war. Erst durch die geübten Koalitionswähler erreichte das rot-grüne Lager eine knappe Mehrheit. Kanzlermacher (Grüne) und Kanzlerverhinderer (FDP) sind die kleinen Parteien. Halbwegs komfortabel konnte diese Regierungsmehrheit erst durch die Überhangman-

date werden, die Kanzler Schröder noch 1997 von Hannover aus vom Bundesverfassungsgericht abgeschafft sehen wollte. Die SPD konnte zum dritten Mal seit 1949 stärkste Fraktion im Bundestag werden. Dies gelang Schröder Folgende Forschungsprojekte der „Forschungsgruppe Regieren“ um Karl-Rudolf Korte an der Universität Duisburg laufen derzeit im Umfeld der Bundestagswahl 2002: • Politik und Regieren in Deutschland: Strategien des Regierungshandelns in der Mediendemokratie. • Aktualisierte Erweiterung der Publikation: Karl-Rudolf Korte: Wahlen in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 3. Aufl. 2000 (Die vierte Auflage erscheint Januar 2003). • Vorbereitung eines Redenschreibersymposiums mit den Chefredenschreibern von vier Bundeskanzlern zeitgleich mit der Regierungserklärung von Bundeskanzler Schröder in Berlin Ende Oktober/Anfang November; vgl. dazu: Karl-Rudolf Korte (Hrsg.): „Das Wort hat der Herr Bundeskanzler — Eine Analyse der Großen Regierungserklärungen von Adenauer bis Schröder“, Wiesbaden 2002.

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Er scheint das absolute Optimum für einen konservativ profilierten CSUSpitzenkandidaten in der Berliner Republik herausgeholt zu haben. Selten konnte ein Wahlverlierer so siegreich in sein Bundesland zurückkehren. Die politische Teilungslinie verläuft nicht mehr entlang der Elbe, sondern am Main: Der Süden wählt konservativ. Deutschland ist im Wahlverhalten, wie 1990 prognostiziert, tatsächlich nördlicher, östlicher, protestantischer geworden. Doch verlassen kann man sich gerade auf die Wähler in den östlichen Bundesländern keineswegs. Sie sind aus Sicht der Parteien wesentlich ungebundener, unberechenbarer und situativer am politischen Tageserfolg orientiert als andere Wähler. 1998 war kein Betriebsunfall Die Ergebnisse der Wahl lassen auch einen Umkehrschluss für die Union zu: 1998 war kein Betriebsunfall, der nur mit der Kohl-Abwahl zusammenhing. Mittlerweile existiert in Deutschland eine dominante rot-grüne politisch-kulturelle Befindlichkeit. Die CDU — und mit ihr das ehemals so bezeichnete bürgerliche Lager — hat die strukturelle Mehrheit in der Berliner Republik eindeutig verloren. Die Oppositionsrolle kann sie nur wieder verlassen, wenn sie attraktive mehrheitsfähige Themen aufwirft und gleichzeitig die Suche nach neuen

Koalitionsoptionen angeht. Es gilt, den gesellschaftlich bedeutenden Konflikten einen parteipolitischen Ausdruck zu geben. Und: Nach den bisherigen Rhythmen des Regierens sind die Chancen, nach acht Jahren einen Machtwechsel zu erreichen, ohnehin wesentlich aussichtsreicher. Abweichend vom europäischen Trend der letzten Jahre hat sich bei der Wahl 2002 nicht nur eine sozialdemokratische Regierung im Amt halten können. Offenbar hat auch der parteiförmige Rechtsextremismus und Rechts-Populismus in Deutschland keine Chance. Unsere Konsensgesellschaft hat dabei auch einer gesamtdeutschen Linken eine Absage erteilt. Die Mitte ist der heilige Gral, auf den sich alle Suchbewegungen der Parteien weiter ausrichten.

Kontakt PD Dr. Dr. Karl-Rudolf Korte Institut für Politikwissenschaft Vertretungsprofessur für das Politische System der Bundesrepublik Deutschland ☎ 02 03 / 3 79-20 41 [email protected] http://www.wahlkampf2002.net http://www.karl-rudolf-korte.de

Photo und Montage: rasch.

In Zeiten des Wahlkampfes sind ihre Werte fast so begehrt wie die Lottozahlen — und skeptischen Zeitgenossen scheinen sie auch vergleichbar zufällig. Und wenn Allensbach, Forsa, Infratest und Co. wirklich einmal bei einer Prognose daneben liegen, fühlen sich die Zweifler gleich bestätigt: Wissenschaftlich sollen solche Ergebnisse sein? Na ja, so wissenschaftlich vielleicht wie die Wettervorhersage! Dabei wird vielfach übersehen, dass die Meinungsforscher mit ihren Vorhersagen und Einschätzungen in der Regel bemerkenswert gute Werte liefern — und dass sich hinter diesen Resultaten die Anwendung eines hoch spezialisierten statistischen und sozialwissenschaftlichen Know-hows verbirgt. Ein ausgesprochenes Kompetenzzentrum auf diesem Feld ist seit gut sieben Jahren in Duisburg angesiedelt: das Sozialwissenschaftliche Umfragezentrum an der Gerhard-Mercator-Universität. Natürlich werden auch im Duisburger Umfragezentrum die Konzeption und Umsetzung von Befragungen im Rahmen von Umfragen im nationalen und internationalen Maßstab groß geschrieben. Das Interesse gilt dabei Sachfragen ebenso wie Einstellungen und Meinungen über das eigene Verhalten und die eigenen Befindlichkeiten, und manchmal ist sogar das Wahlverhalten Gegenstand (Bild 1). So beteiligt sich das Umfragezentrum auch an allgemeinen Wahlumfragen unter Einbeziehung der berühmten Sonntagsfrage, so etwa bei den Bundestagswahlen 1998 und 2002, bei den letzten Landtagswahlen in NRW und Baden-Württemberg und bei der Kommunalwahl 1999 in NRW. Dies ist schon allein darum notwendig, weil sich für die Duisburger Experten um Frank Faulbaum so die Möglichkeit ergibt, die Qualität eigener Erhebungen im Vergleich mit anderen Instituten immer wieder zu überpüfen und Studierende mit den einschlägigen Prognoseverfahren vertraut zu machen. So gelang es dem damals gerade erst neu gegründeten Zentrum bei der Bundestagswahl 1998 bereits sehr frühzeitig, die massiven Verluste für die CDU und die

Gewinne für die SPD zu prognostizieren. Auch die drei Wochen vor der Wahl für das Niederrhein-Gebiet ermittelten Anteile an Zweitstimmen lagen zum Teil nur um ca. 1 % vom regionalen amtlichen Wahlergebnis entfernt.

Praxis der Datenerhebung auftretenden Probleme aus erster Hand beobachtet werden können. Eigene Erfahrungen aus der Erhebungspraxis als Anstoß für die Forschung auf den Gebieten der Datenerhebung, Datenanalyse, Lehre und Weiterbildung — dies ist das Konzept, das den Aktivitäten des Duisburger Zentrums zugrunde liegt. Um dieses anspruchsvolle Ziel erreichen zu können, wurden die Räumlichkeiten mit einer für Hoch-

Praxis und Theorie Hand in Hand Doch nicht nur im Bereich von Wahlumfragen, sondern auch bei allen anderen Arten und Bereichen der Datenerhebung nimmt man im Umfragezentrum der Duisburger Hochschule die Wissenschaftlichkeit der Meinungsforschung besonders ernst und ist bemüht, durch eigene Forschungsaktivitäten wichtige Beiträge zur Qualitätsverbesserung und Qualitätssicherung nicht nur von Umfrageergebnissen, sondern von empirischen Ergebnissen in den Sozialwissenschaften allgemein zu leisten. Bild 1: Auch Duisburger Demoskopen interessieren sich für Dabei ist das UmfragezentWahlforschung: hier die Ergebnisse einer gemeinsam mit dem Amt rum für methodische Forfür Statistik, Stadtforschung und Europaangelegenheiten der schungsarbeiten der ideale Ort, Stadt Duisburg durchgeführten Studie über die Ursachen für die weil hier die in der eigenen niedrige Wahlbeteiligung bei der Landtagswahl im Jahr 2000.

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die Betreuung großer Online-Panels, das heißt großer Gruppen von Internet-Nutzern, die wiederholt zu unterschiedlichen Themen im Internet befragt werden sollen. Der organisatorische Aufwand hierfür wird durch eine geeignete Software maßgeblich reduziert.

Bundesrepublik Deutschland. Daraus ergeben sich besondere Möglichkeiten für Forschung, Lehre und Weiterbildung sowie für das Hochschulmarketing und für die Betreuung hochschulinterner Umfragen. Das Institut sieht sich nicht nur als eine Einrichtung, die sich mit Problemen der Datenerhebung befasst, sondern die sich darüber hinaus als Methodenzentrum versteht, in dem alle Stufen des empirischen Forschungsprozesses einschließlich der Datenanalyse und statistischen Modellierung wissenschaftlich betreut werden können. Umfragezentren können sich in ihren Aufgabenbereichen durchaus unterscheiden. In Duisburg werden insbesondere folgende Aufgaben wahrgenommen: • Forschungen im Bereich sozialwissenschaftlicher Erhebungs- und Analyseverfahren (statistische Modellierung und Datenanalyse) mit dem Ziel einer Verbesserung der Umfragequalität und der daraus folgenden Datenqualität. • Universitäre und außeruniversitäre praxis- und berufsnahe Aus- und Weiterbildung in sozialwissenschaftlichen Erhebungs- und Analysemethoden unter besonderer Berücksichtigung neuer Technologien, wobei die Aus- und Weiterbildung in praktischen Projekten erfolgt. Im Rahmen der Hochschulprojekte Studienreform 2000+ und eCampus sollen die Voraussetzungen für eine zeitgemäße Lehre in den sozialwissenschaftlichen Methoden geschaffen werden. Photo: D. Schädel

Unter interviewer-administrierten Umfragen versteht man alle Arten von Umfragen, bei denen die Befragung von einem Interviewer durchgeführt wird. Dazu gehören • Paper & Pencil (PAPI)-Befragungen, bei denen der Interviewer die Fragen vorliest und die Antworten im Fragebogen markiert, • computerunterstützte persönlich-mündliche Umfragen (Computer Assisted Personal Interviewing, kurz: CAPI) sowie • computerunterstützte Telefonumfragen (Computer Assisted Telephone Interviewing, kurz: CATI). Ende Juni 2002 hat das Duisburger Umfragezentrum zum Beispiel in Kooperation mit der Universität Bonn eine Umfrage zum Freizeitverhalten von 4.500 Personen im Alter von 60 Jahren und darüber im Großraum Bonn abgeschlossen. Inzwischen wurden in dem auf 50 Arbeitsplätze aufrüstbaren Telefonlabor des Duisburger Umfragezentrums über 50 computerunterstützte Telefonumfragen mit Stichprobenumfängen bis zu 10.000 Personen durchgeführt — darunter auch internationale Umfragen und Befragungen von Unternehmen. Immerhin sind am Sozialwissenschaftlichen Umfragezentrum ca. 200 InterviewerInnen tätig, unter denen alle europäischen Sprachen vertreten sind. So beherrschen zum Beispiel gut 30 Interviewer und Interviewerinnen die türkische Sprache perfekt. Unter selbst-administrierten Umfragen werden alle Umfragen zusammengefasst, bei denen die Befragung ohne aktive Beteiligung

des Interviewers durchgeführt wird. Die bekanntesten Arten selbst-administrierter Umfragen sind • die postalische Umfrage (Mail Survey), • die computerunterstützte selbst-administrierte Umfrage (Computer Assisted SelfAdministered Interviewing, kurz: CASI) sowie • Internet- und Intranet-Umfragen. Auch alle selbst-administrierten Umfragen können im Umfragezentrum professionell durchgeführt werden. Im Frühjahr wurde zum Beispiel in Zusammenarbeit mit dem kriminologischen Institut der Universität Münster eine große schriftliche Umfrage unter Schülern Duisburger Realschulen durchgeführt. Internet- und Intranetumfragen gehören inzwischen zu den Alltagsaktivitäten des Zentrums. Dies gilt insbesondere für Photo: D. Schädel

Typologie von Umfragen

schulverhältnisse exzellenten Infrastruktur ausgestattet, um sowohl interviewer-administrierte als auch selbst-administrierte Umfragen (vgl. Kasten „Typologie“) mit allen Formen technologischer Unterstützung durchführen zu können. Sozialwissenschaftliche Umfragezentren (engl.: Survey Research Center) gibt es — zumeist als Teil sozialwissenschaftlicher Institute — auch an zahlreichen Universitäten außerhalb der Bundesrepublik, insbesondere in den USA. Das Sozialwissenschaftliche Umfragezentrum der Universität Duisburg ist die größte Einrichtung dieser Art an einer Hochschule der

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Fakultät für Gesellschaftswissenschaften • Durchführung von Drittmittelprojekten mit dem Schwerpunkt „Umfrageprojekte“. Qualität von Fragebögen — Fragen über Fragen Verstehen die Befragten eine Frage eigentlich so, wie der Forscher es mit seiner Frageformulierung beabsichtigt hat? Wie kommen Befragte, zu denen bei allgemeinen Bevölkerungsumfragen ja Menschen aus allen sozialen Gruppierungen zählen, mit Fremdworten zurecht? Bezieht sich eine Frage nur auf den inhaltlichen Aspekt einer Untersuchung — oder gleichzeitig auf mehrere? Ist eine Frage inhaltlich vielleicht zu komplex? Wie wirken sich kulturelle Unterschiede und Unterschiede der sozialen Gruppenzugehörigkeit auf das Antwortverhalten aus? Wieviel Zeit benötigen Befragte durchschnittlich, um eine Frage zu beantworten? Die Beantwortung dieser und vieler anderer Fragen ist entscheidend für das Erkennen von Schwächen im Fragebogen und damit für dessen Qualitätsverbesserung. Um mögliche Schwachstellen im Fragebogen, insbesondere auch im Frageverständnis, zu entdecken, sollte dieser einmal oder sogar wiederholt getestet werden. Andernfalls besteht die Gefahr von Fehlinterpretationen der Ergebnisse. Würde man z. B. feststellen, dass Befragte auf eine Einstellungsfrage zur Empfängnisverhütung überwiegend „sozial erwünscht“ ant-

worten, würde durch die Frage nicht die Einstellung zur Empfängnisverhütung, sondern vielmehr das Ausmaß an sozialer Erwünschtheit gemessen. Obwohl in vielen Fällen dringend erforderlich, werden solche notwendigen Pretests insbesondere bei privatwirtschaftlichen Umfragen aus Kostengründen in der Regel nicht durchgeführt. Die Vermutung scheint dabei durchaus nicht abwegig, dass viele Ergebnisse solcher Befragungen wegen mangelnder Validität der Fragen eigentlich vergeblich erhoben wurden. Die hohe Kunst des Tests vor der Befragung Pretestverfahren zur Entdeckung von Schwachstellen in Erhebungsinstrumenten lassen sich in zwei große Gruppen einteilen: Beobachtungsoder Standardpretests und kognitive Laborverfahren. Im ersten Fall beschränkt sich der Pretest-Interviewer auf die reine Beobachtung des Befragenverhaltens, ohne selber, etwa durch aktives Nachfragen, das Frageverständnis zu klären. Bei kognitiven Laborverfahren wird versucht, unter Anwendung von Methoden wie „Lautes Denken“, Paraphrasierung oder aktives Nachfragen auf die Bedeutung zu schließen, welche die Befragten der Frage und den in ihr enthaltenen Begriffen zuordnen. Gerade im Falle computerunterstützter Telefoninterviews sind Beobachtungspretests mitnichten unprob-

lematisch, weil die Identifikation von Schwachstellen im Fragebogen eigentlich durch die Registrierung nichtadäquater Antworten der Befragten während des Telefoninterviews geschehen müsste, der Interviewer aber mit der Eingabe der Antworten und mit der Durchführung des Interviews weit gehend ausgelastet ist. Im Duisburger Umfragezentrum wurde daher ein Verfahren für computerunterstützte Pretests von Telefonfragebögen (Computer Assisted Pretesting of Telephone Questionnaires, kurz: CAPTIQ) entwickelt. Es gestattet die Erfassung verschiedener Arten problematischen Antwortverhaltens während des Interviews, ohne dass die Befragten merken, dass sie an einem Pretestinterview teilnehmen. Das Verfahren ist außerdem so gestaltet, dass es Pretests an einer großen Stichprobe von Befragten und damit die Anwendung anspruchsvoller statistischer Verfahren schon in der Pretestphase erlaubt. Die so erhobenen Pretestdaten können für jede Frage und jeden Befragten als Längsschnittdaten betrachtet werden, die durch eine spezielle, ebenfalls in Duisburg entwickelte graphische Darstellungsweise, den so genannten Interview Process Graph (IPG), visualisiert werden können. Der IPG (Bild 2) erlaubt — ähnlich wie ein Elektrokardiogramm — die Exploration und Identifikation der Problemzonen im gesamten Interview. Mit dieser Me-

Bild 2: Es ist ein IPG-Graph für einen Fragebogen dargestellt, der im Rahmen einer Umfrage zum Thema „Medien und Gesundheit“ des Universitätsklinikums Düsseldorf mit dem Duisburger CAPTIQ-Verfahren vorgetestet wurde. Dargestellt sind für jede Frage die Anteile der von den Befragten gegebenen adäquaten oder nahezu adäquaten Antworten (grüne Kreise), der nicht adäquaten Antworten (blaue Vierecke) sowie der expliziten Äußerungen eines Problems (rote Dreiecke). Als problematisch und verbesserungsbedürftig sind jene Fragen auf der horizontalen Achse zu betrachten, bei denen die Anteile der adäquaten Antworten gering sind. In ähnlicher Weise lassen sich auch die mittleren Latenzzeiten, das heißt die Zeiten zwischen Frage und Antwort darstellen.

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Bild 3: Online-Aktivitäten und Teilnahme am Web-Survey: Gezeigt werden die Anteile, mit denen einzelne Personengruppen bestimmte Online-Aktivitäten durchführen. Unterschieden wird zwischen Personen, die am Web-Survey teilgenommen haben (erster Balken), Personen, die sich zwar zur Teilnahme bereit erklärt hatten und ihre E-Mail-Adresse angegeben haben, aber dennoch letztendlich nicht teilnahmen (zweiter Balken), und Personen, die nicht an der Online-Befragung teilnehmen wollten.

thode können nicht nur Probleme mit der Frageformulierung und den Antwortskalen, sondern auch im Verlauf des Interviews stattfindende Lernprozesse und Reihenfolgeeffekte erkannt werden. Gut ausgewählt ist halb gewonnen Das Problem ist bekannt: In aller Regel will man aufgrund von Umfrageergebnissen über die Stichprobe hinaus auf die zugrunde liegende Grundgesamtheit (Population), aus der die Stichprobe gezogen wurde, schließen. Dies ist — streng genommen — aber nur dann zulässig, wenn es sich um eine Zufallsstichprobe handelt. Und die liegt nur dann vor, wenn eine vollständige Auswahlgrundlage existiert und wenn die Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine Untersuchungseinheit in die Stichprobe gelangt, angegeben werden kann. So wäre etwa eine Auswahl von Telefonnummern aus dem Telefonbuch keine geeignete Auswahlgrundlage für die Grundgesamtheit aller in Privathaushalten mit Telefonanschluss lebenden Personen, weil die im Telefonbuch nicht eingetragenen Telefonbesitzer keinerlei Chance hätten, ausgewählt zu werden.

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Der Idealtyp der unverzerrten Zufallsauswahl ist vor allem bei selbstadministrierten Umfragen gefährdet, bei denen die Befragten selbst bestimmen können, ob sie an der Umfrage teilnehmen. Man spricht hier von Effekten der Selbstselektion. Diese sind oft nicht nur bei postalischen Umfragen, sondern auch bei Webumfragen gegeben — etwa bei so genannten Interzept-Methoden, bei denen die Befragten über eine BannerAnzeige oder eine Pop-up-Einladung gewonnen werden. Um eine Zufallsstichprobe bei internet-basierten Umfragen dennoch zu ermöglichen, kann man zum Beispiel versuchen, die Teilnehmer einer Internet-Umfrage über eine zufällige Telefonstichprobe zu gewinnen. Doch auch dieses Verfahren ist nicht ganz ohne Probleme. So wurde im Sozialwissenschaftlichen Umfragezentrum untersucht, ob bzw. welche systematischen Verzerrungen auftreten können, wenn Befragte für OnlineBefragungen telefonisch rekrutiert werden. Dabei ging es nicht nur um die Verzerrungen der Telefonstichproben in dem Sinne, dass nur gewisse Teilgruppen der Bevölkerung am Telefoninterview teilnehmen, sondern

insbesondere um die Frage, welche der telefonisch rekrutierten, zur Online-Befragung bereiten Internet-Nutzer, die telefonisch ihre E-Mail-Adresse angegeben haben, später auch tatsächlich an der Online-Befragung teilnahmen. Es wurde festgestellt, dass sich Merkmale wie Alter, Geschlecht, Vertrauen in Datenschutz und Anonymität, Häufigkeit der Internet-Nutzung in Alltagsaktivitäten wie Online-Shopping, Home Banking, etc. nicht nur auf die Entscheidung auswirken, die EMail-Adresse überhaupt zur Verfügung zu stellen, sondern auch auf die Entscheidung, nach Angabe der E-Mail-Adresse tatsächlich an der Online-Befragung teilzunehmen (Bild 3). Aus der Untersuchung ließ sich entnehmen, wie sich die Auswahleffekte auf den verschiedenen Stufen des Auswahlprozesses verstärken.

Entdeckung verborgener Strukturen in Umfragedaten Was verbirgt sich hinter Umfragedaten? In der Regel dienen Umfragen dazu, konkrete Fragen zu beantworten — etwa nach der Zufriedenheit mit dem ÖPNV, nach dem Ausmaß von Kundenbindung und -zufriedenheit, nach der Parteipräferenz, nach der Mediennutzung, nach der Akzeptanz von Untersuchungen zur Krebsvorsorge, etc. In wissenschaftlichen Umfragen geht es darüber hinaus vor allem auch um Erkenntnisse über Zusammenhänge — zum Beispiel über den Einfluss wirtschaftlicher Zukunftserwartungen auf die Investitionsbereitschaft, über den Einfluss von politischen Einstellungen auf die Ausländerfeindlichkeit oder über den Einfluss von soziodemographischen Merkmalen wie Geschlecht, Alter und Bildung auf bestimmte Einstellungen und Wertorientierungen. Statistische Hypothesen über solche Einflussstrukturen lassen sich durch mathematische Modelle darstellen, die auch als Strukturgleichungsmodelle oder — etwas missverständlich — als Kausalmodelle bezeichnet werden. Merkmalszusammenhänge können sich dabei auch auf unbeobachtete Merkmale, so genannte latente Variablen, beziehen, die sich — wie zum Beispiel Einstellungen zu bestimmten

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Fakultät für Gesellschaftswissenschaften sensiblen Sachverhalten — nicht direkt, sondern nur über beobachtete Indikatoren identifizieren lassen. Hier muss der Sozialforscher ähnlich vorgehen wie der Arzt bei einer Krankheit, die sich nur anhand ihrer Symptome erkennen lässt. Das Sozialwissenschaftliche Umfragezentrum widmete sich im Bereich der Datenanalyse in den letzten Jahren nicht nur der Frage, wie sich solche statistischen Modelle überprüfen lassen. Darüber hinaus ging es vor allem um das Problem, wie man in Umfragedaten Gruppen von Befragten entdecken kann, die sich durch besondere Einflussstrukturen unterscheiden, ohne dass man vorab eine begründete Hypothese über diese Einflüsse hat. Gibt es zum Beispiel Gruppierungen, die sich in dem Ausmaß unterscheiden, in dem Bildung das politische Interesse beeinflusst? Schließlich wäre denkbar, dass in einer politisch extrem frustrierten Gruppe von Politikverdrossenen das Interesse an Politik gering geworden ist — und zwar unabhängig vom Grad der Bildung —, während in einer anderen Gruppe der Zusammenhang von Bildung und politischem Interesse durchaus festgestellt werden kann (Bild 4). Mit der Entwicklung dieser Methodik am Sozialwissenschaftli-

chen Umfragezentrum wurden die existierenden Klassifikationsverfahren in Richtung auf komplexere Strukturunterschiede erweitert. Ausblick Umfragen unter Bürgern, Unternehmen, etc. gehören auf Bundes-, Landes- und auf kommunaler Ebene inzwischen zu den wohl etablierten Instrumenten wirtschafts-, bildungs-, kultur- und sozialpolitischer Entscheidungsvorbereitung. Politische Entscheidungen in komplexeren Gesellschaften erfordern nicht nur zur rechtzeitigen Prognose krisenhafter Entwicklungen, sondern auch zur Erarbeitung kurz- und mittelfristiger Planungsunterlagen die systematische Sammlung von Erkenntnissen über Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft, die zum Teil nur durch Selbstauskünfte gesellschaftlicher Akteure erhoben werden können. Umfragen können ein Instrument zur Stärkung der Bürgerbeteiligung an politischen Entscheidungen sein. Umso notwendiger ist es, die Qualität von Umfrageergebnissen zu sichern und damit auch das Vertrauen der Bürger in diese Ergebnisse zu stärken. Hier ist das Duisburger Umfragezentrum auf einem guten Weg.

Literatur zu dem Themengebiet: • Deutschmann, M. & Faulbaum, F. (2001). The recruitment of online-samples by CATI-screening: Problems of nonresponse. In: Westlake, A. (ed.), The challenge of the internet. London: Association for Survey Computing. S. 69-77. • Deutschmann, M., Faulbaum, F. & Kleudgen, M. (2002). Computer Assisted Pretesting of Telephone Interview Questionnaires (CAPTIQ). Proceedings of the American Statistical Association, Survey Research Methods Section, New York: American Statistical Association. • Faulbaum, F. & Stein, P. (2000). Wie homogen sind Einstellungen gegenüber Ausländern? Zur Aufdeckung und Modellierung unbeobachteter Heterogenität in Umfragedaten. In: Alba, R., Schmidt, P. &Wasmer, M. (Hg.), Deutsche und Ausländer: Freunde, Fremde oder Feinde? Wiesbaden: Westdeutscher Verlag: 486-518. • Faulbaum, F., Stein, P. & Kelleter, K. (2001). Die statistische Aufdeckung kausalstrukturell unterschiedener Gruppen am Beispiel des politischen Teilnahmeverhaltens. ZUMA-Nachrichten 48, 28-48. • Faulbaum, F. (2002). Wahlergebnisse und Parteien der neuen Bundesrepublik. In: Amt für Statistik, Stadtforschung und Europaangelegenheiten der Stadt Duisburg (Hrsg.), Politische Wahlen in den Städten und Bundesländern 1990-2002. Duisburg, S. 17-77. • Faulbaum, F. (2002). Das sozialwissenschaftliche Umfragezentrum als Paradigma praxisrelevanter Methodenausbildung. In: Engel, U. (Hrsg.), Praxisrelevanz der Methodenausbildung. (S.73-77). Bonn: Informationszentrum Sozialwissenschaften.

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Bild 4: Die Abbildung zeigt beispielhaft zwei im Rahmen einer Datenanalyse der Bevölkerungsumfrage Wohlfahrtssurvey 1993 mit Hilfe des in Duisburg entwickelten statistischen Verfahrens entdeckte Kausalmodelle, die zwei vorher unbekannte Gruppierungen in den Daten beschreiben. Die Abkürzungen kennzeichnen die verschiedenen Merkmale (Variablen), auf deren inhaltliche Bedeutung an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden kann. Vielmehr soll das Augenmerk nur auf deren Struktur gerichtet werden. Die Kreise in der Abbildung stehen für unbeobachtete, latente Variablen, die Rechtecke für beobachtete Variablen. Die Richtung der Pfeile signalisiert die Einflussrichtung. Die Einflussstärken, mit denen die Merkmale einander beeinflussen, sind in die Abbildung nicht mit aufgenommen worden. Wie man erkennen kann, weisen die beiden Gruppen recht unterschiedliche Einflussstrukturen auf, für die dann eine inhaltliche Erklärung gefunden werden musste.

Kontakt Prof. Dr. Frank Faulbaum Institut für Soziologie Lehrstuhl für Sozialwissenschaftliche Methoden / Empirische Sozialforschung ☎ 02 03 / 3 79-25 32 [email protected]

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Bild:M. Hellemanns

Wer schon einmal an einem simplen Fahrkartenautomaten für Bus oder Straßenbahn gescheitert ist, der kennt das Problem: Die Kommunikation zwischen Mensch und Maschine holpert. Der dumme Automat versteht bloß „Bahnhof“, man selbst kommt von demselben nicht weg — und im Ergebnis wachsen Aggressionen gegen die Technik in gleichem Maße wie der nostalgische Wunsch nach einem zwar pampigen, aber zumindest menschlichen Fahrkartenverkäufer aus Fleisch und Blut. Verständigungsprobleme in der Mensch-Maschine-Kommunikation sind ebenso alt wie die Versuche ihrer Behebung. Schon seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts bemüht man sich um Abhilfe — mit mäßigem Erfolg. Denn die steigende Leistungsfähigkeit der technischen Systeme erschwert den Softwareentwicklern immer mehr den Versuch, es dem Nutzer recht zu machen. So kommt der renommierte ErgonomieForscher Gerd Geiser zu dem Schluss, dass viele Versuche, technische Systeme benutzerfreundlich zu gestalten, letztendlich zu gegenteiligen Ergebnissen geführt haben. Besonders gravierend wirkt sich dabei die mangelhafte Anpassung an die menschlichen Rezeptionsgewohnheiten bei den Lern- und Informationssystemen (LIS) aus. Denn wenn der Nutzer nicht so geführt wird, dass er die Auseinandersetzung mit den Inhalten als einen stetigen Erkenntniszuwachs erlebt, wird die Beschäftigung mit dem LIS meist schon nach kurzer Zeit beendet. Nicht etwa, weil der sachliche Wert der Programminhalte in Frage gestellt würde, sondern weil das Dialogverhalten dem Nutzer

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den Eindruck aufdrängt, das Programm sei gar nicht in der Lage, auf seine speziellen Bedürfnisse und Interessen so einzugehen, wie er dies von einem menschlichen Tutor gewohnt ist. Dabei eröffnen rechnergestützte LIS sowohl für den Ersterwerb von Wissen als auch zu dessen ständiger Aktualisierung — zumindest im Prinzip — ganz neue Möglichkeiten. Doch durch die mangelhafte Anpassung der Informationsdarbietung an die menschliche Informationsverarbeitung verlieren letztlich alle: • die Nutzer, die die in den Lern- und Informationssystemen enthaltene Information nicht voll verwerten können, • die Programmentwickler, deren wirtschaftlicher Erfolg weit hinter den potenziellen Möglichkeiten zurückbleibt, und • die Planer der Informations- und Kommunikationstechnik, die mehr als nötig mit Akzeptanzproblemen zu kämpfen haben. Dabei beruhen die genannten Mängel in erster Linie auf Informationsdefiziten auf Seiten der Programmgestalter. Denn der Softwareentwickler,

der zur Vermeidung der Mängel auf seine Fragen verlässliche Antworten sucht, steht vor dem Problem, dass er die Nutzer in der Regel nicht einfach selbst fragen kann, wie sie es denn gerne hätten. Ob und inwieweit sich die Funktionsweise eines LIS seinem Nutzer inferenziell, d. h. „von selbst“ erschließt und inwieweit es ihn in jeder Phase des Gebrauchs optimal unterstützt, hängt ab vom Wissen über die dynamische Wechselwirkung zwischen technischem System und menschlichem Nutzer und darüber, welche Systemreaktionen eine produktive Nutzung begünstigen und welche sie erschweren oder gar verhindern. Erst dadurch wird es möglich, das Dialogverhalten eines LIS so auszulegen, dass es sich auf die Fähigkeiten und das individuelle Lernverhalten des jeweiligen Nutzers einzustellen vermag. Das Projekt NAUBI Um diese Wissensdefizite zu beheben, rief der Verband Sächsischer Bildungsinstitute (VSBI) im Sommer 1999 mit Unterstützung des Sächsischen Staatsministeriums für Wirtschaft und Arbeit ein groß angelegtes Forschungs- und Entwicklungsprojekt mit dem Titel „Neue Automobil- und Bioverfahrenstechnologien — Erarbeitung und Erprobung eines Lernsystems zur Übertragung neuester

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Fakultät für Gesellschaftswissenschaften wissenschaftlicher Erkenntnisse in praxisorientiertes Wissen mittels Computernetzwerken (NAUBI)“ ins Leben, das neue Maßstäbe bei der Konzeption rechnergestützter Lern- und Informationssysteme setzen will. Anhand zweier LIS, mit deren Entwicklung der VSBI Softwarefirmen in Bonn, Düsseldorf und Esslingen beauftragt hatte, soll aufbauend auf den neuesten Erkenntnissen aus der humanwissenschaftlichen Kommunikationsforschung in einem ersten Arbeitsschritt untersucht werden, in welcher Weise sich der Dialog zwischen Lernprogramm und Benutzer gestaltet und welche kognitiven, das Verständnis betreffende bzw. welche affektiven, die Gefühle betreffenden Wirkungen dabei auf Seiten des Rezipienten ausgelöst werden. In einem zweiten Arbeitsschritt sollen diese Befunde genutzt werden, um einen Beitrag zur Beantwortung der Frage zu leisten, wie das Dialogverhalten eines LIS ausgelegt werden muss, damit es sich — im Sinne eines adaptiven, sich anpassenden Systems — auf die Fähigkeiten und das Lernverhalten des Nutzers in einer Weise einzustellen vermag, wie dies von einem menschlichen Tutor geleistet werden könnte, der von dem jeweiligen Nutzer als didaktisch versiert und sympathisch erlebt wird. Im Rahmen dieses Großprojekts betraute der VSBI das Laboratorium für Interaktionsforschung der GerhardMercator-Universität Duisburg unter der Leitung von Siegfried Frey mit der Konzeption und Entwicklung eines Mess- und Analyseverfahrens, das die Möglichkeit bieten soll, die Verlaufsstruktur der dynamischen Wechselwirkung zwischen LIS und Nutzer in ihrer vollen Komplexität zu erfassen. Das Dialogverhalten des technischen Systems soll dabei in Echtzeit sowohl mit den äußeren Verhaltensreaktionen des Nutzers (overt responses) verknüpft werden, als auch mit dessen inneren, emotionalen Regungen, die sich im vegetativen System entfalten (covert responses). Als Grundlage dieser Methodenentwicklung dient ein Analyseverfahren zur Untersuchung visueller Medienwirkungen, das in Zusammenarbeit mit amerikanischen und französischen Kollegen im Rahmen eines internationalen Projekts der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) in Duisburg entwickelt worden war.

Im Rahmen einer zweiten, voraussichtlich 2003 beginnenden Ausbaustufe des Projekts NAUBI ist vorgesehen, die beiden in der ersten Projektphase erstellten LIS „Neue Automobiltechnologien“ und „Bioverfahrenstechniken“ um eine menschenähnliche Kunstfigur — einen so genannten Avatar — zu erweitern. Wie neueste Forschungsergebnisse zeigen, hängen die psychische Befindlichkeit sowie die Motivation und Leistungsbereitschaft eines Menschen nämlich sehr stark davon ab, mit welchen gestischen und mimischen Verhaltensweisen, d. h. mit welchen nonverbalen Stimuli er im Rahmen des kommunikativen Austausches „gefüttert“ wird. Die Erweiterung um einen als „virtueller Mentor“ fungierenden Avatar, der in der Lage ist, den für die emotionale Befindlichkeit des Nutzers maßgebenden „nonverbalen Part“ zu übernehmen, ist denn auch für die Nachhaltigkeit und für den dauerhaften Reiz der MenschLIS-Interaktion von großer Bedeutung. Die Erforschung der Frage, wie das Aussehen und das Bewegungsverhalten eines Avatars modelliert werden muss, damit er beim Nutzer eines LIS konstruktive Reaktionen provoziert, steht zwar erst am Anfang. Doch mit dem neuen, an der Gerhard-Mercator-Universität entwickelten Verfahren der Skriptanimation (vgl. Kasten „Skriptanimation“ auf der nächsten Seite) eröffnet sich jetzt erstmals die Möglichkeit, diese Fragen empirisch zu beantworten. „Dreisprung“ zur Adaptivität Das im Rahmen von NAUBI entwickelte Konzept zur Implementierung der Adaptivität im LIS ist in Bild 1 schematisch dargestellt. Die hierzu notwendigen Forschungsund Entwicklungsarbeiten gliedern sich in drei nacheinander zu vollziehende Arbeitsschritte, die durch die Begriffe „Real-Time-Monitoring“, „Schwachstellenanalyse“ und „Entwurf des Support- und Consultingsystems“ repräsentiert sind. Diese drei Schritte sollten im Zuge der Entwicklungsarbeiten interaktiver LIS möglichst mehrmals durchgeführt werden. Denn nur dadurch lässt sich

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sicherstellen, dass der Gebrauchswert eines Softwaresystems sich in einem stetig fortschreitenden Optimierungsprozess immer weiter erhöht. Step 1: Real-Time-Monitoring der Mensch-LIS-Interaktion Unabdingbare Voraussetzung für die Entwicklung adaptiver Lern- und Informationssysteme, die sich auf den Nutzer individuell einstellen können, ist die Echtzeit-Registrierung (RealTime-Monitoring, RTM) der MenschLIS-Interaktion. Nur über das RTM ist es möglich, das System in Echtzeit auf

Bild 1: Arbeitschritte zur Implementierung der Adaptivität in einem LIS

bestimmte Nutzereingaben „reagieren“ zu lassen, und dem Benutzer — passend zu der jeweiligen Problemsituation, in die er geraten ist — Hilfestellung in Form weiterführender Interaktionsangebote zu geben. Die Echtzeit-Registrierung stellt gleichzeitig die Grundvoraussetzung zur Beschaffung der Primärinformation dar, die zur Ermittlung der beiden für die Verbesserung der Usability, d. h. der Nutzbarkeit zentralen Aspekte benötigt werden:

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Skriptanimation

Quelle: Frey, S. (2000). Die Macht des Bildes. Der Einfluss der nonverbalen Kommunikation auf Kultur und Politik. Bern: Huber, S. 137.

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• Einerseits gilt es zu ermitteln, ob und inwieweit die Funktionsweise des LIS das kognitiv-rationale Verständnis erschwert und damit den Inhaltsaspekt des Interaktionsgeschehens belastet. • Zum anderen ist es wichtig, in Erfahrung zu bringen, welche Merkmale und Features den Beziehungsaspekt tangieren, d.h. beim menschlichen Nutzer als Stressoren wirksam werden und entsprechende vegetativ-emotionale Reaktionen auslösen. Denn erst wenn dem Softwareentwickler die Spezifika im Dialogverhalten des Systems bekannt sind, die das kognitive oder das affektive System — oder beide — belasten, kann er seinen Erfindungsreichtum wirksam werden lassen, um diese „Schwachstellen“ durch eine geeignete Umarbeitung der Dialogstrukturen zu überwinden. Das im Rahmen von NAUBI entwickelte Konzept sieht vor, die Wechselwirkung zwischen Mensch und Technik in Form von zwei RTM-Protokollen zu dokumentieren, von denen das eine das „Dialogverhalten“ des technischen Systems (LIS-RTM), das andere die Verhaltensreaktionen des menschlichen Nutzers widerspiegelt (Nutzer-RTM). Bei der Erstellung des RTM-Protokolls des technischen Systems sind selbstverständlich nur jene Aktivitäten von Belang, die zu einer Veränderung des auf dem Bildschirm dargebotenen Stimulusoutputs führen. Das Protokoll dokumentiert also lediglich die Veränderungen, die durch die über Maus oder Tastatur eingegebenen Kommandos des Nutzers ausgelöst werden. Im Gegensatz hierzu muss die Registrierung der äußeren und inneren Verhaltensreaktionen der Nutzer kontinuierlich erfolgen. Die beiden Protokolle lassen sich jedoch über eine gemeinsame Zeitreferenz synchron miteinander verknüpfen, so dass sich dem Untersucher die Möglichkeit eröffnet, die durch die Veränderungen des visuellen Inputs ausgelösten Veränderungen im äußeren und inneren Verhalten zu lokalisieren und einander zeitlich exakt zuzuordnen. Erfassung des Stimulusoutputs Für die Implementierung der Adaptivität im LIS erfüllt das RTM-Protokoll des technischen Systems eine

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Fakultät für Gesellschaftswissenschaften Doppelfunktion. Während der Entwicklungsarbeiten dient es in Verbindung mit den die Nutzerreaktion widerspiegelnden Nutzer-RTMs zur Identifizierung von Schwachstellen in der Benutzerführung und der sie bedingenden Ursachen. Beim praktischen Einsatz des ausgereiften LIS dagegen übernimmt das LIS-RTM die Funktion eines Monitor- und Referenzsystems, das es möglich macht, dem Nutzer je nach Art der Schwierigkeiten Hilfestellungen anzubieten, die auf seine spezifischen Rezeptionsgewohnheiten und Vorlieben Rücksicht nehmen und ihn auf diese Weise individuell unterstützen. Das im Rahmen dieses Teilprojekts konzipierte und von der Firma Neue Medien Produktion (NMP) Bonn im NAUBI-Modul praktisch umgesetzte Aufzeichnungsprinzip erfüllt beide Zweckbestimmungen. Es gestattet online die Erstellung eines Zeitreihenprotokolls der Steuerbefehle, die dem System mittels Maus und Tastatur vom Nutzer erteilt werden. Diese Daten werden automatisch registriert, mit einem Zeitkode versehen und auf der Festplatte abgelegt. Sie geben Auskunft über die Art, die Reihenfolge und die Präsentationsdauer der Programminhalte, die der Nutzer zur Kenntnis nimmt, sowie die von ihm initiierten Operationen. Bild 2 gibt ein Beispiel für die Protokollierlogik, mit der sich die Verlaufsstruktur der Mensch-LIS-Interaktion in den LIS-RTMs detailliert widerspiegeln lässt. Eintragungen ins Protokoll finden dabei nur dann statt, wenn

Bild 2: Beispiel für die Struktur eines RTM-Protokolls, das die dynamische Wechselwirkung zwischen Mensch und LIS am Beispiel des Moduls „Neue Automobiltechnologien“ dokumentiert

sich die dem Nutzer auf dem Bildschirm dargebotene Information verändert. Jede Zeile weist somit darauf hin, dass der visuelle Input des Nutzers zu dem jeweiligen spezifischen Zeitpunkt wechselte. Erfassung der Nutzerreaktion Gemäß der im Rahmen von NAUBI entwickelten Modellvorstellungen soll die Klärung der Frage, ob die von einem LIS bereitgestellten Informationsinhalte in einer für die Nutzer verwertbaren Weise dargeboten werden, anhand der Verlaufsstruktur der Informationsrezeption und der sie begleitenden verbal/nonverbalen Verhaltensweisen erfolgen (overt responses). Zur Prüfung der Frage, welche Wirkungen das Dialogverhalten des LIS in dem für die Beziehungsregulation bedeutsamen affektiv-emotionalen Bereich hat, ist zusätzlich die Erfassung der covert responses erforderlich, d. h. die Ermittlung der spontan auftretenden, unter der Regie des autonomen Nervensystems stehenden Veränderungen

Bild 3: Messverfahren zur integrierten Erfassung der äußeren und inneren Reaktionen des Nutzers auf die am Bildschirm dargebotene Information. Die Balkengraphiken entsprechen den Momentanwerten der folgenden psychophysiologischen Daten: Atmung (RES), peripherer Blutfluss (PBF), Elektrokardiogramm (EKG), Hauttemperatur (TMP), Hautleitfähigkeit (EDA) sowie der Bewegungsaktivität (MOT).

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in den Systemen Herz, Atmung und Hautleitfähigkeit, die die affektivemotionale Befindlichkeit des Nutzers regulieren. Methodische Grundlage zur Beschaffung der in Bild 1 als „NutzerRTM“ bezeichneten Information ist die Interaktionsverlaufsanalyse (IVA). Dabei handelt es sich um ein am Laboratorium für Interaktionsforschung der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg entwickeltes, für die Zwecke von NAUBI speziell angepasstes Messverfahren zur Echtzeiterfassung der inneren und äußeren Reaktionen, die das Dialogverhalten eines LIS beim menschlichen Nutzer hervorruft. Bild 3 zeigt die Funktionsprinzipien dieses Mess- und Analysesystems. Der auf dem Bildschirm dargebotene visuelle Input wird hierbei in Echtzeit sowohl mit den äußeren verbal/ nonverbalen Verhaltensreaktionen des Nutzers (overt responses) als auch mit dessen inneren, emotionalen Regungen verknüpft, die sich im vegetativen System entfalten (covert responses). Die Aktivität des autonomen Nervensystems wird dazu über geeignete Messfühler auf biometrischem Wege kontinuierlich erfasst, in Form von Balkengraphiken im 50 Hertz-Rhythmus visualisiert und über eine spezielle Computersteuerung mit zwei weiteren Datenquellen verknüpft, die in diesem Fall von einem VGA-Monitor und einer Videokamera angeliefert werden. Die vom VGA-Monitor abgegriffenen, den visuellen Input des Nutzers repräsentierenden Daten geben hierbei das „Dialogverhalten“ des technischen Systems in der Form wieder, in der es sich dem Sensorium des Nutzers präsentiert. Die Videokamera registriert die zeitgleich stattfindenden overt responses des Nutzers.

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Fakultät für Gesellschaftswissenschaften Step 2: Schwachstellenanalyse Unabdingbare Voraussetzung für die Identifikation von Schwachstellen der Mensch-LIS-Interaktion ist die Möglichkeit der exakten Rückbindung der Nutzerreaktion an den vom LIS angelieferten Stimulusinput. Denn nur auf diese Weise lässt sich ermitteln, welche spezifischen Interaktionsangebote zu „Verständigungsschwierigkeiten“ zwischen Mensch und LIS bzw. zu Stressreaktionen seitens des Nutzers geführt haben. Im Rahmen dieses Teilprojekts wurden daher besondere Anstrengungen zur Konzeption und Realisierung eines Datenaufbereitungsverfahrens unternommen, das es gestattet, die dynamische Wechselwirkung zwischen dem LIS und seinem Nutzer in ihrer vollen Komplexität über den gesamten Interaktionsverlauf hinweg zu verfolgen. Bild 4 gibt eine Darstellung des zu diesem Zweck entwickelten, integrier-

ten Verfahrens zur synoptischen Verknüpfung des vom LIS angelieferten Stimulusinputs mit den verbalen, nonverbalen und vegetativen Verhaltensreaktionen des Nutzers (NutzerRTM). Es gibt über den gesamten Interaktionsverlauf hinweg differenziert Aufschluss über die vom Dialogverhalten des LIS ausgelösten Veränderungen im äußeren Verhalten und in der inneren Befindlichkeit des Nutzers. Auf diese Weise lässt sich auf empirischem Wege bestimmen, in welchen Phasen der Nutzung eines LIS die dynamische Wechselwirkung zwischen Mensch und Technik reibungslos vonstatten geht, wann das technische System den Nutzer in Schwierigkeiten bringt und von welchen spezifischen Interaktionsangeboten dies verursacht wurde. Insbesondere eröffnet sich hier erstmalig die Möglichkeit der Abklärung der — im Hinblick auf die Bereitschaft zu

einer dauerhaften LIS-Nutzung entscheidenden — Frage, welche der im Verlaufe der Mensch-LIS-Interaktion auftretenden Verständigungsschwierigkeiten auf Seiten des LIS-Nutzers zu Stressreaktionen führen, die im Sinne so genannter „kritischer Ereignisse“ (critical incidents) dessen psychische Befindlichkeit belasten bzw. eine Abneigung gegen die Nutzung des LIS erzeugen. Um die generelle Bedeutung der aufgedeckten Schwachstellen eines LIS abschätzen zu können, ist auf ein geeignetes Stichprobenverfahren bei der Auswahl der Probanden zu achten. Denn nur so wird es möglich, Schwachstellen allgemeiner Art, die den Bedürfnissen der Nutzer generell zuwider laufen, von solchen individueller Art zu unterscheiden, die sich nur in Ausnahmefällen bei einzelnen Nutzern als Hürde für die effiziente Nutzung eines LIS erweisen.

Um die Probleme überwinden zu können, die die „Verständigung“ zwischen Mensch und Technik gegenwärtig noch in hohem Maße belasten, ist es wichtig, sich darüber klar zu werden, dass die menschliche Kommunikation nach Regeln verläuft, die grundlegend verschieden sind von denen der technischen Kommunikation. Unabdingbare Voraussetzung für das Funktionieren der technischen Kommunikation ist eine Kodevereinbarung zwischen Sender und Empfänger. Bei dieser kodierten Kommunikation wird durch eine quasi „vertragliche“ Regelung die semantische Beziehung zwischen Zeichen und dem Bezeichnetem begründet. Diese lässt dem Empfänger keinerlei Interpretationsspielraum bei der Zeichendeutung. Er muss sich vielmehr auf das Komma genau an den vorgegebenen Interpretationskodex halten. Der Kommunikationsprozess in biologischen Systemen folgt ganz anderen Gesetzen. Lebende Organismen standen im Verlaufe ihrer Entwicklungsgeschichte regelmäßig vor dem Problem, dass ihr Sinnesapparat mit einer Vielzahl von Reizen konfrontiert wird, über deren Relevanz der Organismus selbst zu befinden hat. Dementsprechend gewinnen hier Zeichen ihre Bedeutung nicht auf dem Wege über eine Vereinbarung, sondern aufgrund von (mehr oder weniger unbewusst verlaufenden) Schlussfolgerungen des Empfängers. Bei biologischen Systemen gerät nämlich — wie Charles Morris, der Begründer der Semiotik, es einmal ausdrückte — „etwas zu einem Zeichen nur deshalb, weil etwas von jemandem als ein Anzeichen für etwas erachtet wird“. Der wesentliche Unterschied zwischen der technischen Kommunikation und der von lebenden Systemen praktizierten so genannten inferenziellen Kommunikation besteht somit darin, dass die Sinnstiftung bei Letzterer nicht auf dem Vereinbarungswege erfolgt, sondern durch eine quasi „eigenmächtige“ Verfügung des Empfängers, der über die „Definitionshoheit“ verfügt.

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Photo: Photodisc

Stichwort Kommunikation

Zwar ist der Mensch durchaus auch zu kodierter Kommunikation fähig. Gleichwohl verfährt er mit der von ihm aufgenommenen Information in aller Regel im Sinne der inferenziellen Kommunikation. Zumeist beansprucht er nämlich beharrlich das Privileg, autonom entscheiden zu können, welche „Zeichen“ er als ein „Anzeichen“ für etwas wertet. Von diesem Privileg macht der Mensch auch im Umgang mit technischen Systemen wie selbstverständlich Gebrauch. Das heißt, er rezipiert die Reize, die ihm das technische System präsentiert, höchst selektiv und interpretiert das, was er daran wahrnimmt, gemäß seiner eigenen inferenziellen Lesart. Die Entwicklung von technischen Systemen, die das Prädikat nutzerfreundlich tatsächlich verdienen, kann denn auch, wie die amerikanischen Usability-Forscher Norman, Weldon & Shneiderman bereits vor mehr als einem Jahrzehnt betonten, nur in dem Maße gelingen, indem der Softwareentwickler die Rezeptions- und Interpretationsprozesse in Rechnung stellt, die auf Seiten des menschlichen Nutzers zu spontanen Bedeutungszuweisungen führen.

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Fakultät für Gesellschaftswissenschaften Step 3: Support- und Consultingsystem Die im Rahmen der Interaktionsverlaufsanalyse identifizierten „Dialogunfälle“ geben nicht nur zu erkennen, welche Verhaltensweisen des technischen Systems das kognitivrationale Verständnis der dargebotenen Inhalte erschweren und welche das emotional-affektive Befinden des Nutzers beeinträchtigen. Sie finden ihren Niederschlag auch in einer spezifischen Verlaufsstruktur der LISRTM-Protokolle. Dementsprechend können diese im Hinblick auf das Vorliegen der für die verschiedenen Dialogunfälle charakteristischen Strukturmerkmale durchsucht werden. Da dies in einer späteren Ausbauphase des Systems NAUBI online erfolgen kann, wird das System in die Lage versetzt, den Nutzer — je nach der Problemsituation, in die er geraten ist — online und doch in empirisch ge-

testeter, d. h. erprobter und bewährter Weise zu unterstützen und zu beraten. Die Probleme, die mit der Behebung der Schwachstellen „allgemeiner Art“ zusammenhängen, sind im Hinblick auf die Optimierung eines LIS zweifellos vorrangig, da sie dessen Nutzbarkeit generell beeinträchtigen. Die im Rahmen von NAUBI verfolgte Entwicklungsstrategie öffnet jedoch auch erstmalig die Möglichkeit, Unterstützung bei der Überwindung von Schwachstellen „individueller Art“ zu leisten, mit denen wegen ihrer Seltenheit nur in Ausnahmefällen zu rechnen ist. Leitlinie für die Entwicklung des zur Behebung beider Problemtypen notwendigen Support- und Consultingsystems sind die Prinzipien der Informationsaufbereitung, die für die erfolgreiche Verständigung in der Humankommunikation grundlegend sind. Diese Prinzipien werden nach einem Vorschlag des amerikanischen

Photo: Photodisc

Welch gravierende Probleme auftreten, wenn diese Empfehlung in den Wind geschlagen wird, illustriert eine Untersuchung von Möller (1999) über das Ausmaß überflüssiger Aktionen, die Nutzer von Textverarbeitungssystemen bei dem Versuch unternahmen, die vielfältigen Funktionen der Software für sich nutzbar zu machen. Die durch unnötige oder kontraproduktive Operationen verschwendete Arbeitszeit addierte sich selbst bei Probanden, die mit dem getesteten System (MS-Word) gut vertraut waren, im Durchschnitt auf mehr als 60 Prozent der Gesamtarbeitszeit. Noch desolatere Ergebnisse zeitigte eine Studie des Münchener Ergonomen Heiner Bubb, der Probleme bei der Programmierung von Videorekordern untersuchte. „Über 80% der Nutzer sind nicht in der Lage, die einfachsten Programmierungen vorzunehmen“. Verständlich werde dies, so Bubb, wenn man die Bedienlogik betrachte, die so ausgelegt sei, dass sie sozusagen zwangsläufig „Verwirrung im Kopf des Bedieners“ stifte und zudem dafür sorge, dass „selbst der Ansatz eines eventuellen Lernvorgangs des Nutzers wirkungsvoll vereitelt“ werde. Die menschliche Informationsverarbeitung ist durch die Aktivität zweier Systeme geprägt, von denen das eine den sachlichen Inhalt einer Meldung auswertet, das andere eine affektive Stellungnahme zur Person des Senders selbst herbeiführt. Die moderne Kommunikationsforschung unterscheidet zwischen dem Inhalts- und dem Beziehungsaspekt einer Botschaft. Der Inhaltsaspekt bestimmt dabei das Ausmaß, in dem die vom Sender übermittelte Information vom Empfänger verstanden und ausge-

Gerhard-Mercator-Universität Duisburg

Sprachtheoretikers H. Paul Grice (1989) mit den Begriffen „Quantity“, „Quality“, „Relation“ und „Manner“ umschrieben. Demnach ist den Kommunikationsbemühungen des Senders nur in dem Maße Erfolg beschieden, in dem es diesem gelingt sicherzustellen, dass seine Äußerungen weder mehr noch weniger Information enthalten, als nötig ist (Quantity), nicht ungeprüft oder gar unwahr sind (Quality), nicht irrelevant im Hinblick auf den in Frage stehenden Sachverhalt sind (Relation) und nicht in einer dem Empfänger unangenehmen (zum Beispiel unhöflichen) Art vorgetragen werden (Manner). Der Hauptgrund für die Akzeptanzschwierigkeiten, mit denen moderne Lern- und Informationssysteme gegenwärtig zu kämpfen haben, liegt in erster Linie in der mangelnden Berücksichtigung und vielfach sogar drastischen Verletzung dieser Grice’schen

wertet werden kann. Der Beziehungsaspekt bestimmt, ob die Kommunikationspartner in Anbetracht der Art und Weise, wie sich das Gegenüber im Dialog verhält, überhaupt in eine (weitere) Beziehung zueinander treten wollen und welche Formen diese allenfalls annehmen könnte. Eine derartige „doppelte kommunikative Buchführung“ findet auch in der Mensch-Technik-Interaktion statt. Aus diesem Grund kann das „Dialogverhalten“ eines technischen Systems emotionale Reaktionen hervorrufen, die u. U. als in hohem Maße stressauslösend erlebt werden. Dies wiederum führt häufig dazu, dass die Beschäftigung mit dem technischen System meist schon nach kurzer Zeit beendet wird, weil das Dialogverhalten dem Nutzer den Eindruck aufdrängt, das Programm präsentiere die darin enthaltene Information in einer den Nutzerbedürfnissen nicht angemessenen, oft geradezu Ärger provozierenden Art. Nicht anders als dies bei der Beziehungsregulation im Humanbereich der Fall ist, erfolgen die emotionalen Reaktionen des Menschen auf das Dialogverhalten eines technischen Systems meist in Form so genannter „unbewusster Schlüsse“. Das charakteristische Merkmal derartiger (vorwiegend im Zwischenhirnbereich angesiedelter) Informationsverarbeitungsprozesse ist, dass sie spontan auftreten, quasi mühelos zustandekommen, durch rationale Erwägungen nur schwer korrigierbar sind — ja, dass sie dem Bewusstsein überhaupt nur in Ausnahmefällen zugänglich gemacht werden können. In der Mensch-Technik-Interaktion führt dieser Umstand häufig dazu, dass die Nutzer durchaus eine dezidierte, stark emotional-affektiv getönte Einstellung zu einem System entwickeln können — ohne zuverlässig angeben zu können, was sie daran stört, was ihnen besonders gefällt, welche spezifischen Merkmale und Features ihnen eine nützliche Hilfestellung bieten und welche eine eher kontraproduktive Wirkung haben.

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Fakultät für Gesellschaftswissenschaften

Bild 4: Vergleichende Verknüpfung des Stimulusoutputs mit den äußeren und inneren Reaktionen, die die auf dem Bildschirm dargebotene Information bei der Nutzerin hervorrief. Die EKG-Daten liegen hier in weiterverarbeiteter Form als Interbeatintervalle (IBI) vor. Das Bild zeigt einen Ausschnitt von ca. 7 Minuten.

Weiterführende Informationen im Internet: http://www.naubi.de Das Projekt NAUBI: Erarbeitung und Erprobung eines Lernsystems zur Übertragung neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse auf die Praxis. http://kommedia.uni-duisburg.de/presentation_start.htm Beispiel für die Umsetzung der Forschungsergebnisse im Rahmen der Lehre: „Evaluation der Kommedia — Homepage“. Literatur zu dem Themengebiet: • Frey, S. & Möller, C. (1999). Spontaneous movement: The unexplored dimension of human communication. In: A. Kecskeméthy, M. Schneider & C. Woernle (Eds.). Advances in multibody systems and mechatronics. Graz: Technische Universität Graz. • Frey, S. & Raveau, A. (2002). Du mot à l’image. Nouvelles orientations de la recherche en communication. msh-informations. Bulletin de la Fondation Maison des Sciences de l’Homme, Paris (im Druck). • Frey, S. (2001). Bild Dir Deine Meinung. Universitas, 56, 662, 781-789. • Frey, S. (2000). Die Macht des Bildes. Der Einfluss der nonverbalen Kommunikation auf Kultur und Politik. Bern: Verlag Hans Huber. • Geiser, G. (1998). Mensch-Maschine-Kommunikation: Warum entstehen „benutzungsfeindliche“ Geräte? In Informationstechnische Gesellschaft im VDE (Hg.), Technik für den Menschen. Gestaltung und Einsatz benutzerfreundlicher Produkte. ITG-Fachbericht 154, 7-14. • Grice, H.P. (1989). Studies in the way of words. Boston: Harvard University Press • Kempter, G. (1999). Das Bild vom Andern. Skriptanimation als Methode zur Untersuchung spontaner Attributionsprozesse. Lengerich: Pabst Science Publishers. • Möller, C. (1999). Interaktionsverlaufsanalyse (IVA) als Methode zur Effizienzsteigerung des Mensch-MaschineSystems. In Ganten, D.; Meyer-Galow, E.; Ropers, H.H. (Hg.): Gene, Neurone, Qbits & Co. Unsere Welten der Information. Stuttgart: Hirzel.

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Postulate. Dementsprechend stellt es ein zentrales Anliegen der im Rahmen von NAUBI verfolgten Forschungsund Entwicklungsarbeiten dar, ein Support- und Consultingsystem zu realisieren, das gewährleisten kann, dass der Nutzer eines LIS in allen Phasen der Mensch-Technik-Interaktion mit Information versorgt wird, die für ihn auch tatsächlich relevant ist — und zwar gemäß seiner eigenen Maßstäbe. Dabei ist zu beachten, dass die Postulate Quantity, Quality und Relation vor allem im Zusammenhang mit der Optimierung des Inhaltsaspekts der Kommunikation, d. h. im Hinblick auf die kognitive Dimension des Kommunikationsprozesses von Bedeutung sind. Das Postulat Manner zielt dagegen mehr auf den Beziehungsaspekt, d. h. auf die affektiv/emotionale Dimension des Kommunikationsprozesses ab. Die relative Bedeutung dieser beiden Aspekte kann in Abhängigkeit vom Kommunikationszweck ganz unterschiedlich sein. Wo die Informationsrezeption primär der bloßen „Unterhaltung“ dient, sind die Postulate Quantity, Quality und Relation als nachrangig, das Postulat Manner dagegen als vorrangig einzustufen. Das heißt der Nutzer legt in diesem Fall primär Wert darauf, dass ihm die Information auf eine ihm angenehme Art und Weise dargeboten wird. Wenn es dagegen — wie bei einem LIS der Fall — um den Erwerb von neuem, für die berufliche Tätigkeit wichtigem Wissen geht, ist die Prioritätensetzung des Nutzers zwangsläufig umgekehrt.

Insofern ist es nicht überraschend, dass die in der Vergangenheit häufig unternommenen Versuche, die Defizite an inhaltlicher Verwertbarkeit eines LIS durch „Spielereien“ zu kompensieren, nicht nur erfolglos blieben, sondern von den Nutzern oft sogar als eine Quelle zusätzlichen Ärgers empfunden wurden. Dies gilt auch für die vielfältigen Bemühungen, die Attraktivität eines LIS durch die Implementierung von Avataren zu erhöhen. Diese Aufgabe stellt nämlich nicht nur ganz besondere Anforderungen an die zur Optimierung der Bewegungsweisen des Avatars notwendige Methodik. Sie konnte allein schon deshalb nicht gelingen, weil die Probleme, die aus der Verletzung der Postulate Quantity, Quality und Relation resultieren, aus den oben genannten Gründen — speziell im Falle eines LIS — vorrangig zu lösen sind. Das den Entwicklungs- und Optimierungsarbeiten im Rahmen von NAUBI zugrunde liegende Konzept trägt, wie aus Bild 1 hervorgeht, diesem Sachverhalt dadurch Rechnung, dass erst nach dem Abschluss der in mehreren Schritten zu realisierenden Optimierung der Inhaltsaspekte des LIS die Arbeiten zur Implementierung des als „virtueller Mentor“ fungierenden Avatars überhaupt in Angriff genommen werden sollen. In Anbetracht der zentralen Rolle, die nonverbale Stimuli bei der Regulation der emotionalen Befindlichkeit spielen, darf man von diesem Arbeitsschritt, so er gelingen sollte, allerdings dann einen wirklichen Quantensprung im Hinblick auf die Optimierung der Schnittstelle MenschTechnik erwarten.

Kontakt Prof. Dr. Siegfried Frey Stud. Ass. Carsten Möller Laboratorium für Interaktionsforschung Institut für Kognition und Kommunikation [email protected] http://inkk.uni-duisburg.de

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Bilder: Photdisc

Wenn es um das Thema Kommunikation geht, hat die Soziologie eigentlich ein Heimspiel. Schließlich beschäftigt sie sich seit ihrem Entstehen mit sozialen Beziehungen, wofür Kommunikation eine fundamentale Voraussetzung ist. Die Tatsache, dass im Rahmen sozialer Beziehungen kommuniziert wird, mag zunächst trivial erscheinen. Da überrascht es, dass gerade eine wissenschaftliche Disziplin wie die Soziologie, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Selbstverständlichkeiten als voraussetzungsvolle Zusammenhänge darzustellen, lange Zeit dem Thema Kommunikation wenig Aufmerksamkeit schenkte. Das spiegelte sich auch in dem gängigen Kommunikationsmodell wider, welches über eine lange Periode Geltung beanspruchte. Kommunikation wurde in diesem informationstheoretischen Modell – analog zur Nachrichtentechnik – als die Übertragung einer Information von einem „Sender“ zu einem „Empfänger“ über einen Informationskanal aufgefasst. Weil hier Kommunikationsprobleme in erster Linie auf externe Störquellen reduziert wurden, blieb die Ebene des subjektiven Verstehens von Information weit gehend ausgeklammert. Dabei besteht gerade auf dem Feld der Kontextualisierung bzw. des Verstehens von Information im Zuge der computer-vermittelten Kommunikation besonderer Forschungsbedarf, um die grundsätzlich veränderten Anforderungen erkennen und entsprechende Antworten entwickeln zu können. Wie kein anderer hat der Soziologe Niklas Luhmann (1927-1998) in seiner umfassenden Gesellschaftstheorie den Kommunikationsbegriff ins Zentrum aller Überlegungen gerückt und ein Kommunikationsmodell entwickelt, welches der Komplexität der Theorie Rechnung tragen soll. Luhmann hat Kommunikation als die Einheit einer dreifachen Unterscheidung formuliert. Kommunikation wird bei ihm aufgefasst als die Synthese von drei Selektionen — nämlich Information, Mitteilung und Verstehen:

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• Information ist nur dann Information, wenn sie etwas Neues enthält. Wer dieselbe Zeitung zweimal liest, wird feststellen, dass sich der Informationsgehalt nicht verdoppelt. • Eine Mitteilung hingegen ist von der Absicht abhängig, dass etwas mitgeteilt werden soll. Wem im Kino der Magen knurrt, der hat noch nicht kommuniziert, weil man dem Betroffenen kaum eine Mitteilungsabsicht zugestehen wird. • Für ein Verstehen schließlich müssen Information und Mitteilung in

einen sinnvollen Zusammenhang gebracht werden. Wer eine arabische Zeitung kauft, der Sprache jedoch nicht mächtig ist, kann zwar Information und Mitteilung unterstellen, wird jedoch beim Verständnis Probleme bekommen. Nur wenn alle drei Ebenen zu einer sinnvollen Deckung gebracht werden, findet Kommunikation statt. Sprachliche Kommunikation ist vor dem Hintergrund dieses Modells zwar nur eine mögliche Form der Kommunikation, allerdings diejenige, welche gelungene Kommunikation am wahrscheinlichsten werden lässt. Am Anfang war die Schrift Der kurze Ausflug in die Kommunikationstheorie zeigt, dass aus soziologischer Perspektive kommunikative Verständigung ein hoch voraussetzungsvoller Prozess ist. Dabei spielen die verwendeten Technologien zur Verbreitung von Informationen eine bedeutende Rolle. Die Konsequenzen, die eine technisch gestützte Informationsverbreitung für die sozialen Strukturen der Gesellschaft hat, können schwerlich überschätzt werden. Den Anfang machte hier die Erfindung der Schrift. Mit Schrift stand erstmals eine Technik zur Verfügung, die sprachliche

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Fakultät für Gesellschaftswissenschaften Die Computer-Revolution Mit dem Siegeszug computergestützter Kommunikationssysteme wird die Verbreitungstechnik von Informationen abermals revolutioniert. Es handelt sich um eine Entwicklung, die in ihrer Bedeutung der Erfindung des Buchdruckes kaum nachstehen dürfte, die sich jedoch deutlich schneller vollzieht. Erste soziale Transformationsprozesse sind bereits erkennbar, in ihrer Konsequenz aber bei weitem noch nicht absehbar. Die wahrscheinlich eindrucksvollste Entwicklung auf dem Gebiet computer-vermittelter Kommunikation dürfte in der rasanten Verbreitung des Internets liegen. Im Vergleich zum Buchdruck besteht die entscheidende Veränderung der Kommunikation via Internet in der Interaktivität, die über die so genannte „Hyper-Text-Struktur“ erzeugt wird. Es handelt sich nicht mehr um linear konzipierte Texte mit eindeutigem Anfang und Ende, sondern jeder Hyper-Link kann grundsätzlich auf fremde Sinnzusammenhänge verweisen, womit die Ebene des Verstehens von sprachlicher Kommunikation belastet wird. Das Klicken durch „verlinkte“ Texte über einen längeren Zeitraum verlangt deshalb ein anderes Verstehen als die Buchlektüre, denn die Wahrscheinlichkeit, dass über weite Strecken des „Surfens“ sinnvolle Sinnsequenzen aneinander gereiht werden können, sinkt erheblich. Jeder, der schon einmal Informationsrecherche im Internet betrieben hat, kennt den Effekt, sich irgendwann auf Seiten zu finden, die mit dem ursprünglichen Suchinteresse in keinem eindeutigen

Die kommunikative Vernetzung der Welt schreitet unaufhaltsam fort

Bibliotheca Bipontina, Zweibrücken

Verständigung nicht mehr in das Korsett mündlicher Kommunikation zwang. Informationen konnten nun über räumliche Distanzen hinweg übermittelt werden, was allerdings voraussetzte, dass die Adressaten das Geschriebene lesen und interpretieren konnten. Das Problem schriftlicher Kommunikation ist jedoch, dass die Deutungsmuster, die bei mündlicher Kommunikation durch Gesten, Betonungen etc. mitkommuniziert werden (Redundanz), nur schwer vermittelt werden können. Die Relevanz technischer Informationsverbreitung für die Strukturierung der Gesellschaft wird daran erkennbar, dass erst mit der Erfindung des geschriebenen Wortes die Verwaltung von großflächig organisierten Territorien möglich wurde. So war es vor allem Schrift, die zu einer weiträumigen Vereinheitlichung unterschiedlicher Sprachformen und im Nachfolgenden zu einer stärkeren Integration der Gesellschaft führen sollte. Den alten Ägyptern stand mit den Hieroglyphen bereits vor 5000 Jahren ein leistungsfähiges Schriftsystem zur Verfügung, und es ist kein Zufall, dass sie als die erste Volksgemeinschaft gelten, die über einen integrierten Flächenstaat mit umfangreichen Verwaltungsfunktionen verfügte. Solange die Zeichen jedoch in aufwändiger Handarbeit auf Papier oder gar in Stein gebracht werden mussten, blieb die Kunst des Lesens und Schreibens einer geringen Anzahl von Personen vorbehalten. Erst die Erfindung des Buchdruckes vor gut 550 Jahren ermöglichte es, eine breitere Masse der Bevölkerung mit schriftlicher Kommunikation zu versorgen. Es dauerte freilich Jahrhunderte, bis sich Lesen und Schreiben als allgemein verbindliche Kulturtechniken etablierten.

Sinnverhältnis mehr stehen. Steigende Kommunikationsmöglichkeiten müssen also nicht zwingend auch zu mehr gelungener Kommunikation führen. Auch auf der Ebene von Erwerbsarbeit sind die Auswirkungen computer-vermittelter Kommunikation Gegenstand wissenschaftlichen Interesses. So hat sich die soziologische Arbeitsforschung seit langem mit den Auswirkungen technisch gestützter Kommunikationssysteme auf die Arbeitsgestaltung auseinander gesetzt. Während zu Beginn der 80er Jahre zunächst die Frage im Vordergrund stand, ob Computer zu einem flächendeckenden Abbau von Arbeitsplätzen führen, konzentriert sich die Forschung mittlerweile darauf, wie Computer die Kommunikationsstrukturen einer Organisation beeinflussen und welche Auswirkungen dies auf die Ebene der Arbeitsorganisation hat. Beispielsweise gibt es Studien, die nachweisen, dass die Intensität von E-Mail-Kommunikation in einem signifikanten (Wechsel-)Verhältnis mit flachen Hierarchien und dezentral ausgerichteten Organisationsstrukturen steht. Offenbar trägt E-Mail als eine Art Zwischenform von mündlicher und schriftlicher Kommunikation erheblich zu einer Vernetzung von Handschriftlich angefertigte Bücher (hier die Bibel) wurden oftmals durch aufwändige Malereien verziert

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Die Erfindung des Buchdruckes mit beweglichen Metalllettern durch Johannes Gutenberg um 1440 n. Chr. revolutionierte die Erstellung von Texten

organisationalen Stellen bei. Wenn sich Beschäftigte per E-Mail an sämtliche Vorgesetzte wenden können, ermöglicht dies eine direkte Kommunikation jenseits des „Dienstweges“, wahrt jedoch zugleich eine kritische Distanz. Die Konturen der Verteilung von Macht und Status in Organisationen werden daher auch von den jeweils dominierenden Kommunikationstechnologien maßgeblich geprägt. Sprachlose Kommunikation? Computer-vermittelte Kommunikation bietet aber mittlerweile in Unternehmen noch ganz andere Möglichkeiten. Dies gilt besonders für die Gestaltung der kommunikationsintensiven Schnitt- bzw. Grenzstellen von Organisation. Hier beobachtet man eine zunehmend technische Vernetzung sämtlicher Geschäftsprozesse. Wer heute ein neues Auto bestellt, kann davon ausgehen, dass die Daten der Fahrzeugspezifikation direkt von der Verkaufsstelle in die Produktion gespeist werden und dort automatisch die entsprechenden Logistikpro-

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zesse ansteuern. Sieht man sich die Firma Dell an, stellt man fest, dass das Unternehmen seine Computer ausschließlich über das Internet vertreibt, wobei der Kunde die Spezifikation seiner Ware selbst vornimmt, die dann „on demand“ gefertigt wird — mündliche Kommunikation mit dem Kunden: Fehlanzeige. Beim Buchkauf im Internet gewinnt man als Kunde zuweilen den Eindruck, dass überhaupt nicht mehr mündlich in Unternehmen kommuniziert wird, wenn sämtliche Geschäftvorgänge digitalisiert sind. Müssen wir nun erwarten, dass künftig mit Hilfe elektronischer Datenverarbeitung Organisationsstrukturen geschaffen werden, die darauf abzielen, mündliche Kommunikation zu minimieren oder diese gar ganz ausschließen? Wohl kaum, aber zumindest scheint es aus der Perspektive von Organisationen gute (betriebswirtschaftliche) Gründe für ein solches Szenario zu geben. Denn menschliches Kommunizieren kostet Zeit, und dass Zeit Geld ist, wusste Benjamin Franklin schon vor 250 Jahren. Der zentrale Vorteil, den Computer für unternehmensbezogene Kommunikationsprozesse bieten, besteht offensichtlich darin, dass das Problem (in unseren Beispielen z. B. die Produktspezifikation) in die Form von Daten gebracht wird, über die dann im Nachhinein eben nicht mehr verhandelt, d. h. sprachlich kommuniziert werden muss. Jede Kommunikation, die als Datum vorliegt, lässt sich mit Computern berechnen, und Computer rechnen im Allgemeinen schneller als Menschen kommunizieren können. Aber welche Konsequenzen bringt es für die Beschäftigten mit sich, wenn herkömmliche Kommunikationsprozesse zunehmend auf elektronische Berechnung umgestellt werden? Konkrete Auswirkungen elektronisch gestützter Schnittstellenkommunikation in Unternehmen konnten im Rahmen des Duisburger Forschungsprojekts „Die Gestaltung von Wissensschleifen zwischen Kundenorientierung und Innovation“ unter der Leitung von Karen Shire aufgezeigt werden. Die Mitarbeiter des Projekts führten eine Fallstudie in einer Bank durch, die zur Unterstützung ihres Filialgeschäfts eine umfangreiche Computer-Anwendung eingeführt

hat. Es handelt sich um ein komplexes Customer-Relationship-ManagementSystem (CRM), welches darauf abzielt, Geschäftsprozesse stärker zu vernetzen, indem Kundendaten dezentral in den einzelnen Filialen erfasst und einer zentralen Datenverarbeitung zugeführt werden. Die Datenverarbeitungssysteme der Bank berechnen aufgrund einer Vielzahl von biographischen Kundendaten, Vermögensverhältnisse etc. die Wahrscheinlichkeit des Bedarfes, den ein Kunde für ein bestimmtes Produkt haben könnte. Den Beschäftigten in den Filialen wird daraufhin ein so genannter „Verkaufshinweis“ zugespielt, mit der verbindlichen Aufforderung, diesen abzuarbeiten. Das bedeutet praktisch, dass die Mitarbeiter an ihren Arbeitsplätzen die Computer einschalten und dort z. B. folgende Mitteilung vorfinden: „Bitte Herrn XY anrufen und auf den Abschluss eines Bausparvertrages ansprechen“. Klare Anweisung und „alles Roger“ — könnte man meinen. Vom Umgang mit Wahrscheinlichkeiten Im Laufe der Forschungsaktivitäten konnte jedoch aufgezeigt werden, dass computer-vermittelte Kommunikation in Form von nach Gesetzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung erzeugten Verkaufshinweisen bei den Beschäftigten der Bank zu einer erheblichen Belastung der Verstehensebene führt. Zwei Aspekte spielen eine wichtige Rolle: • Zum einen hat das System eine extrem hohe Datenkomplexität er-

Bildarchiv Bernd Bienzeisler

University of Houston, Texas

Fakultät für Gesellschaftswissenschaften

Hieroglyphen: Mit der Bilderschrift stand bereits frühzeitig ein komplexes Schriftsystem zur Verfügung

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Bildarchiv Bernd Bienzeisler

reicht. Werden Daten, wie z. B. das Geburtsdatum eines Kunden, auch nur minimal falsch eingegeben, produziert die Anwendung „sinnlose“ Verkaufshinweise. So kam es vor, dass die Beschäftigten die Aufforderung erhielten, eine 90-jährige Dame auf den Abschluss einer Lebensversicherung anzusprechen – eine absurde Aufgabe, vor der selbst stark „vertriebsorientierte“ Mitarbeiter verständlicherweise zurückschreckten.

Kommunikation über E-Mail kann eine Zwischenstellung von mündlicher und schriftlicher Kommunikation einnehmen

• Zum anderen wird das gesamte Kontextwissen, welches die Berater im täglichen Kundenkontakt generieren (z. B. das Wissen über die jeweilige Persönlichkeitsstruktur eines Kunden, seine beruflichen Perspektiven und die private Situation), in den datenbasierten Verkaufshinweisen nicht transportiert. Das führte zu Situationen, in denen das System den Beschäftigten Verkaufsvorschläge unterbreitete, bei denen die Kundenberater offenkundig wussten, dass der jeweilige Kunde definitiv kein Interesse an

einem bestimmten Produkt haben wird. Zum Teil sahen die Mitarbeiter in solchen Fällen sogar die Gefahr, den Kunden durch aktive Ansprache „auf den Geist zu gehen“. Das Beispiel zeigt auf, dass die Kontextualisierung bzw. das Verstehen von Information nach wie vor nicht von Computer-Systemen ersetzt werden kann, sondern auf subjektiver Ebene stattfindet. Die häufigen Klagen der Beschäftigten über die Sinnlosigkeit der computer-generierten Verkaufshinweise machten dies bei der empirischen Untersuchung immer wieder deutlich. Was sich darüber hinaus beobachten lässt – und hier sind mögliche Konsequenzen bislang kaum erforscht – ist die Tatsache, dass computer-vermittelte Kommunikation wesentlich schwerer abgelehnt und zurückgewiesen werden kann als mündliche Kommunikation. Dies ist besonders pikant, wenn, wie oben skizziert, die Generierung von Arbeitsaufträgen und deren Kontrolle selbst über Computersysteme gesteuert wird. Denn Computer verstehen nur, dass ein Auftrag nicht erledigt wurde – sie verstehen aber nicht, ob für die Nichterledigung möglicherweise gute Gründe vorlagen. So gab es denn auch für die Beschäftigten, denen in unserem Fallbeispiel der „sinnlose“ Arbeitsauftrag der Lebensversicherungsvermittlung an die 90jährige erteilt wurde, keinerlei Möglichkeit, diese Sinnlosigkeit konkreten Personen zuzurechnen — schließlich werden die Verkaufshinweise nicht unmittelbar von Menschen, sondern von Maschinen erzeugt. Wie die Beschäftigten solch technisch erzeugte Widersprüchlichkeiten verarbeiten, ist

Gerhard-Mercator-Universität Duisburg

Bildarchiv Bernd Bienzeisler

University of California, Santa Cruz

Der Computer am Arbeitsplatz: Kaum noch ein Job kommt ohne ihn aus

noch weit gehend ungeklärt. Mehrfach konnten Unmutsäußerungen wie „Das System spinnt“ oder „Was soll das alles?“ von Seiten der Angestellten registriert werden. Wo man sich früher noch über die „Spinnereien“ des Chefs aufregen konnte, um seinem Ärger Luft zu machen, müssen offenbar neue Wege im Umgang mit Sinnlosigkeit gefunden werden. Ob es dabei auch Königswege gibt oder ob dies für die Beschäftigten immer nur Holzwege sein können, bleibt eine offene Frage. Das Beispiel zeigt aber auch, dass die Verheißungen betrieblicher Rationalisierung durch computer-vermittelte Kommunikation auf der Ebene des subjektiven Verstehens der Beschäftigten ihre Begrenzung finden. Ob Computer jemals die Fähigkeit zu einer umfassenden Interpretation von Informationen erlangen werden, muss vorerst weiter bezweifelt werden.

Die Eindeutigkeit computervermittelter Kommunikation lässt gelegentlich zu wünschen übrig

Kontakt Dipl.-Soz.-Wiss. Bernd Bienzeisler Prof. Dr. Karen Shire Institut für Soziologie ☎ 02 03 / 3 05 11-28 2 [email protected] http://soziologie.uni-duisburg.de/forschung.html

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