Mehr Europa! Liebe Leserinnen und Leser,

Vorwort Mehr Europa! Liebe Leserinnen und Leser, das Jahr 2008 dürfte ein besonderes werden – für Europa, und damit für jeden von uns. Die Europäisch...
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Vorwort Mehr Europa!

Liebe Leserinnen und Leser, das Jahr 2008 dürfte ein besonderes werden – für Europa, und damit für jeden von uns. Die Europäische Union hat die kommenden zwölf Monate zum „Europäischen Jahr des Interkulturellen Dialogs“ erklärt. „Europa eine Seele geben“ – so könnte man auch beschreiben, was hiermit versucht werden soll und was sich letztlich in einem Gedanken zusammenfassen ließe: dass wir uns einander mehr annähern, besser verstehen, vieles voneinander lernen. Vor allem das „Europa der EU“ hat sich in den vergangenen Jahren sehr gewandelt: Mehrere Erweiterungen, eine größere Mobilität durch den Binnenmarkt und ein stärkerer Austausch von Menschen und Waren inner- wie außereuropäisch haben ihre Wirkung gezeigt. Interaktionen zwischen den Kulturen, Sprachen, Völkern und Religionen innerhalb – und natürlich auch außerhalb – des europäischen Kontinents gehören mittlerweile zum Alltag. Wenn diese vielfältigen Kontakte jedoch zu belastbarer Annäherung und gegenseitigem Verständnis führen sollen, müssen ein bewusster Dialog zwischen den Bürgerinnen und Bürgern – und dabei vor allem den jungen Menschen – ebenso wie die Lust am VoneinanderLernen weiter gefördert werden. Nicht zuletzt deshalb kommt solch ein Jahr des Interkulturellen Dialogs zur rechten Zeit. Rund zehn Millionen Euro stehen seitens der EU-Kommission bereit, um über Programme und andere Gemeinschaftsaktionen möglichst konkrete und vielfältige Projekte anzustoßen. Die anvisierten Bereiche sind vor allem Bildung und Wissenschaft, Kultur, Jugend, Sport sowie Unionsbürgerschaft.

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Generalsekretär Dr. Wilhelm Krull

Die Stiftung ist, auf ihrem Gebiet natürlich, schon mit gutem Beispiel vorangegangen. Etwa mit ihrer Förderung der Forschung zu Fragen des interkulturellen Verstehens in den 1990er Jahren und zuletzt vor allem mit der Förderung von Studiengruppen zu „Migration und Integration“. Außerdem ist hier das Forschungs- und Ausbildungsprogramm zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) zu nennen, das sie 2003 gemeinsam mit zwei weiteren europaweit aktiven Stiftungen – der Compagnia di San Paolo in Turin und dem Riksbankens Jubileumsfond in Stockholm – auf den Weg gebracht hat. Aus einer Vielzahl europäischer Länder kommend haben junge Leute, die sich mit entsprechenden Fragen beschäftigen wollen, dieses Angebot von Beginn an gut angenommen; die Ersten beendeten ihre Projekte inzwischen und richten nun ihren Blick auf interessante berufliche Positionen ganz unterschiedlicher Couleur. Womit ließen sie sich von den Stiftungen locken? Zunächst einmal einfach dadurch, dass kreative, junge Persönlichkeiten an der Schwelle zu Führungsaufgaben auf ebensolche Personen ähnlicher

Interessenlage und gleicher Wissbegier trafen, einander kennenlernten und sich austauschen konnten. Zudem schuf ihnen das Förderangebot den Freiraum, politisch unabhängig und über die Grenzen der eigenen nationalen Perspektive hinaus neue Denk- und Herangehensweisen für die Außen- und Sicherheitspolitik Europas entwickeln zu können. Schon bald darauf gelang es der einen oder dem anderen von ihnen, im Zuge öffentlicher Debatten nachhaltige Akzente zu setzen. Über Arbeitsaufenthalte europaweit, Workshops und öffentlichkeitswirksame Aktivitäten knüpften die insgesamt rund hundert jungen Forscherinnen, Forscher und Praktiker – aus beiden Sphären waren Teilnehmer ausgewählt worden – auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik ein Netz an Qualifikationen und persönlichen Beziehungen. Zum langfristigen Wohle Europas, vor allem. Was will man mehr!

internationaler, unter Umständen schon auf lokaler oder regionaler Ebene Aufmerksamkeit zu erregen. Das gilt aus mehreren Blickwinkeln: etwa aus der Perspektive der Stiftungen, die mit ihren Angeboten auch dadurch erst etwas bewegen können, dass die internationale Wissenschaftsgemeinschaft sich für ihre Ziele begeistern lässt. Ebenso gilt dies für die daran Interessierten selbst, die sich zum Beispiel im Zuge eines Kooperationsvorhabens durch das Zusammenbringen unterschiedlicher Expertise besser positionieren – nicht zuletzt im Wettbewerb mit anderen. Mit Blick insbesondere auf Kooperationen zwischen europäischen Wissenschaftlern und jenen aus Afrika oder Mittelasien – um bei den für die VolkswagenStiftung derzeit relevanten Räumen in anderen Teilen der Welt zu bleiben – muss es sich dabei um zumindest annähernd symmetrische Partnerschaften handeln.

Dieses Angebot wie beispielsweise auch die aktuell laufenden Förderinitiativen der Stiftung zum subsaharischen Afrika oder zur Region Mittelasien/ Kaukasus – beide finden sich in diesem Heft durch erfolgreich laufende Projekte illustriert – stehen für den Anspruch der Stiftung, noch stärker als in der Vergangenheit und dabei zunehmend auf internationaler Ebene sowohl Impulsgeber als auch aktiv mitgestaltender Partner der Wissenschaft zu sein. Dabei setzt sie den Hebel immer wieder neu an. Bestes Beispiel: eine gerade gestartete Kooperation mit rund einem halben Dutzend international tätiger Stiftungen zum Themenfeld der vernachlässigten tropischen Krankheiten. Auch hier richtet sich der Blick über das eigentliche Forschungsgebiet auf die Wissenschaftlerpersönlichkeiten, die die Inhalte tragen sollen. Im Angebot: Fellowships und Junior-Fellowships, jeweils explizit für Postdoktorandinnen und Postdoktoranden aus den Ländern des sub-saharischen Afrikas, wobei Bewerber um Erstere substanzielle Forschungserfahrung nachweisen müssen.

Durch die Bündelung von Aktivitäten folglich die lokale, nationale oder internationale Sichtbarkeit eines wichtigen Feldes zu verstärken und damit auch das eigene Profil zu schärfen: Dies fügt sich sehr gut zu dem Konzept der „neuen Universitas“, das einige Hochschulen im Zuge der Exzellenzinitiative für sich als Leitlinie entdeckt haben. Man mag hoffen, dass den Ideen Taten folgen, denn hier ließe sich gerade auch für die deutschen Hochschulen jener Pfad bahnen, der zu mehr internationaler Ausstrahlung führen könnte und sollte. Welche Möglichkeiten es gibt, solche Wege erfolgreich zu beschreiten – auch dafür finden sich bei den in diesem Heft vorgestellten Beispielen aus der Forschungsförderung eindrucksvolle Belege.

Hier zeigt sich auch: Wer sichtbar werden will, muss oft nicht nur bi-, sondern multilateral kooperieren, muss zugleich seine Aktivitäten bündeln, um auf

Dies vor Augen, schauen wir mit Ihnen gespannt in das Jahr 2008 – und weiter voraus. Doch zunächst: Viel Freude beim Blick in die Wissenschaft von heute! Ihr

Wilhelm Krull

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Die VolkswagenStiftung

Wir stiften Wissen Die VolkswagenStiftung ist keine Unternehmensstiftung, sondern eine eigenständige, gemeinnützige Stiftung privaten Rechts mit Sitz in Hannover. Mit einem Fördervolumen von rund 100 Millionen Euro pro Jahr ist sie die größte deutsche wissenschaftsfördernde Stiftung überhaupt und eine der größten Stiftungen hierzulande und in Europa. Die Fördermittel werden aus dem Kapital der Stiftung erwirtschaftet, das derzeit etwa 2,4 Milliarden Euro beträgt – eine starke Basis, um Wissen zu stiften! Gemäß ihrem Slogan „Wir stiften Wissen“ entwickelt die Stiftung mit Blick auf junge, zukunftsweisende oder auch gerade erst im Ansatz zu identifizierende Forschungsgebiete eigene, spezifische Förderinitiativen; sie ist darüber hinaus jedoch immer auch offen für Außergewöhnliches. In ihrer Gesamtheit bilden die Initiativen den Kern des Förderangebots. Mit dieser Konzentration auf gut ein Dutzend solcher „Arbeitsfelder“ sorgt die Stiftung dafür, dass ihre Mittel effektiv eingesetzt werden. Wenn eine Initiative nach einigen Jahren beendet wird, um Raum für Neues zu schaffen, ist das Thema oft fest in der Wissenschaftslandschaft verankert. Ihre Finanzkraft ermöglicht es der Stiftung, auf ungewöhnlich umfangreiche und vielfältige Weise die Wissenschaften zu unterstützen und neue Entwicklungen voranzutreiben. Besondere Aufmerksamkeit widmet sie dabei dem wissenschaftlichen Nachwuchs und der Zusammenarbeit von Forschern über wissenschaftliche, kulturelle und staatliche Grenzen hinweg. Zwei weitere große Anliegen: die Ausbildungs- und die Forschungs-

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strukturen in Deutschland verbessern helfen. Inzwischen hat die Stiftung in den nunmehr 46 Jahren ihres Bestehens knapp 29.000 Projekte mit insgesamt mehr als 3,4 Milliarden Euro gefördert – auch das ein Superlativ.

Impulse geben: das Förderangebot Die VolkswagenStiftung gibt der Wissenschaft mit ihren Fördermitteln gezielte Impulse: Sie stimuliert solche Ansätze und Entwicklungen, die sich einigen der großen Herausforderungen unserer Zeit stellen. Die Stiftung fördert entsprechende Forschungsvorhaben aus allen Wissenschaftsbereichen und hilft wissenschaftlichen Institutionen bei der Verbesserung der strukturellen Voraussetzungen für ihre Arbeit. In ihrem Zusammenwirken und ihrer wechselseitigen Ergänzung verleihen die sich immer wieder zu einem neuen Gesamtpaket zusammensetzenden Förderinitiativen dem Förderprofil der Stiftung dessen unverwechselbare Struktur. Auf diese Weise füllt die Stiftung ihren Satzungszweck, „die Förderung von Wissenschaft und Technik in Forschung und Lehre“, beständig mit neuem Leben. Deutlich wird dabei: Gezielte Fokussierung ist übergreifendes Strukturprinzip der Forschungsförderung der VolkswagenStiftung. Dies sichert auch eine nachhaltige Wirkung der zur Verfügung stehenden Mittel. Derzeit steht vor allem eine explizit personenbezogene Förderung im Zentrum des Engagements: Die Stiftung richtet „Lichtenberg-Professuren“ an deutschen Universitäten ein oder hält mit den Schumpeter- und Dilthey-Fellowships spezielle

„Quo vadis universitas?“ Über die „Hochschule der Zukunft“ diskutierten im September 2007 bei einer von der Stiftung geförderten Veranstaltung die Organisatorinnen Dr. Lidia Guzy (links) und Dr. Rajah Scheepers (Mitte) mit Professorin Dr. Jutta Allmendinger vom Wissenschaftszentrum Berlin.

Angebote für Geistes- und Sozialwissenschaftler bereit. Ebenso gilt ihr Interesse solch unterschiedlichen Gebieten wie den Fertigungsprozessen multifunktionaler Oberflächen, der Erforschung bedrohter Sprachen oder verschiedenen Facetten des Themas Evolutionsbiologie. Die Stiftung beschäftigt sich und die Wissenschaften mit den Zukunftsfragen der Gesellschaft – oder fördert eben mit Nachdruck wissenschaftliche Kooperationen mit dem Ausland. Ihr Augenmerk richtet sie dabei auf fachübergreifende Forschungsansätze und die junge Wissenschaftlergeneration. Gerade den international renommierten Forscherinnen und Forschern sowie den Nachwuchswissenschaftlern macht sie immer wieder speziell zugeschnittene Angebote.

• Struktur- und personenbezogene Förderung Wichtiges Ziel der VolkswagenStiftung ist es, gezielte Anstöße zu geben zur Verbesserung der strukturellen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen von Forschung und Lehre sowie der wissenschaftlichen Kommunikation. Diesem Zweck dient die struktur- und personenbezogene Förderung. Hier geht es um die besten Köpfe; darum, Exzellenz zu fördern, die Hochschulen international wettbewerbsfähig zu machen und gezielt an die Spitze zu bringen. Es geht um den Wissenschaftsstandort Deutschland – und folglich vor allem auch darum, die Chancen für den wissenschaftlichen Nachwuchs zu verbessern, neue Formen fächer- wie institutionenübergreifender Zusammenarbeit zu fördern und den Diskurs in neuen wissenschaftlichen Arbeitsrichtungen zu ermöglichen. Zurzeit umfasst dieses Förderangebot sechs aufeinander abgestimmte Initiativen. Dabei ver-

binden sich wie etwa bei den Lichtenberg-Professuren personenbezogene Impulse sowohl mit strukturellen als auch mit thematischen Akzentsetzungen. Die Initiative „Pro Geisteswissenschaften“ wiederum mit ihrer Ausrichtung auf die ebenso klassischen wie unverändert erfolgreichen Formen „individueller“ Forschung erfüllt eine von Wissenschaftlern dieser Fachrichtungen immer wieder mit Nachdruck erhobene Forderung nach adressatenspezifischer Unterstützung.

• Auslandsorientierte Initiativen Die auslandsbezogenen Förderinitiativen – gegenwärtig sind es drei – dienen der internationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit und der gezielten Unterstützung von Institutionen und Vorhaben im Ausland: wie derzeit für die Region Mittelasien/Kaukasus und das sub-saharische Afrika. Dabei entwickelt die Stiftung jeweils spezifische Förderinstrumente, die den Gegebenheiten in den einzelnen Ländern und Regionen Rechnung tragen und die eine der Situation angemessene Kooperation mit deutschen Wissenschaftlern und Institutionen gewährleisten. Einerseits geht es darum, dass die wissenschaftlichen Einrichtungen im Ausland von dem Vorhaben profitieren und die – insbesondere jüngeren – Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Region Möglichkeiten zur Qualifizierung erhalten. Ebenso soll aber auch durch Unterstützung von Auslandsprojekten und -aufenthalten der deutschen Forschung zu stärkerer internationaler Orientierung verholfen werden. Anträge von wissenschaftlichen Einrichtungen im Ausland nimmt die Stiftung übrigens in den meisten ihrer Förderinitiativen entgegen – allerdings nur, wenn eine substanzielle Kooperation mit Wissenschaftlern in Deutschland vorgesehen ist.

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• Thematische Impulse Hier setzt die Stiftung explizit Anreize im Hinblick auf die Förderung themen- und problemorientierter Grundlagenforschung. Sie verfolgt damit fachliche Ziele inhaltlicher und methodischer Art, will also ihrerseits auf neue Forschungsgebiete, -inhalte und -methoden aufmerksam machen. Die Stiftung gibt mit diesem Angebot Anregungen und Hilfestellungen dafür, neue Ansätze und Fragestellungen aufzugreifen, Theorien, Arbeitsrichtungen, Methoden und auch neue Fächerverbindungen zu entwickeln und zu erproben – vor allem auch unter Einbindung des wissenschaftlichen Nachwuchses in die Projekte. Derzeit bietet die Stiftung der Wissenschaft in diesem Segment vier Förderinitiativen an.

• Gesellschaftliche Herausforderungen Für die VolkswagenStiftung bestimmen sich ihre Aufgaben und Gestaltungsspielräume innerhalb der Wissenschaftsförderung nicht ausschließlich im Blick auf die scientific community und deren innerwissenschaftliche Bedürfnisse und Entwicklungen. Denn je komplexer und unübersichtlicher die Strukturen und Prozesse in der modernen, von Wissenschaft ebenso geprägten wie abhängigen Welt werden, desto mehr muss sich die Wissenschaft den damit verbundenen Herausforderungen stellen. Von daher sieht sich die VolkswagenStiftung als wissenschaftsfördernde Einrichtung gerade auch dort in der Pflicht, wo Politik und Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft von der Wissenschaft im engen Austausch mit der Praxis Orientierung und Unterstützung erwarten. Derzeit konzentriert die Stiftung ihre Förderung hier auf drei breit angelegte Initiativen. Beispielhaft dafür sind die „Zukunftsfragen der Gesellschaft“, unter deren Dach Ausschreibungen zu – derzeit drei – verschiedenen Themenfeldern aufgelegt werden. Im Rahmen dieser Förderinitiative wurden im Jahr 2007 letztmalig Bewilligungen im „Brückenprogramm zwischen Wissenschaft und Praxis in der Transformation des Sozialstaates“ ausgesprochen; neu aufgelegt wurde das Arbeitsgebiet „Individuelle und gesellschaftliche Perspek-

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tiven des Alterns“. Im Sommer 2007 konnten zudem weitere „Studiengruppen zu Migration und Integration“ ihre Arbeit aufnehmen.

• Offen – für Außergewöhnliches Wer eine herausragende wissenschaftliche Projektidee hat, einen innovativen, außergewöhnlichen Forschungsansatz verfolgt, sein Gebiet schon spürbar vorangebracht hat, quer zu Disziplinen und Mainstream denkt, aber unter den aktuellen Förderinitiativen der VolkswagenStiftung keine findet, der sich das geplante Vorhaben zuordnen lässt – der könnte dennoch bei der VolkswagenStiftung an der richtigen Adresse sein. Die Stiftung ist sehr daran interessiert, auch Vorhaben zu fördern, für die es bei ihr derzeit kein entsprechendes Rahmenangebot gibt. Auf diese Weise möchte sie ein Forum bieten für Ideen und Konzepte, die zukunftsweisenden Fragestellungen gelten und durch Zusammenführung unterschiedlicher Fachrichtungen und methodischer Ansätze neue Perspektiven eröffnen – in der Forschung, in der Lehre und nicht zuletzt im Zusammenspiel von Wissenschaft, Praxis und Öffentlichkeit. Dieses Angebot zielt allerdings nicht auf den Regelfall, sondern auf die Ausnahme. Wer hier zum Zuge kommen will, muss daher mit seinem Vorhaben nicht nur höchsten wissenschaftlichen Maßstäben genügen, sondern auch plausibel machen können, dass sich dafür im Rahmen der Förderangebote anderer Institutionen keine Unterstützung finden lässt und somit die VolkswagenStiftung gefordert ist. Auf alle Fälle empfiehlt es sich, zunächst Kontakt mit der Stiftung aufzunehmen und eine entsprechende Ideenskizze vorzulegen. Sollte die Stiftung keine Möglichkeit sehen, die Pläne mit Aussicht auf Erfolg aufzugreifen, wird sie dies so schnell wie möglich mitteilen; dies, aber auch nicht mehr – schon um endlose Folgediskussionen und somit eine Blockade des offenen Förderangebots zu vermeiden.

Unabhängiger Wissenschaftsförderer Die VolkswagenStiftung sieht ihre Aufgaben und Gestaltungsspielräume innerhalb der Wissenschaftsförderung zum einen in den Bedürfnissen der scientific community selbst, andererseits auch in Problembereichen, in denen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft von der Wissenschaft Unterstützung erwarten können. Auch wo andere Mittelgeber nicht oder nicht hinreichend zur Verfügung stehen, sieht sich die Stiftung immer wieder in der Pflicht. Da sie nur aus den Erträgen ihres eigenen Vermögens schöpft, ist sie autark. Und da sie rechtsfähig ist, ist sie auch autonom. Das bietet eine starke Basis für eine unabhängige Wissenschaftsförderung.

Vorbereitung ihrer Entscheidungen unterstützt: einzeln oder in Gutachterkreisen. Die Stiftung achtet auch hier strikt auf Unabhängigkeit. Grundsätzlich nicht als Gutachter befragt werden insbesondere Kollegen des Antragstellers aus derselben Forschungsgruppe, wissenschaftlichen Einrichtung, Fakultät, Hochschule; ferner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, von denen ein Antrag bei der Stiftung vorliegt oder deren Antrag kürzlich abgelehnt wurde – und natürlich diejenigen, bei denen es Hinweise auf positive oder negative Voreingenommenheit gibt. So versucht die Stiftung schon bei der Begutachtung den selbst gesetzten hohen Standards zu entsprechen, die ihre Fördertätigkeit insgesamt bestimmen.

Geschichte der Stiftung Zweckbindung der Mittel Für die Ausführung der Fördertätigkeit enthält die Satzung der Stiftung nur wenige Bestimmungen. So können Mittel allein an wissenschaftliche Institutionen, nicht an Personen vergeben werden. Die Stiftung hat sicherzustellen, dass ihre Fördermittel zusätzlich verwendet werden; die Mittel dürfen also nicht die Unterhaltsträger der geförderten Einrichtungen – in der Regel den Staat – entlasten. Sie dürfen auch nicht zum Ausgleich von Etatlücken verwendet werden oder Anlass dafür geben, dass der Etat aufgrund der Zuwendungen gekürzt wird. Die Satzung fordert weiter, dass die Fördermittel als zweckgebundene Zuwendungen zu vergeben sind. Eine pauschale Gewährung allgemeiner, nicht spezifizierter Zuschüsse ist ausgeschlossen. Schließlich darf ein einzelnes Vorhaben in der Regel nicht länger als fünf Jahre gefördert werden. Im Übrigen bestimmt die Stiftung ihre Verfahren selbst.

Sorgfältige Begutachtung Qualität zu finden, macht sich die Stiftung nicht leicht. Im Jahr 2007 beispielsweise haben 911 Gutachter, darunter 269 aus dem Ausland, die

Zum Schluss ein paar Worte zur „Geschichte“ der VolkswagenStiftung, die – anders als ihr Name vermuten lässt – keine Unternehmensstiftung ist. Sie verdankt ihren Namen wie auch ihre Gründung einem Staatsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Land Niedersachsen vom November 1959, mit dem die Auseinandersetzungen um die unklaren Eigentumsverhältnisse am Volkswagenwerk beendet wurden. Nach dem Krieg gab es keinen identifizierbaren Eigentümer mehr. Man beschloss, die damalige Volkswagenwerk GmbH in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln. 60 Prozent des Aktienkapitals wurden durch die Ausgabe sogenannter Volksaktien in Privateigentum überführt, je 20 Prozent behielten der Bund und das Land Niedersachsen. Der Erlös aus der Privatisierung und die Gewinnansprüche auf die dem Bund und dem Land verbliebenen Anteile wurden als Vermögen der neu gegründeten Stiftung Volkswagenwerk, wie sie bis 1989 hieß, übertragen. Ihr Kapital legt die VolkswagenStiftung so ertragreich und nachhaltig wie möglich an; sie hat das Stiftungskapital dabei über die Jahre in seinem Wert erhalten. Dessen Erträge ermöglichen eben jene Forschung, die auf den folgenden Seiten vorgestellt wird.

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Neues aus der Forschungsförderung

„Wenn du denkst, Bildung sei zu teuer, versuch’s doch mal mit Ignoranz!“ So lautet ein Slogan, der regelmäßig vor Wahlen in den USA auftaucht – die nächste wirft ja bereits ihre Schatten voraus. Die modernen Wissensgesellschaften, so scheint es, beruhen auf dem Konsens, dass Wissen und Wissensvermittlung wichtig und wünschenswert sind: je mehr, desto besser. Aber welches Wissen ist richtig (und wichtig)? Wie wird es gewonnen, und wie kann es überprüft werden? Das vorliegende Heft zeigt Ihnen anhand von elf Einblicken in die Forschung erneut die Bandbreite, innerhalb derer Wissenserwerb – und ebenso: Wissensvermittlung – stattfinden kann. Auch nach dem Jahr der Geisteswissenschaften wollen wir dabei den Blick nicht von eben jenen Wissenschaften wenden und starten auf der nächsten Seite gleich mit einem Projekt, bei dem Philosophen – im Verbund mit Neurowissenschaftlern – sich einem ganz großen „Schlüsselthema der Geisteswissenschaften“ annehmen: dem „fühlenden Menschen“, dem Menschen als „animal emotionale“. Doch genauso kommen die Naturwissenschaften zu Wort: Insbesondere zwei Lichtenberg-Professoren lassen Sie und uns teilhaben an ihrer Arbeit. Ein weiterer Schwerpunkt des Heftes: Die Vermittlung von Wissenschaft, die Wissenschaftskommunikation. Zwei Beiträge über von der Stiftung geförderte „Journalist in Residence Fellowships“ und die Ausbildung junger Wissenschaftsjournalisten leiten zu einem neuen Gebiet, dem sich die Stiftung seit dem Jahr 2007 verstärkt widmet: „Wissenschaft – Öffentlichkeit – Gesellschaft“. Damit ist der Bogen weit gespannt. Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre.

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Der Kopf „fühlt“ mit Neurowissenschaftler und Philosophen suchen gemeinsam nach der Verbindung zwischen Emotion und Kognition.

Die Förderinitiative „Schlüsselthemen der Geisteswissenschaften“ will Brücken schlagen zwischen ganz unterschiedlichen Disziplinen. Das Projekt „animal emotionale“ schafft dies in vorbildlicher Weise: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Fächer nehmen sich hier dem „fühlenden Menschen“ an, be- und durchleuchten ihn buchstäblich von mehreren Seiten. So befassen sich Philosophen der Universität Osnabrück mit Emotionen als Voraussetzung für rationales Handeln, Neurowissenschaftler der Universität Bonn untersuchen mit modernen neurophysiologischen Verfahren den postulierten Zusammenhang zwischen Emotion und Kognition. Vielleicht ist die Zeit einfach reif für mehr Gefühl in den Geistes- und Naturwissenschaften, denn beide Gebiete haben emotionale Aspekte in ihrer Forschung jahrzehntelang vernachlässigt. „Dabei hat der Mensch von allen Lebewesen die reichhaltigste emotionale Ausstattung, gerade weil er kognitiv in der Lage ist, für ihn relevante soziale Kontexte als solche zu erkennen und entsprechend differenziert – emotional – zu bewerten“, meint Professor Dr. Achim Stephan vom Institut für Kognitionswissenschaften der Universität Osnabrück. Der Philosoph leitet gemeinsam mit Professor Dr. Dr. Henrik Walter vom Zentrum für Nervenheilkunde der Universität Bonn das Vorhaben „animal emotionale. Gefühle als Missing Link zwischen Erkennen und Handeln“, das von der VolkswagenStiftung als ein „Schlüsselthema der Geisteswissenschaften“ mit 650.000 Euro gefördert wird. „Ohne eine emotionale Reaktion auf das Erlebte ist der Mensch orientierungslos und kaum in der Lage, Entscheidungen als soziales Wesen zu treffen“, setzt Achim Stephan ein erstes Statement. „Emotionen schwingen als Hintergrundgefühle bei jeder Handlung mit, selbst viele höhere kognitive Leistungen sind durch emotionale Reaktionen beeinflusst.“ Kognition und Emotion stehen demnach nicht im Widerspruch zueinander, sondern ermöglichen erst durch ihr wechselseitiges Zusammenspiel den für unser Handeln essenziellen „affektiven Weltbezug“ – im philosophischen Vokabular heißt das: „affektive Intentionalität“.

Haiangriff am Arbeitsplatz? Angst oder Ekel erregende Bilder wie dieses werden im Rahmen des Projekts „animal emotionale“ als Auslöser von negativen Gefühlen eingesetzt. Mit bildgebenden Verfahren wird die entsprechende Aktivierung bestimmter Hirnareale dargestellt und untersucht, ob und in welcher Weise kognitive Prozesse in den emotionalen Ablauf eingreifen.

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Mit sich ergänzender Expertise sind sie dem

Dieser von der Osnabrücker Gruppe um Achim Stephan und Jan Slaby geprägte Begriff war auch Gegenstand eines internationalen Workshops in Bonn, zu dem sich im vorigen Jahr Philosophen, Psychologen und Neurowissenschaftler zu einem Positionsabgleich trafen. Dass Emotionen nicht nur phänomenale (also wie es sich anfühlt, eine bestimmte Emotion zu durchleben), sondern auch kognitive Anteile haben, macht Professor Stephan an einem Beispiel deutlich: Wenn jemand mit Tränen in den Augen aus einer Kirche kommt, vermuten wir zunächst einen Trauerfall und empfinden eine gewisse Traurigkeit. Stellt sich dann aber heraus, dass in der Kirche soeben ein Brautpaar getraut wurde und deshalb Tränen der Rührung vergossen wurden, hellt sich unsere Stimmung unverzüglich auf; wir passen unsere emotionale Reaktion an die neue kognitive Information an.

Verhältnis von Kognition und Emotion auf der Spur: Dr. Susanne Erk (Bild oben) aus der Bonner Arbeitsgruppe um Professor Dr. Dr.

Ekel und Angst im Forschungslabor

Henrik Walter sichtet an ihrem PC Bildmaterial, das den Probanden einer Untersuchung vorgelegt wird. Professor Walter (Bild unten, links) und Professor Dr. Achim Stephan diskutieren die Bildschirm-Darstellung einer rechten (links) und linken Gehirnhälfte. Die gelben „Flecken“ zeigen die Aktivierungsmuster bei der Präsentation emotionaler Reize; eingekreist sind Regionen im präfrontalen Kortex, die an der Kontrolle und Regulation dieser Reize beteiligt sind.

Jede emotionale Regung impliziert eine (Folge-)Handlung: sei es die Unterdrückung der Emotion aus sozialen Gründen oder sei es eine mutige Entscheidung, der ein „gutes Gefühl“ vorausgeht. In jegliche Entscheidungsfindung scheint unser Gehirn als kognitive Schaltstelle eingebunden zu sein, und eben diese regulative Funktion im Sinne einer Selbstkontrolle interessiert die Neurowissenschaftler. Professor Henrik Walter und sein Team legen Versuchspersonen Bilder vor, die für gewöhnlich negative Gefühle hervorrufen – etwa Ekel oder Furcht. Die jeweilige emotionale Reaktion lässt sich mit dem Verfahren der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) auch bildlich als Aktivierung bestimmter Hirnareale darstellen. Um nun zu prüfen, ob kognitive Prozesse in diesen Ablauf eingreifen, haben die Bonner Forscher den Test variiert: Die Probanden sollten bewusst versuchen, ihren „affektiven Weltbezug“ zu verändern – sich also willentlich von ihren Emotionen distanzieren. Im Zuge ihrer erfolgreichen Bemühungen sank die Aktivität in den für Emotionen zuständigen Hirnarealen. Parallel dazu lief die „Logistikzentrale“ in der rechten Hirnhälfte auf Hochtouren, was wissenschaftlich einer Anhebung der Signalintensität im rechten Stirnhirn (lateraler präfrontaler Kortex) und Scheitellappen (Parietalkortex) entspricht. Mit Hilfe von Konnektivitätsanalysen, anhand derer sich die Verbindung zwischen Hirnarealen untersuchen lässt, zeigte sich zudem eine vermittelnde Funktion des medialen Präfrontalkortex, der häufig mit dem „Selbst“ in Verbindung gebracht wird. Die Unterdrückung von Gefühlen funktionierte allein durch geistige Willenskraft. Allerdings: Die Emotionen – und damit die Aktivierung der zugehörigen Hirnareale – gewannen wieder die Oberhand, sobald die gedankliche Kontrolle aufgehoben wurde. Die Neurowissenschaftler sprechen in diesem Zusammenhang von einem Rebound-Phänomen, denn die als solche bezeichneten „verspäteten“ Emotionen flammten selbst dann noch auf, als die auslösenden

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Bildmotive längst vom Tisch waren. „Das Experiment zeigt uns, dass eine kognitive Beeinflussung von Emotionen zwar möglich ist, diese beim Nachlassen kognitiver Kontrolle aber wieder ihr Eigenleben gewinnen“, resümiert Henrik Walter, dessen akademischer Background als Neurologe, Psychiater und Philosoph den wissenschaftlichen Diskurs geradezu herausfordert. Dass Emotionen prinzipiell kognitiv reguliert werden können, heißt jedoch nicht, dass eine vollständige Kontrolle unseres Gefühlslebens möglich oder auch nur wünschenswert wäre. „Der affektive Weltbezug scheint eine automatische Funktion zu sein“, sagt Walter – und wirft einen Blick in die Zukunft: „Die von uns aufgezeigten Zusammenhänge zwischen kognitiven Funktionen und emotionalem Erleben“, skizziert er kurz, „könnten künftig zum Beispiel Eingang in die Therapie psychischer Störungen finden.“ Die bewusste Selbstkontrolle von Emotionen kann übrigens auch Hochgefühle in ruhigere Bahnen lenken. Dazu haben die Bonner Wissenschaftler ein Experiment durchgeführt, bei dem die Probanden Geldbeträge gewinnen konnten – was erwartungsgemäß die positive Stimmung hebt und ebenso die Aktivität im neuronalen Belohnungssystem; jener Hirnregion, die manche auch gern durch Nikotin stimulieren. Werden die Probanden aufgefordert, sich die Vorfreude zu verkneifen, klappt dies erstaunlich gut, wie die nachlassende Nervenzellaktivität im Emotionszentrum beweist.

„Ab in die Röhre!“ heißt es für diesen Versuchsteilnehmer. Mit der funktionellen Magnetresonanztomografie wird die Aktivität in unterschiedlichen Hirnarealen ermittelt. Welches Bild ergibt sich, wenn

Was verbindet die Philosophie mit der Neurowissenschaft?

Emotionen die Oberhand haben, welches, wenn kognitive Kontrolle überwiegt?

Dem gemeinsamen Forschungsvorhaben der Osnabrücker und Bonner Wissenschaftler liegt die Annahme zugrunde, dass sich kognitive Leistungen und Emotionen in subtiler Weise wechselseitig beeinflussen. Die Philosophen liefern dafür den theoretischen Rahmen und diskutieren die Ergebnisse der Laborversuche im ständigen Austausch mit den Neurowissenschaftlern. Bei einem zweiten Animal-emotionale-Workshop sollen die neuen Erkenntnisse zur Emotionsregulation bald einem breiteren Publikum vorgestellt werden. Achim Stephan und Jan Slaby, der zurzeit als Postdoktorand am Osnabrücker Teilprojekt beteiligt ist, arbeiten außerdem an einem meta-philosophischen Grundlagenpapier zum Verhältnis von neurowissenschaftlicher und philosophischer Forschung: Inwieweit verfolgen beide Disziplinen vergleichbare Fragestellungen und Zielsetzungen, wo andererseits liegen die Unterschiede? Worauf basieren die immer wieder anzutreffenden Verständnisschwierigkeiten zwischen diesen Fachgebieten, und wie stark divergieren deren Ansichten über adäquate Zugangsweisen zur Wirklichkeit? Für solche grundlegenden philosophischen Überlegungen dürfte das geförderte Projekt wichtige Erkenntnisse beisteuern, die zum Teil bereits in ein Buch zur „Affektiven Intentionalität“ eingeflossen sind. In weiteren Teilprojekten erforscht das Team um Henrik Walter auch komplexere affektiv regulierte Prozesse. So untersucht der Philosoph Stephan

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Schleim die Rolle von Emotionen und Hirnprozessen bei moralischen und rechtlichen Zwickmühlen (Dilemmata), und der Psychologe Martin Diessel studiert – unter Zuhilfenahme der Magnetresonanztomografie – die Rolle von Vertrauen und Kontrolle bei sozialen Austauschprozessen, wie sie auch in der Neuroökonomie Thema sind. Das können Austauschprozesse finanzieller, aber auch allgemeinerer Art sein.

Der Mensch als „animal emotionale“ aus philosophischer und neurowissenschaftlicher Sicht steht im Zentrum ihrer gemeinsamen Untersuchungen (von links): Moritz Müller,

Letztlich reicht die interdisziplinäre Zusammenarbeit von der Philosophie bis zur Molekularbiologie. So ist bekannt, dass die emotionale Reaktivität des Gehirns durch genetische Variationen beeinflusst wird. Eine spannende Frage ist nun, ob diese genetisch festgelegte Reaktivität durch willentliche kognitive Kontrolle beeinflussbar ist oder nicht. Die Antwort suchen die Forscher in Zusammenarbeit mit den Kollegen der Abteilung Genomics des Life & Brain Zentrums in Bonn im Zuge einer aktuellen Anschlussstudie zur Emotionsregulation. „Genau das macht Wissenschaft gleichzeitig so schwierig und so faszinierend“, bringt es Henrik Walter auf den Punkt. „Jedes wissenschaftliche Ergebnis führt sofort zu einer Fülle neuer Fragen. Die begriffliche Schärfe, die für unsere philosophischen Partner so wichtig ist, hilft uns dabei immer wieder, bei der Fülle von Details und Einzelerkenntnissen das große Ganze nicht aus den Augen zu verlieren.“

Dr. Susanne Erk, Stephan Schleim M. A., Professor Dr. Dr. Henrik Walter, Diplompsychologin Diana Schardt, Dr. Jan Slaby und Professor Dr. Achim Stephan.

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Dr. Beate Grübler

Herr der tauben Fliegen Martin Göpfert von der Universität Köln erforscht den Hörvorgang – und hat mit Fruchtfliegen ein Modell für den Blick ins Ohrinnere gefunden.

Der Mensch hat nur wenig mit der Fruchtfliege gemein. Auf den ersten Blick. Bei näherem Hinsehen jedoch hat Martin Göpfert Erstaunliches festgestellt: Das Gehör der winzigen Tiere funktioniert ganz ähnlich wie das unsrige. So ähnlich, dass der Nachwuchsforscher vom Zoologischen Institut der Universität Köln an der Fruchtfliege Drosophila die Mechanismen des Hörvorgangs bis in die molekularen Grundlagen hinein erforschen kann. Seit dem Jahr 2003 leitet Privatdozent Dr. Martin Göpfert eine von der VolkswagenStiftung mit 1,3 Millionen Euro geförderte Nachwuchsgruppe zum Thema „Hörvorgänge bei Insekten“. Warum sollten Fruchtfliegen so ausgefeilte Hörmechanismen haben wie der Mensch? Verständigen sie sich vielleicht gegenseitig, wenn sie verdorbenes Obst ausfindig machen, um es dann im Schwarm anzufliegen? Göpfert schmunzelt. Er kennt sich aus mit Fruchtfliegen, denn seit Jahren dienen sie ihm als Forschungsobjekte. Ordentlich aufgereiht in Gläschen mit Wattepfropfen, gut genährt mit Hefe, warten sie im Schrank auf ihren Einsatz. Warum sie so gut hören wie wir? „So genau weiß man es eigentlich nicht“, gibt der Biologe zu. Fest stehe aber, dass diese kleinen Insekten über akustische Signale kommunizieren. So bezirzt beispielsweise eine männliche Fliege ein Weibchen mit einem Liebeslied, das durch Vibrieren der Flügel erzeugt wird. Wichtig ist dem Forscher vor allem, dass die Hörvorgänge erstaunliche Parallelen zum menschlichen Ohr aufweisen. Um es auf den Punkt zu bringen: Das Hören in allen Einzelheiten zu verstehen – das ist das ehrgeizige Ziel von Martin Göpfert.

Fixiert im Dienste der Wissenschaft: Um die Mechanismen ihres Hörvorgangs untersuchen zu können, wurde diese winzige

Dabei waren es nicht von Anfang an die Fliegen, die es dem Zoologen angetan hatten. In seiner Diplomarbeit beschäftigte er sich zunächst mit der Echoortung von madegassischen Fledermäusen, während seiner Promotionszeit war es das Gehör der Nachtfalter, das ihn faszinierte. Die riesigen Totenkopffalter hören mit einer einzigen Sinneszelle, denn sie müssen nur mitbekommen, ob eine Fledermaus in der Nähe ist. Anschließend nahm sich Göpfert jenes Hörorgan vor, das als das komplizierteste bei den Insekten gilt: das der Stechmücken. Die Zahl ihrer Hörsinneszellen entspricht etwa der mensch-

Fruchtfliege unter Betäubung auf einem Wachstropfen befestigt.

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licher Haarzellen im Innenohr. Mit einem Forschungsstipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes war er da bereits in Zürich gelandet, wo er grundlegende Techniken entwickelte, um den Vorgang der Schallweiterleitung und -umwandlung messen zu können. „Ich bin bei meiner Arbeit schon viel gestochen worden“, erinnert er sich. Seinem Enthusiasmus hat es nicht geschadet. Wenn der Nachwuchsforscher über die Experimente berichtet, ist die Begeisterung mit Händen zu greifen.

Das junge, internationale Team um Privatdozent Dr. Martin Göpfert (Mitte) ist gleich ihm von den Prozessen fasziniert, die den Fruchtfliegen die akustische Wahrnehmung ermöglichen (von oben rechts im Uhrzeigersinn): Dr. Björn Nadrowski, Diplombiologe Simon Qianhao Lu, Diplombiologin Pingkalai Rajeswaran, Dr. Azusa Kamikouchi, Oliver Hendrich, Diplombiologe Thomas Effertz.

In Bristol wurde man auf den jungen Forscher schnell aufmerksam und bot ihm die Chance, als Royal Society Research Fellow die Grundlagen des Hörens weiter aufzuklären. „Damit war ich eigentlich gesettelt“, erzählt Göpfert. Und doch lockten die Rückkehr nach Deutschland und der Aufbau einer Nachwuchsgruppe. Nicht nur wegen der großzügigen finanziellen Unterstützung der VolkswagenStiftung, sondern weil sich ihm so die Chance bot, selbstständig eine eigene Gruppe aufzubauen. Die Entscheidung hat er bis heute nicht bereut. An der Kölner Universität arbeitet er mittlerweile in einem Team von sieben engagierten Wissenschaftlern, seine Kooperationen mit anderen Forschungsgruppen sind zahlreich. Wer das Hören verstehen will, muss interdisziplinär arbeiten. Neben Biologen sind vor allem Physiker gefragt, denn die Experimente drehen sich im Kern um Schall und die Umwandlung von mechanischen in elektrische Signale. Experimente, die ausgeklügelter kaum sein könnten. Um der Fruchtfliege beim Hören zuzusehen, muss das winzige Insekt zunächst fixiert werden. Dazu wird das Tier betäubt und mit Wachs auf einen kleinen Objekthalter aufgesetzt. Wenn es erwacht, kann es nicht mehr fliegen, aber nach wie vor hören und mit seinen Ohren, sprich Antennen, wackeln. Und dabei schauen die Forscher nun zu. Was mit bloßem Auge allerdings kaum möglich ist. Denn wenn Schallwellen auf die Antenne treffen, bewegt sich diese nur ein ganz klein wenig und löst dadurch bereits den Hörvorgang aus. Die Empfindlichkeit ist enorm: Schon ein Verschieben der Antenne um etwa 20 Nanometer – das sind 20 millionstel Millimeter – gegenüber der Ruheposition lässt das System reagieren. Die minimalen Bewegungen messen die Forscher mit Hilfe eines Laser-Vibrometers. Mit einer Computermaus wird der Laserstrahl genau auf die Antenne eingestellt; Schall erzeugen sie über ein elektrisches Feld, mit dem punktgenau mechanische Wellen auf den Weg gebracht werden können. „Geduld und Geschick braucht man unbedingt“, meint auch der Biologe Thomas Effertz, der das Fliegenohr für seine Diplomarbeit untersucht und schon so manche Fliege beim Hören beobachtet hat.

Ganze „Kolonien“ von Fruchtfliegen warten am Zoologischen Institut der Universität Köln wohltemperiert auf die Untersuchungen der Hörforscher. Ernährt werden die Insekten mit Hefe; die Gläschen verschließen Wattepfropfen, die ausreichend Sauerstoff durchlassen.

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Äußerlich hat die Antenne der Fruchtfliege mit unserem Ohr wenig gemeinsam. Denn beim Menschen legen die Schallwellen einen viel weiteren Weg zurück: Erst versetzen sie das Trommelfell in Schwingungen, dann folgen Hammer, Amboss und Steigbügel im Mittelohr, weiter geht es in das Innenohr mit der Hörschnecke, der Cochlea. Hier empfangen winzige Haarzellen den Schall; sie verstärken ihn, und durch ihre Bewegung öffnen sich Ionen-

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kanäle in der Zellmembran – der entscheidende Moment im Hörprozess. Denn die mechanischen Reize werden in elektrische Impulse umgewandelt und in dieser Form an das Gehirn gefunkt. Jener grundlegende Prozess, die Transduktion, verläuft im Fliegenohr in gleicher Weise. Allerdings müssen die Wellen hier nur einen kurzen Weg zurücklegen: Von der Antenne, dem Trommelfell der Fliege, treffen sie direkt auf mechanosensorische Zellen in der Antennenbasis. Diese Neuronen setzen dann die Bewegung der Antenne über Ionenkanäle ebenfalls in elektrische Signale um. Die Signale lassen sich an der kleinen Fliege mit den eingewachsten Füßen messen. Eine dritte Elektrode leitet die Reize der Nervenzellen ab. Setzt der Experimentator die Antenne in Bewegung, tauchen die elektrophysiologischen Signale der Hörnerven schon nach weniger als einer tausendstel Sekunde als Zackenmuster auf einem Bildschirm auf. Diese schnelle Reaktion zeigt, dass eine mechanische Kopplung zwischen Antenne und Ionenkanal besteht – chemische Signalwege wären längst nicht so schnell. Und was für die Wissenschaftler besonders faszinierend ist: Die enge Kopplung von Antennenbewegung und Öffnen oder Schließen der Ionenkanäle funktioniert in beide Richtungen. Wenn die Forscher die Kanäle mit Hilfe von Chemikalien öffnen, wackeln auch die Antennen. Damit wird der zentrale Mechanismus des Hörens – Öffnen und Signalumwandlung im Ionenkanal – von außen messbar.

Fingerspitzengefühl und Geduld gehören zum Alltag der Drosophila-Forscher: Vorsichtig werden die kleinen Insekten auf flüssigem Wachs fixiert. Danach können sie nicht mehr fliegen, aber nach wie vor hören. In den anschließenden Versuchen lassen sich die feinen Bewegungen ihrer Antennen mit dem Laser-Vibrometer problemlos messen.

Das Wackeln der Fliegenantenne von innen heraus entdeckte Göpfert eher zufällig zu Beginn seiner Laser-Messungen, als irgendwann nachts die Antennen seiner Fliege von selbst zu schwingen anfingen. Zunächst dachte er an einen Fehler im Versuchsaufbau – doch dann der entscheidende Gedanke: Es wäre doch möglich, dass dieses Antennenwackeln durch einen aktiven Prozess zustande kommt. Vom menschlichen Ohr weiß man, dass die Schallwellen durch die Haarzellen im Innern des Ohrs aktiv verstärkt werden – vergleichbar einer Kinderschaukel, die durch Anstoßen immer höher schwingt. Die mechanische Rückschwingung, auch als cochleärer Verstärker bekannt, macht es erst möglich, dass unser Ohr empfindlicher wird, sobald der Schall leiser ist; der Experte spricht von nicht-linearem Verhalten. Und noch etwas zeigt uns, dass eine solche Verstärkung besteht. Wird sie nämlich zu groß, kann unser Ohr spontan Schall erzeugen und Geräusche machen: den objektiven Tinnitus. Dass auch im Fliegenohr aktive Verstärker am Werke sind, konnten Göpfert und seine Teamkollegen Dr. Jörg Albert und Dr. Björn Nadrowski mittlerweile belegen (der Physiker Nadrowski wird von der Stiftung eigens noch mit einem Forschungsstipendium in der Förderinitiative „Neue konzeptionelle Ansätze zur Modellierung und Simulation komplexe Systeme“ unterstützt). Sowohl das nicht-lineare Verhalten der Schallumwandlung haben sie gemessen als auch die Erzeugung des Antennenwackelns. Im Fliegenohr finden sich demnach tatsächlich die ausgefeiltesten Tricks wieder, die auch das menschliche Ohr zu bieten hat. Die Kölner gehen inzwischen davon aus, dass die Sinneszellen beider Gruppen miteinander verwandt sind.

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Dafür spricht unter anderem die Entdeckung von Prestin. Dieses Protein könnte als molekularer Motor für die mechanische Aktivität der Sinneszellen verantwortlich sein; es wurde inzwischen in ähnlicher Ausprägung in den Ohren von Mensch und Fruchtfliege gefunden. Für eine enge Verwandtschaft steht auch das Gen atonal, das die Entwicklung der Sinneszellen im Fliegenohr in Gang setzt. Ist es defekt, können sich sowohl die Zellen als auch das wichtige Antennengelenk nicht ausbilden. Ein ganz ähnliches Gen sorgt ebenfalls bei Mensch und Maus für die Entwicklung der Hörsinneszellen. Fliegen- und Mäusegen sind so ähnlich, dass sie sich sogar austauschen lassen.

Die auf die Fruchtfliegen gerichteten Reize werden auf dem Bildschirm als Amplituden sichtbar. Diese verdeutlichen die elektrophysiologischen Signale der Hörnerven, die von der Bewegung der Antennen ausgelöst werden.

Die gezeigten Parallelen zwischen Mensch- und Fliegenohr machen das Modell der Kölner nun noch interessanter für die Hörforschung. Ihr Augenmerk richtet sich jetzt auf das Zentrum der Prozesse: die Ionenkanäle. Für die Untersuchung der molekularen Mechanismen und den Ursprung der mechanischen Aktivität stehen Göpfert mehr als 40 Insekten-Mutanten zur Seite: Drosophila-Fliegen, die einen genetischen Defekt haben und deren Hörvermögen dadurch beeinträchtigt ist. Da gibt es zum Beispiel eine Fruchtfliege namens nan-/iav-. Die Bezeichnung verrät dem Biologen, dass die Gene „nan“ und „iav“ defekt sind. Der Defekt führt dazu, dass die akustische Verstärkung im Ohr zu groß wird und es zu pfeifen beginnt: Das Tier leidet an einem Tinnitus. Für die Fliege allerdings kein Problem, da sie ohnehin taub ist. Der nan-iav-Kanal reguliert somit offensichtlich nicht nur die Verstärkung im Ohr, sondern auch die Weiterleitung elektrischer Signale. Von besonderem Interesse aber ist momentan jene Fliegen-Mutante, bei der der Ionenkanal NompC defekt ist. Das Protein NompC, Mitglied einer auch beim Menschen vorhandenen Proteinfamilie, ist Bestandteil der Verstärkungsmaschinerie und fungiert, so die Vermutung, als jener Kanal, der die Schwingungen im Ohr in elektrische Signale umwandelt. Messungen an der Mutante zeigten jedoch, dass die Fliegen noch etwa die Hälfte ihres Hörvermögens hatten, obwohl NompC defekt ist. „Eventuell ist NompC ein Regulator, oder es gibt mehrere Ionenkanäle, die sich bei Ausfall gegenseitig ersetzen“, erklärt Göpfert. Er ist zuversichtlich, die Lösung mit Hilfe seines Messmodells zu finden. „In puncto Ionenkanal stehen die Säuge- und Wirbeltierforscher derzeit bei null“, erklärt Göpfert. Weder bei einem Tier noch beim Menschen gelang es bisher, einen Ionenkanal, der für die Transduktion zuständig ist, molekular zu identifizieren. Für Hörforscher ist das wie die Suche nach dem Heiligen Gral. Und bei dieser Suche wird Martin Göpfert seinen Fruchtfliegen treu bleiben. „Natürlich bin ich manchmal am Überlegen, ob ich auch einige Experimente an Ratten oder Mäusen machen sollte“, meint er. Doch dies würde er nur in Zusammenarbeit mit anderen Gruppen angehen. „Im Übrigen denke ich“, und da blitzen seine Augen fröhlich, „dass wir momentan das beste Modell haben, um den Heiligen Gral zu finden.“ Die Chance dazu hat er allemal: Wenn die Förderung der Nachwuchsgruppe ausläuft, wartet bereits eine Professur.

Welche Prozesse genau ablaufen, wenn mechanische in elektrische Signale umgewandelt werden, ist ohne physikalisches Knowhow kaum zu ergründen. Biologe Martin Göpfert ist daher froh, mit Physiker Björn Nadrowski einen Projektpartner zu haben, der die komplexen Messungen aus seiner Perspektive interpretiert und vorantreibt.

Karola Neubert

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Die Formelbändiger Mit Köpfchen und Computer entwickeln Wissenschaftler neue Simulationsverfahren, um die Welt großer, beweglicher Moleküle besser zu verstehen.

Computersimulationen haben sich neben Theorie und Experiment längst als taugliches Forschungsinstrument etabliert. Soll jedoch molekulares Geschehen auf der Mikrometerskala und über längere Zeiträume simuliert werden, stoßen herkömmliche Methoden schnell an ihre Grenzen: Sie sind entweder nicht genau genug oder brauchen viel zu lange Rechenzeiten. Vor drei Jahren hat die Stiftung deshalb in einer ersten Ausschreibung der Förderinitiative „Neue konzeptionelle Ansätze zur Modellierung und Simulation komplexer Systeme“ fast vier Millionen Euro bewilligt für insgesamt 13 Vorhaben – darunter die drei nachfolgend vorgestellten. Bei den Projekten geht es um Computersimulationen von Biosystemen und sogenannter weicher Materie, zu der unter anderem Gele, Gummi und Kunststoffe zählen. Im Gegensatz zum Roboter aus dem Sciencefiction-Filmklassiker „Nummer 5 lebt“ müssen sich die Rechner von Professor Dr. Helmut Grubmüller nicht um zu wenig Input sorgen. Grubmüller ist Direktor der Abteilung „Theoretische und computergestützte Biophysik“ am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen und bringt Licht in die Bewegung großer Biomoleküle, indem er Hochleistungsrechner mit geeigneten mathematischen Gleichungen und Daten füttert. So konnte er vor ein paar Jahren unter anderem klären, wie „der kleinste Motor der Welt“ funktioniert. Gemeint ist das Enzym F-ATPase. Es produziert Adenosintriphospat (ATP), ein Molekül, das für die Energieversorgung in den Zellen aller Lebewesen sorgt. F-ATPase wird von elektrischen Spannungen an der Zellmembran in Gang gebracht und gehalten. Dabei dreht es sich, öffnet und schließt ATP-Molekülbausteine in taschenartigen Molekülteilen, um sie schließlich als komplett synthetisierte Moleküle wieder freizugeben. Helmut Grubmüller konnte das komplexe Geschehen in einer spektakulären Filmsequenz sichtbar machen. Der dafür erforderliche Rechenaufwand war allerdings gewaltig und selbst für einen schnellen Computer nicht leicht zu bewältigen: Fast zwei Jahre musste ein aus 120 Prozessoren bestehender Hochleistungsrechner für die F-ATPase-Simulation rechnen.

Dr. François Nédélec (Mitte) und sein Team (von links): Ioannis Legouras, Bachelor of Biology, Master of Informatics; Céline Pugieux, Master of Biotechnology; Ludovic Brun, Master of Biophysics. Sie haben sich auf dem Dach des EMBL in Heidelberg um ein Chromosomen-Modell aus Kieselsteinen versammelt: Der Prozess der Zellteilung steht im Zentrum ihres wissenschaftlichen Interesses.

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„Unser Ziel im Rahmen des Projekts der VolkswagenStiftung ist es, Strukturänderungen von Biomolekülen wie Proteinen und Nukleinsäuren bald mit weniger Rechenaufwand simulieren zu können“, erklärt Grubmüller. Dazu arbeitet er gemeinsam mit Professor Dr. Jeremy Smith, der ursprünglich an der Universität Heidelberg forschte und inzwischen zum Oakridge National Laboratory in Tennessee gewechselt ist, an der Verbesserung und geschickten Kombination etablierter Simulationsverfahren. Ein solches ist zum Beispiel die sogenannte Molekulardynamik-Methode. Dabei werden die Bewegungen aller Atome, deren Wechselwirkungen und Energiezustände berechnet. Weil aber zum Beispiel ein Protein aus Tausenden Atomen aufgebaut ist und die Bewegung jedes einzelnen Atoms zudem in drei Dimensionen – den sogenannten Freiheitsgraden – beschrieben werden muss, ergibt sich allein daraus eine riesige Zahl an Rechenschritten.

Eine riesige Zahl an Rechenschritten ist notwendig, um die Bewegungen von Atomen

Diese Rechenoperationen wollen Grubmüller und Smith nun mit Hilfe eines Tricks bändigen. „Wir berücksichtigen nur einen Freiheitsgrad mit allen Details, und zwar jenen, der zur Gesamtbewegung aller Atome eines bestimmten Proteins am stärksten beiträgt“, erklärt Helmut Grubmüller. Die anderen Freiheitsgrade fassen die Forscher mit Hilfe eines statistischen Verfahrens, das auf der sogenannten Hauptkomponentenanalyse fußt, geschickt zusammen und lassen sie als gemeinsame Größe in die Berechnungen einfließen. Die gewählte Vereinfachung sei zunächst nicht mehr als eine „vernünftige Annahme“, sagt Grubmüller und betont: „Wir müssen erst noch sehen, wie weit wir damit kommen.“ Erste Berechnungen für ein Peptid, eine Art kleines Protein, haben bereits gut funktioniert: Die erforderliche Rechenzeit ließ sich drastisch verkürzen – von ein paar Wochen auf jetzt nur noch wenige Minuten.

in Proteinen zu simulieren. Selbst Hochleistungsrechner sind mit solchen Operationen bisweilen monatelang beschäftigt. In Göttingen will Professor Dr. Helmut Grubmüller (unten) gemeinsam mit seinem Team (oben, von links: Ulf Hensen und die Postdocs Ulrich Zachariae und Nicole Doelker) Verfahren entwickeln, die die Rechenzeiten deutlich verkürzen.

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Die Simulation komplexer Strukturwandlungen von Biomolekülen steht auch auf der Tagesordnung von Dr. François Nédélec und seinem Team vom Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie (EMBL) in Heidelberg. „Wir möchten mit Hilfe solcher Simulationen unter anderem verstehen, wie und warum Zellteilung funktioniert“, sagt der Mathematiker und Biophysiker. Auf diese Weise könne man künftig vielleicht sogar den Mechanismen von Krebserkrankungen auf die Spur kommen. Deren Charakteristikum ist, dass sich Zellen unkontrolliert und übermäßig teilen. Nédélec hat vor allem sogenannte Mikrotubuli im Visier – Proteinfasern, die unter anderem im Verbund mit Chromosomen und anderen Proteinen dafür sorgen, dass Erbinformationen gleichmäßig auf zwei sich neu bildende Zellen verteilt werden. Das Faszinierende dieser „Spindel“: Von außen betrachtet scheint sie sich selbst dann nicht zu regen, wenn sie während der Zellteilung auf Hochtouren läuft. „Dabei ist ihre Struktur hochdynamisch“, betont Nédélec und erklärt: „In der Spindel schrumpfen, verschwinden und entstehen ständig neue Mikrotubuli, mitunter sogar innerhalb weniger Minuten.“ So bleibe die Spindel zwar äußerlich stabil, entwickle jedoch zugleich eine Art Kräftegleichgewicht. Dies sei offenbar notwendig, damit die Chromosomen in den beiden entstehenden Zellen präzise positioniert werden können.

Auf dem Monitor bietet die Computersimulation solcher Prozesse in jedem Fall ästhetisch ansprechende Bilder: Die Mikrotubuli erscheinen als farbig leuchtende Stäbchen, die länger werden und wieder kürzer und schließlich ganz verschwinden; wieder länger werden, kürzer und erneut verschwinden. Das Ganze erinnert an die Himmelsbilder eines Silvesterfeuerwerkes. Doch bevor sich Wissenschaftler hier einem bewundernden „Ahh“ hingeben, prüfen sie natürlich zunächst, ob die Simulation die Wirklichkeit auch tatsächlich gut beschreibt. Dazu vergleicht Nédélec die Ergebnisse mit experimentellen Befunden aus Versuchen an Hefezellen, Krallenfroscheiern und Embryozellen des Wurms „caenorhabditis elegans“. „Wir haben bereits vielversprechende Übereinstimmungen gefunden und sind sicher, mit unserer Methode auf dem richtigen Weg zu sein“, kommentiert er die Ergebnisse. Zurzeit arbeitet Nédélec daran, die Simulationssoftware noch zu vereinfachen, indem er geeignete Gleichungssysteme wie Legobausteine zu ganzen Simulationsprogrammen zusammensetzt.

Die Computersimulation von Zellteilungsprozessen als ästhetisch ansprechendes „Feuerwerk“ von Mikrotubuli: Dr. François Nédélec erläutert vor einem projizierten Simulationsergebnis die zugrundeliegenden Experimente

Ein drittes Beispiel für das große Potenzial von Computersimulationen ist ganz anderer Natur. Dabei geht es vor allem um einen Chip, der wie die SIMKarte eines Handys aussieht. Statt von Leiterbahnen ist er indes von Miniaturkanälen durchzogen, durch die Flüssigkeiten strömen. „Lab on a chip“ heißt diese noch junge Technologie: das Chemielabor auf einem Chip. Mit diesen Chips können unter anderem Substanzgemische bei der chemischen Synthese auf den Gehalt des gewünschten Produktes untersucht oder DNA-Stränge analysiert werden. Da hier im Vergleich zu gängigen Analysemethoden nur geringe Substanzmengen durchgeschleust werden müssen, lässt sich mit der Lab-on-a-chip-Technologie viel Zeit, Material und Geld sparen. „Das ist zurzeit eine ganz heiße Sache“, betont Professorin Dr. Friederike Schmid von der Universität Bielefeld. Ihr Ziel ist es, mit mathematisch-physikalischen Methoden

mit Embryozellen eines Wurms.

Ioannis Legouras aus dem Forscherteam von François Nédélec in einem Arbeitsraum des Europäischen Laboratoriums für Molekularbiologie (EMBL) in Heidelberg. Er betrachtet gerade unter dem Lasermikroskop eine Hefezellenkultur. Die Ergebnisse solcher Visualisierungen dienen als Vergleich für die gerechneten Simulationen.

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zu beschreiben, was genau in den winzigen Kanälen der Laborchips passiert, wenn wässrige Lösungen von DNA- oder Polymermolekülen, den Grundbausteinen aller Kunststoffe, hindurchströmen.

Keine Kaffeepause vor Publikum, sondern Gruppenbild mit Symbolcharakter: Am Simulationsprogramm ESPResSo arbeiten neben Privatdozent Dr. Christian Holm (vorn) auch mit (von links): Dr. Qiao Baofu, Olaf Lenz, Dr. Marcello Sega, Mehmet Süzen, Dr. Jochen Schmidt, Dr. Joan Josep Cerdà, Kai Grass.

„Für solche komplexen Systeme gibt es zurzeit nur wenige taugliche Simulationsmethoden“, erläutert die Physikerin. Allein die Hydrodynamik sei keinesfalls trivial. „Ein Wassermolekül besteht zwar nur aus drei Atomen, doch schon aus der Wechselwirkung mit den anderen Wassermolekülen ergibt sich ein sehr komplexes Geschehen.“ Auch die Polymermoleküle hätten es in sich, da sie elektrische Teilladungen trügen und deshalb auch elektrostatisch mit anderen Molekülen wechselwirkten. Und dies nicht nur mit den jeweiligen Nachbarteilchen, sondern auch mit Molekülen in viel größerer Entfernung. „Gerade diese lang reichenden Wechselwirkungen erhöhen den Rechenaufwand um ein Vielfaches“, beschreibt Schmid ein wesentliches Problem solcher Simulationen. Und schließlich muss auch der Einfluss der Kanalwände auf die Strömung berücksichtigt werden. Er ist zwar für sich betrachtet eher schwach und wird deshalb in Simulationen für Windkanäle oder größere Flüssigkeitsströme stets vernachlässigt. In den winzigen Kanälen hingegen wirkt er sich wegen des großen Verhältnisses von Wandfläche zu Flüssigkeitsvolumen spürbar aus. Schmid arbeitet mit einem vereinfachenden Simulationsverfahren, das „Dissipative Teilchendynamik“ heißt und mit dem sie jeweils rund dreißig Wasserteilchen zu größeren künstlichen Teilchen mit den entsprechenden makroskopischen Eigenschaften zusammenfassen kann. Im Rahmen des durch die VolkswagenStiftung geförderten Projektes sollen aber auch andere bereits etablierte Methoden auf ihre Tauglichkeit für Lab-on-a-chip-Simulationen geprüft werden. Die Forscherin hofft, dass eine Kombination der Methoden schließlich zum Erfolg führt, und hat sich mit zwei Experten auf diesem Gebiet zusammengetan: Dr. Burkhard Dünweg vom Max-PlanckInstitut für Polymerforschung in Mainz und Dr. Christian Holm vom „Frankfurt Institute for Advanced Studies“ (FIAS).

Fellowships für junge Forscherinnen und Forscher Im Rahmen ihrer Förderinitiative „Neue konzeptionelle Ansätze zur Modellierung und Simulation komplexer Systeme“ hält die VolkswagenStiftung seit dem Jahr 2007 ein neues Förderangebot bereit für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich mit der theoretischen Beschreibung, Modellbildung und Computersimulation komplexer Systeme befassen und die bereits herausragende

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Leistungen auf diesem Gebiet nachweisen können. Die Fellowships „Computational Sciences“ ermöglichen solchen Nachwuchskräften die Realisierung selbst initiierter Forschungsprojekte. In erster Linie sind Postdoktoranden und Postdoktorandinnen kurz nach der Promotion angesprochen. Die aktuellen Termine zur Antragstellung sind auf der Website der Stiftung zu finden.

Dünweg kennt sich mit der Simulation von Strömungen bestens aus und favorisiert eine Methode, die genauer ist als die Hydrodynamiksimulationen großer Gewässer und einfacher als eine detailgetreue Simulation auf atomarer Basis: die Lattice-Boltzmann-Methode. „Dabei berechnen wir nicht die Bewegung der einzelnen Lösungsmittelmoleküle, sondern legen sie örtlich auf ein Gitter fest und beschreiben dann die Wechselwirkungen dieses Gitters mit den beweglichen Polymer- oder Biomolekülen“, erklärt Ulf Schiller, der als Dünwegs Doktorand die Arbeit vorantreibt, die vereinfachende Strategie. Die Lattice-Boltzmann-Methode gebe es zwar schon seit rund zwanzig Jahren, doch würden erstmals auch die Wechselwirkungen der Flüssigkeit systematisch und detailgetreu modelliert.

Die Mannschaft um Dr. Christian Holm simuliert die Bewegung elektrisch geladener Bio- oder Polymermoleküle mittels eines

Der dritte Wissenschaftler im Bunde, FIAS-Forscher Christian Holm, ist ein herausragender Experte, wenn es darum geht, die Bewegungen elektrisch geladener Bio- oder Polymermoleküle zu simulieren. Seine Frankfurter Arbeitsgruppe hat schon vor einigen Jahren ein geeignetes Simulationsprogramm entwickelt, in das auch Friederike Schmid und Burkhard Dünweg ihre neuen Erkenntnisse und Algorithmen fleißig einspeisen. Das aufgeweckte Programm trägt den Namen „ESPResSo“ (Extensible Simulation Package for Research on Soft matter) und ist für alle Wissenschaftler kostenlos zugänglich (http://www.espresso.de).

selbst entwickelten Programms, das auch von externen Wissenschaftlern genutzt werden kann. Die Darstellung auf dem Monitor zeigt einen durch elektrische Potenzialdifferenz in Bewegung gesetzten DNA-Strang, der eine Nanopore durchwandert.

Nach Holms Bekunden wird inzwischen häufig und weltweit auf ESPResSo zurückgegriffen. „Wir hoffen natürlich, dass andere Forscherinnen und Forscher das Programm nicht nur nutzen, sondern zudem Verbesserungsvorschläge einbringen, denn dann können wir alle noch schneller unsere wissenschaftlichen Ziele erreichen“, betont der Frankfurter Physiker. Ziel sei es dabei nicht nur, das molekulare Geschehen in den Laborchips besser zu verstehen, sondern mit diesen Erkenntnissen später einmal besonders pfiffige Kanalsysteme für Laborchips entwerfen zu können. Bevor jedoch erste Chips auf Simulationsbasis kreiert werden, wird es nach Schätzungen des Forscherteams noch ein paar Jahre dauern. Alle drei vorgestellten Projekte belegen eindrucksvoll die zunehmende Bedeutung von Computersimulationen für die Wissenschaft. Und weil die VolkswagenStiftung allein in ihrer ersten Ausschreibung insgesamt 13 solcher Projekte fördert, darf wohl davon ausgegangen werden, dass auch weiterhin die Rechner im Dienste der Forschung heiß laufen – umso mehr, als jetzt mit einer zweiten Ausschreibungsrunde im Jahr 2007 das Thema „Computersimulationen von Biosystemen und komplexer weicher Materie“ noch einmal aufgegriffen wurde. Vielleicht lassen sich schließlich sogar Filmemacher von dem Thema inspirieren und bringen eine Neuauflage von „Nummer 5 lebt“ heraus. In der Hauptrolle dann allerdings ein Rechner, den statt Faktenhunger vermutlich eher die Urlaubssehnsucht plagt. Andrea Hoferichter

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Frischer Wind am großen See Von den Life Sciences zur Nanobiotechnologie: An der Universität Konstanz setzt LichtenbergProfessor Jörg Steffen Hartig neue Akzente.

Universitäten können mit dem Instrument der Lichtenberg-Professur auf besonders substanzielle und nachhaltige Weise Strukturplanung betreiben. Der Förderzeitraum von bis zu acht Jahren ist lang genug, damit sich ein Fach ausreichend entwickeln kann und neue Akzente außerhalb der üblichen Strukturplanung gesetzt werden können. Außerdem ist die Lichtenberg-Professur so gut ausgestattet, dass sich damit neue Forschungsstrategien verfolgen lassen – mehr als genug Anreize für eine Hochschule folglich, sich darum zu bemühen. Die Konstanzer haben das früh erkannt, und so ging eine der ersten Lichtenberg-Professuren an die Hochschule am Bodensee. Professor Dr. Jörg Steffen Hartig von der Universität Konstanz ist ein Grenzgänger: Er arbeitet an der Schnittstelle von Chemie und Biologie. Mit chemischen Methoden will er biologische Moleküle – die Ribonukleinsäuren – so umbauen, dass sie in der Lage sind, in einer Zelle als Folge bestimmter äußerer Stimuli Gene gezielt an- und auszuschalten. Solche Moleküle könnten wichtige Werkzeuge für Grundlagenforschung und Biotechnologie werden. Aber auch Anwendungen im therapeutischen Bereich sind denkbar. Die VolkswagenStiftung verschaffte dem jungen Wissenschaftler mit einer W1Lichtenberg-Professur, die er zu Beginn des Jahres 2006 antrat, die Möglichkeit, sich ein optimales Umfeld für seine innovative Forschung zu gestalten. Hier skizziert er im Gespräch mit Karin Hollricher, was er sich vorgenommen hat.

Herr Hartig: Sie beschäftigen sich als Chemiker mit biologischen Molekülen, den Ribonukleinsäuren. Was fasziniert Sie daran so sehr? Ribonukleinsäuren – kurz RNAs genannt – haben erstaunlich viele faszinierende Funktionen. Lange Zeit galten sie nur als Hilfsmittel für die Herstellung von Proteinen, also den körpereigenen Eiweißen. Die Boten-RNAs beispielsweise fungieren als Überträger, die die auf der DNA gespeicherte genetische Information zu den Ribosomen überführen – das sind die Orte in den Zellen, wo die Proteine hergestellt werden. Inzwischen hat man aber völlig neue, komplexere Funktionen von RNA-Molekülen identifiziert.

Seine Arbeitsbedingungen als LichtenbergProfessor in Konstanz und die Tenure-trackOption haben Dr. Jörg Steffen Hartig den Weggang von Stanford leicht gemacht.

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Welche denn? Können Sie uns ein paar Beispiele nennen?

Fusion zweier funktionaler RNAs: Ein katalytisch aktives Ribozym wurde mit einer Liganden-bindenden Sequenz (einem Aptamer, unterer Teil) verknüpft. Die Bindung des Liganden (grün dargestellt) bewirkt die

In den 1980er Jahren hat man Ribozyme entdeckt. Diese Moleküle bewerkstelligen biochemische Reaktionen: Unter anderem zerschneiden sie sich selbst oder andere RNA-Moleküle. Viele Forscher haben das anfangs als Kuriosum abgetan. Heute zeichnet sich ab, dass selbst die Produktion der körpereigenen Eiweiße durch die Ribosomen auf die Aktivität von RNAs zurückzuführen ist. Des Weiteren wurde beobachtet, dass RNAs in der Lage sind, sich dreidimensional so zu falten, dass Bindungstaschen entstehen. Diese RNAs können dann als Rezeptoren funktionieren. Schließlich, Ende der 1990er Jahre, entdeckten Wissenschaftler völlig überraschend, dass kurze, doppelsträngige RNAs in Zellen regulatorische Funktionen übernehmen: Sie schalten beispielsweise die Proteinsynthese ein und aus. Diesen Mechanismus nennt man RNA-Interferenz. Er ist sehr konserviert und hoch entwickelt bei höheren Organismen.

Änderung der Ribozym-Aktivität (weitere Erläuterungen siehe Text).

Für welche RNAs interessieren nun Sie sich? Schon während meiner Dissertationszeit in Bonn habe ich verschiedene RNA-Funktionen miteinander kombiniert – etwa ein Ribozym mit einem Aptamer verknüpft. Aptamere sind die bereits erwähnten kurzen RNASequenzen, die spezifisch bestimmte Moleküle binden. Durch diese Kombination eines Ribozyms mit einer spezifischen Bindungssequenz wird das Ribozym dann schaltbar (siehe auch nebenstehende Abbildung). Das heißt: Je nachdem, ob der passende Bindungspartner anwesend ist oder nicht, funktioniert das Ribozym – oder eben nicht. Solche kontrolliert schaltbaren RNAMoleküle verschiedener Art möchte ich mit meiner Arbeitsgruppe herstellen.

Wofür kann man so etwas brauchen? Für die Grundlagenforschung und für biotechnologische Anwendungen in Bakterien oder Säugetierzellen. Zwar gibt es schon eine Reihe von Möglichkeiten, um die Genexpression künstlich von außen zu steuern. Doch bei manchen Organismen funktioniert das mit den vorhandenen molekularbiologischen Methoden nicht so gut. Hier sind solche einfachen RNA-basierten Mechanismen sehr interessant. Und um ein ganz anderes Feld aufzumachen: Es könnte sein, dass sich solche Moleküle einmal bei der gentherapeutischen Behandlung von Erbkrankheiten einsetzen lassen.

Betreiben Sie denn auch noch „richtige“ Chemie? Die „richtigen“ Chemiker beschäftigen sich ja klassischerweise mit der Synthese von kleinen Molekülen. Und das tun wir tatsächlich auch. Wir

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stellen beispielsweise organische Moleküle her, die als Bindungspartner für bestimmte Sorten von Nukleinsäuren dienen. Diese Nukleinsäuren verhalten sich also im Prinzip wie ein Aptamer. Wir testen, inwieweit wir solche Moleküle zur Genregulation verwenden können. Die Tests entwickeln wir übrigens gemeinsam mit den hiesigen Biologen. Diese interdisziplinäre Zusammenarbeit läuft sehr gut an.

Als Lichtenberg-Professor haben Sie an der Universität anscheinend einen besonderen Status. Immerhin steht Lichtenberg-Professor sogar auf dem Wegweiser im Fahrstuhl. Was ist das Besondere daran? Als Lichtenberg-Professor habe ich den Status eines Juniorprofessors. In der Vergangenheit waren die Habilitanden und Nachwuchswissenschaftler teilweise sehr abhängig vom Leiter des Instituts oder vom Lehrstuhlinhaber. Das muss nicht immer, kann aber von Nachteil sein – wenn man beispielsweise darin gehindert wird, eigenständige Forschung zu betreiben. Juniorprofessuren mit den gleichen Rechten und Pflichten wie ordentliche Professoren wurden vom Bundesforschungsministerium auf den Weg gebracht, um eben diese Abhängigkeiten abzuschaffen. Die Konstanzer Juniorprofessoren und auch ich müssen sich in der Lehre engagieren sowie an der akademischen Selbstverwaltung mitwirken. Und wir haben das Recht, selbst Doktoranden zu promovieren. Das ist ein großer Vorteil. Dieses Recht hatten Nachwuchsgruppenleiter früher nicht, und es kündigt sich erst langsam ein Umdenken an.

Gibt es denn auch Unterschiede zum Juniorprofessor? Allerdings. Im Vergleich zum Juniorprofessor ist die Lichtenberg-Professur finanziell deutlich besser gestellt. Wenn ein Juniorprofessor mit seiner Arbeit beginnt, hat er in der Regel noch keine Drittmittelförderung; Sach- und Personalmittel muss er erst einmal einwerben. Als Lichtenberg-Professor aber erhalte ich von Beginn an Geld für Doktoranden, technische Mitarbeiter, Geräte und Verbrauchsmittel. Ich konnte also gleich loslegen und Mitarbeiter einstellen.

Und so können Sie auch schon nach nur eineinhalb Jahren in Konstanz die ersten Publikationen vorweisen. Stimmt. Und noch in einem weiteren Punkt unterscheiden sich die beiden Modelle voneinander. Juniorprofessuren sind meist befristet; wenn die Stelle ausgelaufen ist, muss deren Inhaber sich eine neue suchen – oder möglichst bereits gesucht haben. Die Lichtenberg-Professur hingegen bietet die Option, später auf eine ordentliche Professur an der gleichen Universität berufen zu werden.

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Diesen sicheren Karriereweg für Nachwuchsforscherinnen und Nachwuchsforscher an einer Hochschule nennt man in Anlehnung an das System in den USA tenure track. Diese Karriereoption ist zwar sicher; die Universität in Konstanz musste mir und der Stiftung gegenüber garantieren, dass ich eine Professur bekommen kann. Aber ich werde nach Ablauf der Lichtenberg-Professur nicht automatisch zum ordentlichen Professor ernannt, sondern nur, wenn meine wissenschaftliche Leistung dafür ausreicht. Nur bei positiver Beurteilung – spätestens vier Jahre nach dem Start meiner Arbeit – werde ich eine frei werdende Professur übernehmen können.

Tenure track als eine Art Hausberufung ist an deutschen Hochschulen verpönt. Wie kam es, dass das Land Baden-Württemberg dazu sein „Okay“ gegeben hat?

Mit zum Team von Professor Hartig (Mitte) an der Universität Konstanz gehören auch Astrid Joachimi (technische Assistentin) und Markus Wieland (PhD-Student) – hier bei der Arbeit im Chemielabor.

Das Land hat eingesehen, dass es tenure track anbieten muss. Damals, als es um die Einrichtung meiner Stelle ging, gab es diese Option in Baden-Württemberg noch nicht. Deshalb wurde eine Sonderregelung getroffen. Ab dem Jahr 2008 wird das Landeshochschulgesetz aber geändert: Tenure-trackPositionen dürfen dann explizit angeboten werden. Zu dieser Entwicklung hat nicht zuletzt mein Fall beigetragen. Viele andere Bundesländer bieten Tenure-track-Optionen noch nicht an. Das finde ich schade, denn erst diese Möglichkeit bietet Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern eine wirklich wichtige Perspektive für die Zukunft.

Sie kamen aus Stanford, einer Top-Universität in den USA, an die Universität in Konstanz. Die wurde zwar bei ihrer Grundsteinlegung im Jahr 1966 als „KleinHarvard am Bodensee“ bezeichnet, kann sich aber mit Stanford nicht vergleichen. Bereitet Ihnen das Kopfschmerzen? Gar nicht. Konstanz ist mit gut 10.000 Studenten zwar eine relativ kleine Universität, was oft als Nachteil beschrieben wird. Tatsächlich aber empfinde ich das als Vorteil, denn es bringt Flexibilität und schnelle Kommunikation mit sich. Diese Flexibilität sowie der starke Fokus auf die Nachwuchsförderung haben sicherlich auch dazu beigetragen, dass die Universität erfolgreich war im Wettbewerb um den Status der „Exzellenz“. Nicht nur das Gesamtkonzept der Universität, auch eine Graduiertenschule mit dem Titel „Chemical Biology“ wurde bewilligt. Dies ist umso erfreulicher, da unsere Forschung an genau dieser Schnittstelle anzusiedeln ist und wir am Antrag der Graduiertenschule beteiligt waren. Tatsächlich fördert die eher geringe Größe der Universität interdisziplinäre Ansätze ganz besonders. Hier in Konstanz wurde ich von den Kollegen auch der anderen Disziplinen äußerst herzlich empfangen. Ich fühle mich sehr ernst genommen und ermutigt, und das halte ich nicht für selbstverständlich. Ob das an anderen deutschen Universitäten auch so

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ist, weiß ich nicht, da fehlt mir der Vergleich. Darüber hinaus hat man hier sehr engen Kontakt zu den Entscheidungsträgern im Rektorat.

Wie kommt das? Über das Nachwuchszentrum der Universität. In dieser meines Wissens deutschlandweit einzigartigen Einrichtung kann Mitglied werden, wer als Nachwuchsforscher erfolgreich Drittmittel eingeworben hat. Da treffen sich wöchentlich Nachwuchswissenschaftler aus allen Disziplinen; rundum werden die eigenen Ergebnisse vorgetragen und andere Themen wie wissenschaftspolitische Entwicklungen oder Fragen der Lehre diskutiert. Und das fördert natürlich die interdisziplinäre Kommunikation ganz erheblich – aber ebenso den Kontakt zum Rektorat. Denn die Etablierung des Zentrums war im Wesentlichen eine Initiative unseres Rektors Gerhart von Graevenitz. Auch ihn sehe ich jede Woche im Jour Fixe des Nachwuchszentrums. Das ist an großen deutschen Universitäten wohl nicht so. Da begegnet man dem Rektor vielleicht einmal zur Unterschrift des Vertrages, und das war’s dann.

In den letzten Jahren hat sich in der Forschungsförderung in Deutschland viel getan. Hat man alle Hindernisse für innovative Köpfe weggeräumt? Nein, da fehlt ja noch das vermehrte Anbieten der Tenure-track-Option, und es gibt Nachholbedarf im Umgang mit jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Ein Beispiel ist etwa das Stichwort Dual Career. Es ist für mich als Nachwuchsforscher schwierig, den Arbeitsplatz zu wechseln, wenn ich nicht weiß, was in dem Fall meine Partnerin machen soll. In den USA bemüht sich der Arbeitgeber, für beide eine Anstellung zu finden – hierzulande ist das Privatsache des Paares. Und das ist für viele Forscherpaare ein riesiges Problem, das man wirklich professioneller angehen sollte. Meine Freundin und ich führten zwei Jahre lang eine Fernbeziehung über 9000 Kilometer, das wollten wir nicht so fortsetzen. In Konstanz haben wir schließlich beide eine herausfordernde Aufgabe gefunden. Ich muss sagen, für mich läuft es momentan in jeder Hinsicht perfekt. Herr Hartig, vielen Dank für das Gespräch.

Mit Spaß bei der Sache und Freude an der Diskussion: Das Konstanzer „Lichtenberg-Team“ (von links) Astrid Joachimi (technische Assistentin), Diana Gonçalves (Postdoc), Dr. Jörg Hartig, Armin Benz (PhD-Student) und Markus Wieland (PhDStudent) trifft sich regelmäßig, um die Laborergebnisse auszuwerten und gemeinsam zu erörtern.

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Evolution in Aktion An der Schnittstelle zur Öffentlichkeit: Wolfgang Kießling forscht und lehrt als LichtenbergProfessor am Naturkundemuseum in Berlin.

Exzellente Wissenschafter benötigen zweierlei: die Freiheit, eigene Ideen zu verfolgen, und eine Ausstattung, mit der die Realisierung dieser Ideen möglich wird. Beides erhält, wer sich bei der VolkswagenStiftung erfolgreich um eine Lichtenberg-Professur bemüht. Mit der Etablierung solch einer Professur geht es um die Verankerung innovativer Fachgebiete; dabei können gerade auch international ausgewiesene Professorinnen und Professoren sich um diese Förderung bewerben. Entscheidend sind das Innovationspotenzial des vorgeschlagenen Fachgebiets und die Einpassung der geplanten Forschung in das wissenschaftliche Umfeld der vorgesehenen Universität. Ein gutes Beispiel dafür sind die Arbeiten des Paläontologen Professor Dr. Wolfgang Kießling an der Humboldt-Universität Berlin. Wahnsinn! Das Wort schießt Wolfgang Kießling seit vergangenem Juli regelmäßig durch den Kopf, immer dann, wenn er im Gebäude des Berliner Naturkundemuseums die Ausstellungsräume durchquert. Der 42-jährige Paläontologe und Lichtenberg-Professor für Evolutionäre Paläoökologie sieht Kinder, die sich im Kuppelsaal lärmend um das riesige, 13 Meter hohe Skelett des Brachiosaurus brancai drängen und sich dabei vor Begeisterung gegenseitig auf die Füße treten. Kleine und große Besucher bestaunen das Urpferdchen und Multimedia-Installationen, die die Prozesse der Evolution anschaulich machen. Auch die Schaukästen mit den Millionen Jahre alte Fossilien sind umlagert.

Am Berliner Museum für Naturkunde, das zur Humboldt-Universität gehört, beschäftigt

„Wenn mir jemand kurz vor der Wiedereröffnung des Naturkundemuseums gesagt hätte, die Leute würden Schlange stehen, um sich unsere neue Dauerausstellung anzuschauen, hätte ich ihm das nicht geglaubt“, sagt Wolfgang Kießling – und freut sich ganz ungeniert. Eine bessere PR für sein Fach und seine Forschungsthemen kann er sich kaum wünschen. Kießling beschäftigt sich mit der Entwicklung und Biodiversität von Riffen, der Stabilität mariner Ökosysteme auf langen Zeitskalen, Phänomenen des Massenaussterbens und ökologischen Abhängigkeiten der Evolutionsdynamik. Und „seine“ meh-

sich Wolfgang Kießling im Rahmen einer Lichtenberg-Professur mit Fragen der Evolution und Biodiversität. Seine Untersuchungsobjekte: vor allem fossile Korallen. Hier unterstützen ihn die technische Assistentin Uta Merkel (links) und Doktorandin Eva Mohrmann bei seiner Arbeit mit den umfangreichen (Daten-)Beständen.

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rere hundert Millionen Jahre alten fossilen Korallen, Muscheln, Schnecken, Armfüßer, Ammoniten und Schwämme profitieren im Naturkundemuseum nun ganz offensichtlich vom Glanz der Riesenechsen. Zwar ist Kießling ganz sachlicher Wissenschaftler, einerseits. Doch andererseits ist das knapp 120 Jahre alte Museumsgebäude an der Invalidenstraße mit der Zeit seine wissenschaftliche Heimat geworden – und das verbindet, auch emotional. So gestaltete er die Multimedia-Installationen in der Dauerausstellung mit, auch wenn das nicht unbedingt zu seinen Aufgaben als Professor gehört. „Neben der Forschung und Lehre haben wir hier mit unserem Museum die einmalige Gelegenheit und vor allem auch die Pflicht, Öffentlichkeitsarbeit für unsere Fächer zu betreiben“, begründet Kießling sein Engagement und das der ebenfalls am Museum beheimateten Mineralogen, Zoologen, Geologen und Biologen. „Museen“, sagt Wolfgang Kießling eindringlich, „sind wichtige Orte der Forschung.“

Der Wuchs von Korallen und Riffen gibt Aufschluss über die Umweltbedingungen vor Millionen von Jahren. Moderne Methoden der Probenstandardisierung ermöglichen es, „Muster“ zu erkennen, also eine Häufung gleichartiger Eigenschaften oder Ähnlichkeiten. Auf diese Weise wird klar, dass unterschiedliche Ausprägungen nicht zufällig sind, sondern auch Umwelteinflüsse widerspiegeln. Mittleres Bild: Der rechte Monitor zeigt die Kurve der marinen Diversität aller Meerestiere

Der gebürtige Coburger mit dem unverkennbar fränkischen Zungenschlag forscht und lehrt – mit kurzen Unterbrechungen – seit 1999 am Museum für Naturkunde, das zur Humboldt-Universität (HU) gehört. Zuerst als Postdoc, dann als wissenschaftlicher Angestellter. Seit Anfang 2006 hat er die von der VolkswagenStiftung geförderte und am Museum beheimatete LichtenbergProfessur inne. Zu seinem aus den Stiftungsmitteln finanzierten Team gehören zwei Doktorandinnen, eine technische Assistentin und zwei Diplomanden aus der Geologie. An der HU ist es derzeit die einzige Professur im paläontologischen Bereich – ein Alleinstellungsmerkmal, das durchaus auch charakteristisch ist für die Einrichtung einer Lichtenberg-Professur. Kießlings Arbeitsbedingungen sind dabei nicht einfach: Die Paläontologie ist dem Fachbereich Biologie zugeordnet – an anderen Universitäten ist sie bei den Geologen angesiedelt – und dort nicht als eigenständiges Fach, sondern nur als Schwerpunkt studierbar. Doch Wolfgang Kießling ist fest entschlossen, das Beste daraus zu machen. Er will besonders von der Nähe zu den theoretisch arbeitenden Biologen profitieren und Netzwerke bilden.

(also auch Korallen) vom Kambrium (links) bis ins Miozän (rechts). Mehr als 400.000 Fossilvorkommen liegen dieser Kurve zugrunde. Paläontologie als moderne, zukunftsgerichtete Wissenschaft zu betreiben und zu präsentieren, ist eines der vielen Ziele von Lichtenberg-Professor Wolfgang Kießling.

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Die Universität musste sich gegenüber der VolkswagenStiftung verpflichten, Kießlings W2-Professur bei positiver Begutachtung nach vier Jahren unbefristet weiterzuführen. Für den Forscher selbst ist das grundlegende Ziel klar: „Die Paläontologie an der Humboldt-Universität soll Leuchtkraft entwickeln.“ Wenn man einmal davon absieht, dass eine zweite Professur in der Paläontologie seit geraumer Zeit nicht neu besetzt wurde, stehen die Chancen dafür nicht schlecht. Denn Wolfgang Kießling ist ein Wissenschaftler mit großem internationalen Renommee. Ein Jahr verbrachte er als Research Associate am Department of Geophysical Sciences der University of Chicago. Daraus entstand ein Netzwerk mit US-amerikanischen Kollegen. Zudem unterhält er enge Kontakte zu Wissenschaftlern in zahlreichen anderen Ländern: Unter der Federführung des Paläobiologen Dr. John Alroy an der University of California in Santa Barbara arbeiten über 130 verschiedene Institute am Auf-

bau einer gigantischen paläobiologischen Datenbank (http://paleodb.org); Wolfgang Kießling ist mit vier weiteren Wissenschaftlern des Naturkundemuseums maßgeblich beteiligt. Daneben haben sich über die Jahre durch Symposienbesuche und Gastprofessuren enge Kontakte nach Argentinien, Frankreich, Ungarn und Norwegen entwickelt und gefestigt. Er schwärmt von seinen Kollegen am Museum, von den großartigen Möglichkeiten, sich interdisziplinär auszutauschen. Allein vierzig Kustoden – promovierte und habilitierte Wissenschaftler, die die Sammlungen des Museums betreuen – arbeiten in der Invalidenstraße. Sie verteilen sich auf die am Museum beheimateten Fachgebiete. Durch deren wissenschaftliche Exzellenz, sagt Kießling, erhalte das Naturkundemuseum nahezu die Bedeutung eines kleinen Max-Planck-Instituts. „Leuchtkraft entwickeln“ heißt für den Lichtenberg-Professor aber auch, seine Visionen umzusetzen: nämlich die Paläontologie als eine moderne und zukunftsgerichtete Wissenschaft zu präsentieren, die sich modernster Forschungsmethoden und Computertechnik bedient. Eine Wissenschaft, die nicht nur am einzelnen Fossil, sondern mit Statistiken und mathematischen Berechnungen arbeitet. „Manch einer wird vermutlich enttäuscht sein, wenn er erfährt, dass ich meine Zeit keineswegs nur mit dem Graben nach Fossilien und Betrachtungen unter dem Mikroskop verbringe“, sagt Kießling und muss über Vergleiche mit verschrobenen Paläontologen-Figuren à la Jurassic Park lachen. Seine Arbeit ist auf großmaßstäbliche Evolutionsmuster ausgerichtet. „Und die werden nun mal mit Hilfe umfangreicher Datenbestände und statistischer Methoden untersucht.“ Nur so sei es möglich, die reellen von den scheinbaren Evolutionsmustern zu unterscheiden. Ein Beispiel aus der Klimaforschung

Das Museum als Erlebnisraum: Unter dem kritischen Blick von Charles Darwin interessiert sich ein junger Besucher für die Grundlagen der Evolutionstheorie.

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dient zur näheren Erläuterung: „Wenn vor vielen Millionen Jahren ein erhöhter CO2-Gehalt in der Luft dazu geführt hat, dass Korallen ein dünneres Skelett ausgebildet haben – was sich ja bei Untersuchungen am Fossil feststellen lässt –, heißt das noch lange nicht, dass dies auf unsere heutige Situation eins zu eins übertragbar wäre“, skizziert er. Wer solche Beispiele parat hat, wird natürlich immer wieder gern als Gesprächspartner zum Thema Klimawandel angefragt. „Ist doch klar: Wenn wir herausfinden könnten, wie die Evolution in der Vergangenheit mit Klimawandel umgegangen ist, hat das natürlich auch Auswirkungen darauf, wie wir die Lage heute beurteilen“, erläutert Kießling. „Aber wir sind – das muss man ehrlich sagen – noch ziem-

Das 13 Meter hohe Saurierskelett eines Brachiosaurus brancai ist die Attraktion des Naturkundemuseums in der Invalidenstraße. Ausgehend von solch spektakulären Zeugnissen der Evolutionsgeschichte rücken auch aktuelle Themen wie etwa das Artensterben stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit.

Museum für Naturkunde in Berlin im Juli 2007 neu eröffnet 1810 war ein gutes Jahr für die Wissenschaft, wenigstens in Berlin: Dort wurde nicht nur die – später nach Humboldt benannte – Universität gegründet, sondern auch aus drei großen Sammlungen ein einziges Naturkundemuseum geschaffen. 1889 zog es in sein jetziges Gebäude in der Invalidenstraße um. Das war dringend notwendig. Denn dort, auf dem Gelände der ehemaligen Königlichen Eisengießerei, standen der ständig wachsenden Sammlung endlich die notwendigen Archivräume zur Verfügung, die weit über eine halbe Million Exponate aufzunehmen hatten. Nach zweijähriger Umbauzeit zeigt das Museum im Herzen Berlins nun gut hundert Jahre später mit seiner erneuerten Dauerausstellung, was Naturwissenschaft alles zu bieten hat: Hier legen Evolutionsbiologen in bislang kaum gekannter Brillanz der interessierten Öffentlichkeit das vor, was sie wissen, was sie mühevoll dem Riesenreich des Nichtgewussten entrissen haben, das, worauf sie ihre bestmöglichen Aussagen gründen. Die neue Schau ist nicht weniger als ein Angebot, am Erkenntnisprozess teilzunehmen, in die Genese des Lebens einzusteigen. Wie es zur Fülle des Lebens gekommen ist, erhellt die Naturwissenschaft hier in großen Schritten. Am Berliner Naturkundemuseum, das mit dreißig Millionen Sammlungsstücken zu den weltweit

bedeutendsten Häusern seiner Art zählt, nehmen Biologen gemeinsam mit Paläontologen wie Wolfgang Kießling, mit Geologen und Mineralogen einen neuen Anlauf, die Öffentlichkeit mitzunehmen auf eine Tour, die bloßen Vermutungen Anschauung entgegensetzt. Die Kuratoren der neuen Dauerausstellung um den Generaldirektor Reinhold Leinfelder führen den Besucher dabei von den ersten selbstkopierenden Atomgruppen zu den Prototypen von Mehrzellern bis zur heutigen Vielfalt von vielen Millionen Spezies. Und: Sie schieben ihn mitten hinein in die Arbeit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. „Wir wollen die Evolution des Kosmos, der Erde und des Lebens in Beziehung zueinander zeigen”, sagt Museumschef Leinfelder. Im Mittelpunkt steht nicht weniger als die Suche nach Antworten auf die ganz großen Fragen: Wie wurde die Erde zu dem, was sie ist? Wie entstanden aus dem Urknall so unterschiedliche Lebewesen wie Menschen und Mücken? Was befähigt Lebewesen zum Überleben, warum sind andere ausgestorben? – Und vieles, vieles mehr. Und zudem geht es auch darum, ein Museum wie dieses nicht nur als Schauhaus zu präsentieren, sondern es gleichermaßen zu positionieren als ein modernes Wissenschaftszentrum, in dem die Erkenntnisse der vielen hier arbeitenden Forscherinnen und Forscher mit dem Publikum geteilt werden können. (cj)

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lich weit davon entfernt, wirklich ein treffendes, belastbares Bild abliefern zu können.“ Man könne keineswegs einfache Schlussfolgerungen wie die folgende ziehen: „Aha, erhöhter CO2-Gehalt in der Luft führt jetzt dazu, dass die Korallenriffe zerbröseln.“ Denn neben den globalen Veränderungen seien auch viele lokale Faktoren an der heutigen Riffkrise beteiligt. Bei allem, was man untersuche, müsse aber immer der Mensch als größter „Störfaktor“ natürlicher Entwicklungen einkalkuliert werden.

Schön und aufschlussreich sind die Museumspräsentationen zur Biodiversität: Während die Wand mit den verschiedenen Vogelarten verdeutlicht, wie reich die Vielfalt an Farben und Formen heute ist, zeigen fossile Funde aus der Wasserwelt (unten), welche Arten diesen Lebensraum einst bevölkerten.

Das Team von Professor Dr. Wolfgang Kießling (Zweiter von rechts) freut sich sichtlich über die Arbeitsbedingungen am Naturkundemuseum (von links): Sven Weidemeyer (Doktorand), Falko Reichel (Diplomand), Uta

Mindestens ebenso am Herzen liegen dem Lichtenberg-Professor die Lehre und die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses. In seinen Kursen sitzen hauptsächlich Biologie-Studierende der Humboldt-Universität und hin und wieder auch Geologen der Freien Universität Berlin. Seit kurzem führt er mit drei Kustoden den bislang deutschlandweit einmaligen Kurs „Analytische Paläobiologie“ durch. „Es geht darum, wie man an den Fossilbericht herangeht, wie man Verwandtschaftsverhältnisse klärt und morphologische Veränderungen nicht nur qualifiziert, sondern auch quantifiziert“, umreißt Wolfgang Kießling die wesentlichen Inhalte des Angebotes. „Es ist mir wichtig, den Anschluss an die Kollegen, aber eben auch an die Studierenden in den USA zu schaffen. Mit diesem Vorsatz bin ich hier angetreten.“ Sein Ehrgeiz: Er möchte seine Master-Studenten fit machen für eine alljährlich im kalifornischen Santa Barbara stattfindende Summerschool of Analytical Paleobiology. „Bislang fehlen ihnen noch die Grundlagen, um dort mithalten zu können. Doch das wird sich hoffentlich bald ändern.“ In der Wissenschaftlergemeinde haben Kießling und seine Kollegen bisweilen noch mit einigen Vorurteilen zu kämpfen. „Paläontologen werden von den sogenannten harten Wissenschaften oft nicht richtig ernst genommen“, weiß er zu berichten. „Viele betrachten uns als populärwissenschaftliche Story Teller, die anhand der untersuchten Fossilien die Geschichte der Erde rekonstruieren wollen.“ Gleichwohl: Die Berliner Kollegen aus der Biologie nehmen ihn als interessanten wissenschaftlichen Partner wahr und heißen ihn willkommen. Bereits seit zwei Jahren bietet er ein Evolutionsseminar an – gemeinsam mit dem theoretisch arbeitenden Biologen Professor Dr. Peter Hammerstein. Ihr Thema: „Macroevolution meets Microevolution.“

Merkel (technische Assistentin), Heike Mewis (Diplomandin), Eva Mohrmann (Doktorandin).

Eben damit beschäftigte sich Wolfgang Kießling auch im Jahr 2006 während seiner Zeit als Gastwissenschaftler am renommierten US-amerikanischen Santa Fé-Institut für Komplexitätsforschung. Für Kießling war es eine Offenbarung, mit Forscherinnen und Forschern verschiedener Fachrichtungen dort zusammenarbeiten zu können: „Das Institut ist für mich der Inbegriff von Interdisziplinarität.“ Und so scheint eines immer wieder durch, was der begeisterte Wissenschaftler über seine Lichtenberg-Professur auch erreichen will: die Paläontologie hierzulande an jenes Niveau heranzuführen, das er in den USA im Zuge seiner Aufenthalte und Kontakte vorgefunden hat. Mareike Knoke

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Wissenschaftliche Sammlungen der Humboldt-Uni jetzt online Sechs Millionen Käfer, je vier Millionen Ameisen und Schmetterlinge, zwei Millionen Fossilien, 265.000 Mineralien und Edelsteine, 2700 Meteoriten, Zeichnungen von Käthe Kollwitz und Adolf von Menzel – und nicht zu vergessen das Skelett eines 35 Meter langen Bailosaurus oder der mittels eines Abgusses rekonstruierte Westgiebel des Zeustempels in Olympia: Die Objekte in den rund hundert Sammlungen, die die Humboldt-Universität zu Berlin ihr Eigen nennt, summieren sich zu der unvorstellbaren Zahl von mehr als 30 Millionen. Wahre Schätze haben sich seit der Gründung der damaligen Berliner Universität im Jahre 1810 angehäuft. Jetzt sind sie in Teilen erstmals dargestellt in einer Online-Datenbank, die das bisher Getrennte zusammenfügt zu einem „Netzwerk des Wissens“. Die Schätze dieses Netzwerkes sind seit Mitte 2007 im Web zu bestaunen – zumindest ein erster Teil. Denn natürlich überstieg und übersteigt es das Vorstellbare, mit der Erfassung der 14 Millionen Käfer, Ameisen und Schmetterlinge zu beginnen. Stattdessen konzentrierten sich die Wissenschaftler mit Unterstützung der VolkswagenStiftung zunächst auf drei exemplarische Sammlungen, an denen sie nicht zuletzt auch die Schwierigkeiten digitaler Darstellung und elektronischer Erfassung erproben konnten: die anatomisch-pathologische Sammlung zur Überprüfung der Aufnahme dreidimensionaler Objekte; das sogenannte „Lautarchiv“ zur Integration von Tonquellen – und die Porträtsammlung Berliner Hochschullehrer, um Besonderheiten bei der Integration zweidimensionaler Objekte zu testen. Exemplarisch sind diese drei Sammlungen zudem, weil sie Zeugnisse von Menschenhand und Naturproben gleichermaßen enthalten und darüber hinaus auch noch Geistes- wie Naturwissenschaften repräsentieren. Alle drei Sammlungen haben dabei ihre eigene Geschichte.

Insgesamt umfasst die Datenbank derzeit als ausgewählte Bestände darüber hinaus frühe wissenschaftliche Grafiken der Universitätsbibliothek, Teile des Medizinhistorischen Museums der Charité, Objekte aus dem Museum für Naturkunde und aus der historischen Instrumentensammlung des Instituts für Physiologie, faszinierende Mikropräparate aus der Zoologischen Lehrsammlung sowie Exponate, die bereits im Rahmen der 2001 im Berliner Gropiusbau gezeigten – und ebenfalls von der Stiftung geförderten – Ausstellung „Theatrum Naturae et Artis“ der Öffentlichkeit präsentiert wurden. Mit rund 14.000 erfassten Objekten ist die Webseite www.sammlungen.hu-berlin.de/ nunmehr online gegangen. Die Humboldt-Universität ist damit nach eigenen Aussagen bundesweit die erste Universität, die in dieser Form einer wissenschaftlich interessierten Öffentlichkeit Zugang zu bislang verschlossenen Archiven ermöglicht. Die Website leistet vieles. So verknüpft eine interdisziplinäre Begriffshierarchie alle enthaltenen Objekte unter einer gemeinsamen Verschlagwortung – allein dies eine eigenständige wissenschaftliche Leistung des Projekts. Über die Grenzen wissenschaftlicher Disziplinen hinaus werden zudem Beziehungen der Objekte untereinander abgebildet. Die Datenbank ist ein Pilotprojekt, das einen universellen Rahmen schafft zur künftigen Präsentation aller Objekte. Sie bietet dabei nicht nur einen Einstieg in die Sammlungen, sondern vermittelt auch einen Zugang zur Geschichte wissenschaftlicher Medien und deren Ästhetik. Das ehrgeizige Projekt, das im August 1998 anlief, wurde am Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik an der Humboldt-Universität Berlin entwickelt und mit knapp 930.000 Euro von der VolkswagenStiftung unterstützt. (cj)

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Vom Imperialmuseum zum Kommunikationszentrum Impulse für die Museumslandschaft in Deutschland? Zwei Wissenschaftlerinnen und ein Wissenschaftler auf der Suche nach neuen Wegen

Die Globalisierung zeitigt ihre Wirkung bis in die hintersten Winkel völkerkundlicher Museen. Dies haben drei Berliner Ethnologen und Museumswissenschaftler während ihrer Forschungsarbeiten in Nordamerika, Indien und Ägypten beobachtet und sich zur Aufgabe gemacht, die neue Rolle von Museen in nicht-westlichen Ländern und deren Methoden des Sammelns, Forschens und Vermittelns zu untersuchen. Als Gemeinschaftsprojekt der Staatlichen Museen zu Berlin und der Freien Universität Berlin konzipiert, wird das „Tandemvorhaben“ von der VolkswagenStiftung mit insgesamt rund 715.000 Euro drei Jahre lang unterstützt. Startschuss war im Herbst 2006. „Museen, die sich mit regionalen oder nationalen Identitäten befassen, haben oftmals etwas Verstaubtes“, sagt die Religionswissenschaftlerin und Museologin Susan Kamel, die bereits seit zehn Jahren über Vermittlungsformen in westlichen Museen forscht. „In nicht-westlichen Gesellschaften wurden diese Museen oft von Europäern erbaut, die Platz brauchten, um irgendwo ihre Ausgrabungsstücke hinzustellen.“ Ob diese sogenannten Imperialmuseen nun auch zu Bildungseinrichtungen für die Bevölkerung vor Ort werden können, ist eine der Forschungsfragen der drei Regionalspezialisten Dr. Lidia Guzy (Indien), Dr. Rainer Hatoum (Nordamerika) und Dr. Susan Kamel (Ägypten). „Vom Imperialmuseum zum Kommunikationszentrum? Zur neuen Rolle des Museums als Schnittstelle zwischen Wissenschaft und nicht-westlichen Gesellschaften“ betiteln die drei Forscher daher auch ihre gemeinsame Arbeit.

Theorie vor der Bücherwand ist eigentlich nicht ihre Sache. Dr. Susan Kamel, Dr. Rainer Hatoum und Dr. Lidia Guzy (von links) arbeiten in einem Dreier-Tandem über die Museumspraxis in verschiedenen Kulturen – am liebsten vor Ort: in Ägypten, Nordamerika, Indien.

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Die Kulturwissenschaftler nennen globale Strömungen wie einen Rekurs auf religiöse, regionale oder nationale Identitäten oder auch das Pochen auf Rechten an materiellen und immateriellen Kulturgütern als Auslöser, die derzeit Veränderungen in den Museen bewirken. So erheben etwa die Native Americans in Nordamerika, wo der Ethnologe Rainer Hatoum forscht, aus religiösen Gründen zunehmend Rechtsansprüche an sensiblen Kulturgütern. Damit zwingen sie Museen dort wie hier, sich ebenso mit Fragen des Besitzes von Ausstellungsobjekten auseinanderzusetzen als auch mit der Art der Darstellung politisch wie gesellschaftlich sensibler Bereiche von Kulturen.

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Die Bewahrung und Darstellung nicht-materieller Kulturgüter – vor allem der Musik – in indischen Museen steht im Zentrum der Arbeit von Dr. Lidia Guzy. Sie stellt fest, dass

„Die Globalisierung“, sagt die Ethnologin und Religionswissenschaftlerin Lidia Guzy, „hat die künstlerischen und kulturellen Aussagen nicht-westlicher Gesellschaften ganz grundlegend verändert – und zwar in Richtung einer Retraditionalisierung.“ Mehr und mehr werden in Museen in veränderter Form Geschichten bisher in der öffentlichen Wahrnehmung durchaus vernachlässigter Kulturen erzählt. Die Selbstwahrnehmung ändert sich, eine Selbstvergewisserung findet statt. Und so gehen die Forscher auch davon aus, dass in der Folge hiesige Präsentationen nicht-westlicher Kunst und Kultur von dem Blick in die lokalen Kontexte der dargestellten Länder profitieren können – ja: sollten. Ziel des Teams ist es daher nicht zuletzt, aus ihren Forschungen heraus Impulse für die deutsche Museumslandschaft zu generieren. So zum Beispiel, wenn etwa in Berlin mit dem bis 2013 geplanten Umzug der Dahlemer Museen an den Berliner Schlossplatz die Ausstellungskonzepte für Kunst und Kulturen der Welt in den kommenden Jahren neu entwickelt werden.

im Zuge einer neuen kulturellen Selbstvergewisserung auch Traditionen und Personen, wie etwa Ganda-Musiker, mehr und mehr für präsentationswürdig gehalten werden. Diese erhielten bis vor kurzem zur offiziellen Kulturwelt praktisch keinen Zugang.

Lidia Guzy findet Hinweise für ihre Vermutungen in Indien: „Dort“, beginnt sie zu erzählen, „lässt sich derzeit eine unglaubliche Aufwertung indigener Wissensformen beobachten. Die Vielfalt der indischen Gesellschaft wird als kultureller Reichtum erkannt – und zelebriert.“ Den Sprachlosen und Machtlosen werde eine Stimme gegeben. „Repräsentanten einzelner Stammeskulturen werden in Museen eingeladen: Töpfer, Maler, Musiker, auch solche, die sich bisher gar nicht als Künstler begreifen und teilweise als Unberührbare – also Unreine – galten, dürfen ihr Wissen und ihre Kunst vermitteln.“ Guzy ist sicher: „Davon können wir lernen.“ Bislang hat die gebürtige Polin im Rahmen ihrer Forschungsarbeit zehn Museen untersucht. Ihr besonderes Augenmerk richtet sie dabei auf den Umgang mit nicht-materiellem Kulturerbe, konzentrierten sich die Museen bei der Archivierung doch meist auf „materielle Kultur dominanter Sozialgruppen“. Doch die Unesco-Konvention zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes von 2003 wurde auch von der indischen Regierung ratifiziert – und das scheint sich nach und nach auszuwirken. Vor einigen Jahren noch wurden indigene Wissensformen wie Tänze, Musik, Handwerkstechniken, mündliche Literaturformen in Museen nicht repräsentiert. Heute jedoch versucht man, diese so sehr verletzbaren weil ausschließlich mündlich tradierten Kulturen vor dem Aussterben zu retten. Vor allem der Musik gilt dieser Schutz, und ihr gilt in Indien auch das Interesse von Lidia Guzy. Im ostindischen Bundesstaat Orissa forscht die Oriya und Gujarati sprechende Ethnologin bereits seit 2002; sie erstellt Musikarchive bedrohter Musiktraditionen der Unberührbaren und anderer „marginalisierter“ Gruppen. Museen in Deutschland seien zu sehr objektbezogen, betonen die drei Forscher unisono: „Vitrinen sind nicht lebendig, sondern statisch – und können daher kaum der Darstellung von Kulturen mit all ihren Widersprüchen gerecht werden“, sagt Susan Kamel, die über Vermittlungsstrategien in Museen pro-

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moviert hat. Lidia Guzy schlägt vor, mehr Kulturaustausch zu organisieren. Und Rainer Hatoum sähe gern eine grundlegende Neukonzeption: weg von der Betonung historischer, regionaler beziehungsweise ethnozentristischer Darstellungen, hin zu Themeninseln wie Migration, multikultureller Gesellschaft, Mensch und Umwelt. Themen, die die Realitäten in der globalisierten Welt kritisch reflektieren. Der am Ethnologischen Museum in Berlin ausgebildete Museologe und promovierte Ethnologe Hatoum betrachtet den Wandel der Museen in Nordamerika am Beispiel unterschiedlicher Museumstypen wie dem Stammesmuseum der Navajo-Indianer (Navajo Nation Tribal Museum), dem National Museum of the American Indian und den großen naturhistorischen Museen in Washington, New York oder Chicago. In letzteren haben sich in der Vergangenheit nicht nur Indianer, sondern auch Afroamerikaner und andere ethnische Gruppen weniger gut repräsentiert gefühlt. Der junge Wissenschaftler will daher untersuchen, welche Strategien in den naturhistorischen Museen Nordamerikas verfolgt werden, um den Forderungen der zahlreichen kulturellen Minderheiten nach einer angemessenen musealen Darstellung gerecht zu werden. Wie wird mit der heiklen Frage der Repräsentation des „Anderen“, des „Fremden“ umgegangen? Wie gestaltet sich der interkulturelle Dialog? Zugleich befasst sich der in Beirut geborene Hatoum aber auch mit der Frage, welchem Wandel die Forschungsarbeit des Wissenschaftlers in Museen unterliegt. In Zeiten der Intellectual-Property-Debatte sei das ein schwieriges Terrain, wie das Beispiel der Verhandlungen mit den Navajo zeigt, in denen es um die Digitalisierung der Herzog/Navajo-Sammlung des Berliner Phonogramm-Archivs geht. Diese rund 1300 Wax-Zylinder-Aufnahmen umfassende Sammlung zeremonieller Gesänge der Navajo wurde zusammengetragen von Georg Herzog, dem Gründungsvater der amerikanischen Musikethnologie. In den Verhandlungen wird Rainer Hatoum immer wieder mit ganz unterschiedlichen Problemen konfrontiert: etwa kollektiven Cultural PropertyAnsprüchen der Navajo Tribal Nation. Oder er sieht sich moralisch brisanten Fragen gegenüber wie: „Was sollte an die Navajo zurückgegeben werden? Was dürfen, was müssen wir archivieren?“ – Welchen Anspruch also darf, kann ein Wissenschaftler haben? Hatoum muss sich diese Fragen zwangsläufig stellen vor dem Hintergrund, dass die heutigen Stammesvertreter der Navajo die Gesänge – und damit einzigartiges Kulturerbe – als stammesinternes Geheimwissen ansehen und Tonaufnahmen außerhalb der Reservation vernichten wollen.

Feldforschung lebensnah: Lidia Guzy bei einer ihrer Recherche-Reisen durch Indien

Von rechtlich-moralischen Fragen wie diesen sind auch die Arbeitsbereiche der beiden Forscherinnen berührt. Und so ist es „ein ungeheures Glück“, wie Lidia Guzy sagt, durch das Tandem-Programm zu dritt an einem Projekt arbeiten und auch solche Erfahrungen austauschen zu können. Sie fühle sich „beflügelt, weil es keine Hierarchien gibt, sondern wir völlig frei und egalitär forschen“, ergänzt sie. Und außerdem: „Wir müssen keine Angst haben, Dinge

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auszusprechen.“ In den Hierarchien einer deutschen Universität ist das noch immer ein seltenes Gut und war für die Wissenschaftlerin ein Anlass, gemeinsam mit zwei weiteren im Tandem-Programm Geförderten das Symposium „Science Fiction – oder zwischen Bricolage und Struktur: die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen der Zukunft“ zu organisieren. So trafen sich im Herbst 2007 in Berlin rund hundert Nachwuchskräfte mit Vertretern von Universitäten, Forschungseinrichtungen, Stiftungen und Einrichtungen der Wissenschaftsförderung, um Bedürfnisse zu eruieren, Ansprüche an „die Wissenschaft“ zu formulieren und aktuelle Anforderungen zu diskutieren, die seitens Wissenschaft und Gesellschaft an den Forscher und die Forscherin der Zukunft gestellt werden. Um die Zukunft ihres Tandem-Vorhabens zumindest scheint es gut bestellt. Guzy, Hatoum und Kamel treffen sich zwei bis drei Mal in der Woche informell, einmal im Monat zu Arbeitstreffen. Rainer Hatoum lobt, dass der Austausch für die Kontextualisierung der eigenen Forschungsergebnisse gewinnbringend sei. Und Susan Kamel schätzt besonders, dass jeder der drei ein gutes Korrektiv für den anderen und man permanent gezwungen sei, den Fortgang der eigenen Arbeit darzulegen. So ist die Idee, die die VolkswagenStiftung mit dem in der deutschen Forschungslandschaft einmaligen Tandem-Programm verfolgte, gänzlich aufgegangen: Die drei Wissenschaftler, alle in unterschiedlichen Regionen zu Hause, erproben zwangsläufig Tag für Tag die selbstständige fachübergreifende Zusammenarbeit – und mit Erfolg.

Dr. Susan Kamel (im Bild oben bei einem Forschungsaufenthalt in Kairo) untersucht die Vermittlungsstrategien ägyptischer Museen und privater Einrichtungen – und dabei besonders die Darstellung von Religionen. Dr. Rainer Hatoum (Bild unten, rechts) widmet sich unter anderem der Digitalisierung einer alten Sammlung zeremonieller Gesänge der Navajo. Dabei muss er sich auch mit Cultural Property-Ansprüchen der indianischen Stammesvertreter auseinandersetzen. Bei der Arbeit im Berliner Phonogramm-

Susan Kamels Untersuchungen beispielsweise finden in einem anderen gesellschaftlichen Umfeld statt als die ihrer beiden Kollegen. Sie forscht in einem autoritären Regime und muss annehmen, dass in den staatlichen Museen Ägyptens die Politik stärker zum Tragen kommt als anderswo. Auch die Fahrten dort übers Land, die sie gemeinsam mit ihrer dreijährigen Tochter Ella samt Babysitter unternimmt, sind nicht immer einfach. Polizeikontrollen, lange Wartezeiten: All das gehört zum Forscheralltag. Kamels Interesse gilt den Vermittlungsstrategien ägyptischer Museen, speziell der Darstellung von Religionen in diesem Land mit seiner muslimischen Mehrheitsbevölkerung. Ihre These, dass in den Museen eine Islamisierung stattgefunden habe, wurde allerdings gleich zu Beginn ihrer Feldforschung widerlegt: „Retraditionalisierung heißt in Ägypten ausschließlich Besinnung auf das pharaonische Erbe. Die problematische Islamisierung der Gesellschaft wird in den staatlichen Museen vollständig ausgeblendet“, sagt Kamel.

Archiv wird er unterstützt von Tontechniker Albrecht Wiedmann (Mitte) und der musikethnologischen Hilfskraft Tobias Weber.

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Nach Betrachtung von bislang 22 Museen und Galerien ist die Arabistin mit ägyptischem Vater beeindruckt von den gesellschaftlichen Versuchen des Protests und des Widerstands. Diese finden jedoch nur in privaten Initiativen statt – etwa der Townhouse-Gallery in Kairo, die zeitgenössische Kunst aus der Region zeigt. Die Galerie begreift ihre Arbeit im Armenviertel als Sozialarbeit und stellt für einzelne Projekte Straßenkinder ein. Im Contemporary Image Collective in Kairo wiederum findet Kamel ihre Vermutung bestätigt,

dass Museen sich auch in Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit von „Schatzkammern der Nation“ zu Kommunikationsorten entwickeln können. Zentren, in denen Werte und Wissen diskursiv verhandelt werden. Eine Offenheit gegenüber ärmeren oder zunächst wenig an Kunst interessierten Bevölkerungsschichten wünscht sich die Museologin auch hierzulande. Migrantinnen und Migranten müssten in Berlin und anderswo ins Museum gelockt werden – und zwar, indem ihre Geschichte in der Stadt erzählt wird: „Das spricht die Menschen eher an als die Kunst allein und könnte etwa das Museum für Islamische Kunst in die Gegenwart hinüberretten.“ Susan Kamel selbst verfolgt ein ambitioniertes Projekt: ein Museum unterschiedlicher Religionen in Berlin, das all ihre aus dem Forschungsprojekt gewonnenen Erkenntnisse über die Darstellbarkeit von Kulturen integriert. Das Tandem-Projekt ist so auch ein wichtiger Schritt in den individuellen Lebenswegen dreier begeisterungsfähiger Nachwuchswissenschaftler.

Prestigeobjekte wie die Bibliothek in Alexandrien (unten) prägen die offizielle Kulturlandschaft auch in Ägypten. Im Bild oben: ein „authentisches“ nubisches Haus auf dem Freigelände des Nubischen Museums in

Dorothee Menhart

Assuan, Süd-Ägypten.

Die Schätze heben und aufbereiten – mehr Engagement für die Forschung in Museen Sammeln, Erforschen, Bewahren und Vermitteln: Dieser Vierklang beschreibt die zentralen Aufgaben von Museen. Zugleich umreißt er die grundlegenden Herausforderungen, denen sich die alltägliche Museumsarbeit zu stellen hat. Sich als Museum mit den materiellen Zeugnissen des Menschen oder seiner Umwelt auseinanderzusetzen – diese Aufgabe unterliegt im Laufe der Zeit großen Veränderungen. Heutzutage beispielsweise wird der überwiegende Teil der verfügbaren Arbeitskraft und Finanzmittel in den Bereich der Vermittlung investiert – Tendenz weiter steigend. Ausstellungen prägen inzwischen offenkundig das Bild eines Museums und folgen einander in oft immer kürzer werdenden Abständen. Die grundlegenden musealen Aufgaben des Sammelns, Bewahrens und vor allem des Forschens kommen dabei vielerorts zu kurz. Doch gerade sie sind es, durch die das Wissen über das natürliche und kulturelle Erbe, das in den Museen lagert, überdauert und seine Erweiterung findet.

Doch was heißt Forschung in Museen – zumal in Zeiten knapper öffentlicher Kassen? Wie unterscheidet sie sich von Forschung in anderen Institutionen? Welche Rolle spielt sie zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einer Zeit, die ihren Stempel aufgedrückt bekommt durch elektronische Medien, deren Einsatz den Umgang mit der kulturellen Überlieferung spürbar verändert? Mit diesen und anderen Fragen zum Thema beschäftigten sich national wie international ausgewiesene Experten bei der Tagung „Was heißt und zu welchem Ende betreibt man Forschung in Museen?“. Sie fand statt vom 17. bis 19. Dezember 2007 in der Staatsbibliothek zu Berlin und wurde gemeinsam ausgerichtet von der VolkswagenStiftung und dem Institut für Museumsforschung der Staatlichen Museen zu Berlin. An ihrem Ende wurde klar: Die Forschung in Museen braucht mehr Unterstützung. Inwieweit die VolkswagenStiftung sich dieser Notwendigkeit annimmt, wird sie im Jahr 2008 weiter diskutieren. (cj)

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Wissenschaft im Goldrausch Die Stiftung fördert junge Archäometallurgen aus Georgien. Sie bedanken sich mit einem sensationellen Fund: einem 5000 Jahre alten Goldbergwerk.

Seit der Jahrtausendwende fördert die VolkswagenStiftung Projekte, die Mittelasien und den Kaukasus in den Blick nehmen. Mit dem Engagement soll das Wissen über diese Regionen vertieft werden: sowohl in der Forschung als auch im Zuge der Ausbildung künftiger Wissenschaftler und Experten. Ebenso zielt die Initiative darauf ab, die Wissenschaft in diesen Ländern zu unterstützen oder überhaupt erst zu ermöglichen. Die Stiftung fördert daher gezielt Kooperationen zwischen deutschen und vor Ort ansässigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Beispielhaft ist die Zusammenarbeit von Forschern aus Bochum, Frankfurt und Tiflis in Georgien. Seit Google Earth wissen wir: Die Welt ist vermessen, alle weißen Flecke sind verschwunden, die Claims abgesteckt. Dennoch gibt es offenbar noch genug Lücken, und manchmal sind ungewöhnliche Allianzen vonnöten, sie zu schließen. Im Jahr 2003 schlossen sich das Deutsche Bergbau-Museum Bochum sowie das Otar-Lordkipanidse-Institut in Tiflis zu einer solchen Verbindung zusammen: Gemeinsam stellten sie bei der VolkswagenStiftung den Antrag, junge Georgier in der Montanarchäologie und in der Archäometallurgie auszubilden. Das georgische Institut war aus der früheren Akademie der Wissenschaften hervorgegangen; nach mehreren Stationen gehört es mittlerweile zum Georgischen Nationalmuseum. Das Agieren der Wissenschaftler in ständig neuen Strukturen über einen längeren Zeitraum hat die Forschung erheblich erschwert – und verhindert, dass sich eine neue Forschergeneration etablieren konnte, die an die westlichen Standards anschließt. „Was den jungen Leuten fehlte, waren die Kenntnis und Erfahrung, alten Bergbau und die Verbreitung von Metallen mit modernen Methoden zu erforschen“, berichtet Professor Dr. Andreas Hauptmann vom Deutschen Bergbau-Museum Bochum, der das Projekt initiierte. „Es ging darum, für dieses wissenschaftliche Gebiet die fähigsten Köpfe in Georgien zu halten, trotz aller Umbrüche in der Wissenschaft und in den Hochschulen“, betont der Forscher, der zugleich seit dem Jahr 2004 eine Professur für Archäometrie an der Ruhr-Universität innehat.

Professor Dr. Thomas Stöllner (oben) und Professor Dr. Andreas Hauptmann vom Deutschen Bergbau-Museum Bochum (unten) erkunden ein altes Goldbergwerk in Georgien. Durch die enge Kooperation mit Institutionen vor Ort soll vor allem der dortige wissenschaftliche Nachwuchs mit den modernen Methoden der Archäometrie vertraut gemacht werden und in seiner Arbeit an westliche Standards anschließen können.

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Damit sich solche Erfolge einstellen, müssen Forscher manchmal weite Wege in Kauf nehmen. Der Weg nach Georgien führte zunächst über den Nahen Osten, über das Kupfererz von Feinan. Die Archäometallurgie bezeichnet ein Fachgebiet, bei dem die Wissenschaftler beispielsweise die Herkunft alter Kupferlegierungen mit Hilfe der chemischen Analytik und der historischen Entwicklung der Technik ermitteln. „Wir hatten jahrelang in Israel und in Jordanien nach Kupfervorkommen gesucht, die schon im vierten Jahrtausend vor Christus ausgebeutet wurden“, erzählt Hauptmann. „Es gelang uns, den sogenannten Jüdischen Nationalschatz zu analysieren – rund 400 wunderbare Metallobjekte. Dabei stießen wir auf Legierungen aus Kupfer, Antimon und Arsen, die waren so merkwürdig, dass wir damit zunächst nichts anzufangen wussten.“ Woher konnten die stammen? Die Überlegungen der Experten richteten sich bald auf den Kaukasus. Mitte der 1990er Jahre machte sich Hauptmann dann auf nach Tblissi. „Ich fand dort offene Türen vor, insbesondere bei Kollegen aus der Archäologie“, erinnert er sich. So war der erste Schritt zur Zusammenarbeit schnell getan.

Einzigartige Chance für den wissenschaftlichen Nachwuchs

Das Bergwerk von Sakdrissi wurde unter Denkmalschutz gestellt und so vor dem Untergang und für die Wissenschaft gerettet. Die Forschungen ergaben, dass hier bereits vor 5000 Jahren nach Gold gesucht wurde.

Um die Nachwuchsforscherinnen und Nachwuchsforscher möglichst zügig an die technologischen und methodischen Möglichkeiten des Westens heranzuführen, bewilligte die VolkswagenStiftung im Rahmen ihres Engagements in Mittelasien und im Kaukasus rund 127.000 Euro: eine Investition nicht zuletzt in Köpfe. „Wir wollten mit den jungen Leuten ein altes Bergwerk ausgraben und daran beispielhaft zeigen, wie man so etwas mit modernen Mitteln macht“, berichtet Hauptmann. Das hört sich leichter an, als es ist. Denn die rasanten Veränderungen in Georgien nach dem Zerfall der Sowjetunion brachten weite Landstriche unter die Kontrolle großer Konzerne, die verschiedene Erze in großflächigen Tagebauen ausbeuten. Auch das alte Goldbergwerk in Sakdrissi befand sich auf dem Gelände der Minengesellschaft und war vom Abriss bedroht. „Es ist uns gelungen, das Bergwerk unter Denkmalschutz zu stellen“, sagt Dr. Irina Gambaschidse nicht ohne Stolz. Die Archäologin gehört auf ihrem Gebiet zur Spitze der heimischen Wissenschaft und hat das Kooperationsvorhaben auf georgischer Seite geleitet. „Damit ist das Bergwerk vor den Baggern gerettet. Bei einer unweit gelegenen Bergarbeitersiedlung aus dem vierten Jahrtausend vor Christus kämpfen wir noch darum“, erklärt die engagierte Forscherin. „Dort geht es um rund 60 Hektar, die wir schützen wollen.“ Das Bergwerk, das die Georgier gemeinsam mit ihren Gästen aus Deutschland in Sakdrissi erforschten, erwies sich als Sensation. 5000 Jahre alt ist es, und schon bald fanden Geologen heraus, dass es sich um ein Goldbergwerk handelte – eines aus der Bronzezeit, derzeit das älteste Goldbergwerk im festen Gestein in der Alten Welt. Sakdrissi liegt rund 50 Kilometer südwestlich von Tblissi, nahe der weltberühmten Fundstätte des Homo Dmanissi, einer auf

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1,75 Millionen Jahre datierten Art des Homo erectus. „Wir wussten, dass die Kupferverarbeitung in dieser Gegend bis ins fünfte Jahrtausend vor der Zeitenwende zurückreicht“, erläutert Professor Dr. Thomas Stöllner, der am Deutschen Bergbau-Museum forscht und zugleich als Professor am Institut für archäologische Wissenschaften der Ruhr-Universität lehrt. „Aber dass wir so eine alte Goldmine finden würden, das hat uns alle überrascht.“ Erste Grabungen in den Jahren 2004 und 2005 bestätigten die Vermutungen der Forscher schnell: „Ein spektakulärer Fund“, meinen sie übereinstimmend. Und Irina Gambaschidse ergänzt: „Diese Entdeckung hat uns sehr geholfen, unsere Forschungen bis hinauf in die georgische Regierung bekannt zu machen. Wir erfahren jetzt deutlich mehr Unterstützung als noch vor vier Jahren, zu Beginn unserer Arbeiten.“ Allerdings gebe es in Georgien keine Stiftungen wie in Deutschland, die einem solchen Vorhaben finanziell unter die Arme greifen könnten. Vor allem Irina Gambaschidse und Irakli Dschaparidse, ein Doktorand in Archäologie und Chemie, machten sich mit ihren deutschen Mentoren an die Arbeit, den Fund in Sakdrissi wissenschaftlich einzuordnen. „Wir hielten uns jährlich für vier bis sechs Wochen zu Feldforschungen in Georgien auf; sechs bis acht Studenten waren an den Arbeiten beteiligt“, erzählt Andreas Hauptmann. Nach einem Workshop blieben zwei weitere junge Georgier fest im Team, die zu diesem Thema derzeit ihre Diplomarbeit schreiben. „Irina Gambaschidse ist gerade dabei, sich an der Ruhr-Universität zu habilitieren, und in Tblissi steht eine Professur für Montanarchäologie in Aussicht. Irakli Dschaparidse promoviert an der staatlichen Universität in Tblissi“, freut sich Hauptmann. Die Archäometallurgie ist ein kleines Fach, sie drohte in den Jahren des politischen Umbruchs, der auch Georgien nicht verschonte, unter die Räder zu kommen. „Häufig wechselten die Ministerialbeamten und Rektoren, das hat uns immer wieder zurückgeworfen“, resümiert er. Doch jetzt sehe es so aus, als ob es mit der Professur für Frau Gambaschidse tatsächlich klappen könnte. Die Wissenschaftlerin selbst ist froh, dass sie eine neue Forschergeneration in ihrem Land heranwachsen sehen kann: „Erst mit der Unterstützung aus Deutschland wurde es möglich, die jungen Leute ordentlich auszubilden: in der Archäologie, der Analytik der antiken Metallfunde und in der Geologie.“

Geologe Alex Omiadse (links) und sein Kollege Sergo Nadareischwili (rechts) vom Geologischen Institut der Staatlichen Universität Tblissi tauschen sich mit Ingenieur Gero Steffens vom Deutschen Bergbau-Museum Bochum über die Grabungsergebnisse von Sakdrissi aus. Die Vermessungsdaten dienen als Grundlage für die Erstellung einer Karte.

Die überraschende Datierung des Bergwerks in die Zeit um 3000 v. Chr. brachte Sakdrissi viel Interesse ein: Das Foto vom Sommer 2004 zeigt den Besuch einer Delegation des Otar-Lordkipanidse-Zentrums für Archäologische Forschungen, Tblissi. Archäologin Dr.

Die Folgen des Erfolgs: ein zweites Projekt schließt an

Irina Gambaschidse (ganz links) als georgische Projektpartnerin konnte den Besuchern

Und auch die Ausgrabung der Goldgrube von Sakdrissi macht Fortschritte: Im Juli 2007 bewilligte die VolkswagenStiftung 360.000 Euro, um dieses einmalige archäologische Kleinod aus der Bronzezeit weiter zu erforschen. Das Vorhaben läuft bis zum Jahr 2011 und ist vielschichtig angelegt. Konkret geplant sind zum einen umfangreiche montanarchäologische Grabungen im Goldbergwerk. Ergänzt werden diese Arbeiten durch umfassende Ausgrabungen zu frühbronzezeitlichen Siedlungen in der Region, die wiederum

rund um Professor Dr. Wachtang Dschaparidse (vorn Mitte) Neues aus erster Hand berichten.

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Georgische Wissenschaftler haben verschie-

begleitet werden von Untersuchungen zur Land- und Viehwirtschaft des dritten Jahrtausends vor Christus und zur Vegetationsgeschichte. Parallel dazu wird eine geowissenschaftliche Arbeitsgruppe Goldproben und goldene Artefakte in Georgien unmittelbar aus den Goldvorkommen sammeln als auch Goldobjekte aus verschiedenen Museen des Landes erfassen. Die Bestände werden dann in Deutschland analysiert. Auch bei all diesen Untersuchungen arbeiten georgische Nachwuchswissenschaftler mit. Für einige Analysen stellt das Curt-Engelhorn-Zentrum für Archäometrie in Mannheim seine Expertise zur Verfügung.

dene Stellen ausfindig gemacht, um Goldproben auswaschen zu können. Die von den Diplomgeologen Alex Omiadse, David Gambaschidse und David Melaschwili (von links) gefundenen Proben werden später im Labor analysiert. Bild unten: Beim Auswaschen herausgefiltertes Konzentrat von silberhaltigen Goldkörnchen aus Mamulo, Bolnisi.

Die Wissenschaftler verfolgen nun zwei grundlegende Ziele: Zum einen handelt es sich um ein Forschungsprojekt sowohl zur Metallurgie und Geochemie als auch zur Kulturgeschichte des Goldes in Georgien. Dabei interessiert sie nicht zuletzt der Wandel dieses Gutes vom Prestigeobjekt zum Wirtschaftsmittel bis hin zu den Folgen der Goldgewinnung für wirtschaftliche und soziale Entwicklungen in der Region. Ebenso gehen die Forscher der Frage nach, wie denn die Frühphase solch einer ersten umfassenden Strategie zur Goldgewinnung aussah. Inwieweit beispielsweise lassen sich rückblickend Produktionsabläufe der Goldgewinnung im Detail rekonstruieren? Zum anderen ist für die Kooperationspartner das im Zuge des Vorläuferprojekts begonnene Lehr- und Ausbildungsprogramm in der Montanarchäologie und Archäometallurgie weiterhin von zentraler Bedeutung. Der Blick richtet sich nun auf die Vermittlung modernster analytischer Methoden zur Erforschung von Metallurgie, Gewinnung und Herkunft des Goldes. Im weiteren Verlauf des Projekts sind überdies längere Gastaufenthalte von georgischen Nachwuchswissenschaftlern und Masterstudierenden in Bochum vorgesehen. Mit dem neuen Projekt stehen die Wissenschaftler zugleich vor neuen Herausforderungen. Denn anders als beispielsweise beim Kupfer gibt es mit Gold ein Problem: Kupferkelche und kupferne Schüsseln lassen sich relativ leicht bestimmten Erzlagerstätten zuordnen, ihre geochemische Zusammensetzung ist recht stabil. Gold hingegen wurde seinerzeit aus Flüssen gewaschen, die sich wiederum aus etlichen Zuläufen speisen: Nebenflüssen, Bächen, Rinnsalen. Gold verschiedener Zusammensetzung aus teilweise abgelegenen oder entfernten Seifenlagerstätten trifft dann bei der Goldwäsche aufeinander. „Das erschwert die regionale Zuordnung des Goldes, der geochemische Fingerabdruck wird verwischt“, meint Andreas Hauptmann. Erst seit wenigen Jahren ist es möglich, die chemische Zusammensetzung von Gold und seinen Isotopen mit ausreichender Genauigkeit festzustellen. Deshalb werden sich am neuen Projekt auch die Mineralogen um Professor Dr. Gerhard Brey von der Universität in Frankfurt am Main beteiligen. „Goldartefakte bestehen meist aus Legierungen von Kupfer, Silber und Gold; bei den Messungen dann ergeben die Bleiisotope – Blei wird beim Schmelzprozess mit diesen Elementen in unterschiedlicher Weise verknüpft – stets ein ‚Mischsignal’“, erläutert Brey. Lassen sich Objekte aus reinen Metallen also fast immer eindeutig ihren Lagerstätten zuweisen, war das bei Goldartefakten bis dato kaum mög-

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Grabungsarbeiten in Grube A der Goldfundstätte Sakdrissi: Im Vordergrund eine große, mit Abraum und Bruchmaterial verfüllte Pinge – also ein Abbruchtrichter –, die in gemeinschaftlicher Anstrengung teilweise freigelegt werden konnte.

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Schwerstarbeit ist das Räumen der alten Gruben unter Tage; an der Grabung im Jahr 2005 waren auch – der inzwischen verstorbene – David Gambaschidse (rechts) und die Arbeiter Tariel (links) und Zura (Mitte) beteiligt.

lich. „Wir können inzwischen aber Abhilfe schaffen, indem wir zusätzlich Spurenelemente analysieren; diese sind ebenfalls mit den drei Elementen verknüpft“, fährt Brey fort. „Das Zusammenspiel von isotopischer und chemischer Analyse führt dann zu einem klaren Ergebnis.“ Und es bringt letztlich Licht in die dunklen Wege des Goldes durch die Stollen, Rinnsale, Flüsse und Jahrtausende. Eine erste Pilotstudie zeigte bereits vielversprechende Resultate.

Spezialisten einer fernen Region: Treffen der Mittelasien/Kaukasus-Forscher in Berlin Die Initiative „Zwischen Europa und Orient – Mittelasien/Kaukasus im Fokus der Wissenschaft“ besteht seit mittlerweile sieben Jahren. Ende November 2006 nahmen sich die Beteiligten Zeit für eine Zwischenbilanz. „Das Engagement der VolkswagenStiftung hat spürbar zu einer Wiederbelebung der Kaukasien- und ZentralasienWissenschaften in Deutschland beigetragen!“ Dieses Fazit zog Professor Raoul Motika von der Universität Hamburg, der dort kurz zuvor den Lehrstuhl für Turkologie übernommen hatte. Doch damit nicht genug. Vor allem die Wissenschaften in der Region haben in den vergangenen Jahren von dem Angebot profitiert. Zugang zur internationalen Literatur, bessere Lehrangebote, der Aufbau von Wissenschaftlernetzwerken in der Region und mit internationaler Ausrichtung: All das haben gerade jene beobachtet, die aus der Region kommen und die spüren, was sich geändert hat. „Insofern ist die Initiative der Stiftung gerade für Nachwuchsforscher wie uns unschätzbar“, meinen auch Madina Salazhieva und Tolkunbek Asykulov. Beide hielten sich seinerzeit gerade in Deutschland auf: sie am Zentralasien-Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin, er am Institut für Geographische Wissenschaften der Freien Universität Berlin. Rund 130 von der VolkswagenStiftung geförderte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland, Mittelasien und dem Kaukasus

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waren in Berlin zusammengekommen – sie alle Spezialisten für eine ferne Region. Drei Tage lang stellten sie ihre Projekte vor. Insgesamt hat die Stiftung seit der Jahrtausendwende bis Ende 2007 gut 140 Vorhaben mit insgesamt über 18 Millionen Euro auf den Weg gebracht. „Damit war es aus Sicht der Stiftung an der Zeit, eine Bilanz der bisherigen Förder- und Forschungsaktivitäten zu ziehen und Perspektiven des Engagements zu erörtern“, sagte der Generalsekretär der VolkswagenStiftung, Dr. Wilhelm Krull. Eine Perspektive wurde dabei schnell klar. Das Engagement soll weitergehen, will man nachhaltig wirken. „Insbesondere ist der Stiftung daran gelegen, dass gerade die junge Wissenschaftlergeneration die Chance nutzt, dauerhafte Netzwerke zu knüpfen – nicht zuletzt innerhalb der Zielregion!“ Vor allem mit folgenden Fragen beschäftigten sich die Teilnehmer daher auch jenseits ihrer Projekte: Wie lassen sich die Kooperationen zwischen Wissenschaftlern der Region und ihren deutschen Kollegen optimal gestalten? Wie gelingt es am besten, den wissenschaftlichen Nachwuchs sowohl in Deutschland als auch den Ländern der Zielregion zu fördern? Antworten hierauf gab es viele; nahezu unisono wurde betont, wie wichtig Mehrsprachigkeit auf hohem Niveau ist. Dabei wurde während der Veranstaltung deutlich, dass unter den vielen in der Region verwendeten Sprachen auch das Deutsche als Wissenschaftssprache einen wichtigen Platz hat. (cj)

Aus Sicht der Georgier geht es aber noch um weit mehr als um Details der frühen Technikgeschichte. Für sie ist das Gold so etwas wie für die Deutschen der Rhein: Ihre nationalen Mythen und ihr Selbstverständnis als Nation sind dadurch maßgeblich geprägt. Auch die Sage der Argonauten, die in der Kolchis das Goldene Vlies raubten, gehört – auf dem Umweg über das antike Griechenland – zum mythischen Fundament des Abendlandes. Die Kolchis beschreibt eine Region am unteren Rioni-Fluss in Georgien am südwestlichen Rand des Kaukasus. „Wir haben Hinweise darauf, dass die Goldvorkommen um Sakdrissi damals von großer Bedeutung gewesen sein könnten für die Region, denkt man etwa an die Verarbeitung und den Handel des begehrten Metalls“, erklärt Andreas Hauptmann. Die Erzählung vom Goldenen Vlies weise darauf hin, dass die Kolchis sehr reich gewesen sein müsse. „Wir wollen den Mythos, der auf die Griechen zurückgeht, auf seinen Ursprung hin überprüfen“, sagt Irina Gambaschidse. „Dazu werden gleichzeitig alte Texte sondiert. Damals gehörte diese Region zu einer Kultur, die sich aus dem östlichen Kaukasus bis zur Levante erstreckte.“ In der Argonauten-Sage wird auch eine uralte Form beschrieben, Gold zu gewinnen: „Man legte ein Schaffell in den Fluss, in dem sich die Goldkörnchen verfingen. Anschließend wurde das Fell verbrannt, das Gold blieb übrig“, beschreibt Andreas Hauptmann das Verfahren. Im Jahr 2004 wurden in alten Königsgräbern in der Kolchis unglaubliche Goldschätze gefunden, mit über 6000 Goldstückchen. „Es ist gut denkbar, dass sich hier ein Zentrum der Goldförderung der Alten Welt befand.“ Diese Funde brachten auch anderen Wissenschaftsgebieten in Georgien neuen Aufschwung: Gold wurde zum Thema etwa für die Historiker und die Kulturwissenschaftler der Region. „Das georgische Nationalbewusstsein wurde angefacht“, bringt es Thomas Stöllner auf den Punkt. Und so ergeben sich auch für das eingespielte Wissenschaftlerteam zusätzliche Kontakte; plötzlich strahlt die Montanarchäologie weit über ihr angestammtes Gebiet hinaus. Und das Goldene Vlies? Andreas Hauptmann meint: „Bis 2011 werden wir wohl genauer wissen, was es damit auf sich hatte.“ Heiko Schwarzburger

Über einen Explorationsstollen aus sowjetischer Zeit ist der Bergbau von Sakdrissi teilweise noch zugänglich; im Bild oben Student Peter Thomas von der Universität Marburg auf dem Weg zu seinem Einsatzort. Bild unten: Um die bergmännischen Aktivitäten in Sakdrissi genau zu erfassen, wird das Material, das die Bergleute einst hinterlassen haben, sorgfältig untersucht. Dr. Giorgi Mindiaschwili (links) und Dr. Irina Gambaschidse konnten unter anderem Holzkohlereste und Scherben für die Analyse heraussieben.

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Vor Ort in neun Staaten südlich der Sahara Konfliktforschung in Afrika: über den Umgang mit Gewalt, neue Bewältigungsstrategien und Wege zu einem stabilen Frieden

Memory Biwa befragt Nama zu ihrer Geschichte, Dr. Birgit Embaló erkundet den Status lokaler Machthaber in Guinea-Bissau – nur zwei von über vierzig afrikanischen und europäischen Forschern und Forscherinnen, die in neun Staaten Afrikas zur Friedens- und Konfliktforschung arbeiten. Im Juli 2006 bewilligte die VolkswagenStiftung im Rahmen ihrer Förderinitiative „Wissen für morgen“ insgesamt über 1,5 Millionen Euro für drei deutsch-afrikanische Kooperationsprojekte, die den Umgang mit Gewalterfahrung, die entsprechenden Bewältigungsstrategien und Maßnahmen zum Friedensaufbau in den Blick nehmen.

Afrikanische Kinder, die unter den schlimmen Verhältnissen in Flüchtlingslagern (hier bei

Die Länder im sub-saharischen Afrika sind eine krisengeschüttelte Region. Zahlreiche Kriege, hohe soziale Ungleichheit und ethnische Konflikte prägen die gesellschaftliche Wirklichkeit der meist noch jungen Nationalstaaten. Damit ist der Rahmen gesteckt für die drei Verbundprojekte. Die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen grundlegende Ziele: Generell geht es darum, Wissen über den Umgang mit Konflikten in den betreffenden Ländern zu gewinnen. Davon ausgehend wollen die Forscher Ansätze entwickeln für eine Politikberatung, die auf eine wirksame Friedenssicherung ausgerichtet ist. Zudem zielt das Engagement darauf, die Zusammenarbeit der wissenschaftlichen Institutionen in den verschiedenen afrikanischen Staaten zu intensivieren. Und nicht zuletzt sind in die Projekte etwa fünfzig Doktorandinnen, Doktoranden und Masterstudierende eingebunden. Damit lösen sie eines der wichtigsten Anliegen der Stiftung ein: Sie sorgen für das erforderliche „Capacity Building“ vor Ort und folglich dafür, dass der wissenschaftliche Nachwuchs in Afrika Möglichkeiten zur Höherqualifizierung erhält.

Caxito in Angola) leiden: Ein Bild, wie wir es leider nur allzu oft wahrnehmen müssen. Die Auswirkungen postkolonialer Bürgerkriege

Schatten der Vergangenheit: Versöhnungspolitik in Namibia und Angola

im südlichen Afrika werden jetzt in deutschafrikanischer Zusammenarbeit erforscht – auch in der Hoffnung, Wege in eine bessere Zukunft zu finden.

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Der Frage, wie mit historischen Konflikten umgegangen wird, stellen sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Projekts „Reconciliation and Social Conflict in the Aftermath of Large-scale Violence in Southern Africa“.

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Das koloniale Erbe wiegt noch schwer: Als Zeichen der Versöhnung übergab im Oktober 2005 in Namibia der deutsche Botschafter Dr. Wolfgang Massing (links) Kaptein Hendrik Witbooi (Mitte) ein Konvolut mit Briefen, die dessen Urgroßvater gehört hatten. Die Schriftstücke erbeuteten deutsche Truppen 1905 im Kampf gegen die Nama. Rechts im Bild: Herero-Häuptling Tuvahi Kambazembi.

Beteiligt sind angolanische, namibische und portugiesische Universitäten und Forschungseinrichtungen, auf deutscher Seite einbezogen ist Professor Dr. Heribert Weiland vom Arnold-Bergstraesser-Institut für kulturwissenschaftliche Forschung in Freiburg. Sowohl Namibia als auch Angola blicken auf eine konfliktreiche Kolonialvergangenheit beziehungsweise auf postkoloniale Bürgerkriege zurück, deren Folgen bis heute ihre Gesellschaften prägen. In beiden Staaten wird diese Geschichte eher totgeschwiegen als aufgearbeitet – Grund genug für die Forscherteams zu untersuchen, inwieweit und auf welche Weise die Konflikt- und Gewalterfahrungen bewältigt wurden.

Schon mit 16 Jahren werden angolanische Jungen zum Militär eingezogen. Welche Zukunft haben sie als Erwachsene, und welche Rolle werden sie in den sozialen Strukturen ihres Landes einnehmen?

Memory Biwa ist eine der jungen Forscherinnen, die im Rahmen des Projekts promovieren. Sie untersucht, wie Nachfahren der Nama, die im sogenannten „Hottentotten-Krieg“ 1906/07 von der deutschen Kolonialmacht in Konzentrationslagern auf Shark Island gequält und umgebracht wurden, mit dieser Geschichte umgehen. Einige von ihnen stifteten Versöhnungsrituale zur Traumabewältigung – ein notwendiger Schritt, denn viele der Leichen wurden lediglich verscharrt. „Es geht mir dabei immer um den Vergleich, um Abweichungen von kollektiver und persönlicher Erinnerung“, betont die Historikerin, die alte wie junge Nachkommen der Nama befragt. Die Verarbeitung der Traumata, so ihre Beobachtung, sei noch lange nicht abgeschlossen. Im angolanischen Teil des Projekts beschäftigen sich 14 Magisterstudierende, sechs Doktoranden und sechs promovierte Wissenschaftler – darunter zwei Soziologen, ein Sozialanthropologe, ein Historiker, ein Politikwissenschaftler und eine Psychologin – mit den sozialen Strukturen im heutigen Angola und deren Entstehungsgeschichte. Wie der Soziologe und Afrikaforscher Professor Dr. Franz-Wilhelm Heimer, der seit 27 Jahren in Portugal lehrt, ausführt, ist allein die Zahl der am Projekt beteiligten Wissenschaftler und Nachwuchswissenschaftler bemerkenswert: Infolge der völlig unbefriedigenden Entwicklung des Hochschulwesens gibt es kaum gut ausgebildete Geistes- und Sozialwissenschaftler. „Wir haben fast die Hälfte der promovierten Sozialwissenschaftler des Landes für unser Projekt gewinnen können – und werden so viele Studenten und Doktoranden weiterqualifizieren, dass dies für Angola einen gewaltigen Schritt nach vorn bedeutet.“

Für manche Dorfkinder gibt es in Angola immerhin schon wieder “open air class rooms”. Das Bild zeigt Schüler des Ortes Humpata in der Untersuchungsregion Huíla in Angola, die auf ihren Lehrer warten.

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Professor João Milando, Soziologe von der Universidade Agostinho Neto im angolanischen Luanda und derzeit am Centro de Estudos Africanos in Lissabon tätig, betreut als Senior Researcher das Teilprojekt „Widerstandsfähigkeit von ländlichen Gesellschaften in Angola“. Jene Bevölkerungsteile haben während des Bürgerkriegs besonders gelitten und sich dennoch weitgehend ihre Identität bewahren können. „Uns interessiert, welche Faktoren dafür ausschlaggebend waren“, führt Milando aus, „denn diese Strukturen oder Handlungsansätze könnten auch auf nationaler Ebene eine Hilfe sein.“ Milando ist gespannt auf die Ergebnisse seiner Forschungsreisen in die Provinzen Bengo und Huíla. Gemeinsam mit der Doktorandin Maria de Fátima und dem Magisterkandidaten Abel Paxe hofft er durch Interviews zu erfahren,

welchen Einfluss informelle Netzwerke ebenso wie religiöse Verbindungen auf die Entstehung lokaler Macht besitzen. Wesentlich für die Widerstandsfähigkeit scheint ihm die „Elastizität der analysierten Gesellschaften“ zu sein, wie er es ausdrückt. Gewalt von außen hätten die ländlichen Gesellschaften ohne größere Schäden absorbieren können. Dies sei Angola als staatlicher Einheit hingegen bis heute nicht gelungen: Zu widerstrebend seien die Interessen der einzelnen ethnischen Gruppen, zu tief die vom Krieg hinterlassenen Wunden.

Bamako 07: erstes Treffen von der Stiftung geförderter Afrikaforscher Ende November 2007 trafen sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der ersten zwölf in der Afrika-Initiative auf den Weg gebrachten Projekte zu einem großen gemeinsamen Workshop in Bamako, Mali. Die etwa 160 Forscher bearbeiten in ihren Teams die Themenfelder „Communicable Diseases in Sub-Saharan Africa – From the African Bench to the Field“, „Political, Economic, and Social Dynamics in Sub-Saharan Africa“ – sowie „Violence, its Impact, Coping Strategies, and Peace Building”. Die Arbeitsgruppen unterscheiden sich durch ihre Projektdesigns und Netzwerkgrößen, sodass eines der Ziele der Veranstaltung der Austausch über die bisherigen Erfahrungen im Management der Projekte war. Ein zusätzlicher Reiz lag für die Stiftung darin, die verschiedenen Themenbereiche zusammenzubringen. So ergab sich ein Spannungsfeld gerade auch aus der Zusammenschau von Forschungen zu gewalttätigen Exzessen, Bürgerkriegen und der Verbreitung epidemischer Krankheiten. Nach dem offiziellen Auftakt am Abend des 25. November beschäftigten sich am Morgen des ersten Veranstaltungstages drei international renommierte Wissenschaftler aus aktueller Perspektive mit den drei großen Themenkomplexen, die sie in einen gesamtafrikanischen Überblick einbetteten. Es folgte ein Austausch zu den bisherigen Erfahrungen mit Nord-Süd- und Süd-SüdKooperationen sowie zur Förderung der Nachwuchskräfte. Am zweiten Sitzungstag trafen sich

die Forscherinnen und Forscher der einzelnen Ausschreibungen untereinander zu Projektpräsentationen und zum Erfahrungsaustausch in kleineren Gruppen. Der dritte Veranstaltungstag schließlich diente der Diskussion innovativer Förderinstrumente und Projektdesigns. Neben einer Darstellung der einzelnen Forschungsvorhaben durch die Projektleiter konnten insbesondere die in die Vorhaben eingebundenen Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler ihre Arbeiten vorstellen. Insgesamt nahmen rund 180 Personen an dem Treffen teil. Nicht zuletzt zielte die Veranstaltung darauf, aus den Präsentationen und Diskussionen Ideen für neue Förderansätze zu entwickeln und mit den Wissenschaftlern kreativ und konzentriert zu eruieren, wie innovative Förderkonzepte insbesondere für Nachwuchskräfte in Afrika gestaltet sein könnten – auch jenseits der traditionellen Projektförderung. Für die Forscher selbst brachte das Zusammenkommen der unterschiedlichen Projektgruppen weiterführende Ansätze und Ideen für künftige Forschungsfelder und -kooperationen mit sich. Gerade das eher unübliche Zusammentreffen gesellschaftswissenschaftlich und naturwissenschaftlich-medizinisch Forschender wurde von vielen begrüßt und für die eigene Arbeit als befruchtend bezeichnet. Und natürlich war es für alle spannend zu sehen, wie weit die geförderten Vorhaben gediehen sind und was konkret an ersten Erkenntnissen sichtbar wurde. (cj)

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Globale Lösungen für lokale Konflikte – und umgekehrt?

Welche Rolle spielten zum Beispiel Lehrer als lokale Bildungselite während des Konflikts in Nord-Darfur? Fragen wie dieser widmet sich Professor Dr. Abdul-Jalil von der Universität Khartoum (links), hier beim Interview eines Studienteilnehmers in Darfur im Jahr 2007.

Lokale Konfliktlösungsstrategie in Äthiopien: Gada ist ein für Ostafrika spezifisches Altersklassensystem, in dem Älteren eine besondere, konfliktvermittelnde Rolle zukommt. Das Bild zeigt eine zeremonielle Versammlung älterer Guji-Oromo in Me’e Bokko.

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Gleich sechs Staaten erfasst das Projekt „Travelling Models in Conflict Management“: Äthiopien, Liberia, Sierra Leone, den Sudan, Südafrika und den Tschad. Professor Dr. Richard Rottenburg vom Institut für Ethnologie der Universität Halle-Wittenberg erläutert die übergreifende Zielsetzung: „Es ist zwar richtig, dass wir über lokale Konflikt- und Konfliktlösungsstrategien immer noch zu wenig wissen. Überraschender aber ist die Tatsache, dass wir über die Wirkung translokal und global zirkulierender Konfliktlösungsstrategien noch weniger wissen. Wie und wo entstehen diese Modelle? Wie kommen sie in Umlauf? Wie werden sie in lokale Kontexte übersetzt?“ Einer der am Projekt beteiligten afrikanischen Wissenschaftler ist der Anthropologe Dr. Tadesse Berisso von der Universität Addis Abeba in Äthiopien. Er untersucht Konflikte und deren Schlichtung bei den Guji-Oromo, einer ethnischen Gruppe in Süd-Äthiopien. Ihre Geschichte ist charakterisiert durch zahlreiche Konflikte mit benachbarten Gruppen, von denen einige inzwischen beigelegt wurden. Die Guji besitzen traditionelle Schlichtungsinstitutionen wie die gada (ein generationsübergreifendes System), den Ältestenrat, den Clan-Leader. „Bis in die jüngste Vergangenheit“, führt Berisso aus, „hat die äthiopische Regierung diese Strukturen und Handlungsmuster übersehen. Nun aber beginnt man deren Bedeutung zu erkennen und sie zu nutzen.“

Der Vorteil der indigenen Institutionen liegt darin, dass sie bei der jeweiligen Bevölkerungsgruppe anerkannt sind und Verhandlungsergebnisse mit Hilfe ihrer Popularität erzielen – und durchsetzen. Sie üben erheblichen Einfluss auf Konfliktparteien aus. Aber: „Wenn wir die Methoden der Guji wirklich gezielt anwenden wollen, müssen wir deren Arbeitsweise und die Struktur ihrer Konflikte grundsätzlich verstehen“, dämpft der Anthropologe zu optimistische Erwartungen. Parallelen wie Unterschiede zu anderen Formen von Auseinandersetzungen müssten genau analysiert werden, bevor deren Übertragung vom wissenschaftlichen Standpunkt her sinnvoll erscheint. Im Sudan untersucht der Sozialanthropologe Professor Musa Adam AbdulJalil von der Universität Khartoum den Konflikt in Nord-Dafur. Internationale Prinzipien wie das der Gewaltenteilung seien in der Anwendung problematisch: „Wo Stärke über den Zugang zu Macht entscheidet, führt power sharing nicht zu Demokratie“, erläutert der sudanesische Forscher. „Im Gegenteil!“ Ihn beschäftigt, wie Lehrer als lokale Bildungselite in die Konflikte involviert sind. Dass sich die Eliten, die ursprünglich auf einen Übergang zur Demokratie setzten, auf diesen Weg eingelassen haben, kritisiert er und versucht die Beweggründe hinter dieser Entwicklung nachzuvollziehen. Abdul-Jalil geht davon aus, dass die genaue Klärung der Motivlagen der einzelnen Gruppen weitergehende Aussagen ermöglicht und insofern auch ganz praktisch zur Konfliktlösung beitragen wird.

Lokale Konfliktlösungen und moderner Rechtsstaat: Guinea-Bissau In einem der ärmsten Länder der Welt erforscht ein zwölfköpfiges Team lokale Formen der Befriedung und ihre Verflechtung mit den Rechtssystemen und Schlichtungseinrichtungen auf nationaler Ebene. Mit dabei: drei Doktoranden und ein Masterstudent aus Guinea-Bissau sowie eine deutsche Nachwuchswissenschaftlerin. Auch ihnen geht es um die Zerbrechlichkeit staatlicher Strukturen, die im Gegensatz zur Vitalität lokaler Akteure steht, und um die Frage nach der Entstehung informeller politischer Ordnungen. Der deutsche Projektleiter Professor Dr. Georg Klute vom Institut für Ethnologie Afrikas der Universität Bayreuth bemerkt zu den Eckpunkten des Vorhabens: „In jüngster Zeit erscheinen nichtstaatliche politische Ordnungen auf der politischen Bühne afrikanischer Staaten. Diese müssen mit Konflikten, im Besonderen aber mit dem ‚Gewaltproblem’ umgehen. Die Regelung von gewaltsamen Konflikten verstehen wir als ‚Lackmus-Test’ für die Reproduktionsfähigkeit sozialer Ordnungen.“

Veränderungen innerhalb ethnischer Gruppen können auch auf nationaler Ebene weitreichende soziale Folgen mit sich bringen. Der Bayreuther Ethnologe Professor Dr. Georg Klute (links) unterstützt junge Kolleginnen und Kollegen in Guinea-Bissau bei ihren Forschungen. Mit dabei (oben, von links): Mamadu Jao, Dr. A. Idrissa Embaló – sowie Antonio Queita Galissa (unten).

Für Projektbetreuung und -organisation vor Ort sind die deutsch-guineischen Wissenschaftler Dr. Birgit Embaló und Dr. Idrissa Embaló vom National Study and Research Institute in Bissau verantwortlich. Die Kulturwissenschaftlerin und der Agrarsoziologe wollen am Beispiel der ethnischen Gruppe der Balanta anschaulich machen, wie Veränderungen und Bedeutungsverluste der eth-

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Ethnologische Studien auf der Bank: Dr. A. Idrissa Embaló (Zweiter von links), Caterina Viegas Gomes M. A. (Mitte) und Diplomsoziologin Anne-Kristin Borszik (rechts) unterhalten sich mit Bewohnern der Region Biombo.

nischen Organisation Einflüsse auf nationaler Ebene nach sich ziehen. Die Balanta leben in einer nicht-hierarchischen Gesellschaft, in der jeder Altersklasse spezifische Aufgaben zufallen. Der Ältestenrat regelt Streitigkeiten, ist dabei jedoch auf die Akzeptanz aller Altersgruppen angewiesen – und genau diese Anerkennung wird ihm zunehmend verweigert. In der Folge fallen „die Alten“ als regulierende Instanz aus. „Zudem arten die traditionellen Schauringkämpfe der Balanta immer häufiger in echte Kämpfe zur Konfliktlösung aus“, bemerkt Birgit Embaló. „Gewalt wird zum Problem.“ Zum Autoritätsverlust der Alten komme die enorme Korruption im Staat hinzu, die die Haltlosigkeit der Jungen verschlimmere: Jene wüssten, dass Fehlverhalten weder von ihrer ethnischen Gruppe noch von einem schwachen Staat sanktioniert werde, und könnten sich zudem auf Mechanismen wie Ämterpatronage verlassen. Aber es gibt auch Ermutigendes zu berichten: „Die regulós – auf lokaler Ebene agierende traditionelle Autoritäten – sind stark in die lokale Rechtsprechung einbezogen und besitzen größeres Ansehen, als wir vermuteten“, sagt die Forscherin. Sie schlichten Streit und sprechen Recht vor allem in Familienund Erbschaftsangelegenheiten. Schwere Verbrechen, Körperverletzung und Tötungsdelikte übergeben sie an staatliche Instanzen. Dennoch existiere eine große Zahl von Verfahren, in denen Kläger auf beiden Recht sprechenden Ebenen „ihr Glück versuchten“ – denn häufig widersprächen sich nicht-

Medizinische Forschung im sub-saharischen Afrika stärken Die Flussblindheit oder die von der Tsetse-Fliege übertragene Schlafkrankheit sind nur zwei Beispiele von tropischen Plagen, die im sub-saharischen Afrika zum Alltag gehören. Sie zählen zu den Armutskrankheiten, die trotz weiter Verbreitung in der medizinischen Forschung lange Zeit eher unberücksichtigt blieben und daher auch als „vernachlässigte Tropenkrankheiten“ oder „Neglected Tropical Diseases“ (NTD) bezeichnet werden. Ein Konsortium europäischer Stiftungen hat sich nun Ende 2007 zusammengetan, um die Tropenmedizin vor Ort zu unterstützen: mit einem Angebot, das junge, hervorragende afrikanische Wissenschaftler fördert, die im Bereich der Tropenmedizin forschen und sich insbesondere den vernachlässigten afrikanischen Problemkrankheiten widmen. Angesprochen sind Postdoktoranden und -doktorandinnen, die derzeit in Ländern des sub-saha-

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rischen Afrikas arbeiten; gleichermaßen jene, die dorthin zurückkehren wollen. Voraussetzung ist in jedem Fall eine Zusammenarbeit mit einer Forschungseinrichtung in Europa. Für frischgebackene Postdoktoranden werden Junior Fellowships vergeben – ausgestattet mit bis zu 90.000 Euro in drei Jahren. Postdoktoranden mit einigen Jahren Forschungserfahrung hingegen können Extended Fellowships erhalten – dotiert mit bis zu 140.000 Euro für drei Jahre. Das Auswahlverfahren startet mit einer Konferenz „NTD 2008“ im September 2008 in Bamako, Mali. Interessierte Wissenschaftler afrikanischer Forschungseinrichtungen konnten sich bis Ende März 2008 zunächst mit Abstracts um eine Konferenz-Teilnahme bewerben. Getragen wird die Initiative „Neglected Tropical Diseases and Related Public Health Research“ von einem halben Dutzend europäischer Stiftungen – darunter auch der VolkswagenStiftung. (cj)

staatliches, lokales Recht und „modernes” staatliches Recht. Vielfältigkeit und Potenzial der divergierenden Systeme aufzudecken, ist eines der Ziele des Projekts. Nur so können die Forscher Grundlagen für ein verbindliches und landesweit akzeptiertes Rechtssystem in Guinea-Bissau erarbeiten. Bei aller Verschiedenheit im Einzelnen gilt für alle drei Projekte, dass sie Konflikte beziehungsweise deren Lösungsstrategien sowohl auf lokaler als auch auf nationaler Ebene teilweise zum ersten Mal überhaupt wissenschaftlich untersuchen. Gerade die Handlungsweise lokaler Machthaber war bislang völlig unerforscht. In Staaten, deren nationale Identität eher schwach ausgeprägt ist, könnten ihre Lösungsansätze vorbildhaft sein. Ob dabei bestimmte Regeln lokalen Handelns in die existierende nationale Gesetzgebung aufgenommen werden oder Forschungsergebnisse in Form konkreter Politikberatung in den Alltag der neun Staaten einfließen, werden die nächsten Jahre zeigen. Eines lässt sich jetzt schon sagen: Allein die Zahl eingebundener Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler ist bemerkenswert – zumal in Ländern wie Angola und Guinea-Bissau bislang nur eine rudimentär entwickelte Bildungslandschaft existiert. Umso besser, dass der Nachwuchs in den Projekten gezielt interdisziplinär arbeitet. Elke Kimmel

Momentaufnahmen vom ersten Treffen der von der Stiftung geförderten Afrikaforscher im November 2007 in Bamako, Mali: Doktorandin Pamela Claassen von der University of Namibia (linkes Bild, stehend) ist ebenso engagiert bei der Sache wie Professor Dr. John Chesworth und Professorin Dr. Esther Mombo, beide St. Paul’s United Theological College in Limuru, Kenya (Bild rechts).

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„Yakkadir Toshkent“ Unterwegs auf Feldforschung in Mittelasien: Die junge Wissenschaftlerin Kerstin Klenke berichtet über ihre „Materialsammlung“ usbekischer Musik.

Die Erforschung der Popmusik in Usbekistan? Zweifelsohne ein ungewöhnliches Thema, für das sich die junge Musikethnologin Kerstin Klenke interessiert. Hier berichtet sie selbst über ihre Reisen durch das mittelasiatische Land: über die schwierigen Anfänge, das allmähliche Sicheinfinden, über das Leben als junge Frau und Forscherin aus dem Westen in einer anderen Kultur und Gesellschaft. Wenngleich besonders, steht das Projekt doch auch beispielhaft für das Engagement der Stiftung in ihrer Mittelasien/Kaukasus-Initiative. Zehntausend Meter über der usbekischen Wüste beschleicht mich der Verdacht, dass ich gerade den Fehler meines Lebens begehe: Was hat mich an usbekischer Popularmusik fasziniert? Musikalisch ist das doch eigentlich nichts anderes als orientalisierender Singsang über billigen SynthesizerKlängen. Und wie bin ich auf die Idee gekommen, mich freiwillig mit Menschen beschäftigen zu wollen, die patriotische Refrains wie „Niemandem werden wir dich geben, Usbekistan“ schmettern? Um Nationalisten – ob singend oder nicht – mache ich in Deutschland doch auch einen großen Bogen. Und was habe ich bei meinem ersten Aufenthalt in Usbekistan vor zwei Jahren an Taschkent so attraktiv gefunden, dass ich mir sofort sicher war, dort leben und arbeiten zu wollen? Ist die Stadt nicht das real gewordene Klischee anti-sowjetischer Propaganda? Verfallende sozialistische Monumentalarchitektur, heruntergekommene Plattenbauten, menschenleere Straßen, riesige Plätze, allgegenwärtige Miliz – ein Albtraum in Grau und Öde.

Kerstin Klenke hat bei ihren Forschungen zur Popularmusik Usbekistans interessante Einblicke in die Kulturpolitik des Landes

Während ich mich erfolgreich selbst demoralisiere, nimmt dieser urbane Albtraum unter mir Gestalt an. Ein Blick auf das scheinbar grenzenlose Lichtermeer genügt, um mich endgültig zur Verzweiflung zu bringen: Taschkent ist einfach riesig – definitiv zu groß für mich. Gleich ein ganzes Jahr lang will ich hier bleiben, um für meine Dissertation zum Thema „Eurasian Grooves: Popularmusik, Identität und Politik in Usbekistan“ zu forschen. Eigentlich habe ich mir das Projekt gut überlegt und der Forschung mit einer Mischung aus Neugier, Spannung und Abenteuerlust entgegengesehen. Aber in dieser ersten heißen und staubigen Julinacht vor dem Taschkenter Flughafen, inmitten von Wiedersehensszenen und Gepäckbergen, dem Hupen der Taxifahrer und

gewonnen – und viele Sänger und Sängerinnen, Musiker und Bands auch persönlich kennengelernt. Popmusik ist hier ein hartes Geschäft: Die beliebte Girl-Band Setora etwa (großes Bild, links) verlor nach einem Streit mit ihrem Plattenlabel den Namen und auch die Songs. Die Mädchen auf dem Plakat wurden als „Nachfolgerinnen“ gecastet und singen nun zum Playback der Originalband, die jetzt als Setanho auftritt.

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Seit Mitte der 1990er Jahre verfolgt die Kulturpolitik das Ziel, eine „nationale Popmusik“ zu entwickeln. Dem Begriff steht jedoch kein fest umrissener Stil gegenüber. Die Verwendung der usbekischen Sprache ist jedoch so gut wie obligatorisch, und ein Rückgriff auf die Volksmusiktraditionen Usbekistans wird von Regierungsseite auf jeden Fall positiv bewertet. Anleihen bei Rap-, türkischer oder arabischer Musik hingegen sind nicht gern gesehen, werden in Maßen aber geduldet.

Gerüchen nach Benzin, Schweiß, Alkohol und Parfum, erscheint mir all das wie ein größenwahnsinniger Plan. Ich bin überzeugt davon, dass es mir in den nächsten zwölf Monaten noch nicht einmal gelingen wird, mich in dieser Zwei-Millionen-Metropole zu orientieren, geschweige denn irgendetwas wissenschaftlich Verwertbares herauszufinden. Den ersten Monat lebe ich bei Verwandten einer Freundin aus Samarkand. Es ist entsetzlich heiß, auch nachts kühlt es kaum ab, und ich schlafe schlecht. Ich habe täglich zwei Stunden Usbekisch-Unterricht und verbringe mindestens doppelt so viel Zeit mit Hausaufgaben. Parallel dazu starte ich mit ersten Arbeiten an meinem Projekt und beschließe, genau das zu tun, was man klassischerweise zu Beginn einer ethnologischen Forschung tut: das Terrain zu erkunden und zu kartografieren. Mit Stadtplan und Kamera laufe ich durch Taschkent und dokumentiere alles, was auch nur entfernt mit Musik zu tun hat. Zu Hause gelingt es mir gelegentlich, einem alten Radio mehr als Knistern zu entlocken, ich zappe mich durch die usbekischen Fernsehsender auf der Suche nach Musikprogrammen und Videoclips und erstelle Listen von Namen und Songtiteln. Über Mitarbeiter und Gastwissenschaftlerinnen des französischen Forschungsinstituts IFÉAC lerne ich einige Taschkenter kennen. Es überrascht mich, wie verbindlich meine neuen Bekannten sind und wie viel Zeit sie in den Kontakt mit mir investieren. Ich freue mich darüber, verhalte mich aber deutlich reserviert. Bin ich nicht immer wieder davor gewarnt worden, dass sich hinter besonders netten und offenen Leuten oft Informanten des Geheimdienstes verbergen? Aber was soll ich tun, wenn mir fast alle Usbeken ausgesprochen nett und offen begegnen? Das selbst auferlegte Misstrauen fällt mir nicht leicht, es macht mir das Leben schwer, ich fühle mich unfair, und schließlich entscheide ich mich dagegen: Ich muss einfach anfangen, Leuten zu vertrauen, sonst werde ich in Taschkent weder forschen noch leben können. Ende August besuche ich mein erstes Konzert im größten Saal Taschkents, dem „Palast der Völkerfreundschaft“, der im Laufe der Forschung zu so etwas wie meinem zweiten Wohnzimmer werden wird. Es ist die Abschlussgala eines Wettbewerbs für Nachwuchsmusiker und -musikerinnen. Keiner der Beteiligten ist bislang auf meinen Listen aufgetaucht, und ich beruhige mich damit, dass es nur Newcomer sind. Mein Sitznachbar erzählt mir, dass das Moderatorenpaar zu den Stars der Popularmusikszene zählt – ich habe noch nie von ihnen gehört und am Ende des Abends ihre Namen schon wieder vergessen. Würde mir in diesem Moment jemand prophezeien, dass ich einige Monate später mit der einen in ihrer Küche über Copyright-Fragen diskutieren und mit dem anderen im Kulturministerium über das Konzertleben in der DDR plaudern würde, hätte ich das für eine absurde Idee gehalten. Kurz danach findet das wichtigste politisch-musikalische Ereignis des Jahres statt: der Festakt zum Jubiläum der Unabhängigkeit am 1. September 1991,

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für den mir ein Mitarbeiter der deutschen Botschaft seine Eintrittskarte überlässt. Bereits drei Stunden vor Eröffnung der Feier beginne ich damit, mir einen Weg durch die mit Lastern, Straßenbahnen und Milizionären fast komplett abgeriegelte Innenstadt zu bahnen. Als ich schließlich das Festareal erreiche, bin ich geschafft, aber das Programm entschädigt mich für alle Strapazen. Ich erlebe ein so faszinierendes wie beängstigendes Spektakel zwischen Bollywood-Movie und Reichsparteitagsaufmarsch: Bunte, perfekt choreografierte Menschenmassen bewegen sich marionettengleich zu einem komplett vorproduzierten Soundtrack, mit den Stars der Popularmusikszene als Höhepunkt, die ihre Münder zum patriotischen Playback wie Fische auf dem Trockenen öffnen und schließen – ich bin beeindruckt. Einen Tag später ziehe ich für drei Monate in eine neue Gastfamilie in einen der alten Stadtteile Taschkents. Zu dieser Zeit entdecke ich den perfekten Ausgangspunkt für meine Forschungen: das usbekische Staatskonservatorium, an dem ich offiziell als Doktorandin immatrikuliert bin. Nach einem ersten Besuch einige Wochen zuvor, bei dem mir die lokalen Musikwissenschaftlerinnen und Musikwissenschaftler nichts als Unverständnis entgegengebracht hatten – „Warum bloß wollen Sie über usbekische Musik forschen, und dann auch noch über Popularmusik, wo doch Bach und Beethoven vor ihrer Haustür gelebt haben?“ –, habe ich mir von dieser Institution eigentlich nichts mehr erhofft. Aber es gibt dort eine Fakultät für Popularmusik, an der die alten Stars der Szene unterrichten und die neuen Stars – oder solche, die es werden wollen – studieren. Ab sofort verbringe ich meine Tage in Unterrichtsstunden, Prüfungen, Fakultätssitzungen und Klassenkonzerten, sitze mit den Studentinnen und Studenten in Seminaren und feiere mit dem Lehrkörper Geburtstage. Ich habe mein Feld oder zumindest einen Ausschnitt davon gefunden.

Der Palast der Völkerfreundschaft (Bild oben) ist der größte Konzertsaal Taschkents, hier treten die Stars der Popszene auf – allerdings nicht während des Ramadan. Der Saal ist bestuhlt, und die Miliz wacht darüber, dass, wenn überhaupt, nur verhalten getanzt wird. Unten: ein Plattenladen in Taschkent. Da eine

Im Oktober gelingt es mir, mich über meinen eigenen Perfektionismus hinwegzusetzen. „Ich muss besser Usbekisch und Russisch sprechen und mehr über die Popularmusikszene wissen, bevor ich jemanden interviewen kann“, hatte ich mir bislang mantraartig vorgebetet. Allmählich wird mir klar, dass ich bis zu meiner Abreise vermutlich kein einziges Interview führen werde, wenn ich tatsächlich auf vollkommene Sprachbeherrschung warte, und dass ich nur etwas über die Popularmusikszene erfahren kann, wenn ich mit Leuten spreche. Mein erster Interviewpartner, Ilya, ist der Freund eines Freundes und arbeitet im Show-Business. Das Ganze ist ein Desaster: Er ist nervös und versteht meine Fragen nicht richtig, ich bin nervös und verstehe seine Antworten nicht richtig, und nach zwanzig Minuten ist alles vorbei. Inzwischen hören wir uns dieses Interview gelegentlich zum Vergnügen an: Ilya ist ein guter Freund geworden, und wir können uns stundenlang über die usbekische Pop-Szene unterhalten.

CD etwa so viel wie 50 Brote oder zehn Prozent des Durchschnittslohns kostet, können sie sich nur wenige Leute leisten. Bei der Verbreitung von Musik spielen die vielen Radiosender daher eine wesentlich größere Rolle.

Anfang November ziehe ich bei meiner Gastfamilie aus. Ich wohne jetzt allein in einem Plattenbau mit Originaleinrichtung aus den 1960er Jahren im Zen-

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trum Taschkents. Öffentliche Verkehrsmittel nutze ich kaum noch, denn mit dem Taxi ist es schneller und interessanter. Fast jeder, der in Taschkent ein Auto hat, fährt Taxi, um seinen Lebensunterhalt zu sichern: Gemüsehändler ebenso wie Mitglieder der Akademie der Wissenschaften. Nach der üblichen Einleitung – „Woher kommen Sie, was machen Sie beruflich, wie lange sind Sie schon hier, wie alt sind Sie, sind Sie verheiratet, haben Sie Kinder?“ – ergeben sich meist interessante Gespräche über Musik, Politik, Wirtschaft und Moral. Ich bin überrascht und beeindruckt, mit welcher Offenheit Fahrer und Mitfahrer über die Probleme Usbekistans sprechen, wie sie ihr Leben unter den schwierigen Bedingungen meistern und dabei oft ihren Optimismus und ihre Lebensfreude nicht verlieren. Nebenbei erfahre ich so einiges über das Image von Deutschen in Usbekistan, das trotz der zunehmenden anti-westlichen Propaganda nach wie vor ein sehr positives ist – ein unschätzbarer Vorteil für meine Forschung. Mich beschämt der Gedanke, dass sich usbekische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in Deutschland eher selten so willkommen fühlen dürften.

Tanzen gilt bei Hochzeiten (Bild oben) als Ehrerbietung gegenüber dem Brautpaar. Männer und Frauen tanzen in der Regel getrennt; dabei verteilen die Verwandten

Ende November sitze ich in einem Unterrichtsraum im Konservatorium. Die Leiterin der Popularmusik-Gesangsabteilung probt einen neuen Song mit einer Studentin. Die Heizung funktioniert nicht, es ist bitterkalt, man kann den eigenen Atem sehen, und wir tragen Mäntel und Schals. Von meinem Platz aus fällt mein Blick durch die riesige Glasfront des Raums über das Stadion des Taschkenter Fußballclubs „Paxtakor“ – „Der Baumwollpflücker“ – und die Sowjetbauten des Zentrums auf die schneebedeckten Berge hinter der Stadt, und das alles unter einem strahlend blauen Himmel im Sonnenschein. Die Studentin singt eine pathetische Hymne auf Usbekistan und seine Hauptstadt, die im Refrain „Yakkadir Toshkent“ – „Taschkent ist einzigartig“ – kulminiert. Während mir die Kälte den Rücken entlangkriecht, die Zähne klappern und ich meine Füße nicht mehr spüre, denke ich, wie Recht sie doch hat und wie sehr ich diese Stadt inzwischen liebe.

des Brautpaars Geld an die Tanzenden, die es dann an die Musiker weitergeben – die Haupteinnahmequelle für die meisten von ihnen. Bild unten: Die offiziellen Feiern zum Unabhängigkeitstag im September sind jedes Jahr ein lange vorbereitetes, perfekt inszeniertes und engmaschig kontrolliertes Spektakel, bei dem sich Tausende von Akteuren zu einem Playback über die Bühne bewegen. Die Auftritte der Stars der Popmusik bilden den Höhepunkt der Veranstaltung.

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Die Wintermonate vergehen in einem atemlosen Aktionismus. In meiner Wohnung ist es kalt und zugig, und ich lebe fast nur noch in der Küche, weil ich dort mit dem Gasherd heizen kann. Die meiste Zeit des Tages verbringe ich aber sowieso im Konservatorium, in Tonstudios, Radiostationen, in Bibliotheken, Plattenläden und Clubs; ich jage und sammle alles: Kontakte, Musik, Bücher, Zeitungen und Interviews. Die Forschungen laufen sehr gut, aber bei jedem Schritt, den ich unternehme, frage ich mich, ob ich damit wohl den richtigen Weg einschlage und welche Konsequenzen meine Entscheidung haben wird: Sollte ich nicht besser Radioredakteur X interviewen als Sängerin Y? Sollte ich nicht überhaupt mehr in der Bibliothek arbeiten anstatt Interviews führen? Ich weiß, dass mir darauf niemand eine Antwort geben kann, es gibt kein Richtig oder Falsch, aber diese Zweifel machen das Forschen und Leben unglaublich anstrengend. Ich bin erschöpft und bräuchte eine Pause – das würde mir auch jedes Ethnologie-Lehrbuch bestätigen –, arbeite aber trotzdem erst einmal weiter.

Selbst die größten Stars der Popszene Usbekistans wie Davron Ergashev verdienen ihr Geld dadurch, dass sie bei Hochzeiten auftreten. Meist singen sie pro Feier drei bis vier Songs und fahren dann weiter zum nächsten Fest.

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Im Konzertsaal Zerafshan im Zentrum Taschkents finden kleinere Konzerte statt. Oft laden die Künstlerinnen und Künstler dazu auch Kollegen als Gäste ein. Das Bild oben zeigt Ravshan Kamilov bei einem Konzert von Mohira Asadova. Alle größeren Lokale in Taschkent unterhalten ihre Gäste mit fest

Ende März werde ich schließlich unfreiwillig zu einer Auszeit gezwungen. In Taschkent werden Bombenanschläge verübt, und es gibt Schießereien. Niemand weiß so recht, was wirklich passiert ist, im Fernsehen laufen den ganzen Tag nur Tierfilme und Konzertmitschnitte, und die Radios spielen wie immer die Hitparade rauf und runter. Ich höre Gerüchte, dass Ausländer evakuiert werden sollen, es soll eine Ausgangssperre verhängt worden sein, die Geschäfte und Basare haben angeblich für mehrere Tage geschlossen, und ich merke, wie mich allmählich Panik erfasst. Natürlich wusste ich vorher um die prekäre politische Situation in Usbekistan, das autokratische Regime ist schließlich auch tagtäglich allerorten präsent. Aber wie meine usbekischen Freunde habe ich mir um all das herum mein Leben in einer Art Normalität konstruiert. Jetzt überkommt mich sogar Angst, auf die Straße zu gehen, und sei es nur bis zum Kiosk an der nächsten Ecke. Schon zwei Tage später kehrt die Stadt mehr oder weniger zum Alltag zurück, aber ich fühle mich wie gelähmt. An dem Tag, als der Kauf von Konzertkarten – eine Angelegenheit von höchstens einer Stunde – die Energie des ganzen Tages zu absorbieren scheint, beschließe ich, tatsächlich eine Pause zu machen. Ich fahre noch am selben Abend zu Freunden nach Samarkand.

engagierten Musikern und Sängern, auch die Gäste selbst greifen gern – wie im Foto unten – zum Mikrofon. Der Lautstärkepegel macht zwar Unterhaltungen oft unmöglich, dafür wird auch während des Essens viel getanzt.

Nach meiner Rückkehr gelingt es mir, Kontakte in die politischen Machtzentralen des Show-Business zu knüpfen. Ich kann beim Casting der Pop-Stars für die nächste Unabhängigkeitsfeier dabei sein und führe Interviews mit einer Reihe von politisch wichtigen Persönlichkeiten. Die Arbeit in dieser Sphäre ist spannend, aber konfrontiert mich auch mit Herausforderungen besonderer Art: Ich bin umgeben von Männern, die äußerst freundlich und hilfsbereit, aufgrund ihres Status aber daran gewöhnt sind, über jüngere Frauen nach Belieben verfügen zu können. Eindeutig zweideutigen Einladungen zum Essen und zu Wochenendtrips weiche ich freundlich, aber bestimmt aus, muss mir aber immer wieder die Frage stellen, wie ich mich durch die Grauzone vor der ultimativen Grenze bewege: Lasse ich mich darauf ein, mit jemandem in ein Konzert zu gehen, der mir dafür Zugang zu interessanten Akten verspricht, oder ist das für mich schon Prostitution im Namen der Wissenschaft? In diesen Momenten vertraue ich auf meine Intuition und den Rat von usbekischen Freundinnen und laviere mich damit durch die Avancen meiner Informanten. Ich bin auf der Suche nach Schallplatten aus der Sowjetzeit und verfasse eine Kleinanzeige für eine der Taschkenter Zeitungen. Mein Text sorgt im Anzeigenbüro für großes Gelächter: „Sehr schön, Mädchen, aber das können wir nicht drucken.“ „Warum nicht?“ „Weil da das Wort ‚sowjetisch’ steht, das geht nicht durch die Zensur.“ In der Verfassung von 1993 ist Zensur verboten worden, 2002 hat die Regierung sie offiziell noch einmal abgeschafft. Meine Freunde sind sich einig, dass die Restriktionen seitdem eigentlich nur zugenommen haben, aber mein Erlebnis vermag selbst sie noch zu erstaunen. Schließlich schreibe ich, dass ich Schallplatten aus der Zeit vor der Unabhängigkeit suche. Zwei Tage später sagt eine Sängerin einen Interviewtermin ab.

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Ihr ist gerade die Auftrittserlaubnis wegen moralischen Fehlverhaltens in der Öffentlichkeit entzogen worden. Es ist Juni, ich beschließe, meinen Aufenthalt um zwei Monate zu verlängern, um die Feiern zum Unabhängigkeitstag ein weiteres Mal miterleben zu können. In meiner Wohnung stapeln sich CDs, Zeitungen, Kopien und MDs mit Interviews, trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, eigentlich nichts herausgefunden zu haben. Ich beruhige mich etwas, als ich wie schon im Jahr zuvor die Abschlussgala des Wettbewerbs für Nachwuchsmusiker und Nachwuchsmusikerinnen besuche. Dieses Mal kenne ich alle, die auf der Bühne stehen, und ich weiß sogar, wer wie viel Bestechungsgeld gezahlt hat, um zu gewinnen. Auch den Festakt zum Jahrestag der Unabhängigkeit sehe ich jetzt mit anderen Augen, weil ich mitbekommen habe, was sich im Vorfeld hinter den Kulissen abgespielt hat. Beeindruckt bin ich trotzdem. Drei Wochen später, in einer warmen, staubigen, trockenen Septembernacht, verlasse ich Taschkent Richtung Deutschland. Beim Starten blicke ich auf das Lichtermeer unter mir; es kommt mir jetzt gar nicht mehr so groß vor. Nach langwierigen Pass- und Zollformalitäten trete ich schließlich bei sintflutartigem Regen aus dem Flughafen in den kalten, nassen und grauen deutschen Herbst. Zwei Tage später fahre ich Taxi. Der Fahrer ist ein barscher Rheinländer, der sich auf der Fahrt über „Ausländerschwemmen“ und die „Überfremdung“ Deutschlands auslässt. Mich beschleicht der Verdacht, dass es vielleicht der Fehler meines Lebens gewesen sein könnte, nach Deutschland zurückzukehren. Heute, knapp drei Jahre später, sitze ich inmitten von Feldnotizen, Interviews, Videoclips, Akten, CDs und Sekundärliteratur an meinem Schreibtisch in Hannover und arbeite an meiner Dissertation. In dieser endlosen Schleife von Lesen, Schauen, Hören, Denken und Schreiben ist Usbekistan ständig präsent, aber das scheint einfach nicht genug zu sein. Seit einigen Wochen überfällt mich immer wieder das Fernweh: Es ist der erste Sommer seit vier Jahren, den ich nicht in Usbekistan verbringe; in den vergangenen beiden Jahren war ich jeweils zu kürzeren Nachforschungen in Taschkent. Es hat gute Gründe dafür gegeben, dieses Jahr keine solche Reise zu unternehmen, und die politische Situation in Usbekistan macht selbst das vergleichsweise privilegierte Leben als ausländische Wissenschaftlerin zunehmend schwieriger und unsicherer. Aber all das ändert nichts daran, dass ich diese Stadt, ihre Menschen und meine Arbeit dort schrecklich vermisse. Nächstes Frühjahr werde ich mich noch einmal im Rahmen der Promotion nach Taschkent aufmachen, um zumindest erst einmal meine Forschungen zu den „Eurasian Grooves“ und dann auch meine Dissertation abschließen zu können. Ich bin mir aber sicher, dass das nicht meine letzte Reise in diesen einzigartigen „Albtraum in Grau und Öde“ sein wird.

Wenn Popstars heiraten, versammelt sich in der Regel das gesamte usbekische ShowBusiness. Im Bild der Auftritt der Band Setanho im Hotel Uzbekistan anlässlich der Hochzeit von Sevara Nazarkhan, die auch in der Weltmusikszene im Westen bekannt ist.

Kerstin Klenke

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Kein schwieriger Dialog Das „Journalist in Residence Fellowship“: eine Geschichte über forschende Journalisten und medienfeste Wissenschaftler

Den Zeitdruck aus dem journalistischen Arbeitsalltag nehmen und einen Ort in einem gesellschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitut schaffen, an dem sich Journalisten und Wissenschaftler in aller Ruhe begegnen können: Das ist das Ziel eines „Journalist in Residence Fellowships“, das die VolkswagenStiftung im Rahmen ihrer Initiative „Zukunftsfragen der Gesellschaft“ fördert. Bis zu drei Monate können Journalistinnen und Journalisten mit diesem Stipendium in die Forschung eintauchen und an einem eigenen Projekt arbeiten. Sie haben dabei die Wahl zwischen vier renommierten Institutionen in Köln, Berlin, Bremen und Amsterdam. „Wissenschaftler und Journalisten – das sind zwei unterschiedliche Spezies“, sagt Dr. Martin Höpner vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. „Da hilft es schon, wenn man die Gesetze der jeweiligen Welten besser kennenlernt und vor allem: wenn man miteinander ins Gespräch kommt.“ Doch für solche Gespräche braucht es Zeit und Raum – und die fehlen den meisten Journalisten in ihrem Berufsalltag. Ein schneller Anruf in einem Institut, um ein Statement in drei kurzen Sätzen zu einem aktuellen Thema zu bekommen: So sieht der Kontakt zwischen Forschern und Journalisten vielfach aus. Und genau an diesem Punkt beginnen oft die Missverständnisse. Wer als Journalist Wissenschaft fundiert vermitteln will, sollte erleben, wie sie betrieben wird. Natürlich will er oder sie sich aber auch in den eigenen Anforderungen und Bedürfnissen von der anderen Seite verstanden wissen. „Damit war der Rahmen gesteckt für die Journalist in Residence Fellowships“, sagt Höpner. Er ist am MPIfG einer der wissenschaftlichen Mentoren, die sich seit dem Jahr 2005 um die Gastjournalisten vor Ort kümmern. Neun erfahrene Journalistinnen und Journalisten aus den Bereichen Politik, Gesellschaft und Wirtschaft hatten damals die Chance ergriffen, an der Auftaktrunde teilzunehmen. Sie kamen vom Handelsblatt, der taz, von NZZ Folio (Zeitschrift der Neuen Zürcher Zeitung), der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, der Frankfurter Rundschau, der Financial Times Deutschland und der niederländischen Tageszeitung Trouw.

Die drei „Journalistenbetreuer“ vom MPI für Gesellschaftsforschung in Köln: Christel Schommertz, Dr. Martin Höpner und Jürgen Lautwein (von links) verhelfen Journalisten zu einer ertragreichen Auszeit. Finanziert werden die Fellowships, die auch an anderen wissenschaftlichen Einrichtungen möglich sind, von der VolkswagenStiftung.

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„Wir hatten gehofft, dass sich gute Leute aus den Qualitätsmedien angesprochen fühlen“, sagt Christel Schommertz, die für die Öffentlichkeitsarbeit am MPI für Gesellschaftsforschung verantwortlich ist und gemeinsam mit Jürgen Lautwein, dem administrativen Geschäftsführer des MPIfG, das Projekt auf den Weg brachte. „Offensichtlich gibt es einen Nachholbedarf an solchen Angeboten für erfahrene Journalisten – zumindest bei den Printmedien.“ Das Programm ist als Stipendium – analog zum Wissenschaftsbereich – konzipiert und erlaubt es den Medienvertretern, für einige Wochen völlig aus den Produktionsroutinen des Alltags auszusteigen. Ein journalistisches Beratergremium aus den Bereichen Print, Hörfunk und Fernsehen stand den Initiatoren mit Rat und Tat zur Seite – vor allem, um sicherzustellen, dass sich die Konzeption am Arbeitsalltag der Journalisten orientiert und zu deren Qualifikation auch wirklich beiträgt. Die Idee zu diesem „Zeitgeschenk an die Journalisten“ entstand aus der praktischen Arbeit in Diskussion mit der VolkswagenStiftung: „Es gibt immer wieder Frustration auf Seiten unserer Wissenschaftler, wenn Journalisten relativ ungeduldig einen O-Ton fordern“, erläutert Christel Schommertz. Eine Erfahrung, die alle beteiligten Institute teilen. „Wir haben oft wissenschaftliche Gäste bei uns – da dachten wir: Warum nicht auch Journalisten?“ Martin Höpner spinnt diesen Gedanken weiter: „Unsere Forschung über die Gesellschaft entsteht doch gerade auch in Auseinandersetzung mit ihr; da liegt solch ein Angebot nahe!“

Winand von Petersdorff-Campen (Bild oben) hat seinen Schreibtisch bei der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung für drei Monate verlassen. Am MPI in Köln beschäftigte er sich mit Fragen der Unternehmenskontrolle – er selbst gab den Wissenschaftlern bei einem Workshop mit dem Titel „Wie ticken Journalisten?“ Einblicke in den Redaktionsalltag. Angeregte Diskussionen zwischen Wissenschaftlern und Journalisten müssen dabei nicht eigens initiiert werden, sondern erge-

Von Anfang an war klar, dass es nicht darum gehen sollte, die Journalisten „nur“ über die Schulter gucken zu lassen, sondern ihnen über die Arbeit an einem selbst gewählten Projekt – Artikelserie, Feature, Buch – einen intensiven Austausch mit den Wissenschaftlern zu ermöglichen. Und so füllten die Journalisten ihre Zeit an einer oder mehreren der vier beteiligten Institutionen in Köln, Bremen, Berlin oder Amsterdam mit einem eigenen Forschungsund Recherchethema. „Die Beteiligung mehrerer Institute erlaubte es, eine große Vielfalt an gesellschaftswissenschaftlichen Themen abzudecken“, erklärt Jürgen Lautwein. Für die weiteren Durchgänge des Programms bis Mitte 2008 sind sogar noch mehr Institutionen eingebunden, unter anderem das Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung und die Hertie School of Governance Berlin.

ben sich beim Miteinander in den Institutionen von selbst.

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Entsprechend bunt war die Themenpalette der Journalisten: Das Spektrum reichte von der großen gesellschaftlichen Perspektive – „Welche Rolle wird der Staat künftig haben?“ – zu der Auseinandersetzung mit speziellen Phänomenen wie den sogenannten „working poor“: Menschen, die trotz Erwerbstätigkeit keinen existenzsichernden Lebensunterhalt verdienen. Und auch ganz konkrete Fälle wurden untersucht wie etwa die Frage der Unternehmenskontrolle im Volkswagen-Konzern. Wie man sich seinem Thema näherte, blieb dabei den Journalisten überlassen: recherchieren, sich in den Bibliotheken der Institute vergraben, lesen, schreiben, Gespräche führen oder an Kolloquien teilnehmen – ganz nach den individuellen Bedürfnissen. „Da kamen

durchaus unterschiedliche Charaktere zu uns“, sagt Christel Schommertz. „Aber alle haben sich wirklich erstaunlich schnell in die Gemeinschaft integriert.“ Winand von Petersdorff-Campen von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) berichtet begeistert: „Ich habe in meinem Arbeitsleben selten so viel Spaß gehabt wie in Köln. Und ich arbeite wirklich gern.“

Er machte „Promotion“ für die eigene Profession: Christian Füller von der taz weckte bei den Gesellschaftswissenschaftlern Bewusstsein für die Bedingungen, die eine Rolle spielen bei der Umsetzung von

Ganz bewusst wurde von Seiten der Programmleiter darauf verzichtet, eine Leistungserwartung an das Stipendium zu knüpfen. „Wir wollen die Journalistinnen und Journalisten mit unseren Themen vertraut machen und tragbare Kontakte aufbauen; einen Beitrag über unsere Institutionen zu erwarten, wäre da sicher kontraproduktiv“, erklärt Claudia Roth vom Informations- und Kommunikationsreferat des WZB. Vielleicht gerade deshalb entstanden eine Vielzahl längerer und anspruchsvoller Medienbeiträge. Cordula Tutt von der Financial Times Deutschland (FTD) ging zum Beispiel am WZB den Folgen des demografischen Wandels für unterschiedliche Lebensbereiche nach. „Ich habe einen Schatz an Informationen und Interpretationen gesammelt, mein Methodenwissen aufgefrischt – und auch wieder gelernt, in größeren Bögen zu denken, also nicht nur in unmittelbar verwertbaren Artikeln.“ Die Aufenthalte haben dennoch ganz konkrete Resultate nach sich gezogen: Im Falle Cordula Tutts beispielsweise eine fünfteilige Serie „Das große Schrumpfen“ für die FTD und sogar ein gleichnamiges Buch. Oder im Falle Wilma van Meterens eine Serie größerer Artikel über Arbeitsmigration zwischen Westeuropa und Südost- und Südeuropa in ihrer Amsterdamer Zeitung Trouw.

Forschungsthemen in den Medien.

Die beteiligten Institutionen Das Amsterdam Institute for Advanced Labour Studies (AIAS) ist ein interdisziplinär ausgerichtetes Institut für Forschung und Lehre an der Universität Amsterdam. Die Forscher befassen sich mit den Institutionen und der Internationalisierung des Arbeitsmarktes, mit Sozial- und Beschäftigungspolitik sowie Fragen der Lohnentwicklung. Das Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung (MPIfG) in Köln ist eine Einrichtung der Spitzenforschung in den Sozialwissenschaften. Im Mittelpunkt der Arbeiten stehen die Zusammenhänge zwischen ökonomischem, sozialem und politischem Handeln. Das Institut schlägt eine Brücke zwischen Theorie und Politik und leistet einen Beitrag zur politischen Diskussion über zentrale Fragen moderner Gesellschaften.

Im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) beschäftigen sich rund 140 deutsche und ausländische Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler mit Entwicklungstendenzen, Anpassungsproblemen und Innovationschancen moderner Gesellschaften – seien es Fragen von Bildung und Lebenslauf, Wissenschafts- und Arbeitsmarktpolitik oder Reformen des Sozialstaats. Das Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen (ZeS) ist ein interdisziplinäres und weltweit vernetztes Forschungsinstitut. Forschungsfokus sind die Institutionen, die Funktionsweise und die Folgewirkungen deutscher Sozialstaatlichkeit, die Systeme der sozialen Sicherung und ihre Wechselwirkungen mit der Arbeitswelt, dem Bildungswesen und privaten Lebensformen.

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Jürgen Kaube, FAZ (oben), und Karl-Heinz Reith, dpa (unten), stehen als Journalisten mit den Schwerpunkten Bildung und Forschung oft in Kontakt mit der „anderen Seite“. Das Fellowship-Programm und dessen Workshops boten auch ihnen neue Foren

Einen festen Bestandteil des Programms bilden allerdings die Seminare oder Workshops, die von Seiten der Journalisten für die Wissenschaftler angeboten wurden. Denn das Fellowship möchte einen zweiseitigen Lernprozess in Gang setzen – auch die Wissenschaftler sollen Einblick in die Welt der medialen Kommunikation erhalten. Winand von Petersdorff-Campen von der FAS gab beispielsweise zum Thema „Wie ticken Journalisten?“ Einblicke in die Abläufe von Redaktionen und die Maßstäbe, die dort an Geschichten, Beiträge und „Experten“ angelegt werden. Christian Füller von der taz versuchte bei seinem Workshop „Wie Forscher sich und ihre Themen populär vermarkten können“, Bewusstsein und Akzeptanz für die Methoden des Publizierens, Zuspitzens und Vermarktens von Themen und Personen zu schaffen: „Die Forscher sehen zum Beispiel oft überhaupt nicht ein, warum ihre seriösen Erkenntnisse auch noch dramatisiert werden müssten.“ In ihrem Workshop „Schöner Schreiben“ stellte Cordula Tutt praktische Übungen ins Zentrum: „Komplizierte Texte sollten umgeschrieben und bestimmte sprachliche Kniffe geübt werden: Füllwörter streichen, sparsam mit Bildern umgehen, Anglizismen meiden, Schachtelsätze auflösen, Synonyme suchen und und und …“

des Austausches mit der Wissenschaft.

„So entstand ein wunderbares Geben und Nehmen“, betont Wissenschaftler Martin Höpner. „Die Journalisten lassen sich auf unsere ‚Kultur’ ein, und wir lernen die journalistische Arbeitsweise besser kennen.“ Und auch auf journalistischer Seite entwickelte sich größeres Verständnis: „Ein Soziologe bin ich natürlich nicht geworden, aber die ‚Denke’ habe ich deutlich besser begriffen“, resümiert von Petersdorff-Campen. Und ganz nebenbei wird auf diese Weise Vertrauen in die Seriosität der Arbeit des jeweils anderen hergestellt. „Daraus können sehr dauerhafte Netzwerke entstehen“, hebt Christel Schommertz hervor. Auch die Pressestellen und PR-Abteilungen der jeweiligen Institutionen profitierten davon. „Besonders hilfreich war es, sich mit den Gästen über die laufende Pressearbeit auszutauschen“, meint Claudia Roth vom WZB. Drei Journalisten nahmen zum Beispiel an den Redaktionssitzungen für die Vierteljahrszeitschrift „WZB-Mitteilungen“ teil. Sie warfen einen kritischen Blick auf Sprache, Lesbarkeit und Aufbereitung der Beiträge. Insofern hat sich der „In-Residence“-Ansatz für alle Beteiligten als außerordentlich bereichernd erwiesen. „Das hat uns natürlich mit unseren Partnern darin bestärkt weiterzumachen“, sagt Christel Schommertz. Die VolkswagenStiftung hat aufgrund der erfolgreichen Pilotphase eine Fortsetzung des Programms bewilligt; zwischen Herbst 2007 und Frühjahr 2008 kamen weitere Fellows. Schommertz und alle beteiligten Kollegen hoffen, dass das Programm andere geistes- und sozialwissenschaftliche Einrichtungen anregt, vergleichbare Ansätze als festen Bestandteil ihrer wissenschaftlichen Öffentlichkeitsarbeit einzusetzen. Denn: Die Aufgabe, Wissenschaft und Gesellschaft besser zu verzahnen, ist ein Puzzle mit vielen kleinen und großen Teilen. Das „Journalist in Residence Fellowship“ ist eines davon. Dr. Claudia Gerhardt

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Miteinander reden, nicht übereinander Jürgen Kaube, hier im Gespräch mit Claudia Gerhardt, arbeitet als Redakteur bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Sein Fellowship-Thema, das er am MPI für Gesellschaftsforschung und am ZeS der Uni Bremen verfolgte, war die Reformdebatte zum Verhältnis von Markt und Staat. Herr Kaube, warum wollten Sie am Programm „Journalist in Residence“ teilnehmen? Ich habe Wirtschaftswissenschaften studiert und Soziologie unterrichtet, bevor ich Journalist wurde. Das Fellowship erschien mir, wie sich zeigte zu Recht, als eine gute Gelegenheit, zu der einen oder anderen Quelle zurückzugehen, eine Pause vom Arbeitsalltag zu nehmen, um thematisch fokussiert zu lesen und Anknüpfungen an laufende Forschung zu finden. Was haben Sie vor Ort angeboten, und wie haben Sie diese Workshops erlebt? Ich habe in Köln einen kleinen Vortrag über die Frage gehalten, wie sozialwissenschaftliche Forschung popularisiert werden kann, und über Redaktionskonferenzen als Interaktionssysteme berichtet – also über die Eigenheiten der Themenfindung und der täglichen Produktion im Feuilleton. Auch in Bremen gab es einen Workshop, der Fragen an den Wissenschaftsjournalismus betraf. Bei all diesen Gelegenheiten verliefen die Diskussionen sehr lebendig. Ich war oft erstaunt, welche Vorstellungen andere Menschen darüber haben, wie es in einer Organisation, in meinem Fall einer Zeitung, zugeht. Wozu hat Sie das Fellowship inspiriert? Es sind inzwischen eine ganze Reihe von Artikeln entstanden, zu denen ich die Anstöße während der Stipendienzeit erhielt: Beiträge über Ungleichheitsforschung, über die Bildungsexpansion seit den siebziger Jahren, über die Soziologie des Glücksspiels und die des Trinkgeldgebens, über Studien zum Heimvorteil in Mannschaftssportar-

ten und noch einiges mehr. Der eigentlich geplante längere Text über die Geschichte der Universitätsreform von Bologna aber, der steht noch aus. Ich glaube, das ist typisch für Journalisten: Die längeren Texte schreibt man im nächsten Leben. Worin sehen Sie die Stärken des Programms? Die größte Stärke des Programms ist – neben der finanziellen Ausstattung, die es überhaupt erst ermöglicht, dass man für Wochen aus dem Arbeitsalltag verschwindet – die Freiheit, eigenen, im Alltag aufgeschobenen Impulsen zum Verfolgen von Themen nachzugeben. Ich jedenfalls habe – ausgehend von thematischen Interessen – Literatur erkundet, mit allen Seitenpfaden, die sich dazu auftun. Eine andere Stärke sind die vielen Forschungsarbeiten, die man kennenlernt und von denen man vorher noch nichts wusste. Selbst wenn sie einem nicht immer einleuchten, denkt man doch darüber nach – und schon hat man einen Lerneffekt. Auf der anderen Seite: Ich hoffe, dass auch die Forscher etwas aus den Diskussionen mitnehmen. Denn vermutlich sieht man aus der Perspektive eines Zeitungsjournalisten manche Dinge anders – etwa was die öffentliche Wirkung von Themen angeht oder Fragen beispielsweise der Forschungs- und Bildungspolitik. Welche Erfahrungen machen Sie in Ihrem Alltag mit Wissenschaftlern? Grundsätzlich halte ich die Verständigung zwischen Wissenschaftlern und Journalisten nicht für schwierig, wenn man sich miteinander und nicht übereinander unterhält. Es gibt aber einen kritischen Punkt: Nur Wissenschaftler zweifeln an der Zuständigkeit von Journalisten für ihre Themen. Das lässt sich aber leicht erklären: Forscher publizieren primär für andere Forscher, nicht für ein Publikum außerhalb der Wissenschaft. Manchmal scheinen sie daher zu denken, man könne dem Gegenüber am Ende gar nicht erklären, worum es geht. Was nicht stimmt: Man kann.

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Wissenschaft besser verständlich machen Der Studiengang Wissenschaftsjournalismus an der Hochschule Darmstadt stellt sich vor. Im Gespräch: Annette Leßmöllmann und Klaus Meier

Mit einem wegweisenden Konzept gewann die Hochschule Darmstadt im Jahr 2004 einen von der VolkswagenStiftung ausgeschriebenen Wettbewerb zur Einrichtung eines „Studiengangs Wissenschaftsjournalismus“. Der Wettbewerb war Teil des „Qualifizierungsprogramms Wissenschaftsjournalismus“, das von Bertelsmann-Stiftung, BASF AG und VolkswagenStiftung ins Leben gerufen worden war. Vogelgrippe, Klimawandel, genveränderte Lebensmittel, Stammzellforschung, Kernkraft und erneuerbare Energien: Das sind nur einige Schlagworte für aktuelle Themen in den Medien, bei denen in der Berichterstattung schnell ein Bezug zur Wissenschaft hergestellt wird. Das Interesse der Menschen an diesen Inhalten nimmt zu – nicht zuletzt gerade deshalb, weil mit ihnen oft eine (vermeintliche) Bedrohung einhergeht. Auch wächst der Wunsch, mehr darüber wissen zu wollen, wie komplexe wissenschaftliche Zusammenhänge unseren Alltag beeinflussen. Die Medien haben die neue Lust auf Wissenschaft erkannt. Niemals zuvor gab es so viele Wissensformate in Radio, Fernsehen und Internet, wurden Wissensseiten in Zeitungen aufgelegt oder Wissenschaftszeitschriften am Markt platziert. Zugleich gewinnen entsprechende Themen ressort- und programmübergreifend immer mehr an Bedeutung, finden ihren Weg in die politischen Nachrichten, in die Kultur und Wirtschaft bis hinein ins Lokale. Anlass genug für die Stiftung, im Jahr 2004 bundesweit einen Wettbewerb zur Einrichtung eines „Studiengangs Wissenschaftsjournalismus“ auszuschreiben, den die Hochschule Darmstadt mit einem in Deutschland einmaligen Ausbildungskonzept gewann. Im Wintersemester 2005/06 konnte der sechssemestrige Bachelor-Studiengang starten; er verknüpft von Beginn an journalistische Kompetenzen (Praxis und Theorie der Journalistik) und ein gesellschaftswissenschaftliches Basiswissen (Sozial- und Kulturwissenschaften) mit einer breiten naturwissenschaftlichen Grundausbildung in den Fächern Chemie, Biotechnologie, Humanbiologie und Physik. 18 Studierende werden jedes Jahr aufgenommen, zehn Mal so viele bewerben sich. Christian Jung sprach mit der im Zuge des eingerichteten Studiengangs neu berufenen Professorin für Wissenschaftsjournalismus Annette Leßmöllmann und dem Gründer des Studiengangs und Professor für Online-Journalismus Klaus Meier.

Als neu berufene Professorin für Wissenschaftsjournalismus baut Dr. Annette Leßmöllmann gemeinsam mit Professor Dr. Klaus Meier an der Hochschule Darmstadt den neuen Studiengang auf.

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Frau Leßmöllmann, Herr Meier: Drei Jahrgänge Studierender haben Sie inzwischen aufgenommen. Wenn Sie es einmal im Kern benennen: Was charakterisiert Ihre Studentinnen und Studenten, die sich ja unter vielen Bewerbern durchsetzen mussten? Welche Schlüsselkompetenzen beziehungsweise Qualifikationen müssen sie mitbringen?

Kein Studium für eigenbrötlerische „Schreibtischtäter“: Die Ausbildung zum Wissenschaftsjournalisten in Darmstadt verlangt neben vielseitigem Interesse auch Teamgeist. Sebastian Weissgerber, Jasmin Schreiter (oben) und ihre Kommilitonen haben Spaß

Leßmöllmann: Wer bei uns erfolgreich und mit Spaß studieren will, sollte in der Schule schon gezeigt haben, dass er sowohl im naturwissenschaftlichen als auch im sprachlichen Bereich sicher ist. Er oder sie sollte also möglichst zwei Naturwissenschaften bis zum Abitur belegt und dort genauso wie in Deutsch, möglichst auch in Englisch, mit guten Noten abgeschlossen haben. Da wir kein persönliches Auswahlverfahren durchführen, orientieren wir uns an der Durchschnittsnote des Abiturs – meist eine gute Richtlinie. Unsere Hochschule sammelt derzeit Erfahrungen mit Aufnahmeprüfungen, die wir sehr aufmerksam verfolgen. Bislang müssen unsere Bewerber den Numerus clausus erreichen und ein dreimonatiges Praktikum in einer Redaktion nachweisen, wahlweise auch eine sechsmonatige freie Mitarbeit.

am gemeinsamen Arbeiten.

Meier: Interessenten sollten dieses Vorpraktikum nutzen, um festzustellen, ob sie für den Journalismus geeignet sind – ob ihnen redaktionelles Arbeiten überhaupt Spaß macht, sie die Neigung haben, Themen zu finden, journalistisch zu recherchieren und zu schreiben.

Ganz kurz: Was zeichnet Ihren Studiengang gegenüber anderen vergleichbaren Angeboten in Deutschland aus? Meier: Wir verknüpfen von Anfang an Journalistik mit mehreren Naturwissenschaften. Unsere Studentinnen und Studenten verteilen sich neben der Journalistik im Kernfach nicht auf verschiedene Zweitfächer wie bei anderen Journalistik-Studiengängen, sondern durchlaufen gemeinsam ein Programm, das eine breite Grundausbildung in Chemie, Biotechnologie, Humanbiologie und Physik – neben Vorlesungen und Seminaren auch Laborpraktika – mit gesellschaftswissenschaftlichem Basiswissen aus den Sozial- und Kulturwissenschaften verbindet. Dazu können wir die Vorteile einer Fachhochschule nutzen: Professorinnen und Professoren bringen sowohl einschlägige Forschungserfahrung mit als auch intensive Berufserfahrung außerhalb der Hochschule.

Sie bilden Generalisten aus. Liegt hier für Sie die Zukunft im Wissenschaftsjournalismus? Meier: Nun, im Vergleich mit den Journalisten im Allgemeinen sind unsere Absolventen schon Spezialisten: Sie konzentrieren sich auf die Berichterstattung über Wissenschaft mit den Schwerpunkten Naturwissenschaft, Life

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Sciences, Medizin. Aber im Vergleich mit noch stärker spezialisierten Wissenschaftsjournalisten verfolgen wir eine breite Basisausbildung. Darin liegt in der Tat die Zukunft des Wissenschaftsjournalismus. In der Konzeptionsphase unseres Studiengangs haben wir 59 leitende Wissenschaftsjournalisten und Pressesprecher befragt. Fast alle meinten, dass Generalisten, die ein breites Grundverständnis für naturwissenschaftliches Wissen mitbringen, bessere Chancen im Medienmarkt der Zukunft haben als Spezialisten, die sich in ein oder zwei naturwissenschaftlichen Disziplinen hervorragend auskennen.

Inwieweit sammeln die Studierenden während ihrer Ausbildung Praxiserfahrung? Gibt es Unterstützung von Medienunternehmen; gelingt es vielleicht sogar, Wissenschaftsbeiträge am Markt abzusetzen? Leßmöllmann: Im vierten Semester müssen unsere Studenten ein dreimonatiges Praktikum absolvieren. Wir bereiten diese Praxisphase mit ihnen vor und werten die Erfahrungen hinterher gemeinsam mit ihnen aus – bewerben müssen sie sich allerdings selbst. Der erste Jahrgang tummelte sich etwa beim Hamburger Abendblatt, bei Spektrum der Wissenschaft oder bei P.M., beim HR Hörfunk, in der Redaktion „Abenteuer Wissen“ des ZDF, in Pressestellen der BASF und der Berliner Charité oder bei den PR-Agenturen Profilwerkstatt und Hill & Knowlton. Einige arbeiten bereits als Freie, werden aber fertig studieren und erst dann ganz in den Beruf gehen. Einer, auch das kommt natürlich vor, ist uns zwischenzeitlich verloren gegangen: Er schreibt nun regelmäßig für verschiedene überregionale Zeitungen, was uns natürlich auch freut. Ihn haben die Studiengebühren abgeschreckt, die ab diesem Wintersemester bei uns fällig werden.

Das Besondere an dem Studiengang ist ja auch, dass er getragen wird von rund einem Dutzend Professorinnen und Professoren aus der Journalistik, der Biotechnologie, Chemie und Physik. Wie klappt die Zusammenarbeit dieser doch sehr verschiedenen Fächerkulturen? Meier: Interdisziplinarität ist eine große Herausforderung in der deutschen Hochschullandschaft. Nicht nur bei uns, an jeder Hochschule erschweren die Strukturen grundsätzlich eine effektive Kooperation über Fachbereichsgrenzen hinweg. Sowohl die alte Gremienhochschule – man denke nur an die Fachbereichsräte – als auch moderne Managementstrukturen wie die Mittelverwaltung durch starke Dekane fördern Fachbereichs-Egoismen. Das haben wir anfangs etwas unterschätzt. Aber wir sind sehr froh, dass wir in allen beteiligten Fachbereichen auf Kollegen treffen, die an unserem spannenden Studiengangsprojekt großes Interesse haben und Engagement wie Geduld mitbringen, über Strukturhindernisse hinweg zusammenzuarbeiten. Bislang klappt das ganz gut. Im Akkreditierungsverfahren haben die Gutachter gerade diese „konsequente Interdisziplinarität“ gelobt.

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Können Sie es einmal an einem Beispiel konkretisieren: Wie tief kann so ein Einblick eines angehenden Wissenschaftsjournalisten in die Praxis einer Naturwissenschaft sein – etwa der Life Sciences? Leßmöllmann: Die Studenten absolvieren mehrere Labor-Praktika. In den Life Sciences etwa setzen sie eine Mischung im Fermenter an, verfolgen, wie „ihr“ Organismus wächst, führen ein Laborjournal, werten Ergebnisse aus – und lernen den Laboralltag kennen, der auch darin bestehen kann, dass die Organismen einmal nicht so wachsen, wie sie sollen. Die Studierenden sehen dadurch, dass Wissenschaft nicht nur aus Formeln und Theorien, sondern auch aus langen Abenden im Labor und auch aus ganz praktischen Erwägungen besteht: Wie viel Zeit kostet mich noch ein weiteres Experiment? Reicht mein Forschungsgeld? Sind die Fermenter geputzt?

Reicht das gewonnene Basiswissen überhaupt aus, um als Wissenschaftsjournalist nicht nur Vermittler, sondern auch kritischer Beobachter zu sein? Leßmöllmann: Sehr gute Frage. Was bedeutet „kritischer Beobachter“? Ein Journalist, der sich auf Stammzellforschung spezialisiert hat, wird womöglich sogar in der Lage sein, einen Fehler in einem „Nature“-Paper nachzuweisen. Das ist äußerst lobenswert, doch diese Art investigativer Wissenschaftsjournalismus wird wohl immer die Leistung Einzelner bleiben. Wir können aber Kenntnisse vermitteln, die unsere angehenden Wissenschaftsjournalisten kritikfähig machen. Dazu gehört beispielsweise zu wissen: Auch „Nature“Paper sind nicht unfehlbar; wenn dir etwas komisch vorkommt, greife zum Telefon und recherchiere – wir erklären dir und trainieren im Rechercheseminar, wie das geht. Oder: Nicht jedes publizierte Experiment ist ein gutes Experiment; wenn es zwar schick klingt, aber eigentlich keinen Erkenntniswert hat, schreibe einen Kommentar, anstatt kritiklos darüber zu berichten.

Coumba Ndiaye hat wie ihre Kollegin Julia Abb (rechts) den Studiengang Online-Journa-

Generell ist wichtig, dass man sich so viel wie möglich an Universitäten und Forschungseinrichtungen tummelt und mit Forschern zu tun hat. Künftige Wissenschaftsjournalisten sollten zudem auch wissen, wie etwa die Deutsche Forschungsgemeinschaft funktioniert, wie Geld vergeben wird, wo die Drittmittel herkommen. Man sollte nicht nur journalistische Praktika machen, sondern sich gleichermaßen die Forschung von innen anschauen und ein Kontaktnetzwerk aufbauen. In den Instituten gibt es bestimmte hierarchische Strukturen, auch so etwas wie Rangeleien um Geldvergaben und bestimmte Formen von Karrierewegen. Es geht also um das Wissen, dass auch die Wissenschaft nicht frei ist von Interessen oder der Beeinflussung durch Geldflüsse. Es ist wichtig, einigermaßen zu verstehen, wie das funktioniert.

lismus belegt; Professor Klaus Meier (Mitte) sieht in gemeinsamen Lehr-Modulen seiner „Online-Studierenden“ mit den angehenden Wissenschaftsjournalisten viele Vorteile.

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Meier: Darüber hinaus stellen wir die Wissenschaft in gesellschaftliche und politische Zusammenhänge, diskutieren Fragen der Bioethik zusammen mit Fragen der Medienethik.

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Lässt sich heute schon absehen, inwieweit sich das breite Spektrum einbezogener Ausbildungsmodule – beispielsweise von Basisqualifikationen der Chemie oder Grundlagen der Elektrizitätslehre bis hin zu speziellen journalistikwissenschaftlichen Veranstaltungen – bewähren wird? Meier: Wir diskutieren mit unseren Kollegen aus den anderen Fachbereichen immer wieder, wie breit und tief Wissenschaftsjournalisten ein naturwissenschaftliches Fach studieren müssen. Wir sind insgesamt sehr breit aufgestellt, gehen aber auch in die Tiefe. Das heißt, unsere Studenten besuchen zum Teil Lehrveranstaltungen beispielsweise mit angehenden Ingenieuren. Wir sind optimistisch, dass das positive Effekte hat. Ob es sich jedoch bewährt, wird sich erst sagen lassen, wenn wir das Programm mindestens einmal durchlaufen und die ersten Absolventen sich der Berufspraxis zu stellen haben.

Journalisten in Deutschland wird häufig nachgesagt, sich nur sehr schwer in einer Fremdsprache bewegen zu können. Welchen Wert legen Sie auf journalistisches Arbeiten in englischer Sprache?

Julia Langensiepen (links) und Josephina Maier freuen sich, dass sie Plätze im begehrten neuen Studiengang Wissenschaftsjournalismus erobern konnten. Die Bewerberquote liegt derzeit bei etwa zehn zu eins.

Leßmöllmann: Wissenschaftsjournalisten müssen trittsicher mit dem Englischen umgehen können: Veröffentlichungen lesen, Interviewfragen per Mail und Telefon stellen, Zeitungen und Zeitschriften oder Weblogs von Wissenschaftlern auch mal querlesen, um Ideen und Trends aufzuschnappen. Das versuchen wir in zwei Lehrveranstaltungen zu vermitteln: Eine trainiert das Englische, sodass alle eine gemeinsame sprachliche Basis haben. In einem weiteren, vierstündigen Seminar werden darüber hinaus zum Beispiel wissenschaftliche Veröffentlichungen gelesen, ausgewertet und Kommentare oder Meldungen zum Thema verfasst, englischsprachige wissenschaftsjournalistische Texte gelesen und kommentiert, aber auch englische Texte verfasst – denn ein Wissenschaftsjournalist muss zumindest kurze Pressemitteilungen oder Abstracts auf Englisch schreiben können.

Sie bieten ja an der Hochschule auch den Studiengang Online-Journalismus an. Verzahnen Sie beide Ausbildungsgänge? Meier: Wir haben eine formale Verzahnung bei einzelnen Lehrveranstaltungen in der Journalistik. So besuchen die Studenten beider Studiengänge gemeinsam eine Grundvorlesung zur Journalistik oder werden zusammen in die Public Relations eingeführt. Informell wirkt sich natürlich auf die Wissenschaftsjournalisten aus, dass wir im Online-Journalismus in Forschung und Lehre die großen Innovationsthemen des Journalismus bearbeiten, die sich mit Schlagworten wie crossmediale Organisations- und Produktionsformen, Konvergenz, Web 2.0 oder Social Software umschreiben lassen. Und umgekehrt lernen die Online-Journalisten in einem Projekt, welche Herausforderung in der Recherche und Bearbeitung wissenschaftlicher Themen steckt.

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Wo sehen Sie die besten Berufschancen für Ihre Absolventen, können Sie da eine Markteinschätzung geben? Und: Welchen Stellenwert räumen Sie insbesondere der Wissenschafts-PR ein? Lässt sich Ihrer Einschätzung nach jemand, der zunächst einmal unbedingt Journalist werden will, überhaupt für dieses Berufsfeld interessieren? Leßmöllmann: Wir vermuten, dass unsere Absolventen etwa zur Hälfte in den Journalismus und zur Hälfte in die PR einsteigen werden. Dabei dürften vermutlich die Wissenschafts-PR eine wichtige Rolle spielen; hier gibt es Arbeitsmöglichkeiten beispielweise in den Pressestellen der Hochschulen oder der Forschungsorganisationen. In jedem Fall gilt: Für die Arbeitsmöglichkeiten im Bereich Public Relations interessieren sich die Studierenden durchaus. Meier: Die Studenten verstehen, dass Wissenschafts-PR eine andere Aufgabe hat als Wissenschaftsjournalismus – und ebenso, dass Wissenschafts-PR eine wichtige Funktion in unserer Gesellschaft zukommt. PR kann genauso spannend und erfüllend sein wie Journalismus. Vielleicht ist die Arbeit in mancher Pressestelle sogar abwechslungsreicher als in der einen oder anderen Redaktion.

Viktoria Thuman, Stefan Herber und Claudia Becker (von links) wollen ihre berufliche Zukunft im Online-Journalismus finden.

Leßmöllmann: Ein Grund für das Interesse mag auch sein, dass PR heutzutage „journalistisch“ daherkommt: Kundenzeitungen drucken gern gut geschriebene Wissenschaftsreportagen ab, denen man oft erst auf den zweiten Blick anmerkt, dass sie gezielt unter PR-Gesichtspunkten ausgewählt wurden. Wir sehen diese Entwicklung kritisch, denn eigentlich ist ein „Journalist“, der für eine Kundenzeitung schreibt, kein Journalist mehr – er ist ja nicht mehr unabhängig. Trotzdem ist das ein Trend auf dem Medienmarkt, der viele ernährt und auf dessen innere Gesetze und Gefahren wir die Studierenden intensiv vorbereiten müssen.

Wo liegen künftige Einsatzfelder, die sich heute vielleicht erst im Ansatz abzeichnen, durch die neuen Möglichkeiten vor allem der Technik sich aber ergeben dürften? Meier: Ein großer Trend ist sicher das crossmediale Planen, Denken und Produzieren. Journalisten werden künftig immer weniger isoliert nur für eine mediale Plattform arbeiten, sondern zum Beispiel neben Print auch das Internet mit Text, Foto, Audio und Video sowie mobile Kommunikationsformen bedienen. Leßmöllmann: Viele Verlage haben die Parole „Online First“ ausgegeben. Und „Online“ besteht heute nicht mehr nur aus Text und Bild, sondern aus Videos, Podcasts und Community-Elementen wie etwa Weblogs mit Kommentarfunktionen. Damit müssen auch die Wissenschaftsjournalisten umgehen lernen.

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Würden Sie für den Wissenschaftsjournalismus einen weiteren Zuwachs an (vielleicht auch gezwungenermaßen) freiberuflich Tätigen prognostizieren? Leßmöllmann: Das „Outsourcen“ liegt im Trend. Unsere Aufgabe ist es daher, die Studierenden auf diesen Markt vorzubereiten: Wir vermitteln ihnen, wie man als Freiberufler Texte und Konzepte anbietet, wie die Zusammenarbeit mit Redaktionen funktioniert, wie überhaupt ein Markt funktioniert, der sich aufsplittert in einzelne Freie, größere Redaktionsbüros und Redaktionen in Verlagen – und in dem andererseits viele sowohl journalistisch als auch im PR-Bereich arbeiten. Einstellen müssen sich darauf aber nicht nur die Freien: Denken Sie an die Verlagsbeilagen der großen Tageszeitungen etwa zum Thema Medizin. Auch das ist PR.

Verlassen wir mal kurz den Aspekt Lehre: Spielt für Sie selbst in der Auseinandersetzung mit dem Sujet Wissenschaftsjournalismus auch die Forschung darüber eine Rolle?

Ohne Laptop und Konzentration geht gar nichts: „Onliner“ Christoph Penter und die angehende Wissenschaftsjournalistin Anja Szerdi (oben) arbeiten gemeinsam an einer Aufgabe, Josephina Maier (unten) setzt bei ihrer Arbeit anscheinend eher auf den

Meier: Auch wenn in einer Aufbauphase nicht viel Freiraum für eigene Forschung bleibt, steht das Thema schon auf unserer Agenda. Wir haben kleine Forschungsprojekte zum Wandel des Berufsfelds Wissenschaftsjournalismus, zur Veränderung des Wissenschaftsjournalismus durch das Internet und zu neuen ressortübergreifenden Redaktionsstrukturen durchgeführt. In der Anwendungsorientierung der Journalistik spielt neben der Forschung auch die Entwicklung neuer innovativer Konzepte eine Rolle. Wir arbeiten hier in vielfältiger Art und Weise mit Redaktionen zusammen.

„inneren Dialog“.

Nach vier Semestern weiß man, was gut funktioniert und was weniger. Sehen Sie bereits Änderungsbedarf am Studiengang? Meier: Zurzeit sehen wir keinen Änderungsbedarf, aber der Studiengang ist ja auch erst in einem Jahr erstmals komplett durchlaufen. Die bereits angesprochene Frage, wie breit und tief Wissenschaftsjournalisten in naturwissenschaftliche Fächer eindringen sollen, werden wir aber in jedem Fall weiter diskutieren. Leßmöllmann: Wir haben gelernt, dass unser Studienangebot hart ist – nicht jeder schafft es. Es gibt eine gewisse Abbrecherquote, die etwa der anderer naturwissenschaftlicher oder technischer Studiengänge entspricht. Wir sind also keine Journalistenschule, in der ein ganzer Jahrgang einigermaßen geschlossen abschließt. Damit muss man umgehen, indem man die Studierenden zum Beispiel frühzeitig zu Lerngruppen ermuntert. Da sind wir Professoren als Mentoren gefragt. Die Struktur des Studiums ändern würde ich deswegen aber nicht.

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Könnte es nach dem Bachelor weitergehen in Richtung eines Masters? Meier: Wir haben hier nicht die Ressourcen für einen eigenen Master Wissenschaftsjournalismus. Aber wir planen einen Weiterbildungsmaster, den Journalisten verschiedener Spezialisierungen absolvieren können und der sich vor allem um aktuelle Innovationen im Journalismus kümmern wird. Weiterbildung heißt aber, dass unsere eigenen Absolventen erst einmal in den Beruf einsteigen sollen, um danach neben dem Beruf wiederzukommen und das „Life long learning“ zu trainieren. Frau Leßmöllmann, Herr Meier, vielen Dank für das Gespräch.

Neues Engagement der VolkswagenStiftung im Bereich Wissenschaft – Öffentlichkeit – Gesellschaft Die VolkswagenStiftung wird sich künftig verstärkt den Herausforderungen an der Schnittstelle von Wissenschaft und Gesellschaft widmen und entsprechende Angebote auch im Rahmen ihrer Wissenschaftsförderung machen beziehungsweise dazu auffordern, kreative Vorschläge zu unterbreiten. Dabei kann sie auf Erfahrungen mit zahlreichen Projekten und Vermittlungsformaten in der Vergangenheit zurückgreifen – der Wettbewerb um einen „Best-practice-Studiengang Wissenschaftsjournalismus“ ist nur ein Beispiel dafür. Die Stiftung unterstreicht damit, dass die Verbesserung der Kommunikation zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit ein eigenständiges, das gesamte Förderportfolio umfassendes Förderziel darstellt. Konkret fokussiert die Stiftung drei Handlungsfelder. Zum einen möchte sie die Öffentlichkeitsarbeit in ihren bestehenden Initiativen und den dort geförderten Projekten besonders unterstützen. Denkbar sind vielerlei Vermittlungsformen, die jeweils zielgruppenbezogen und an Nachhaltigkeitskriterien orientiert zu entwickeln sind. Der zweite Bereich umfasst fokussierte Angebote für Ausschreibungen, Pilotprojekte und Veranstaltungen, die auf eine verbesserte Kommunikation

zwischen Wissenschaft, Öffentlichkeit und Gesellschaft zielen. Die Stiftung konzentriert sich hier vor allem darauf, Wissenschaftlern Einblicke in die Theorie und Praxis der Wissenschaftskommunikation und insbesondere des Wissenschaftsjournalismus zu ermöglichen, entsprechende, wissenschaftlich abgesicherte Ausbildungskonzepte zu fördern, Journalisten stärker mit Wissenschaft und Forschung in Kontakt zu bringen – sowie Foren und Formen der kontinuierlichen Kommunikation zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit zu entwickeln. Drittens ermöglicht die Stiftung die Förderung ausgewählter Forschungsprojekte zum Themenbereich. Die Austauschbeziehungen zwischen Wissenschaft, Öffentlichkeit und Gesellschaft sowie die dabei relevanten Prozesse sind alles andere als geklärt. Daher ist die Stiftung offen für Vorhaben, die sich gezielt dieser Thematik widmen – sei es als Forschungsprojekt oder als wissenschaftliche Tagung. Allerdings werden nur solche Vorhaben berücksichtigt, die methodisch innovativ und durchdacht sind, deutlich weiterführende Einsichten erwarten lassen und Perspektiven für die Entwicklung und Ausgestaltung künftiger Wissenschaftsvermittlung eröffnen.

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Die Organisation der VolkswagenStiftung

Dank ihres eigenen Vermögens ist die VolkswagenStiftung wirtschaftlich selbstständig und in ihren Entscheidungen autonom. Mit der Verwendung der Erträge aus der Anlage ihres Stiftungskapitals verfolgt sie neben der Finanzierung des laufenden Geschäftsbetriebes vor allem zwei Ziele: Einerseits gilt es, die Förderung der wissenschaftlichen Vorhaben kontinuierlich sicherzustellen, zum anderen muss das Stiftungskapital in seiner Werthaltigkeit erhalten bleiben. So steht neben der steten Herausforderung, neue Förderinitiativen vorzubereiten, Anträge auf Förderung zu bearbeiten, Antragsteller zu beraten sowie bewilligte Vorhaben zu begleiten auch, dass notwendige Investitionsentscheidungen in der Vermögensverwaltung zu treffen sind, die Ertragsentwicklung und die Ertragsverwendung zu steuern und die bestimmungsgemäße Verwendung der Mittel zu prüfen sind. Ein zentrales Element der Vermögensbewirtschaftung ist es, die Substanzerhaltung des Stiftungsvermögens durch sachgerechte Rücklagenbildung im Rahmen der steuerlichen Möglichkeiten zu gewährleisten, um so die Förderkraft des Stiftungsvermögens auch für die Zukunft sicherzustellen. Die gestaltenden Aufgaben und die mit ihnen verbundenen Handlungsfreiräume bedürfen freilich zugleich eines effizienten internen und externen Kontrollsystems. Dies gewährleistet die VolkswagenStiftung zum einen dadurch, dass sie über eine klare Funktionstrennung der einzelnen Organisationseinheiten hinaus ein zeitgemäßes Risikocontrolling eingeführt hat. Zum anderen lässt sie sich durch externe Experten begleiten und beraten. Das gilt sowohl für die Vorbereitung, fachliche Beurteilung und Betreuung der Förderinitiativen als auch für die Verwaltungs- und Kontrollaufgaben in der Vermögensbewirtschaftung. Über diese zentralen Bereiche der Stiftung, die Vermögensanlage und das Handling von Finanzen und Verwaltung, erfahren Sie mehr auf den folgenden Seiten.

Vermögensanlage

Die VolkswagenStiftung will mit der Verwaltung ihres Stiftungsvermögens sicherstellen, dass die damit verbundenen Ziele erreicht werden. Die beiden wesentlichen Ziele sind die stetige Erwirtschaftung von Fördermitteln in angemessener Höhe und die reale Werterhaltung des Kapitals, das heißt dessen Schutz vor inflationsbedingter Selbstentwertung. Aus diesen Gründen ist es notwendig, einen Anlagenmix zu kreieren. Dieser soll einerseits ordentliche, laufende Erträge und andererseits Wertzuwächse generieren. Die Stiftung legt ihr Vermögen in Aktien, verzinslichen Wertpapieren, Immobilien und Alternative Investments an. Das Zusammenspiel dieser Anlageklassen reduziert die jedem Investment innewohnenden EinzelIm WissenschaftsForum Berlin am Gendarmenmarkt unterhalten wichtige Wissenschafts- und Bildungsinstitutionen Verbindungsbüros in der Bundeshauptstadt. Das Gebäude wurde von der Stiftung im Rahmen ihrer Vermögensanlage für diesen Zweck errichtet.

risiken und führt zu einem positiven und wenig schwankungsanfälligen Gesamtergebnis. Diese Erkenntnis der Portfoliotheorie des Nobelpreisträgers Harry Markowitz wird in der VolkswagenStiftung seit Jahren erfolgreich in die Praxis umgesetzt. Darüber hinaus berücksichtigt die VolkswagenStiftung bei der Anlage ihres Vermögens Aspekte der Nachhaltigkeit.

Aktien Aktien dienen aufgrund ihrer langfristigen Wertentwicklung dem Inflationsschutz und damit dem Kapitalerhalt eines Vermögens. Darüber hinaus liefern sie durch die Ausschüttung von Dividenden laufende Erträge. In den vergangenen Jahren hoben aufgrund ihrer guten Ertragssituation viele Unternehmen die Dividendenzahlungen an, so dass Aktienanlagen – gerade in einem Umfeld niedriger Zinsen – eine vergleichsweise attraktive Rendite boten. Für die Anlagen der VolkswagenStiftung kann das Aktienjahr 2007 vor dem Hintergrund der Immobilienkrise in den USA insgesamt als zufriedenstellend bewertet werden. Erneut hat sich die Diversifikation innerhalb dieser Assetklasse bewährt. Mit dem Großteil der Papiere, der in Eigenregie gemanagt wird, wird der Eurostoxx 50 abgebildet – ein Index, in dem die nach ihrer Marktkapitalisierung 50 größten Unternehmen des Euroraumes enthalten sind. Darüber hinaus hat die VolkswagenStiftung externe Mandate an Spezialfondsmanager vergeben. Sie umfassen Investments in Großbritannien, der Schweiz, den USA, Japan und weiteren Ländern im

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asiatischen Raum. Dabei ist jedem der Fonds ein bestimmter Benchmarkindex, der die Marktentwicklung in dem jeweiligen Land gut und leicht nachvollziehbar repräsentiert, zugeordnet. Aufgabe des Fondsmanagements ist es, die Performance dieser Indizes mittels passiven Managements zu erreichen.

Schweiz 4,3%

Japan 3,9%

Hypothekenkrise, der die US-Notenbank sogar zu Leitzinssenkungen veranlasste, ein abruptes Ende. Das wieder gesunkene Zinsniveau verharrt seitdem im Spannungsfeld überwiegend guter Konjunktur- und Unternehmensdaten, höherer Inflationsraten und Ängsten vor einer Ausweitung der Krise.

Niederlande Finnland 3,7% 2,3%

Belgien 2,0%

Luxemburg 0,8% Deutschland 17,7%

Spanien 6,7% Länderbezogene Aufteilung der Aktienanlage (Stand Dezember 2007)

Großbritannien 7,4% USA 10,5%

Mit dem Ansatz der geografischen Diversifikation sowie dem passiven Management strebt die VolkswagenStiftung in erster Linie an, in den entsprechenden Märkten präsent zu sein und von deren niedriger Korrelation zueinander zu profitieren, um so eine Risikoreduktion innerhalb des Aktienportfolios zu erreichen.

Verzinsliche Wertpapiere An den Märkten für verzinsliche Wertpapiere hat sich die Situation grundlegend geändert. Die Notenbanken beendeten mit einer Serie von Leitzinsanhebungen den weltweit sinkenden Zinstrend, der an den Anleihemärkten in den Jahren zuvor zu außergewöhnlich hohen Kursgewinnen geführt hatte. Die geldpolitische Verknappung wurde vollzogen vor dem Hintergrund freundlicher Konjunkturindikatoren und höherer Inflationsraten, insbesondere im Energiebereich. Das durch die Leitzinsanhebungen bewirkte Anziehen des Zinsniveaus fand mit dem Ausbruch der US-

Italien 11,7%

Südostasien 12,5%

Frankreich 16,7%

Der überwiegende Teil der verzinslichen Wertpapiere wird selbst verwaltet, ein kleinerer Teil von zwei Spezialfonds. Wichtigstes Anlageziel bei den verzinslichen Wertpapieren ist es, hohe und konstante ordentliche Erträge zu erwirtschaften, die der Finanzierung der zu fördernden Vorhaben dienen. Durch Vermögensumschichtungen werden auch Kursgewinne realisiert, doch kommt diesen bei den Anleihen eine untergeordnete Bedeutung zu. Die Anlageergebnisse werden, um sie beurteilen zu können, mit einer Benchmark (PfandbriefPerformanceindex PEXP zzgl. 5 % Liquidität) verglichen. In Anlehnung an diese Benchmark setzt sich der Anleihenbestand hauptsächlich aus Pfandbriefen, Staatsanleihen und Schuldscheindarlehen zusammen, denen Unternehmensanleihen, Nachrangtitel und Genussscheine beigemischt werden. Durch die Beimischung sinkt das als Volatilität ausgedrückte Gesamtrisiko bei gleichzeitiger Erhöhung der Rendite. Einer der beiden Spezialfonds beinhaltet britische, kanadische und australische Staatsanleihen in der

Impulse 2008 91

Öffentliche Anleihen und Agencies (Ausland) 13,5%

Liquidität 0,5%

Nachränge 1,6%

Unternehmensanleihen 6,9% Pfandbriefe/ Covered Bonds 27,4%

Öffentliche Anleihen und Agencies (Inland) 38,8%

Öffentliche Anleihen EU-Beitrittsländer 1,9%

Genüsse 9,4%

Aufteilung der selbst verwalteten Zinstitel (Stand Dezember 2007)

jeweiligen Landeswährung sowie Euro-Unternehmensanleihen mittlerer Bonität, der andere auf US-Dollar lautende amerikanische Staatsanleihen. Diese Zins- und Währungsmärkte werden oft von Kriterien bestimmt, die sich von denen im Euroraum unterscheiden – zum Beispiel durch eine andere Phase im Konjunkturverlauf (USA, Großbritannien) oder durch die Fokussierung auf Rohstoffpreise (Kanada, Australien). Durch die weltweite Streuung wird das Gesamtrisiko der Anleihen weiter verringert. Zudem ist das Zinsniveau in diesen Ländern üblicherweise höher als im Euroraum. Zum Anleihenbereich gehört auch das Cash Management. Das Cash Management hat die Aufgabe, alle Zahlungsvorgänge zu koordinieren, benötigte Liquidität zur Verfügung zu stellen und überschüssige Liquidität anzulegen. Die Anlage erfolgt hauptsächlich in Form von Tages- und Termingeldern sowie Commercial Papers.

Euro-Unternehmensanleihen mittlerer Bonität 22,0%

Immobilien Um die Risiken der Vermögensanlage möglichst weit zu streuen, umfasst das Portfolio der Stiftung schon seit vielen Jahren neben den Aktien- und Rententiteln auch Immobilienanlagen. Sie tragen langfristig zum Schutz des Stiftungskapitals vor inflationsbedingter Entwertung bei, darüber hinaus leisten Immobilien über die Erwirtschaftung von Mieterträgen auch einen Beitrag zur Bereitstellung von Fördermitteln. Bereits seit 2006 ist wieder eine positive Entwicklung an den europäischen Vermietungsmärkten zu beobachten. In Deutschland erwies sich im Jahr 2007 vor allem die sich gut entwickelnde Wirtschaft als Wachstumsmotor für die Büroflächennachfrage; in der Folge sanken die Leerstandsquoten und stiegen die Marktmieten. Auch in Bezug auf die Immobilienanlagen der Stiftung wirkte sich dieses positiv bei der Neuvermietung leerstehender beziehungsweise frei werdender Flächen aus. Die Vermögensverwaltung betreut zurzeit einen Immobilienbestand von 403 Mio. EUR (Stand: Dezember 2007), was einem Anteil von rund 14 Prozent am Gesamtvermögen der Stiftung entspricht. Das Diversifizierungsziel ist auch für die Anlagepolitik innerhalb des Immobiliensegments entscheidend. Neben den deutschen Objekten wird daher seit einigen Jahren auch ein Bestand an europäischen Büroimmobilien aufgebaut. Die

Liquidität 5,3%

US-Staatsanleihen 21,6%

Positionen der Renten-Spezialfonds (Stand Dezember 2007)

Britische Staatsanleihen 23,9%

92

Kanadische Staatsanleihen 13,3%

Australische Staatsanleihen 13,9%

Deutschland 59,9%

Belgien 2,5% Frankreich 11,4%

USA 2,2% Niederlande 19,7%

Großbritannien 4,3%

Aufgelegt wurde ein Multi-Strategy-Dachhedgefonds unter Ausschluss von Fonds, die DistressedStrategien verfolgen. Im Private-Equity-Bereich wurden zwei Zertifikate erworben, über die in ein Buyout- beziehungsweise ein SecondariesProgramm investiert wurde.

Vermögensbeirat

Immobilienanlagen nach Ländern (Stand Dezember 2007)

geografische Streuung innerhalb des Immobilienbereichs soll in den kommenden Jahren ausgeweitet werden. Die Immobilienanlagen der Stiftung werden mit einem Anteil von 66 Prozent über Tochtergesellschaften gehalten, die extern verwaltet und von der Vermögensverwaltung betreut und kontrolliert werden. Der Anlageschwerpunkt liegt hier bei Wohn- und Geschäftshäusern in Deutschland. Darüber hinaus gibt es auch zwei Gebäude in London und Washington, in denen die Stiftung deutschen Wissenschaftsorganisationen Büroräume zur Verfügung stellt. Die bereits erwähnten europäischen Anlagen werden über einen Immobilien-Spezialfonds gehalten. Sein Anteil am gesamten Immobilienbestand liegt bei 34 Prozent. Bisher erfolgten Investitionen in den Niederlanden, in Frankreich und Belgien.

Alternative Investments 6,5 Prozent ihres Vermögens hat die Stiftung in Alternative Investments (Private Equity und Hedge Fonds) angelegt. Mit dieser Portfoliobeimischung wird in erster Linie das Ziel verfolgt, die Schwankungsrisiken des Gesamtportfolios weiter zu reduzieren. Das ist erreichbar, weil diese Anlagen mit den herkömmlichen Investments nur gering korrelieren. Im Übrigen sollen die Alternative Investments einen wichtigen Beitrag leisten zur realen Erhaltung des Stiftungskapitals.

Über die unerlässliche Prüfung der Jahresrechnung durch eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft hinaus hat die Stiftung bereits Ende der 1980er Jahre einen Vermögensbeirat eingerichtet, der aus hochrangigen Vertretern der Wirtschaft besteht und die Stiftung sowohl bei der Entwicklung ihrer Anlagestrategie als auch bei der Bewertung der Ergebnisse ihrer Anlagepolitik berät.

Der Vermögensbeirat der VolkswagenStiftung Professor Dr. h. c. mult. Martin Hellwig, Ph.D., Direktor am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern, Bonn Detlef Bierbaum, Mitinhaber des Bankhauses Sal. Oppenheim jr. & Cie. KGaA, Köln, Mitglied des Vorstandes des Bundesverbandes deutscher Banken Michael Bock, Mitglied des Vorstands der PROVINZIAL Rheinland Versicherung AG, Düsseldorf Joachim Fels, Chefvolkswirt der Investmentbank Morgan Stanley, London Dr. Hermann Küllmer, ehemals Mitglied des Vorstands der ALTANA AG, Bad Homburg v. d. Höhe Stand Dezember 2007

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Finanzen und Administration

Die Bewirtschaftung des Stiftungsvermögens und die Verwendung der Erträge erfordern professionelles Management. Bei einem bilanzierten Stiftungsvermögen von rund 2,4 Milliarden Euro und Jahreserträgen von derzeit fast 190 Millionen Euro kommt den Aufgaben rund um „Finanzen und Administration“ eine entsprechende Bedeutung zu. Dies wird geleistet von 31 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, welche gleichzeitig die für eine optimale Erfüllung des Stiftungszwecks benötigte Infrastruktur und die Serviceeinheiten bereitstellen. Die Abteilung Finanzen und Administration versteht sich dabei als Dienstleister für ihre internen und externen „Kunden“.

Dass in der Geschäftsstelle der Stiftung vieles reibungslos funktioniert: Auch darum kümmern sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Abteilung Finanzen und Administration.

Finanz- und Rechnungswesen, Controlling Dieses Referat ist verantwortlich für alle Bereiche des Rechnungswesens der Stiftung. Basierend auf den in der Finanzbuchhaltung abgebildeten Geschäftsvorfällen wird jeweils zum 31. Dezember die Jahresrechnung der Stiftung erstellt, die aus Bilanz und Ertragsrechnung besteht. Die Rechnungslegung erfolgt dabei nach den für alle Kaufleute geltenden handelsrechtlichen Vorschriften. Satzungsgemäß prüft alljährlich eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft die Jahresrechnung. Des Weiteren wird die jährliche Kapitalerhaltungsrechnung der Stiftung aufgestellt. Sie beantwortet die Frage, inwieweit es der Stiftung gelungen ist, durch sachgerechte Rücklagenbildung sowie Vermögensanlage unter anderem in den Substanzwerten Aktien und Immobilien das Stiftungskapital in seinem realen Wert zu erhalten. Der dynamische Korridor ermöglicht eine sorgfältige Ausbalancierung von Dotierung der Fördermittel einerseits und Rücklagenbildung zur Kapitalerhaltung andererseits. Die Stiftung verfügt in ihrer Planungsrechnung mit den Instrumenten der rollierenden fünfjährigen Finanzplanung sowie des jährlichen Wirtschaftsplans über aussagekräftige Planungs- und Prognoseinstrumente. Zu den Kuratoriumssitzungen wird zudem eine Mitteldisposition erstellt, die – ausgehend von der Finanzplanung für das entsprechende Jahr – eine Bewilligungsplanung für die Bereiche Allgemeine Fördermittel sowie Niedersächsisches Vorab darstellt. Ein weiteres Element des Rechnungswesens ist das unterjährige Berichtswesen. Geschäftsleitung

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und weitere Adressaten in der Stiftung erhalten mit den jeweiligen Monatsberichten eine Übersicht über den jeweiligen Stand der Vermögensund Ertragslage, des Wirtschaftsplans, des Wertpapier- und des Förderbereichs. Schließlich zählt auch das Risikocontrolling einschließlich der Abwicklung von Wertpapiergeschäften zu den Aufgaben des Referats. Damit ist eine klare Funktionstrennung zwischen Kontrahierung und Abwicklung von Wertpapiergeschäften gewährleistet. Das Risikocontrolling berichtet dem Generalsekretär täglich und schriftlich über den Grad der Ausnutzung bestehender Limits für Marktund Emittentenrisiken einschließlich etwaiger derivativer Instrumente. Angesiedelt ist hier zudem die Interne Kontrolle: Alle von der Vermögensverwaltung vorgenommenen Geschäftsabschlüsse werden nach den Kriterien von Ordnungsmäßigkeit und Sicherheit überprüft. Im Rahmen des Zahlungsverkehrs wird sichergestellt, dass die Verpflichtungen gegenüber Bewilligungsempfängern und Lieferanten der VolkswagenStiftung fristgerecht erfüllt werden. In diesem Zusammenhang werden auch die Fördermittelabrufe der Bewilligungsempfänger auf ihre Berechtigung in betragsmäßiger und zeitlicher Hinsicht geprüft.

Personalwesen und Zentrale Dienste Für professionell agierende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter attraktiv zu sein, ist für die VolkswagenStiftung essenzielle Voraussetzung für eine optimale Zweckerfüllung. Die Aufgaben des Personalwesens bestehen zum einen in der termingerechten und sachlich korrekten Abrechnung von Gehältern und Versorgungsbezügen, zum anderen ist es verantwortlich für die laufende Personalverwaltung und -betreuung unter Beachtung arbeitsvertraglicher, gesetzlicher und anderer Vorschriften. Es wirkt mit bei der Planung und Umsetzung all dessen, was im Hinblick auf eine leistungsfähige Mitarbeiterschaft erforderlich ist, und unterstützt die Geschäftsleitung in allen Per-

sonalfragen – etwa bei der konzeptionellen Neugestaltung personalwirtschaftlicher Instrumente. Die Zentralen Dienste sind zuständig für die Verwaltung und den Betrieb der Stiftung und sorgen dabei für die effiziente Bereitstellung der entsprechenden Infrastruktur der Geschäftsstelle. Hier finden sich das Beschaffungswesen und viele Serviceeinrichtungen wie Empfang, Technische Dienste und Küche. So werden die technischen Voraussetzungen für gut funktionierende und angenehme Arbeitstage geschaffen.

Informations- und Kommunikationssysteme Moderne Informations- und Kommunikationssysteme sind ein unerlässlicher Bestandteil der Infrastruktur der Stiftung. Insgesamt 90 Terminals – sogenannte Thin Clients – haben Zugriff auf einen Großrechner, auf dem die von der Stiftung selbst entwickelte Förderverwaltung, die für die Zwecke der Stiftung ebenfalls adaptierte und modifizierte Finanzbuchhaltung, die Vermögensverwaltung sowie die Gehaltsabrechnung der Stiftung laufen. Die Vermögensverwaltung ist mit einer Schnittstelle zur Finanzbuchhaltung verbunden; außerdem wurden spezielle PC-gestützte Wirtschaftsund Börseninformationssysteme eingerichtet und Kalkulations- und Bewertungsprogramme für Wertpapiertransaktionen bereitgestellt. Seit Einführung des elektronischen Dokumentenmanagements wird in diesem Referat neben der technischen Plattform für elektronische Akten auch das papiergebundene Archiv betreut.

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