Mathematische Modellbildung

Mathematische Modellbildung Karl-Heinz Hoffmann Gabriele Witterstein TUM Inhaltsverzeichnis I Einleitung 1 II Grundlagen 1 Dimensionsanalyse . ....
Author: Bernt Arnold
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Mathematische Modellbildung

Karl-Heinz Hoffmann Gabriele Witterstein TUM

Inhaltsverzeichnis I

Einleitung

1

II Grundlagen 1 Dimensionsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Entdimensionalisierung, Skalierung und Modellvereinfachung 3 Formal asymptotische Entwicklung, Mehrskalen . . . . . . . . 4 Regul¨ ar / singul¨ ar gest¨orte Probleme . . . . . . . . . . . . . . 5 Grenzschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Sensitivit¨ at . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3 3 12 14 26 30 36 42

III Mechanik 8 Punktmechanik . . . . . . . . . . . . ¨ 9 Ubergang zur Kontinuumsmechanik 10 Kontinuumsmechanik . . . . . . . . 11 Lagrange Koordinaten . . . . . . . . 12 Drehimpulserhaltung . . . . . . . . . 13 Beobachterunabh¨ angigkeit . . . . . . 14 Konstitutive Gleichungen . . . . . . 15 Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . .

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45 45 50 53 60 64 66 75 76

IV Str¨ omungen 16 Die Grundgleichungen 17 Grenzschichten . . . . 18 Hele-Shaw-Str¨ omungen 19 Aufgaben . . . . . . .

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79 . 79 . 91 . 95 . 103

V Thermodynamik, Diffusion 20 Haupts¨ atze der Thermodynamik 21 W¨ armeleitung . . . . . . . . . . . 22 Phasen¨ uberg¨ ange . . . . . . . . . 23 Aufgaben . . . . . . . . . . . . .

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105 105 111 115 118

0

Inhaltsverzeichnis

VI Fallbeispiele 24 Ist unser Sonnensystem stabil gegen¨ uber St¨orungen? . . . . . 25 Wie lang sollte die Gr¨ unphase einer Ampel sein, um Staus zu meiden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Wie akkretiert ein Stern Materie im interstellaren Medium ? .

119 . . . 119 ver. . . 124 . . . 139

Sachregister

148

Symbolverzeichnis

148

Literaturverzeichnis

148

Kapitel I

Einleitung Oft werden in mathematischen Vorlesungen Gleichungen und Strukturen betrachtet, die als gegeben angenommen werden, ohne darzustellen, wo diese mathematischen Objekte herkommen. Die mathematische Modellierung hingegen geht von einer Fragestellung etwa aus den Naturwissenschaften, Wirtschaftswissenschaften, kurz der realen Welt aus, und versucht diese in einen mathematischen Formalismus abzubilden. Da reale Fragestellungen jedoch in der Regel einen hohen Grad an Komplexit¨ at aufweisen, m¨ ussen bei der Mathematisierung Vereinfachungen und Approximationen vorgenommen werden, um die Komplexit¨at zu reduzieren. Unter diesem Blickwinkel verlangt die Frage nach der Zul¨assigkeit und auch der Stabilit¨ at, ebenso wie die Konkretisierung der Anforderungen an ein Modell nach einer Antwort. Was soll mir ein Modell u ¨berhaupt sagen ? Entsprechend unterscheidet man • qualitative Modelle, aus denen man Einsichten in die qualitative Entwicklung eines Prozesses gewinnen will und • quantitative Modelle, aus denen man numerische Werte der Variablen berechnen m¨ ochte. Zu den Modellen der ersten Art z¨ahlen h¨aufig solche aus den Wirtschaftswis¨ senschaften (z.B. Preisentwicklungen, Stabilit¨at einer Volkswirtschaft), Okologie ¨ (Stabilit¨ at eines Okokreislaufes), Wettermodelle und so weiter. Quantitative Modelle spielen vor allem in Natur- und Ingenieurwissenschaften eine Rolle. Will man relevante Modelle entwickeln, muss man sich zun¨achst u ¨ber die Orts- und Zeitskalen, in denen der Prozess abl¨auft, klar werden. So hat es keinen Sinn quantenmechanische Effekte zu ber¨ ucksichtigen, wenn man die Schaltung der Straßenbeleuchtung in einer Stadt beschreiben will. Hingegen kann das sehrwohl

2

Kapitel I. Einleitung

sinnvoll sein, wenn man Schaltvorg¨ange in einem elektronischen Bauteil modelliert. Bei der Modellreduktion hat man die Frage zu beantworten, ob bestimmte Effekte in einem zu modellierenden Ereignis eine gravierende Rolle spielen oder nicht. So werden wohl bei der Modellierung eines Wahlvorganges kaum Temperaturschwankungen am Wahltag eine Rolle spielen, m¨oglicherweise aber doch, wenn man die Wahlbeteiligung im Blick hat. Weiterhin unterscheidet man Modelle nach dem Typ der auftretenden Variablen: • Diskrete Modelle (Zahl der Partikel, Stabwerke, Verkehrsfl¨ usse, ...) • Kontinuumsmodelle (Dichte eines Gases, elektrische und magnetische Felder, ...). Es kommen aber auch Modelle vor, in denen kontinuierliche und diskrete Variablen ¨ gekoppelt auftreten (Aerosole, Schadstoffmodelle in der Umwelt, . . .). Uberdies geht man bei der Erarbeitung eines Kontinuummodells h¨aufig von (mikroskopi¨ schen) diskreten Modellen aus und vollzieht dann den Ubergang zum Kontinuum. Die folgende Graphik beschreibt einen Modellierungszyklus, der bei der Modellbildung unter Umst¨ anden mehrfach durchlaufen werden muß.

Reales Problem

Wahl der Skalen und Beschreibung

Modellentwicklung

Sensitivitätsanalyse Modellvereinfachung

Numerische Simulation

Modellverfeinerung Parameteradaption

Vergleich mit realen Daten

Präsentation der Ergebnisse

Interpretation der Lösung

Kapitel II

Grundlagen 1

Dimensionsanalyse

Wir beginnen mit einem Beispiel. Beispiel 1.1. Ein K¨ orper der Masse m werde von der Erdoberfl¨ache senkrecht in die H¨ ohe geworfen. Wir m¨ ochten den Zeitpunkt T ∗ berechnen, an dem er wieder zur Erdoberfl¨ ache zur¨ uckkehrt. Der Str¨omungswiderstand der Atmosph¨are wird vernachl¨ assigt und die Erde als Kugel mit dem Radius R betrachtet. Die Bewegung des K¨ orpers wird durch das Newtonsche Gesetz Kraft = Masse · Beschleunigung F =m·a beschrieben, wobei der K¨ orper sich auf einem Strahl bewegt, der vom Erdmittelpunkt ausgeht und durch den Abwurfpunkt verl¨auft. Der Abstand des K¨orpers von der Erdoberfl¨ ache zur Zeit t∗ werde mit x∗ (t∗ ) bezeichnet. Die Kraft F wird durch das Gravitationsgesetz F = −G

mE · m (x + R)2

beschrieben, wobei G ≈ 6, 673 · 10−11 N · m2 /kg2 , mE ≈ 5, 974 · 1024 kg

4

Kapitel II. Grundlagen

die Gravitationskonstante und mE die Masse der Erde sind. Man definiert g :=

GmE R2

als Erdbeschleunigung und erh¨ alt g ≈ 9, 807 m/s2 . Alle Gr¨ oßen eingesetzt in das Newtonsche Gesetz f¨ uhrt auf die Beziehung d2 ∗ gR2 x = − dt∗2 (x∗ + R)2

(1.1)

f¨ ur die Gr¨ oße x∗ = x∗ (t∗ ). Hinzu kommen die “Anfangsbedingungen” d ∗ ∗ x (t )|t∗ =0 = v dt∗

x∗ (0) = 0 ,

(1.2)

mit der Anfangsgeschwindigkeit v > 0. Wir suchen den Zeitpunkt T0∗ f¨ ur den x∗ (T0∗ ) = 0

(1.3)

gilt. Die Gleichungen (1.1), (1.2), (1.3) beschreiben die Aufgabe vollst¨andig. Dabei ist (1.1), (1.2) eine gew¨ ohnliche Differentialgleichung f¨ ur die Funktion x∗ mit den ∗ ∗ ∗ ∗ ∗ Anfangswerten x (0) = 0 und (d/dt )x (t )|t =0 = v . Die Beziehungen (1.1), (1.2), (1.3) sind dimensionsbehaftet. Es ist unser generelles Ziel, mathematische Modelle f¨ ur physikalische Probleme in eine Form zu transformieren, in der die auftretenden Parameter und eventuell auch die Variablen dimensionslos sind. Vorgehensweise: Anfertigung einer Liste aller im Problem auftretender Variablen und Parameter samt ihrer Dimension. Weiterf¨ uhrung Beispiel 1.1:

Dimension Variable:

x∗ t∗

L T

Parameter:

g R v

L/T 2 L L/T .

Mit der Bezeichnung der Dimension L f¨ ur die L¨ange und T f¨ ur die Zeit haben wir uns noch nicht auf ein spezielles Maßsystem (MKS 1) bzw. cgs 2) ) festgelegt. 1) 2)

MKS=MeterKilogrammStunde cgs=CentimeterGrammSekunde

1. Dimensionsanalyse

5

Im n¨ achsten Schritt w¨ ahlen wir f¨ ur jede Variable x eine intrinsische Referenzgr¨ oße xref . Als Kombination f¨ uhren wir x/xref als neue dimensionslose Variable ein. Konsequenz: Das transformierte Problem enth¨alt nur noch dimensionslose Gr¨oßen, die man aus den urspr¨ unglichen berechnen kann. Weiterf¨ uhrung Beispiel 1.1: Wir w¨ahlen R charakteristische L¨ ange (intrinsische Referenzgr¨oße f¨ ur x∗ ) R/v charakteristische Zeit (intrinsische Referenzgr¨oße f¨ ur t∗ ) . Wir f¨ uhren also die dimensionslosen Variablen t∗ x∗ und τ := y := R R/v ein und erhalten mit dem ebenfalls dimensionslosen Parameter ε :=

v2 g·R

das jetzt dimensionslose Problem d2 1 y=− , dτ 2 (y + 1)2 d y(0) = 0 , y(τ )|τ =0 = 1 , dτ ε

y(T0 ) = 0 .

(1.4) (1.5) (1.6) 

Wir gehen jetzt der Frage nach, ob man auf systematischem Wege geeignete intrinsische Gr¨ oßen und dimensionslose Parameter finden kann, um ein vorgegebenes mathematisches Modell zu entdimensionalisieren. Diese Frage l¨asst sich allgemein mit ja beantworten. Das Buckinghamsche Π -Theorem 3) besagt: Vollst¨ andige mathematische Modelle physikalischer Probleme k¨ onnen auf dimensionslose Form gebracht werden. Insbesondere k¨ onnen die dimensionslosen Parameter und die intrinsischen Referenzgr¨ oßen als Produkte von Potenzen der urspr¨ unglichen Parameter gew¨ ahlt werden. Hierbei wird ein vollst¨ andiges mathematisches Modell durch eine Menge E, gebildet aus Relationen (α1 , . . . , αN ) ∈ E ⊂ RN ur welche + , αi Parameter, beschrieben, f¨ eine Funktion f : E → R mit f (α1 , . . . , αN ) = 0 3)

Buckingham, Edgar, 1867-1940, amerikanischer Physiker. Er besch¨ aftigte sich mit Bodenphysik, Gasdynamik, Akustik, Fluidmechanik, W¨ armestrahlung.

6

Kapitel II. Grundlagen

existiert. Desweiteren gelte: Sei (α1 , . . . , αN ) ∈ E, so folgt (λ1 α1 , . . . , λN αN ) ∈ E QN f¨ ur λi ∈ R, und f (λ1 α1 , . . . , λN αN ) = f (α1 , . . . , αN ) k=1 λbkk f¨ ur reelle Zahlen bk . Das Buckinghamsche Π -Theorem 1.2. Es sei ein vollst¨ andiges mathematisches Modell f : E → R und ein dazugeh¨ origes System von Grunddimensionen {D1 , ..., Dm } gegeben. Dann existieren N − min(N, m) ≤ p ≤ N −1 dimensionslose Paramter ε1 , . . . , εp und f¨ ur alle (α1 , ..., αN ) ∈ E gilt kN G(ε1 , ..., εp ) f (α1 , ..., αN ) = α1k1 · · · αN

(1.7)

mit reellen Zahlen ki , i = 1, ..., N und einer Funktion G : Rp → R. Insbesondere ist G(ε1 , ..., εp ) = 0 . Beweis. Es sei (α1 , ..., αN ) ∈ E beliebig. Dann l¨asst sich die Dimension von αi , cim f¨ ur geeignete cik , k = 1, ..., m darstellen. Wir bei = 1, ..., N durch D1ci1 · ... · Dm zeichnen die (N, m)-Matrix (cik ) mit C und deren Rang mit r. Durch Vertauschen von Zeilen und Spalten in C l¨ asst sich eine invertierbare (r, r)-Matrix P finden mit   P R C= . Q S Es sei (bkj ) := P −1 , k, j = 1, ..., r. Wir betrachten nun βk :=

r Y

−bkj

αj

k = 1, . . . , r ,

j=1

βk := 1

k = r + 1, . . . , N .

F¨ ur k, j = 1, . . . , r ist der Vektor (log βk ) = −P −1 (log αj ) und, somit P (log βk ) = −(log αj ) . Damit gilt αj

m Y

c

βkjk = 1

f¨ ur alle j = 1, . . . , r

k=1

und wir k¨ onnen berechnen f (α1 , . . . , αN ) = f (

m Y

βk−c1k , . . . ,

k=1

= =

m Y k=1 α1k1

m Y

βk−crk , αr+1 , . . . , αN )

k=1

βkbk · f (1, . . . , 1, αr+1

m Y

c

βkr+1,k , . . . , αr+p

k=1

· · · αrkr

· f (1, . . . , 1, ε1 , . . . , εp ) =

α1k1

m Y

c

βkr+p,k )

k=1 kr · · · αr · G(ε1 , . . . , εp )

1. Dimensionsanalyse

7

Qr QN a mit p = N − r, kj = − k=1 bk bkj , εi := j=1 αj ij mit A := (aij ) = (−QP −1 , Ip ) (Ip die (p, p)-Einheitsmatrix) und G(ε1 , . . . , εp ) = f (1, . . . , 1, ε1 , . . . , εp ). Es bleibt zu zeigen, dass ε1 , . . . , εp dimensionslose Parameter sind, das heisst AC = 0 gilt. Die Matrizen A und C multipliziert ergibt AC = „ (−Q+Q, −QP −1 R+ « R S). Da der Rang von C identisch r ist, lassen sich die Spalten S aus den Spalten „

P Q

«

linear kombinieren. Das heisst, es existiert ein B mit R = P B und S = QB. Damit gilt aber AC = 0 . Desweiteren sind die p Zeilen von A linear unabh¨angig und es ist p = N − rang(C). Es l¨ asst sich also kein εi durch Produktbildung aus den u ¨brigen εk , k 6= i darstellen und es existiert kein zus¨atzlicher dimensionsloser Parameter ε˜, welcher als Produkt von Potenzen aus {ε1 , . . . , εp } darstellbar ist. Wir sagen, {ε1 , . . . , εp } bildet ein Fundamentalsystem von dimensionslosen Parametern. Damit ist klar, dass die Identit¨ at (1.7) bez¨ uglich beliebiger Fundamentalsysteme von dimensionslosen Parametern invariant bleibt.  Eine ausf¨ uhrlichere Darstellung des Beweises findet man in H. G¨ortler [3].

Wir m¨ ochten im Folgenden obigen Beweisgedanken noch einmal veranschaulichen. Wie geht man vor ? Zun¨ achst legt man die Grunddimensionen {D1 , D2 , D3 } = LMT 4) (z.B. MKS- oder cgs-System) fest. Es seien αj (j = 1, . . . , N, N ≥ 3) die dimensionsbehafteten Parameter eines Problems und α eine beliebige Gr¨oße des Systems. Das Π-Theorem 1.2 sagt dann aus, dass N Y

αj j

a

(1.8)

[αj ]aj = L` · M m · S t

(1.9)

α=

j=1

und bezogen auf die Dimensionen 5) [α] =

N Y

j=1

gelten m¨ ussen. Da wir ein vollst¨andiges mathematisches Modell, welches durch Gleichungen beschrieben wird, betrachten, sind diese Gleichungen bzgl. aller Einheiten richtig. Die Beziehung sagt aus, dass f¨ ur jeden vorgegebenen Vektor (`, m, t) die Gleichung N Y L`j aj · M mj aj · S tj aj = L` · M m · S t j=1

eine L¨ osung f¨ ur die Unbekannten aj (j = 1, . . . , N ) besitzt; das heißt P

L 4) 5)

`j aj

·M

P

m j aj

·S

P

tj aj

= L` · M m · S t .

LMT=L¨ angeMasseZeit Mit [α] wird die Dimension einer Gr¨ oße α bezeichnet.

8

Kapitel II. Grundlagen

Der Exponentenvergleich liefert N X

`j aj = ` ,

j=1

N X

N X

mj aj = m ,

j=1

tj aj = t .

(1.10)

j=1

Das Π-Theorem 1.2 garantiert, dass es f¨ ur jeden Vektor (`, m, t) eine L¨osung aj (j = 1, 2, . . . , N ) des Systems (1.10) gibt. Will man dimensionslose Parameter finden, so betrachtet man das zu (1.10) homogene Gleichungssystem. Folgerung 1.3. Die Anzahl p der relevanten dimensionslosen Parameter ist gleich der Dimension des Kerns der Matrix   `1 · · · `N C =  m1 · · · mN  ; (1.11) t1 · · · tN also N − 3 ≤ p ≤ N − 1 . Zwei linear abh¨ angige Elemente (aj ), (bj ) des Kerns mit (bj ) = λ(aj ) f¨ uhren auf zwei Parameter α und β, die in der Form β = αλ verkn¨ upft sind. ¨ Der Ubergang zur dimensionslosen Form f¨ uhrt immer auf die Reduktion der Parameter (p < N ), es sei denn alle Parameter sind bereits dimensionslos. Weiterf¨ uhrung Beispiel 1.1: Die Matrix C (1.11) hat folgendes Aussehen g

R

v

1

1

1

 M 0

0

 0 .

L T



−2

0



−1

Der Kern der Matrix hat die Dimension 1. Also enth¨alt das dimensionslose Problem nur einen Parameter ε. Dieser wird berechnet aus der L¨osung des linearen Gleichungssystems      1 1 1 a1 0  0 0 0   a2  =  0  . −2 0 −1 a3 0 zu (a1 , a2 , a3 ) = a1 (1, 1, −2) mit a1 6= 0 beliebig. Der dimensionslose Parameter α in unserem Problem ist dann α = (g 1 · R1 · v −2 )a1 ,

a1 6= 0 beliebig .

1. Dimensionsanalyse

9

In unserem Beispiel haben wir a1 = −1 gew¨ahlt. Somit ist ε :=

v2 . g·R

Im Zahlenbeispiel mit v = 10 m/s ,

g ≈ 10 m/s2 ,

R ≈ 107 m

folgt f¨ ur den Parameter ε die Gr¨oßenordnung ε ≈ 10−6 . Wir suchen jetzt einen Parameter, der dieselbe Dimension wie die Variable x∗ hat. In diesem Fall l¨ ost man das lineare Gleichungssystem      a1 1 1 1 1  0 0 0   a2  =  0  . 0 −2 0 −1 a3 Die L¨ osung ist (a1 , a2 , a3 ) = a1 (1, 1 +

1 a1 ,

−2) .

W¨ ahlt man, wie oben a1 = −1, so folgt f¨ ur eine intrinsische Referenzgr¨oße f¨ ur x∗ : αx∗ = g −1 · v 2 = ε · R . Schließlich suchen wir noch nach einer Referenzgr¨oße f¨ ur t∗ , die die gleiche Dimension hat. Das Gleichungssystem      1 1 1 a1 0  0 0 0   a2  =  0  . −2 0 −1 1 a3 hat die L¨ osungen (a1 , a2 , a3 ) = a1 (1, 1 +

1 a1 ,

−2 −

1 a1 )

.

und bei der Wahl von a1 = −1 erh¨alt man als intrinsische Gr¨oße f¨ ur t∗ : αt∗ = g −1 · v = ε · R/v .

10

Kapitel II. Grundlagen Es folgt nun ein weiteres Beispiel.

Beispiel 1.4. Wir betrachten das mathematische Pendel.

l g m

Wir setzen voraus, dass eine Funktion f existiert, sodass f (m, g, `, t˜) = 0 gilt. Im reibungsfreien Fall wollen wir die Schwingungsdauer (Dauer einer Periode t˜) berechnen. Wir machen wieder eine Liste der auftretenden Parameter und ihrer Dimension: Parameter Masse L¨ ange Periode

m g ` t˜

Dimension M L/T 2 L T

Das Π-Theorem 1.2 sagt aus, dass es Exponenten a1 , . . . , a4 gibt, sodass ma1 · g a2 · `a3 · t˜a4 = Π dimensionslos ist; das heißt M

a1

 ·

L T2

a2

· La3 · T a4 = 1

oder 

1  0   0 0

0 0 1 −2

 0 0 a1  a2 0 0   1 0   a3 0 1 a4





 0   0  =    0 . 0

Die Matrix hat den Rang drei. Also hat der Kern die Dimension 1, und es gibt einen dimensionslosen Parameter. Es ist a1 = 0 ,

1. Dimensionsanalyse

11

das heißt die Masse tritt in der gesuchten Formel nicht auf; a2 + a3 = 0 , −2a2 + a4 = 0 . W¨ ahle a4 als Parameter. Dann folgt: 1 a4 , 2 1 a3 = − a4 . 2 a2 =

Folglich ist der L¨ osungsvektor a4 0,

1 1  ,− ,1 . 2 2

Es ist 1 1 ε = g 2 · `− 2 · t˜

dimensionslos. Weiterhin existiert nach 1.2 ein G mit G(ε) = 0 . Somit gilt: 1

1

g 2 · `− 2 · t˜ = const . Es gilt also die Formel s t˜ = const

` . g

Aus einem einzigen Experiment kann man die Konstante bestimmen. F¨ ur nicht zu große Ausschl¨ age des Pendels erh¨alt man const = 2π . Wir haben damit eine L¨ osungsformel erhalten, ohne eine Differentialgleichung zu l¨ osen.  Wie wir im letzten Beispiel gesehen haben, gilt Folgerung 1.5. Die Referenzgr¨ oßen und die dimensionslosen Parameter k¨ onnen ohne Kenntnis des mathematischen Modells allein aus der Liste der Variablen und der Parameter bestimmt werden. Wir starteten diesen Abschnitt mit einem Standardbeispiel der Modellbildung (siehe [5], [7]). Weiterf¨ uhrende Darstellungen finden sich auch in den Textb¨ uchern beschrieben von [1] und [4].

12

2

Kapitel II. Grundlagen

Entdimensionalisierung, Skalierung und Modellvereinfachung

Wir haben im vorangehenden Abschnitt gesehen, dass es verschiedene M¨oglichkeiten der Entdimensionalisierung und damit der Skalierung gibt. Ziel einer Skalierung ist es unter anderem zu erkennen, welche Gr¨oßen klein sind und unter Umst¨ anden vernachl¨ assigt werden k¨onnen. Im Beispiel 1.1 hatte die skalierte Differentialgleichung die Form ε

1 d2 y=− dτ 2 (y + 1)2

mit ε ≈ 10−6 , also ε  1 . Trotzdem ist es offensichtlich sinnlos ε zu vernachl¨assigen und durch Null zu ersetzen. Wir studieren daher am Beispiel 1.1 noch eine andere Vorgehensweise. Seien x∗ref , t∗ref noch zu bestimmende Referenzgr¨oßen f¨ ur x∗ , t∗ . Wir entdimensionalisieren durch den Ansatz τ :=

t∗ , t∗ref

y :=

x∗ , x∗ref

wobei t∗ref = t∗ref (g, R, v), x∗ref = x∗ref (g, R, v) . F¨ ur das Anfangswertproblem berechnet man die transformierte Form x∗ref d2 y g · R2 =− , ∗2 2 tref dτ (y · x∗ref + R)2

y(0) = 0 ,

dy(0) t∗ = ref v dτ x∗ref

und folglich x∗ref d2 y 1 = − x∗ 2 , 2 ref t∗2 g dτ y R +1 ref

y(0) = 0 ,

dy(0) t∗ = ref v. dτ x∗ref

Die Referenzgr¨ oßen werden jetzt so gew¨ahlt, dass m¨oglichst viele der Koeffizienten x∗ref , t∗2 ref g gleich 1 sind. Es gibt folgende M¨ oglichkeiten: (a)

x∗ref =1, t∗2 ref g

x∗ref =1 R s



x∗ref = R ,

t∗ref =

R g

x∗ref , R

t∗ref v x∗ref

2. Entdimensionalisierung, Skalierung und Modellvereinfachung ⇒

(b)

y 00 = −

x∗ref = R ,

t∗ref =

R v

v 2 00 1 y =− , Rg (y + 1)2 |{z} =ε x∗ref t∗ref =1, v=1 ∗2 tref g x∗ref ⇒

(c)

6)

√ v y 0 (0) = √ = ε. Rg

y(0) = 0 ,

t∗ref v=1 x∗ref

x∗ref =1, R ⇒

1 , (y + 1)2

13

v2 , g



x∗ref =



y 00 = −

t∗ref =

1 , (εy + 1)2

y(0) = 0 ,

y 0 (0) = 1 .

v g y(0) = 0 ,

y 0 (0) = 1 .

Wir analysieren die einzelnen F¨alle f¨ ur ε  1 , also ε = 0 : 1 , y(0) = 0 , (y + 1)2 y(τ ) < 0 ∀τ > 0 .

zu (a): y 00 = − ⇒

y 0 (0) = 0

Das ist sinnlos ! Der K¨ orper ist wieder am Boden bevor die Zeitskala bemerkt hat, dass er in der Luft war. F¨ ur das Zahlenbeispiel ist s R x∗ref = 107 m , t∗ref = ≈ 103 s g viel zu groß . zu (b):

0=−

1 , (y + 1)2

y(0) = 0 ,

y 0 (0) = 1

hat keine L¨ osung. Die Skalen x∗ref = 107 m , sind wieder viel zu groß zu (c): y 00 = −1 , ⇒ 6)

y 00 :=

d2 y dτ 2

y(0) = 0 , y 0 (0) = 1 1 y(τ ) = τ − τ 2 . 2

t∗ref = 106 s

14

Kapitel II. Grundlagen

oder

v2 g 1 2  v2 g ∗ 1 g 2 ∗2  v 2 t = τ− τ = t − 2 g v 2 v2 g 1 = vt∗ − gt∗2 . 2

x∗ (t∗ ) = y(τ ) · x∗ref = y(τ ) · v · t∗ref = y(τ )

Nach T0∗ = 2v/g s wird der Boden wieder erreicht. (In Null-ter N¨aherung.) Die ∗ maximale H¨ ohe wird nach Tmax = v/g s erreicht. In unserem Zahlenbeispiel sind T0∗ = 2 s , und die maximale H¨ ohe x∗max =

1 v2 2 g

∗ Tmax = 1s

, also 5 m .

2 Diese L¨ osung ist eine gute N¨ aherung, wenn ε  1 und x∗ vg ≈ 1 ist. Das ist der Fall! Die Skalen v v2 t∗ref = und x∗ref = g g sind gut gew¨ ahlt. Die hier behandelten F¨ alle sind nat¨ urlich auch durch geeignete Wahl der freien Parameter im Π-Theorem 1.2 zu erhalten.

3

Formal asymptotische Entwicklung, Mehrskalen

Zur L¨ osung des Problems y 00 = −

1 , (εy + 1)2

y(0) = 0 ,

y 0 (0) = 1

(3.12)

3. Formal asymptotische Entwicklung, Mehrskalen

15

hatten wir wegen ε  1 mit ε = 0 die L¨osung berechnet und sie als 0-te N¨aherung bezeichnet. Wir wollen jetzt diese N¨aherung verbessern. Dazu machen wir einen formalen Reihenansatz f¨ ur y in der Form y(τ ) = y0 (τ ) + εα y1 (τ ) + ε2α y2 (τ ) + · · ·

, α>0

7)

(3.13)

und nehmen an, daß (3.13) gliedweise differenzierbar ist. Wir f¨ uhren im Folgenden nur eine formale Betrachtung durch und erhalten mit diesem Vorgehen eine Vermutung. Kapitel 6 liefert eine pr¨azise und rigorose Begr¨ undung, welche diesen formalen Ansatz rechtfertigt und die Vermutung verifiziert. Ein ¨ ahnliches Vorgehen ist in der Modellbildung Standard und wird in zahlreichen Textb¨ uchern beschrieben, siehe [1], [5], [4] und [7]. Einsetzen von (3.13) in die Differentialgleichung und die Anfangsbedingungen ergibt: y000 (τ ) + εα y100 (τ ) + ε2α y200 (τ ) + · · · = −

1 (3.14) (ε(y0 + εα y1 + ε2α y2 + · · · ) + 1)2

mit den Anfangsbedingungen (f¨ ur α = 1) y0 (0) + εy1 (0) + ε2 y2 (0) + · · · = 0 , y00 (0) + εy10 (0) + ε2 y20 (0) + · · · = 1 .

(3.15)

F¨ ur die rechte Seite von (3.14) (f¨ ur α = 1) machen wir eine Taylorentwicklung um ε = 0: − (1 + εy0 + ε2 y1 + ε3 y2 + · · · )−2 = −1 + ε2y0 + ε2 (2y1 − 3y02 ) + · · · ,

(3.16)

und f¨ uhren einen Koeffizientenvergleich durch (hierbei betrachten wir (3.14) f¨ ur α = 1):  y000 = −1 , y0 (0) = 0 , y00 (0) = 1 ,     00 0  y1 = 2y0 , y1 (0) = 0 , y1 (0) = 0 ,   (3.17) 00 2 0 y2 = 2y1 − 3y0 , y2 (0) = 0 , y2 (0) = 0 .       .. .. ..  . . . Das erste Anfangswertproblem haben wir bereits gel¨ost: 1 y0 (τ ) = τ − τ 2 . 2 7) Das ist die allgemeine Form f¨ ur eine formal asymptotische Entwicklung mit α beliebig. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels 3 betrachten wir immer α = 1 .

16

Kapitel II. Grundlagen

Dann folgen f¨ ur y1 (τ ) und y2 (τ ) : y1 (τ ) =

1  τ3 1− τ 3 4

und y2 (τ ) = −

τ4 11 11  1 − τ + τ2 . 4 15 90

F¨ ur die L¨ osung y von (3.12) ergibt sich die asymptotische Entwicklung τ3 1  τ4 11 11  1 1 − τ − ε2 1 − τ + τ2 + · · · . y(τ ) = τ − τ 2 + ε 2 3 4 4 15 90

(3.18)

Das ist eine f¨ ur die Anwendungen ausreichende Approximation f¨ ur die L¨osung von (3.12), ohne dass wir eine Aussage u ¨ber die Konvergenz von (3.18) gemacht haben.

Wir f¨ uhren den Begriff der asymptotischen Entwicklung jetzt in allgemeinerer Form ein. Dazu verwenden wir die Definition der Landauschen Ordnungssymbole: Definition 3.1. Es seien ε0 > 0 und zwei Funktionen f (ε) und g(ε) f¨ ur ε ∈ (0, ε0 ] gegeben. Man definiert: (a)

f (ε) = O(g(ε))

:⇔

(b)

f (ε) = o(g(ε))

:⇔

(c)

f (ε) = Os (g(ε))

∃K > 0 ∀ε ∈ (0, ε0 ] : |f (ε)| ≤ K|g(ε)|

|f (ε)| =0 |g(ε)| :⇔ f (ε) = O(g(ε)) und g(ε) = O(f (ε)) lim

ε→0

jeweils f¨ ur ε → 0 . Mit dieser Bezeichnung schreiben wir (3.18) in der Form: τ3 τ4 11  1 1  11 1 − τ − ε2 1 − τ + τ 2 + O(ε3 ) . y(τ ) = τ − τ 2 + ε 2 3 4 4 15 90

3. Formal asymptotische Entwicklung, Mehrskalen

17

Definition 3.2. Es sei ε0 > 0. Seien uε , vε ∈ (B, k.k) f¨ ur jedes ε ∈ (0, ε0 ] Elemente des Banachraumes (B, k.k). Dann heißt uε und vε asymptotisch ¨aquivalent f¨ ur ε → 0, wenn kuε − vε k = o(kuε k) f¨ ur ε → 0 gilt. In diesem Fall heißt vε eine asymptotische N¨aherung f¨ ur uε , und wir schreiben vε ∼ u ε . Beispiel 3.3. Sei B = R . (a) 3 + ε ∼ 3 − ε2 ; denn | 6 3 + ε− 6 3 + ε2 | = |ε(1 + ε)| = o(|3 + ε|) f¨ ur ε → 0 . . . 1 1 1 1 1  ∼ + 1 ; denn − − 1 = 1 = o f¨ ur ε → 0 . (b) ε ε ε ε ε  √ √ √ 1 1 1 1 1 1 (c) (1+ ε) sin ∼ sin ; denn (1+ ε) sin −sin = | ε sin | = o sin ε ε ε ε ε ε f¨ ur ε → 0 . Aber: 1 sin 1+επ − sin 1 1 + επ 1 ε ε 1 − sin ε = 2 , (d) sin 6∼ sin ; denn = sin 1+επ ε ε sin 1+επ ε ε  1 1 + επ  1 + επ − sin 6= o sin damit gilt sin . ε ε ε

8)

Ob zwei Elemente asymptotisch ¨aquivalent sind, h¨angt von der Wahl des Banachraumes (B, k.k) ab. x

Beispiel 3.4. Betrachte uε : [0, 1] −→ R, uε (x) = e− ε + x . ∀x > 0 :

=⇒

lim uε (x) = u0 (x) = x .

ε→0

Wahl des Banachraumes (B, k.k) als (C[0, 1], k.k∞ ) mit kuk∞ = max |u(x)| . x∈[0,1]

=⇒

x

kuε − u0 k∞ = max e− ε = e0 · max |u0 (x)| = e0 ; x∈[0,1] x∈[0,1] | {z } =1

das heißt u0 6∼ uε . Andererseits, wenn (B, k.k) = (Lp [0, 1], k.kp ) gew¨ahlt wurde, gilt Z

1

kuε − u0 kp =

e

p −x ε

 p1 dx

 =

0

xp  ε 1 − e− ε p

und somit u0 ∼ uε . 8)

denn es ist:

sin 1 ε sin 1+επ ε

=

sin 1 ε sin

`

1 +π ε

´ =

sin 1 ε sin 1 cos π ε

= −1

 p1 = o(ku0 kp )

18

Kapitel II. Grundlagen Ausgehend von Definition 3.2 legen wir fest:

Definition 3.5. Seien (B, k.k) ein Banachraum und uk ∈ B. Es gelte kuk k = O(1) f¨ ur k = 1, 2, . . . . Dann heißt die formale Reihe ∞ X

uk εk

k=0

asymptotische Entwicklung nach Potenzen von ε f¨ ur ein uε , wenn n

X

uk εk = o(εn )

uε −

(3.19)

k=0

f¨ ur n = 0, 1, 2, . . . gilt. Wir schreiben dann uε ∼

∞ X

uk εk .

k=0

Gilt (3.19) nur f¨ ur k = 0, 1, . . . , N , so heißt wicklung der Ordnung N .

PN

k=0

uk εk eine asymptotische Ent-

Bezeichnung 3.6. Besteht u ¨ber die verwendete Norm Klarheit, so schreiben wir anstatt kuε − vε k = O(f (ε)) auch uε = vε + O(f (ε)) . Das gilt analog f¨ ur o und Os . Anmerkung 3.7. Besitzt uε Ableitungen nach ε bis zur Ordnung N + 1 und sind diese in einer Umgebung von ε = 0 beschr¨ankt, so hat uε eine asymptotische Entwicklung der Ordnung N und die Koeffizienten uk =

1 dk uε k! dεk ε=0

sind unabh¨ angig von ε . Wenden wir diese Aussage auf unser Modellproblem y 00 = −

1 , (εy + 1)2

y(0) = 0 ,

y 0 (0) = 1

an, so folgt dyε (τ ) 1 d2 yε (τ ) yε (τ ) = yε (τ ) ε=0 + ε+ ε2 + O(ε3 ) . dε ε=0 2! dε2 ε=0

3. Formal asymptotische Entwicklung, Mehrskalen

19

Wegen der Unabh¨ angigkeit der Variablen τ von der St¨orung ε kann man die Ableitung von yε nach ε aus der Differentialgleichung und den Anfangsbedingungen berechnen: yε (τ ) ε=0 : yε00 (τ ) ε=0 = −1 , yε0 (0) ε=0 = 1 , yε (0) ε=0 = 0 1 =⇒ yε (τ ) ε=0 = τ − τ 2 ; 2 dyε (τ ) : dε ε=0  00 d 2(yε (τ ) + ε dε yε (τ )) dyε (τ ) d 00 9) = yε (τ ) = = 2y (τ ) ε ε=0 dε ε=0 dε (εyε (τ ) + 1)3 ε=0 ε=0  00 dyε (τ ) 1 dyε (τ ) 1 =⇒ = 2τ − τ 2 =⇒ = τ3 − τ4 ; dε ε=0 dε ε=0 3 12 d2 yε (τ ) : dε2 ε=0 # 00 " d  2 d d2 4 dε yε (τ ) + 2ε dε 6(yε (τ ) + ε dε yε (τ ))2 d yε (τ ) 2 yε (τ ) = − dε2 ε=0 (εyε (τ ) + 1)3 (εyε (τ ) + 1)4 ε=0  2 00 d yε (τ ) 11 d 22 =⇒ = 4 yε (τ ) − 6yε2 = −6τ 2 + τ 3 − τ 4 dε2 ε=0 dε 3 6 ε=0 ε=0 1 d2 yε (τ ) 11 11  =⇒ = − τ4 1 − τ + τ2 . 2 dε 2 15 90 ε=0 Damit folgt: τ3 1  τ4 11 11  1 1− τ ε− 1 − τ + τ 2 ε2 + O(ε3 ) . y(τ ) = τ − τ 2 + 2 3 4 4 15 90 ¨ Die Uberlegungen zur asymptotischen Entwicklung von yε waren somit gerechtfertigt. Anmerkung 3.8. Der Unterschied zwischen asymptotischer Entwicklung und Taylorentwicklung ist folgender: Asymptotische Entwicklung: Bei fester Ordnung N interessiert der Grenz¨ ubergang ε → 0. Taylorentwicklung: Bei festem ε interessiert die Konvergenz der Reihe N → ∞ . Wir wollen ein weiteres Beispiel studieren, bei dem ein neues Ph¨anomen auftritt. Zun¨ achst leiten wir die Gleichungen f¨ ur ein angeregtes System ged¨ampfter Schwingungen her. 9) Die Beschr¨ anktheit von dy /dε in einer Umgebung von ε = 0 folgt hier iterativ aus der ε

Theorie ‘Gew¨ ohnlicher Differentialgleichungen’.

20

Kapitel II. Grundlagen

Dämpfung

Feder

Masse M

Es sei M das Gewicht der Masse, x(t) die Auslenkung der Masse aus der Ruhelage und ω0 die Anregungsfrequenz der Schwingung. Nach dem Newtonschen Gesetz gilt dann: M

d2 x = R¨ uckstellkraft der Feder + D¨ampfungskraft + Anregungskraft . dt2

F¨ ur kleine Auslenkungen x  1 gilt nach dem Hookeschen Gesetz, dass die R¨ uckstellkraft der Feder gleich −k · x ist, wobei k die Federkonstante bezeichnet. F¨ ur die D¨ ampfungskraft nehmen wir an, dass sie proportional zur Geschwindigkeit der vertikalen Auslenkung, also −r dx/dt mit r > 0, ist. Die Auslenkung der Masse M durch die Anregung zur Zeit t ist R sin ω0 t und damit gilt entsprechend dem Newtonschen Gesetz f¨ ur die Anregungskraft FA : M

d2 (R sin ω0 t) = − M · Rω02 sin ω0 t =: FA . dt2

R ist dabei die Amplitude der Anregung. Das liefert die Bewegungsgleichung f¨ ur die Masse M : M

d2 x = −kx − rx0 − M Rω02 sin ω0 t dt2

oder x00 + 2ρx0 + ω 2 x = −γω02 sin ω0 t mit 2ρ :=

r , M

ω 2 :=

k , M

γ := R .

Zur Entdimensionalisierung skalieren wir durch τ :=

t = ωt , 1/ω

y(τ ) :=

x(t) ω2 = x(t) 2 2 γ ω0 /ω γ ω02

(3.20)

3. Formal asymptotische Entwicklung, Mehrskalen und f¨ uhren die Konstante (dimensionsloser Parameter) ε :=

21 10)

2ρ >0 ω

ein. Damit erhalten wir das entdimensionalisierte Anfangswertproblem y(0) = y 0 (0) = 0 .

y 00 (τ ) + εy 0 (τ ) + y(τ ) + sin( ωω0 τ ) = 0 ,

(3.21)

Dieses Problem kann man explizit l¨osen, was wir hier nicht tun wollen. Wir interessieren uns vielmehr f¨ ur die homogene Gleichung y 00 + εy 0 + y = 0

(3.22)

mit den Anfangsbedingungen y(0) = y ,

y 0 (0) = 0 .

(3.23)

Die Gleichungen (3.22), (3.23) haben eine eindeutig bestimmte L¨osung, die f¨ ur τ → ∞ gegen Null geht. Wir ¨ andern jetzt die Gleichung (3.22) in y 00 + y = ε(1 − y 2 )y 0

(3.24)

unter den gleichen Anfangsbedingungen (3.23) und fragen nach dem Verhalten der L¨ osung f¨ ur τ → ∞ . Die Gleichung (3.24) beschreibt eine Schwingung, die f¨ ur y 2 > 2 1 ged¨ ampft und f¨ ur y < 1 angeregt wird. Es handelt sich um ein selbsterregtes (nichtlineares) System, f¨ ur das man keine geschlossene L¨osung angeben kann. Die Gleichung (3.24) heißt van der Pol-Gleichung, die wir jetzt f¨ ur ε  1 studieren wollen. Die van der Pol-Gleichung l¨aßt sich als (kleine) St¨orung der harmonischen Schwingungsgleichung (ε = 0) y 00 + y = 0 , 10)

y(0) = y ,

Die in (3.20) auftretenden Parameter sind

2ρ Man l¨ ost

ω

ω0

γ

T

−1

−1

−1

0

L

0

0

0

1

y 0 (0) = 0

Parameter 2ρ ω ω0 γ

Dimension 1/T 1/T 1/T L

0 !

1 a1 « „ B a2 C 0 B C= , @ a3 A 0 a4

2ρ ω und ε2 = . ω ω0 Die intrinsischen Gr¨ oßen werden auf die gleiche Weise bestimmt.

dann erh¨ alt man als dimensionslose Parameter

ε=

(3.25)

22

Kapitel II. Grundlagen

betrachten. Wir versuchen nun eine asymptotische Entwicklung der van der Pol-Gleichung (3.24) nach Potenzen von ε der Form yε (τ ) =

N X

εk yk (τ ) + O(εN +1 ) .

k=0

Die “nullte N¨ aherung” (N = 0) liefert das Anfangswertproblem y000 + y0 = 0 ,

y0 (0) = y ,

y00 (0) = 0

mit der L¨ osung y0 (τ ) = y cos τ , der harmonischen Schwingung. F¨ ur die “erste N¨ aherung” (N = 1) erh¨alt man aus dem Koeffizientenvergleich die Differentialgleichung y100 + y1 = (1 − y02 )y00 = −y sin τ + y sin τ · y 2 cos2 τ = y(y 2 − 1) sin τ − y 3 sin3 τ = y(y 2 − 1) sin τ − y 3 − 41 sin(3τ ) +  y2  y3 =y − 1 sin τ + sin 3τ 4 4

3 4

sin τ



und die Anfangsdaten y1 (0) = 0 , y10 (0) = 0 . Der erste Summand in der von außen aufgepr¨ agten Kraft (rechte Seite der Differentialgleichung) hat die gleiche Frequenz wie die harmonische Schwingung und erzeugt damit Resonanz. Folglich ist die L¨ osung y1 (τ ) =

y y2  y3 1− (τ cos τ − sin τ ) + (3 sin τ − sin 3τ ) 2 4 32

(3.26)

auf [0, ∞) nicht beschr¨ ankt. F¨ ur das Residuum 11) der “nullten N¨aherung” folgt ε(1 − y02 ) y00 = −ε(1 − y 2 cos2 τ )y · sin τ = O(ε) gleichm¨ aßig auf [0, ∞) . 11) Das heißt, wir setzen die nullte N¨ aherung y0 in die van der Pol-Gleichung (3.24) ein. Dann ist die linke Seite identisch 0 und auf der rechten Seite verbleibt ε(1 − y02 ) y00 , da y0 ja keine exakte L¨ osung von (3.24) ist. Wir pr¨ ufen nun, wie sich dieser verbleibende Term f¨ ur ε → 0 verh¨ alt. F¨ ur die genaue Definition des Residuum siehe Definition 4.1.

3. Formal asymptotische Entwicklung, Mehrskalen

23

F¨ ur das Residuum der “ersten N¨aherung” y0 + εy1 folgt zwar punktweise Konvergenz auf [0, ∞), aber nicht mehr gleichm¨aßige Konvergenz 12) . Die asymptotische Entwicklung zur Verbesserung der N¨aherungsl¨osung versagt. Man kann also nicht mehr von einer N¨ aherung auf [0, ∞) sprechen. Auf einem endlichen Intervall hingegen ist alles korrekt. Was geht hier bei der Approximation des Langzeitverhaltens der van der Pol-Gleichung schief ? Wir betrachten zun¨ achst zwei einfachere Beispiele. Beispiel 3.9. Das Anfangswertproblem y 00 + y = εy , hat die L¨ osung

y 0 (0) = 0

y(0) = y ,

√ y(τ ) = y cos( 1 − ε τ ) .

(3.27)

Die 0.–N¨ aherung y0 der asymptotischen Entwicklung lautet y0 (τ ) = y cos τ .

(3.28)

Wegen der unterschiedlichen Frequenzen wird eine deutliche Verschiebung von y(τ ) gegen¨ uber y0 (τ ) f¨ ur große τ eintreten. Die L¨osungen (3.27) und (3.28) haben nichts mehr miteinander zu tun. Durch Taylorentwicklung der Frequenz √

1−ε=1−

ε + O(ε2 ) 2

und einsetzen in (3.27) ergibt eine weitere N¨aherung y0 (τ ) = y cos τ −

ετ  2

(3.29)

f¨ ur die L¨ osung der Differentialgleichung. Bei einer genaueren Analyse von (3.28) und (3.29) ergibt sich, dass (3.28) die L¨ osung (3.27) approximiert, so lange τ = o(ε−1 ) ist und (3.29), so lange τ = o(ε−2 ) ist. 12) Das liegt an dem τ cos τ -Term in y und der Tatsache das wir ein unendliches Intervall [0, ∞) 1 betrachten. Auf einem endlichen Intervall [0, T ] w¨ urde die gleichm¨ aßige Konvergenz erhalten bleiben.

24

Kapitel II. Grundlagen

Durch (3.29) wird also der Approximationsbereich vergr¨oßert. Die Methode der asymptotischen Entwicklung hingegen vergr¨oßert den Approximationsbereich nicht !

Bild: Die blaue Kurve stellt die exakte L¨ osung (3.27) dar, die lila Kurve L¨ osung (3.28) und die schwarze (3.29). Hierbei haben wir y = 1 und ε = 0, 2 gew¨ ahlt. Es ist deutlich zu sehen, dass (3.29) wesentlich l¨ anger eine “gute” Approximation der exakten L¨ osung ist, als (3.28) .

Beispiel 3.10. Das Anfangswertproblem y 00 + y = −2εy 0 ,

y(0) = y ,

y 0 (0) = 0

hat die L¨ osung y(τ ) = ye−ετ cos(

p

1 − ε2 τ ) .

(3.30)

Die 0. N¨ aherung y0 (τ ) = y cos τ unterscheidet sich in der Frequenz und der Amplitude von (3.30). Die 0. N¨aherung ist eine periodische Funktion w¨ ahrend (3.30) gegen Null geht f¨ ur τ → ∞ . Woran liegt das Versagen der formal asymptotischen Entwicklung ? Die Vorg¨ ange laufen auf unterschiedlichen Zeitskalen ab. Eine einfache Skalierung kann dieses Ph¨ anomen nicht einfangen. Diese Beobachtung gibt Anlaß zum Prinzip der mehrfachen Skalierung. Wir machen f¨ ur die formal asymptotische Entwicklung den Ansatz y = y0 + εy1 + ε2 y2 + · · · mit yk = yk (T0 , T1 , T2 , . . .) und Ti = εi τ . =⇒

yk0 = ∂ T0 yk + ε∂ T 1 yk + O(ε2 ) , yk00 = ∂ T0 T0 yk + 2ε∂ T0 T1 yk + O(ε2 ) .

3. Formal asymptotische Entwicklung, Mehrskalen

25

Eingesetzt in die van der Pol Gleichung (3.24) ergibt ∂ T0 T0 y0 + 2ε∂ T0 T1 y0 + ε∂ T0 T0 y1 + y0 + εy1 = ε(1 − y02 )∂ T0 y0 + O(ε2 ) . Dasselbe machen wir auch mit den dazugeh¨origen Anfangsbedingungen (3.23) . Mit einem Koeffizientenvergleich erhalten wir ∂ T0 T0 y0 + y0 = 0 , y0 (0, . . .) = y ,

(3.31)

∂T0 y0 (0, . . .) = 0 ,

∂ T0 T0 y1 + y1 = −2∂ T0 T1 y0 + (1 − y02 )∂ T0 y0 ,  y1 (0, . . .) = 0 , ∂ T1 y0 + ∂ T0 y1 (0, . . .) = 0 .

(3.32)

Dies ist ein System partieller Differentialgleichungen, das man rekursiv l¨osen kann. Die allgemeine L¨ osung von y0 lautet: y0 (T0 , T1 , . . .) = a(T1 , T2 , . . .) cos(T0 + b(T1 , T2 , . . .)) . Hierbei sind a und b beliebige Funktionen, die unabh¨angig von T0 sind. Die Anfangsbedingungen (y(0) = y und y 0 (0) = 0) liefern: a(0, . . . , 0) = y

und

b(0, . . . , 0) = 0 .

Die rechte Seite der Differentialgleichung (3.32) ergibt dann 2∂ T1 a sin(T0 + b) + 2a∂ T1 b cos(T0 + b) − a sin(T0 + b)(1 − a2 cos2 (T0 + b)) a3 a3  sin(T0 + b) + 2a∂ T1 b cos(T0 + b) + sin(3(T0 + b)) . = 2∂ T1 a − a + | {z4 } | {z } 4 1 2 ○ ○ 1 und ○ 2 w¨ Die Ausdr¨ ucke ○ urden Resonanz erzeugen. Die Freiheiten in der Wahl 1 und ○ 2 zu eliminieren. Daf¨ von a und b nutzen wir, indem wir versuchen ○ ur muss f¨ ur a und b gelten: ) a ∂ T1 a = (4 − a2 ) , (3.33) 8 ∂ T1 b = 0 .

Wir suchen eine N¨ aherung der van der Pol-Gleichung mit einem Residuum der Ordnung O(ε2 ). Dann k¨ onnen wir in a und b die Abh¨angigkeit von Ti = εi τ (i = 2, 3, . . .) und in y1 die Abh¨ angigkeiten von Ti = εi τ (i = 1, 2, . . .) vernachl¨assigen. Die Differentialgleichungen (3.33), zusammen mit den Anfangsbedingungen a(0) = y ,

b(0) = 0

(3.34)

26

Kapitel II. Grundlagen

kann man durch Trennung der Variablen 13) l¨osen. Die L¨osung ist 2y a(ετ ) = p 2 , y − (y 2 − 4)e−ετ

b(ετ ) = 0 .

Damit folgt f¨ ur die gesuchte N¨ aherung: 2y cos τ . y0 (τ, ετ ) = p 2 y − (y 2 − 4)e−ετ Diese N¨ aherung ist sicher besser als y0 (τ ) = y cos τ . Insbesondere gilt |y0 (τ, ετ )2 − 4 cos2 τ | =

4|y 2 − 4|e−ετ cos2 τ −→ 0 y 2 − (y 2 − 4)e−ετ

f¨ ur

τ →∞

und damit y0 (τ, ετ ) − 2 cos τ −→ 0

f¨ ur

τ →∞.

F¨ ur große Zeiten geht die N¨ aherungsl¨osung y0 gegen ein Grenzzykel 2 cos τ . Das kann man auch f¨ ur die L¨ osung der vollen van der Pol-Gleichung zeigen. Die Eigenschaft in einen Grenzzyklus u ¨berzugehen, ist der Grund, warum man bei der Modellierung, etwa eines Herzschrittmachers, die van der Pol-Gleichung benutzt.

4

Regul¨ar / singul¨ar gest¨orte Probleme

Wir haben zwei Beispiele zur asymptotischen Entwicklung studiert – im Fall des Anfangswertproblems (3.12) erhielten wir eine gute Approximation und im Fall der van der Pol-Gleichung 14) versagte dieses Vorgehen. Das gibt Anlaß zur Behandlung in einem allgemeineren Rahmen. 1

Benutzen Sie die Transformation z(s) = e− 2 s a(s). Dann erh¨ alt man aus der ersten Gleichung von (3.33) die DGL 13)

1 z 0 (s) = − es z 3 (s) . 8 Durch Trennung der Variablen und Integration ergibt sich h 1 iT1 h 1 iT1 − z −2 = − es 0 0 2 8 1 1 T1 1 1 1 1 1 =⇒ = e − − 2 = eT1 − − 2 z 2 (T1 ) 4 4 z (0) 4 4 y =⇒

e−t a2 (T1 ) =

4y 2 y 2 et − y 2 + 4

=⇒

a(T1 ) = p

2y y 2 − (y 2 − 4)e−T1

.

14) Van der Pol, Balthasar, 1889-1959, niederl¨ andischer Elektroingenieur und Physiker. Grundlegende Arbeiten zum deterministischen Chaos.

4. Regul¨ ar / singul¨ ar gest¨ orte Probleme

27

Seien (B1 , k.k1 ) und (B2 , k.k2 ) abstrakte Banachr¨aume und F : B1 × [0, 1] → B2 eine Abbildung. Wir suchen N¨aherungen f¨ ur die L¨osung xε der Gleichung F (xε , ε) = 0 .

(4.35)

Wir betrachten die L¨ osung x0 des reduzierten Problems F (x0 , 0) = 0 als N¨ aherung f¨ ur xε und versuchen, durch den Ansatz xε,n :=

n X

εk xk

k=0

diese sukzessive zu verbessern. Dazu nehmen wir an, dass F (x, ε) eine Entwicklung der Form n X Fj (x)εj + O(εn+1 ) f¨ ur ε → 0 F (x, ε) = j=0

besitzt. Dann gilt n X

0=F

! εk xk + O(εn+1 ), ε

k=0

=

n X j=0

Fj

n X

! k

ε xk + O(ε

n+1

) εj + O(εn+1 ) ,

k=0

und nach formaler Taylorentwicklung n X  0= Fj (x0 ) + Fj0 (x0 )εx1 + · · · εj + O(εn+1 ) . j=0

Ein Koeffizientenvergleich ergibt: ε0 : 1

ε : .. .

F0 (x0 ) = 0 , F00 (x0 )x1 + F1 (x0 ) = 0 , .. .

.

Definition 4.1. Die N¨ aherung xε,n heißt konsistent, wenn das Residuum rε := F (xε,n , ε) f¨ ur ε → 0 gegen Null konvergiert; das heißt kF (xε,n , ε)k2 −→ 0

f¨ ur ε → 0 .

Definition 4.2. Sind die N¨ aherungen x0 , . . . , xn berechenbar und ist xε,n konsistent, so heißt xε,n eine formal asymptotische Entwicklung der Ordnung n von xε .

28

Kapitel II. Grundlagen

Definition 4.3. Das Problem (4.35) heißt regul¨ar gest¨ort, wenn f¨ ur alle n ∈ N eine formal asymptotische Entwicklung existiert (also falls f¨ ur alle n ∈ N: xε,n konsistent ist). Andernfalls heißt das Problem (4.35) singul¨ar gest¨ort. Achtung: Aus Konsistenz folgt nicht Konvergenz! Beispiel 4.4. Wir betrachten das lineare Gleichungssystem 0, 01x + y = 0, 1 ; x + 101 y = 11 . Der Koeffizient von x ist klein im Vergleich zu dem von y. In nullter N¨aherung (Vernachl¨ assigung von 0, 01x) erh¨alt man die L¨osung x0 = 0, 9 ,

y0 = 0, 1 .

Das Residuum r ist r = (0, 009; 0)T ist klein und trotzdem ist die nullte N¨aherung (0, 9; 0, 1)T sehr weit von der wahren L¨osung (x, y)T = (−90; 1)T entfernt. Beispiel 4.5. F¨ ur das uns schon bekannte Anfangswertproblem x00 = −

1 , (εx + 1)2

x(0) = 0 ,

x0 (0) = 1

versuchen wir eine formal asymptotische Entwicklung unter Anwendung des obigen Formalismus zu konstruieren.   1 x00 +  (εx + 1)2    ! F (xε , ε) =  =0 x(0)   x0 (0) − 1 Ansatz: xε = x0 + εx1 + ε2 x2 + O(ε3 ) B1 := (C 2 [0, T ], k.k1 ) ,

kxk1 = kxk∞ + kx0 k∞ + kx00 k∞ ,

B2 := (C[0, T ] × R × R, k.k2 ) ,

k(x, r1 , r2 )k2 = kxk∞ + |r1 | + |r2 | . 15)

=⇒

15)

 x000 + εx001 + ε2 x002 + O(ε3 ) = −(1 + εx0 + ε2 x1 + ε3 x2 + O(ε4 ))−2 ,   x0 (0) + εx1 (0) + ε2 x2 (0) + O(ε3 ) = 0 ,   x00 (0) + εx01 (0) + ε2 x02 (0) + O(ε3 ) = 1 .

kxk∞ := supτ ∈[0,T ] |x(τ )|

4. Regul¨ ar / singul¨ ar gest¨ orte Probleme

29

Die Taylorentwicklung der rechten Seite der ersten Gleichung liefert −(1 + εx0 + ε2 x1 + ε3 x2 + O(ε4 ))−2 = −1 + ε2x0 + ε2 (2x1 − 3x20 ) + O(ε3 ) . Der Koeffizientenvergleich ergibt: ε0 :

x000 = −1 ,

x0 (0) = 0 ,

x00 (0) = 1 ,

ε1 :

x001 = 2x0 ,

x1 (0) = 0 ,

x01 (0) = 0 ,

ε2 :

x002 = 2x1 − 3x20 ,

x2 (0) = 0 ,

x02 (0) = 0 .

τ2 τ3 1  11 11  τ4 +ε 1 − τ − ε2 1 − τ + τ 2 + O(ε3 ) . 2 3 4 4 15 90 Das Residuum geht gegen Null f¨ ur ε → 0 . Also ist die N¨aherung xε,2 eine konsistente formal asymptotische Entwicklung. Dies gilt f¨ ur jede N¨aherung xε,n f¨ ur n ∈ N . Denn: Alle xn sind Polynome in τ . Folglich sind auch xε,n und x00ε,n Polynome in τ . Mit [0, T ] betrachten wir einen beschr¨ankten Definitionsbereich. Das heißt, xε,n und x00ε,n sind in der k.k∞ Norm beschr¨ankt. Damit gilt f¨ ur jedes n ∈ N, dass kF (xε,n , ε)k2 f¨ ur ε → 0 gegen Null konvergiert =⇒

x(τ ) = τ −

Das Problem x00 = −

1 , (εx + 1)2

x(0) = 0 ,

x0 (0) = 1

ist regul¨ ar gest¨ ort. Beispiel 4.6 (van der Pol-Gleichung). x00 + x = ε(1 − x2 )x0 ,

x(0) = x ,

x0 (0) = 0 .

Wir interessieren uns f¨ ur das Verhalten der L¨osung f¨ ur τ → ∞ . Konkret sei B1 := (C 2 ([0, ∞)), k.k1 ) ,

kxk1 = kxk∞ + kx0 k∞ + kx00 k∞ ,

B2 := (C([0, ∞)) × R × R, k.k2 ) ,

k(x, r1 , r2 )k2 = kxk∞ + |r1 | + |r2 | .

Wir betrachten somit ein unbeschr¨anktes Intervall als Definitionsbereich. Das reduzierte Problem x000 + x0 = 0 ,

x0 (0) = x ,

x00 (0) = 0

hat die L¨ osung x0 (τ ) = x cos τ mit dem Residuum ε(1 − x20 )x00 = −ε(1 − x2 cos2 τ )x sin τ = O(ε) .

30

Kapitel II. Grundlagen

Damit ist xε,0 eine formale N¨ aherung f¨ ur die L¨osung der van der Pol-Gleichung. Der Korrekturterm x1 ist L¨ osung des Anfangswertproblems  x3 − 1 sin τ + sin 3τ , 4 4 0 x1 (0) = x1 (0) = 0

x001 + x1 = x

 x2

mit der L¨ osung x1 (τ ) =

x x2  x3 1− (τ cos τ − sin τ ) + (3 sin τ − sin 3τ ) . 2 4 32

Diese ist auf [0, ∞) unbeschr¨ ankt. =⇒

xε,1 = x0 + εx1

ist nicht konsistent ,

weil auf [0, ∞) nicht gleichm¨ aßig gegen Null konvergiert f¨ ur ε → 0 . Die van der Pol-Gleichungen sind singul¨ ar gest¨ort. Wir wollen uns im n¨ achsten Abschnitt noch etwas genauer mit singul¨ar gest¨ orten Problemen befassen.

5

Grenzschichten

Als typisches Beispiel betrachten wir das Anfangswertproblem εy 0 = −y + t + ε , mit der L¨ osung

y(0) = 1

(5.36)

t

yε (t) = e− ε + t . Das reduzierte Problem 0 = −y0 + t ,

y0 (0) = 1

hat keine L¨ osung, da die Anfangswerte nicht erf¨ ullt werden k¨onnen. Die Gleichung (5.36) ist singul¨ ar gest¨ ort. Allerdings approximiert y0 (t) = t die L¨osung von (5.36) u ¨berall außer in der N¨ ahe t = 0 . Das gibt Anlaß zu folgender Definition. Definition 5.1. Es sei D ⊂ Rn ein Gebiet und uε ∈ C(D) , 0 < ε ≤ ε0 eine reellwertige Funktion. (i) uε heißt regul¨ ar in D, wenn der Grenzwert limε→0 uε bez¨ uglich der Norm kukD := sup |u(x)| x∈D

existiert.

5. Grenzschichten

31

(ii) Sei S ⊂ D eine C 1 –Mannigfaltigkeit der Dimension kleiner n. uε hat Grenzschichtverhalten an S, wenn uε nicht regul¨ar in D, aber regul¨ar in D1 ⊂ D \S f¨ ur D1 ⊂ D ist. Satz 5.2. Hat uε Grenzschichtverhalten an S, so gibt es eine Funktion u ∈ C(D\S), die nicht von ε abh¨ angt und f¨ ur die lim kuε − ukD1 = 0

ε→0

mit D1 ⊂ D \ S gilt. Beweis. Nach Definition 5.1 gibt es f¨ ur jedes D1 ⊂ D mit D1 ⊂ D\S eine Funktion uD1 ∈ C(D1 ) mit lim kuε − uD1 kD1 = 0 . ε→0

Wegen der Eindeutigkeit des Limes folgt uD1 ∩D2 (x) = uD1 (x) = uD2 (x)

∀x ∈ D1 ∩ D2

und ∀D1 , D2 ⊂ D \ S . Wir definieren u : D \ S → R durch u(x) := uU (x) (x) , wobei U(x) eine beliebige Umgebung von x in D \ S ist. F¨ ur diese Funktion gilt nach Konstruktion lim kuε − ukD1 = 0 ε→0

und wegen der gleichm¨ aßigen Stetigkeit auch u ∈ C(D \ S) .



Beispiel 5.3. x

(i) uε (x) := e− ε + x , D := (0, 1) , S := {0} , u(x) = x ; x − y2 (ii) uε (x, y) := tanh , D := R2 , S := {(x, y) ∈ R2 : x − y 2 = 0} ε uε ist nicht regul¨ ar in D = R2 , aber regul¨ar f¨ ur alle D1 ⊂ D \ S .  −1 f¨ ur x − y 2 < 0 , =⇒ u(x, y) = 1 f¨ ur x − y 2 > 0 . Die Funktion u beschreibt das Verhalten von uε weg von der Grenzschicht. Wir studieren jetzt die Funktion uε genauer in der Umgebung von S (in der Grenzschicht). Es sei S eine C 1 –Mannigfaltigkeit der Dimension n − k . Wir f¨ uhren lokale Koordinaten z = z(x) ein, sodass S := {x : z1 (x) = z2 (x) = · · · = zk (x) = 0}

32

Kapitel II. Grundlagen

gilt. z(x) ist in einer Umgebung U(S) von S definiert .

=⇒

Lokale Koordinaten ξ in U(S) sind gegeben durch ξi = zi ε−αi

mit αi > 0 f¨ ur i = 1, 2, . . . , k ,

ξi = zi

f¨ ur i = k + 1, . . . , n .

Durch die Faktoren ε−αi “zoomen” wir in die Umgebung der Grenzschicht. Das soll so geschehen, dass Uε (ξ) := uε (x(ξ, ε)) in einem Bereich regul¨ ar ist. Beispiel 5.4 (siehe einf¨ uhrendes Beispiel (5.36)). x uε (x) = e− ε + x mit lokalen Koordinaten ξ = xε−α in der N¨ahe von 0. =⇒

Uε (ξ) = uε (x(ξ, ε)) = e−

ξεα ε

+ εα ξ = e−ξε

α−1

+ εα ξ .

F¨ ur α ≥ 1 ist Uε regul¨ ar auf ξ-Intervallen (0, X) und  −ξ e f¨ ur α = 1 , lim Uε (ξ) = 1 f¨ ur α > 1 . ε→0 F¨ ur 0 < α < 1 ist Uε regul¨ ar auf ξ–Intervallen der Form (X1 , X2 ) mit X1 > 0 und lim Uε (ξ) = 0 .

ε→0

Beispiel 5.5. Wir betrachten das Anfangswertproblem − εu00 + u0 + u = 0

f¨ ur x ∈ (0, 1)

(5.37)

mit den Randwerten u(0) = 1 ,

u(1) = 0 .

(5.38)

Dieses Problem ist singul¨ ar gest¨ort ; denn die L¨osung u(x) = Ce−x der reduzierten Differentialgleichung u0 + u = 0 (5.39) kann als Differentialgleichung 1. Ordnung nicht beide Randbedingungen (5.38) erf¨ ullen. Wir wollen nun eine asymptotische N¨aherung von (5.37) konstruieren, die beide Randbedingungen erf¨ ullt. Wir erwarten, dass sich die asymptotische N¨aherung uasympt im Inneren von (0, 1) wie Ce−x verh¨alt, an den R¨andern x = 0 und x = 1 aber Grenzschichten aufweist, um die Randwerte (5.38) zu erf¨ ullen.

5. Grenzschichten

33

In einer Umgebung von x = 0 f¨ uhren wir durch ξ := x ε−α ,

α>0

lokale Koordinaten (Grenzschichtkoordinaten) ein und definieren Uε (ξ) := u(x) = u(ξ εα ) . Uε0 :=



dUε du dx = = εα u0 . dξ dx dξ

Die Differentialgleichung (5.37) transformiert sich zu − ε1−2α Uε00 + ε−α Uε0 + Uε = 0 ,

ξ ∈ (0, ε−α ) .

(5.40)

Analog f¨ uhren wir in einer Umgebung von x = 1 die lokalen Koordinaten η := (1 − x)ε−β ,

β>0

ein und definieren Vε (η) := u(x) = u(1 − η εβ ) . Die Differentialgleichung (5.37) transformiert sich zu =⇒

−ε1−2β Vε00 − ε−β Vε0 + Vε = 0 ,

η ∈ (0, ε−β ) .

(5.41)

Welche α beziehungsweise β soll man w¨ahlen ? Wir w¨ahlen α und β so, dass die maximale Information erhalten wird. Heuristische Vorgehensweise (kann auch streng hergeleitet werden): Wir setzen in (5.40) zwei Exponenten gleich und nehmen an, dass der verbleibende Exponent nicht kleiner ist. Das ergibt folgende M¨oglichkeiten: (i)

1 − 2α = −α ≤ 0



(ii)

1 − 2α = 0 ≤ −α



− α = 0 ≤ 1 − 2α



(iii)

α≥0, α=1, 1 (Widerspruch !) , α≤0, α= 2 α=0 (nicht m¨oglich, da α > 0 vorausgesetzt war !)

Das heisst, wir w¨ ahlen α = 1 . Da wir nach (5.41) f¨ ur die Wahl von β die dieselben Exponenten zu vergleichen haben wie bei α, erhalten wir f¨ ur β, dass β = 1 ist. Eine andere Vorgehensweise zur Wahl von α s¨ahe so aus, dass man (5.40) mit Potenzen von ε multipliziert, sodass f¨ ur ε → 0 das Residuum gegen Null geht (Konsistenz !) . Daraus ergibt sich die Forderung Uε0 = 0 −Uε00

+

−Uε00

Uε0

f¨ ur 0 < α < 1 , =0

=0

f¨ ur α = 1 , f¨ ur α > 1 .

(5.42)

34

Kapitel II. Grundlagen

Auch hier enth¨ ahlt (5.42) die gr¨oßte Information. Jetzt machen wir f¨ ur die asymptotische Approximation den Ansatz uasympt (x) = u(x) + Uε (ξ) + Vε (η) und fordern

dk Vε (η) = 0 η→∞ dη k

dk Uε (ξ) = 0 , ξ→∞ dξ k

lim

lim

(5.43)

(5.44)

f¨ ur alle k ∈ N ∪ {0} . Die Forderung nach zumindest punktweiser Konsistenz f¨ ur jedes x ∈ (0, 1) ergibt: 0 = lim (−εu00asympt + u0asympt + uasympt ) ε→0

d2 1 d 1 d2 1 d d 1 d2 U + U + U − Vε − Vε + Vε u + u + u − ε ε ε ε→0 dx2 dx ε dξ 2 ε dξ ε dη 2 ε dη 2 2 1 d d 1 d 1 d 1 d  (5.44) u+u− = lim Uε + Uε − Vε − Vε . ε→0 dx ε dξ 2 ε dξ ε dη 2 ε dη (5.45) Die Beziehung (5.45) gilt, wenn  du   +u=0,   dx     2 d Uε dUε = 0 , − (5.46)  dξ 2 dξ     d2 Vε dVε    + = 0 . dη 2 dη = lim (−ε

gelten. Vergleiche hierzu auch (5.42) . Die L¨ osungen der Differentialgleichungen (5.46) sind: u(x) = C1 e−x

(L¨osung im Inneren von (0, 1)) ,

Uε (ξ) = C2 + C3 e

ξ

(am linken Rand) ,

Vε (η) = C4 + C5 e

−η

(am rechten Rand) .

Wegen (5.44) gilt Uε (ξ) −→ 0 =⇒

f¨ ur

ξ→∞

f¨ ur

η→∞

C2 = C3 = 0

und Vε (η) −→ 0 =⇒

C4 = 0 .

5. Grenzschichten

35

Es gibt also nur eine Grenzschicht, n¨amlich bei x = 1 . F¨ ur die asymptotische Approximation uε erh¨ alt man also: uasympt (x) = C1 e−x + C5 e−

1−x ε

.

Mit Hilfe der Konstanten C1 und C5 werden die Randbedingungen uasympt (0) = 1 und uasympt (1) = 0 erf¨ ullt. =⇒

uasympt (x) =

e−x − e−1+(x−1)/ε , 1 − e−(1+1/ε)

x ∈ [0, 1] . (5.47)

Bild: Die blauen Kurven stellen uasympt dar von ε = 0, 01 (dunkelblau) bis ε = 0, 5 (hellblau). Die schwarze Kurve, welche die rechte Randbedingung nicht erf¨ ullt, ist die L¨ osung uasympt f¨ ur ε = 0 .

Ist die berechnete N¨ aherung (5.47) nun konsistent ? Wir berechnen das Residuum. Da uasympt beide Randwerte erf¨ ullt, brauchen wir nur r˜ε (x) zu betrachten, mit r˜ε (x) : = −εu00asympt + u0asympt + uasympt =− =⇒

εe−x + e−1+(x−1)/ε . 1 − e−(1+1/ε)

lim r˜ε (x) = 0

ε→0

f¨ ur alle x ∈ [0, 1) , aber

lim r˜ε (1) = −e−1 .

ε→0

ur 0 < Damit ist uasympt nicht konsistent in der Supremumsnorm. Es gilt aber f¨ 1 ε < ε0 , mit ε0 hinreichend klein (z.B. ε0 := 1000 ) Z 0

1

r˜ε (x)2 dx

36

Kapitel II. Grundlagen =

Z

1 (1 −

e−(1+1/ε) )2

2 εe−x + e−1+(x−1)/ε dx

0

Z

1

1

1

2 ε2 e−2x + e−2+(2x−2)/ε + 2εe−1−1/ε+(1−ε)x/ε dx (1 − e−(1+1/ε) )2 0  h 1 1 −2 i1 h ε −2+(2x−2)/ε i1 2 = − + e ε e 2 2 0 0 (1 − e−(1+1/ε) )2 h ε i1  −1−1/ε+(1−ε)x/ε + 2ε e dx 1−ε 0   −1/ε+1  e−2 ε 1 −2 −2/ε −2 1 − e (1 − e ) + 1−e + 2εe ·ε = 2 1−ε (1 − e−(1+1/ε) )2 2 =

≤ Const(ε0 ) · ε

−→

0

mit

ε→0

und damit Konsistenz in der L2 -Norm.

6

Sensitivit¨at

Wir hatten in Beispiel 4.4 gesehen, dass die L¨osung einer (linearen) Gleichung auch dann noch weit von einer Approximation entfernt sein kann, wenn letztere ein sehr kleines Residuum hat. Das lag in dem Beispiel daran, dass die Koeffizientenmatrix fast singul¨ ar war. Wir wollen nun der Frage nachgehen, wann aus Konsistenz (kleines Residuum) auf die G¨ ute der Approximation geschlossen werden kann. Dazu ist es erforderlich, dass das Problem nicht zu sensitiv von einer Variation der Daten abh¨ angt, dass es gut konditioniert ist. Da die Koeffizientenmatrix in Beispiel 4.4 fast singul¨ ar ist, ist dieses Problem schlecht konditioniert. Wir betrachten einen allgemeineren Rahmen. Es seien (B1 , k.k1 ) ein Banachraum und (B2 , k.k2 ) ein normierter linearer Raum. Definition 6.1. Eine Abbildung F : B1 → B2 ist an einer Stelle uasympt Frech´etdifferenzierbar (total differenzierbar, bzw. stark differenzierbar), wenn es eine lineare Abbildung DF (uasympt ) : B1 → B2 gibt, sodass f¨ ur jedes h ∈ B1 F (uasympt + h) − F (uasympt ) − DF (uasympt )h = o(khk1 ) f¨ ur khk1 → 0 gilt. DF (uasympt ) heißt das Frech´et-Differential von F an der Stelle uasympt . Beispiel 6.2. Sei B1 := C 2 ([a, b]) × R und B2 := C([a, b]) × R2 mit den Normen k(x, ε)k1 := max (|x(t)| + |x0 (t)| + |x00 (t)|) + |ε| t∈[a,b]

und k(f, α, β)k2 := max |f (t)| + |α| + |β| . t∈[a,b]

6. Sensitivit¨ at

37

Wir betrachten wieder unser Modellbeispiel 25.1:  1 00  x + (εx + 1)2  F (x, ε) =  x(0)  x0 (0) − 1

   =0.  2

Als uasympt nehmen wir die asymptotische N¨aherung x0 (t) := t− t2 mit ε = 0 , das heisst uasympt = (x0 , 0) ∈ B1 . Aus Definition 6.1 folgt unmittelbar f¨ ur (y, 0) ∈ B1 , dass   y 00   y   DF (x0 , 0) =  y(0)  . 0 0 y (0) Der folgende Satz macht eine Aussage dar¨ uber, wann aus Konsistenz Konvergenz folgt. Satz 6.3. Die Abbildung F : B1 → B2 sei an der Stelle uasympt ∈ B1 Frech´etdifferenzierbar. Das Frech´et-Differential DF (uasympt ) sei invertierbar und es gelte kDF (uasympt )−1 f k1 ≤ Kkf k2

∀ f ∈ B2 ,

(6.48)

sowie f¨ ur P (v) := F (uasympt + v) − F (uasympt ) − DF (uasympt )v gelte kP (v1 ) − P (v2 )k2 ≤ Lδkv1 − v2 k1

(6.49)

f¨ ur kv1 k1 , kv2 k1 ≤ δ . Ferner gelte f¨ ur das Residuum % := F (uasympt ) k%k2 ≤

1 . 4K 2 L

(6.50)

Dann: In der Kugel Kδ (uasympt ) ⊂ B1 mit Mittelpunkt uasympt und Radius δ := 1/(2KL) hat die Gleichung F (u) = 0 eine eindeutig bestimmte L¨ osung und f¨ ur diese gilt die Absch¨ atzung ku − uasympt k1 ≤ 2Kk%k2 . Beweis. Setze R := u − uasympt . =⇒

F (u) = F (uasympt + R) − F (uasympt ) + % .

Also F (u) = 0 ist gleichbedeutend mit F (uasympt + R) − F (uasympt ) = −% .

38

Kapitel II. Grundlagen ⇐⇒

DF (uasympt )R = −% − P (R) .

Es muss somit die L¨ osbarkeit des Fixpunktproblems R = G(R) mit G(R) := −DF (uasympt )−1 (% + P (R)) gezeigt werden. Wir zeigen: (i)

G : Kδ (0) → Kδ (0) ,

(ii)

G ist kontrahierend .

Zu (i): Sei R ∈ Kδ (0) . (6.48)

=⇒

kG(R)k1



Kk% + P (R)k2 ≤ K(k%k2 + kP (R)k2 )   1 2 K + Lδ = δ . 2 4K L

(6.50),(6.49)



Das heisst, G ist eine Selbstabbildung von Kδ (0) nach Kδ (0) . Zu (ii): Seien R1 , R2 ∈ Kδ (0) . Da DF (uasympt ) linear, so ist auch die Inverse DF (uasympt )−1 linear. Somit gilt: ⇒

kG(R1 ) − G(R2 )k1 = k − DF (uasympt )−1 (%  + P (R1 ) − %  − P (R2 ))k1 (6.48)

≤ KkP (R1 ) − P (R2 )k2 (6.49)

≤ KLδkR1 − R2 k1 1 kR1 − R2 k1 . = 2 Es gilt somit kG(R1 ) − G(R2 )k1 ≤ Ckontrah kR1 − R2 k1

mit Ckontrah < 1 .

Das heisst, G ist kontrahierend. Nach dem Banachschen Fixpunktsatz gilt: Es gibt genau einen Fixpunkt R = u − uasympt in Kδ (0) . F¨ ur diesen Fixpunkt gilt die Absch¨atzung s.o.

kRk1 = kG(R)k1 ≤ K(k%k2 + kP (R)k2 ) 1 ≤ K(k%k2 + LδkRk1 ) = Kk%k2 + kRk1 , 2

6. Sensitivit¨ at

39 =⇒

1 kRk1 ≤ Kk%k2 2

und somit ku − uasympt k1 = kRk1 ≤ 2Kk%k2 .



Bemerkung 6.4. Die entscheidende Voraussetzung in Satz 6.3 ist (6.48). Diese sagt aus, dass f¨ ur eine beliebige rechte Seite f das linearisierte Problem eine eindeutige L¨ osung besitzt, die stetig von den Daten abh¨angt. Das bedeutet Stabilit¨at. Die Aussage des Satzes hat zur Konsequenz: Konsistenz + Stabilit¨at = Konvergenz Der Satz 6.3 sagt aus, dass es lokal (in Kδ (uasympt )) eine eindeutig bestimmte L¨ osung gibt, die stetig von St¨ orungen % abh¨angt. In diesem Sinne heißt das Problem F (u, ε) = 0 sachgem¨ aß gestellt. Wir wenden Satz 6.3 auf das regul¨ar gest¨orte Problem an. Dazu beweisen wir zun¨ achst folgendes Lemma. Lemma 6.5. Es seien A, B : B1 → B2 lineare Abbildungen mit den Eigenschaften (i)

A besitzt eine beschr¨ ankte Inverse mit kA−1 f k1 ≤ Kkf k2

(ii)

∀ f ∈ B2 ,

∃ δ < 1 ∀ u ∈ B1 : kA−1 Buk1 ≤ δkuk1 .

Dann hat A + B eine beschr¨ ankte Inverse mit k(A + B)−1 f k1 ≤

K kf k2 1−δ

∀ f ∈ B2 .

Beweis. Wir f¨ uhren die Norm der stetigen linearen Abbildung A ein: kAk := sup kAuk2 . kuk1 =1

Analog: kA−1 k := sup kA−1 f k1 . kf k2 =1

Dann lauten die Bedingungen (i) und (ii): (i)

kA−1 k ≤ K ,

40

Kapitel II. Grundlagen

und

(ii)

kA−1 Bk ≤ δ .

Aus (A + B)u = f folgt u = A−1 f − A−1 Bu. Betrachte nun die Abbildung G(u) := A−1 f − A−1 Bu . Dann gilt   kG(u1 ) − G(u2 )k = k A−1 f − A−1 Bu1 −  A−1 f + A−1 Bu2 k1 ≤ kA−1 Bkku1 − u2 k1 ≤ δku1 − u2 k1 . Da δ < 1, ist G := A−1 f − A−1 B in B1 eine kontrahierende Selbstabbildung. ⇒ ⇒

∀ f ∈ B2 ∃1 u ∈ B1 mit (A + B)u = f (A + B)

−1

(Banachscher Fixpunktsatz)

existiert .

Weiter gilt: s.o.

=⇒

k(A + B)−1 f k1 = kuk1 ≤ kA−1 f k1 + kA−1 Buk1 ≤ Kkf k2 + δkuk1 K kf k2 . k(A + B)−1 f k1 ≤ 1−δ 

Eine Aussage zur G¨ ultigkeit einer formalen asymptotischen Entwicklung des regul¨ ar gest¨ orten Problems F (u, ε) = 0 (6.51) macht folgender Satz. Satz 6.6. Sei F : B1 × [0, ε0 ] → B2 eine Abbildung. Das reduzierte Problem F (u0 , 0) = 0 besitze eine L¨ osung u0 . Ferner sei F in einer Umgebung von (u0 , 0) noch (N + 1)– mal (N ≥ 1) (nach beiden Argumenten) Frech´et-differenzierbar, und DF (u0 , 0) besitze als Frech´et-Ableitung nach u an der Stelle (u0 , 0) eine beschr¨ ankte Inverse. Dann ist eine formal asymptotische Entwicklung der Form uε,n =

n X

uk εk

(n ≤ N )

k=0

zur Approximation der L¨ osung von (6.51) eindeutig bestimmt. Das Problem (6.51) besitzt f¨ ur kleine ε in einer von ε unabh¨ angigen Umgebung von u0 eine eindeutig bestimmte L¨ osung u mit ku − uε,n k1 = O(εn+1 )

f¨ ur n ≤ N .

6. Sensitivit¨ at

41

Beweis. Die erste Aussage wurde in Abschnitt 4 bereits gezeigt. Es gilt folglich kF (uε,n , ε)k2 = O(εn+1 ) . Wir m¨ ussen zeigen, dass (6.48) und (6.49) von Satz 6.3 erf¨ ullt sind. Wegen der vorausgesetzten Differenzierbarkeit ist (6.49) erf¨ ullt (vgl. Abschnitt 4), und L kann unabh¨ angig von ε gew¨ahlt werden. Zum Nachweis von (6.48) muß die Invertierbarkeit von DF (uε,n , ε) gezeigt werden. Wieder wegen der Differenzierbarkeit von F folgt DF (uε,n , ε) = DF (uε,n , 0) + εC

(6.52)

mit einer linearen Abbildung C, die gleichm¨aßig in ε beschr¨ankt ist. Wende nun Lemma 6.5 mit A = DF (uε,n , 0) ,

B = εC

an. A besitzt nach Voraussetzung eine beschr¨ankte Inverse. F¨ ur B gilt kA−1 Buk1 = εkA−1 Cuk1 ≤ εkA−1 k · kCk · kuk1 =⇒

kA−1 Buk1 ≤ δkuk1

mit δ < 1 f¨ ur ε klein genug .

Die Anwendung von Lemma 6.5 und (6.52) ergibt, dass (DF (uε,n , ε))−1 existiert und gleichm¨ aßig in ε beschr¨ ankt ist. Damit sind alle Voraussetzungen von Satz 6.3 erf¨ ullt. Folglich gilt ku − uε,n k1 = O(εn+1 ) .  Wir wenden das Ergebnis auf unser Standardbeispiel 6.2 an. Die Differenzierbarkeitsvoraussetzungen von F (x, ε) sind erf¨ ullt. Die Invertierbarkeit von DF(x0 ,0) folgt aus der eindeutigen L¨ osbarkeit von       g y 00 y DF (x0 , 0) =  y(0)  =  α  (6.53) 0 y 0 (0) β f¨ ur beliebige g ∈ C[0, b], α, β ∈ R . Die Differentialgleichung (6.53) hat die eindeutig bestimmte L¨ osung Z t y(t) = α + βt + (t − τ )g(τ )dτ . 0

Damit ist DF (x0 , 0) invertierbar. Es bleibt die Beschr¨ankheit der Inverse (DF (x0 , 0))−1 zu zeigen:

 

  g



DF (x0 , 0)−1  α  = y

0

1 β 1

42

Kapitel II. Grundlagen = max (|y(t)| + |y 0 (t)| + |y 00 (t)|) + 0 t∈[0,b]

= Const.k(g, α, β)k2 . Satz 6.6 liefert die eindeutig bestimmte L¨osung des vollen Problems und deren Approximierbarkeit durch eine asymptotische Entwicklung.

7

Aufgaben

Aufgabe 7.1. Es bezeichne x(t) einen Kontostand zum Zeitpunkt t. Wir nehmen an, der Kontostand entwickle sich nach folgendem Anfangswertproblem x0 (t) = p x(t) ,

x(0) = x0 .

Hierbei ist x0 ∈ R ein Startguthaben und p ∈ R eine gegebene Wachstumsrate. Entdimensionalisieren Sie das Modell ! Finden Sie alle m¨oglichen dimensionslosen Formulierungen ! Aufgabe 7.2. Die ged¨ ampfte Federschwingung eines K¨orpers der Masse m wird beschrieben durch folgendes Anfangswertproblem f¨ ur t > 0 mx00 (t) + rx0 (t) + kx(t) = −mRω02 sin(ω0 t) ,

x(0) = 0 ,

x0 (0) = 0 .

Hierbei ist R die Amplitude der Anregung, k die Federkonstante, r der D¨ampfungsfaktor, ω0 die Anregungsfrequenz der Schwingung. Entdimensionalisieren Sie das Modell ! Aufgabe 7.3. Wir m¨ ochten die Energie absch¨atzen, welche bei einer Explosion frei wird. Wir nehmen an, dass der physikalische Vorgang durch f¨ unf Parameter beschrieben wird: der Zeit t, welche seit der Detonation vergangen ist, dem Radius R, welche die Schockwelle zum Zeitpunkt t hat, der Energiedichte E, dem atmosph¨ arischen Druck p, und der Dichte des Außenraumes ρ. Zeigen Sie, dass unter der Annahme, dass E sehr groß ist, wenige Sekunden nach der Explosion folgender Zusammenhang gilt: R≈

 Et2  15 ρ

.

Aufgabe 7.4. Wir betrachten einen Stein, welcher von der Erdoberfl¨ache hochgeworfen wird. 1. Berechnen Sie die exakte maximale H¨ohe ymax , welche der Stein erreichen kann. 2. Geben Sie eine asymptotische Approximation des Zeitpunktes tmax der maximalen H¨ ohe an.

7. Aufgaben

43

3. Bei welcher Anfangsgeschwindigkeit v0 verl¨aßt der Stein die Erdoberf¨ache f¨ ur immer. Aufgabe 7.5 (Mathematisches Pendel). Die Schwingung eines Pendels verhalte sich nach x00 (t) + εx0 (t) + sin(x(t)) = 0 ,

x(0) = x ¯,

x0 (0) = 0 ,

wobei x ¯ ∈ R . Berechnen Sie eine formal asymptotische Entwicklung der L¨osung xε (t) bis zu 1.ter Ordnung in ε ! Aufgabe 7.6 (Mehrskalenansatz). Die Funktion y(t) l¨ ose f¨ ur t > 0 und einen kleinen Parameter ε > 0 das Anfangswertproblem y 0 (t) + εy(t) = 4 , y(0) = 1 . 1. Berechnen Sie eine Approximation der L¨osung mittels formaler asymptotischer Entwicklung bis zu erster Ordnung in ε . 2. Vergleichen Sie die in a.) erhaltene Funktion mit der exakten L¨osung. F¨ ur welche Zeiten t ist die Approximation aus a.) gut ? 3. Um eine bessere Approximation zu finden, kann man den Ansatz y = y0 (T0 , T1 ) + εy1 (T0 , T1 ) + ε2 y2 (T0 , T1 ) + · · · ,

mit T0 = t und T1 = εt

versuchen. Berechnen Sie y0 (T0 , T1 ). Aufgabe 7.7. F¨ ur welche α ∈ R sind die folgenden Anfangswertprobleme regul¨ar oder singul¨ ar gest¨ ort. a.) b.)

εy 0 (x) + y(x) = x, 0

εy (x) + y(x) = x, 0

x > 0,

y(0) = α ;

x > 0,

y(0) = εα ;

c.)

y (x) + εy(x) = x,

x > 0,

y(0) = α ;

d.)

y 0 (x) + y(x) = εx,

x > 0,

y(0) = α .

¨ Uberlegen Sie sich, in welchen normierten R¨aumen Sie arbeiten. Aufgabe 7.8. Gegeben sei εx0 (t) = −x(t) + (t + 2ε)t ,

x(0) = 1 .

Berechnen Sie eine asymptotische N¨aherung der exakten L¨osung xε , welche die Anfangswerte bei t = 0 erf¨ ullt. Untersuchen Sie, ob die L¨osung Grenzschichtverhalten aufweist.

44

Kapitel II. Grundlagen

Kapitel III

Mechanik 8

Punktmechanik

Wir betrachten ein System von N Massenpunkten, deren Wechselwirkung durch Zentralkr¨ afte bestimmt ist und auf die eine zus¨atzliche ¨außere Kraft wirkt. Bezeichnen wir die Masse des i–ten Massenpunktes mit mi und seine Lage zum Zeitpunkt t in Bezug auf den Ursprung 0 ∈ R3 mit ri (t) ∈ R3 , so ist die Zentralkraft dadurch charakterisiert, dass sie parallel zu ri gerichtet ist. Das 2. Newtonsche Gesetz stellt einen Zusammenhang her zwischen dem Impuls pi = mi r˙ i des i–ten Teilchens und der auf dieses einwirkenden Kr¨afte (fi außere Kr¨ ¨ afte und fij Wechselwirkungskr¨afte zwischen den Teilchen mi und mj ): p˙i =

N X

fij + fi

(i = 1, 2, . . . , N ) .

j=1 j6=i

Nach dem 3. Newtonschen Gesetz (actio = reactio) gilt: fij = −fji . Bei der hier vorausgesetzten alleinigen Wirkung von Zentralkr¨aften haben fij die Form ri − rj gij (|ri − rj |) fij (ri , rj ) = |ri − rj | mit gij (s) = gji (s) ; gij > 0 abstoßende Wechselwirkung und gij < 0 anziehende Wechselwirkung.

46

Kapitel III. Mechanik

mi r i - rj ri mj rj

Beispiele f¨ ur Zentralkr¨ afte sind mi · mj (i) gij (s) := −G Gravitation mit Gravitationskonstante G ; s2 Qi · Qj Coulombsches Gesetz f¨ ur die elektrischen Ladungen Qi (ii) gij (s) := k s2 und Qj , k eine Konstante. PN PN F¨ ur den Gesamtimpuls p = i=1 pi der Summe der ¨außeren Kr¨afte f = i=1 fi gilt p˙ =

N X N X i=1

fij +

j=1 j6=i

=0+f

N X

fi =

i=1

N X X i=1

fij +

j i sei Gij (r) eine Stammfunktion von gij (r) . Wir definieren die potentielle Energie durch V := −

N X

Gij (|ri − rj |)

i,j=1 j>i

und die Gesamtenergie durch E =T +V . Aus (8.1) folgt dann E˙ = T˙ + V˙ = Pf . Die Gesamtenergie E h¨ angt nur von der Verrichtung der Arbeit der ¨außeren Kr¨afte ab: Energieerhaltung Als Spezialfall betrachten wir noch die Bewegung von Teilchen mi in einem Festk¨ orper mit Gitterstruktur; das heißt bei Abwesenheit von ¨außeren Kr¨aften sind alle Teilchenpositionen auf einem periodischen Gitter angeordnet. Zur Vereinfachung betrachten wir die eindimensionale Modellsituation:

l ……… x0

2)

x1

x i = (i-1) l

………

i=1,2,…,N

denn: N X N X

r˙ i · fij =

N X N X

r˙ i · fij +

N X N X

r˙ i · fij =

N X N X

r˙ i · fij +

N X N X

i=1 j=1

i=1 j=1

i=1 j=1

i=1 j=1

j=1 i=1

j6=i

j>i

ji

ii

ii

(r˙ i − r˙ j ) · fij .

r˙ j · fji

8. Punktmechanik

49

Wir nehmen an, dass die wirkenden Kr¨afte nicht zu groß sind und f¨ uhren anstelle der Positionen der Massenpunkte ri ihre Verschiebung ui := ri − xi gegen¨ uber der ein. Nach dem 2. Newtonschen Gesetz gilt dann: Ruhelage xi = ri (t) t=0 dui (t) = m−1 i pi (t) dt N

X ui (t) − uj (t) + (i − j)` dpi (t) = gij (|ui (t)−uj (t)+(i−j)`|)+fi (xi +ui (t), t). 3) dt |ui (t) − uj (t) + (i − j)`| j=0 Wir betrachten jetzt den Gleichgewichtsfall, welcher sich einstellen kann, falls fi nicht von der Zeit abh¨ angt. In diesem Fall stellt sich eine station¨are Situation ein, das heisst es muss gelten dpi (t) = 0 . dt Als Gleichgewichtsbedingung ergibt sich dann: N X ui − uj + (i − j)` gij (|ui − uj + (i − j)`|) + fi (xi + uj ) = 0 . |ui − uj + (i − j)`| j=0

Wenn die Verschiebungen klein sind im Vergleich zum Gitterabstand ` , so k¨onnen wir annehmen, dass |ui − uj + (i − j)`| ≈ |(i − j)`| ist. =⇒

N X ui − uj + (i − j)` gij (|(i − j)`|) + fi (xi + uj ) = 0 . |(i − j)`| j=0

Wir nehmen jetzt an, dass nur die unmittelbaren Nachbarn interagieren, das heißt gij (s) = 0 f¨ ur s > ` und, dass gi i−1 = gi i+1 =: g gilt.

i-1

3)

i

i+1

 = ri (t) − rj (t) . j)` denn: ui (t) − uj (t) + (i − j)` = ri (t) −  xi − rj (t) +  xj +  (i −

50 =⇒ =⇒

Kapitel III. Mechanik ui − ui−1 ui − ui+1 g+ g + fi (xi + ui ) = 0 ` ` `−2 (ui+1 − 2ui + ui−1 ) = g −1 l−1 fi (xi + ui ) .

Wenn keine Kr¨ afte fi vorliegen, so gilt f¨ ur die Verschiebungen `−2 (ui+1 (t) − 2ui (t) + ui−1 (t)) = 0 . Dies ist das diskrete Analogon zur Gleichgewichtsbedingung ∂xx u(t, x) = 0 im kontinuierlichen Fall. Die Gleichgewichtsbedingung beschreibt eine r¨aumliche Gleichverteilung der Massenpunkte.

¨ 9 Ubergang zur Kontinuumsmechanik Wir betrachten N Massenpunkte, welche sich nach den Newtonschen Bewegungsgleichungen verhalten, dass heisst es gilt  d mi ri (t) = pi (t) , dt d pi (t) = gij (|ri (t) − rj (t)|) + fi (t, ri (t)) . dt

(9.2) (9.3)

¨ Wir werden nun die Aquivalenz der beiden gew¨ohnlichen Differentialgleichungen der Punktmechanik zu den Erhaltungss¨atzen der Kontinuumsphysik zeigen. Hierzu ”mitteln” wir die Massen der N Massenpunkte mit Hilfe einer Kernfunktion, um so eine ”gemittelte Massendichte” zu jedem Zeitpunkt t > 0 definiert u ¨ber den Gesamtraum R3 zu erhalten. Als Mittelung verwenden wir die Gaußsche Normalverteilung x2 1 ψs (x) = √ e− 2s2 s 2π mit geeigneter Standardabweichung s > 0 . Diese Kernfunktion erf¨ ullt Z ψs (x)dx = 1 . R3

Es w¨ aren aber auch andere Kernfunktionen ψ denkbar, zum Beispiel eine glatte Funktion mit kompaktem Tr¨ ager. Die ”gemittelte Massendichte” definieren wir dann durch %s (t, x) :=

n X i=1

mi ψs (x − ri (t)) .

¨ 9. Ubergang zur Kontinuumsmechanik

51

Entsprechend definieren wir die ”gemittelte Impulsdichte” ps (t, x) :=

n X

pi (t)ψs (x − ri (t)) =

i=1

n X

mi

i=1

dri (t) ψs (x − ri (t)) . dt

Falls die gemittelte Masse %s (t, x) positiv ist, ist die ”gemittelte Geschwindigkeit” gegeben durch ps (t, x) vs (t, x) := . %s (t, x) Die Gleichungen der Punktmechanik gehen u ¨ber in Gleichungen f¨ ur die gemittelten Gr¨ oßen, und zwar in die Massenerhaltung (9.4) und die Impulserhaltung (9.5). Wie lauten nun diese Gleichungen ? Lemma 9.1. Es gilt die Massenerhaltung ∂t %s + div(ps ) = 0 Bemerkung. In einem Gebiet in dem %s (t, x) f¨ ur alle (t, x) positiv ist, gilt die Massenerhaltung in der folgenden Form ∂t %s + div(%s vs ) = 0

.

(9.4)

Beweis. Wir berechnen also  X X d dri ∂t %s (t, x) = mi (t) ψs (x − ri (t)) = − mi ∇ψs (x − ri (t)) dt dt i i  X X pi (t)ψs (x − ri (t)) =− pi (t)∇ψs (x − ri (t)) = −div i

i



= −div(ps (t, x)) .

Die Beziehung (9.4) ist eine partielle Differentialgleichung f¨ ur die gemittelten Gr¨ oßen und sagt aus, dass die Gesamtmasse erhalten bleibt. Die Massenerhaltung gilt hierbei auch einzeln f¨ ur jeden Massenpunkt i. Bei der Impulserhaltung ist dies nicht der Fall, da dort die Interaktion mit den umgebenden Massenpunkten j, j 6= i eine Rolle spielt. Analog zu Masse und Impuls k¨onnen wir die ¨außere Kraft fi mitteln und erhalten eine ”gemittelte Kraftdichte” f˜s (t, x) =

n X

fi (t, ri (t))ψs (x − ri (t)) .

i=1

Wir kommen zur Impulserhaltung und gehen dazu wie bei der Herleitung von (9.4) vor.

52

Kapitel III. Mechanik

Lemma 9.2. Es gilt die Impulserhaltung ˜ s ) = f˜s , ∂t ps + div(Π wobei ˜s : = Π

n X pi (t) ⊗ pi (t)

mi

i=1

+

ψs (x − ri (t))

Z 1 n 1 X gij (t)(ri (t) − rj (t)) ψs (x − (1 − s˜)ri (t) − s˜rj (t))d˜ s. 2 i,j=1 0

Bemerkung. In einem Gebiet in dem %s (t, x) f¨ ur alle (t, x) positiv ist, gilt die Impulserhaltung in der herk¨ ommlichen Form ∂t (%s vs ) + div(%s vs ⊗ vs ) = div σs + %s fs

,

(9.5)

wobei der ”Spannungstensor” σs und die spezifische Kraftdichte fs gegeben sind durch σs (t, x) : = −

n X (pi (t) − mi vs (t, x)) ⊗ (pi (t) − mi vs (t, x))

mi

i=1

+

ψs (x − ri (t))

Z 1 n 1 X gij (t)(ri (t) − rj (t)) ψs (x − (1 − s˜)ri (t) − s˜rj (t))d˜ s 2 i,j=1 0 n

fs (t, x) : =

X 1 fi (t, ri (t))ψs (x − ri (t)) . %s (t, x) i=1

Man sieht die mittleren inneren Wechselwirkungen bezeichnet man makroskopisch als Spannung. Darauf kommen wir sp¨ater nochmals zur¨ uck. Beweis. Wir bilden die Zeitableitung der gemittelten Impulsdichte p ∂t ps (t, x) =

X d X dri pi (t)ψs (x − ri (t)) − pi (t)∇ψs (x − ri (t)) (t) dt dt i i

und mit den Bewegungsgleichungen gilt f¨ ur den ersten Term X d pi (t)ψs (x − ri (t)) dt i X X = gij (t)ψs (x − ri (t)) + fi (t, ri (t))ψs (x − ri (t)). i,j

i

Da gij = −gji gilt, formen wir um X i,j

gij (t)ψs (x − ri (t)) =

 1X gij (t) ψs (x − ri (t)) − ψs (x − rj (t)) 2 i,j

(9.6)

10. Kontinuumsmechanik =

1X gij (t) 2 i,j

Z

1X

Z

53

1

 ∇ψs (1 − s˜)(x − ri (t)) + s˜(x − rj (t))

0

· ((x − ri (t)) − (x − rj (t)))d˜ s =

2

gij (t)

1

 ∇ψs x − (1 − s˜)ri (t) − s˜rj (t) · (ri (t) − rj (t))d˜ s

0

i,j

 X  Z 1  1 = div gij (t)(ri (t) − rj (t)) ψs x − (1 − s˜)ri (t) − s˜rj (t) d˜ s . 2 i,j 0 Weiter gilt f¨ ur den zweiten Term X dri (t) − pi (t)∇ψs (x − ri (t)) dt i n X  pi (t) ⊗ pi (t) ψs (x − ri (t)) mi i=1  = −div %s (t, x)vs (t, x) ⊗ vs (t, x)

= −div

+

n X (pi (t) − mi vs (t, x)) ⊗ (pi (t) − mi vs (t, x))

mi

i=1

 ψs (x − ri (t)) .

Hierbei ist x ⊗ y := (xi yj )ni,j=1 das Tensorprodukt der Vektoren x = (x1 , . . . , xn )t und y = (y1 , . . . , yn )t .  Es ist klar, dass die Entfernung der einzelnen Punkte klein gegen¨ uber s sein sollte. Gleichzeitig l¨ asst man s gegen Null konvergieren. Wenn man auf diese Art und Weise einen kontinuierlichen Limes erhalten will, sollte der essentielle Tr¨ager der Kernfunktion gen¨ ugend viele Massenpunkte enthalten. Mathematisch nennt man einen solchen Limes hydrodynamischen Grenz¨ ubergang.

10

Kontinuumsmechanik

In der Kontinuumsmechanik sind alle relevanten physikalischen Gr¨oßen auf einem Kontinuum erkl¨ art. Das bedeutet die mikroskopische Struktur der Materie wird vernachl¨ assigt. Das Hauptpostulat der Kontinuumsphysik ist die Erhaltungsgleichung. Diese besagt ¨ Die zeitliche Anderung einer gegebenen physikalischen Gr¨ oße in einem Gebiet

+

die u ¨ber den Rand des Gebietes zuoder abgef¨ uhrten Anteile der physikalischen Gr¨oße

=

die im Gebiet erzeugten oder vernichteten Anteile der physikalischen Gr¨oße.

54

Kapitel III. Mechanik

Mathematisch schreiben wir: Es gilt f¨ ur alle Testvolumina U mit U ⊂ Ω ⊂ R3 Z Z Z d ϕ(t, x)dx + ψ(t, x, ~n(x))dsx = r(t, x)dx. (10.7) dt U ∂U U Hierbei sind ϕ : R+ × Ω → R eine Dichte einer physikalische Gr¨oße, ψ : R+ × Ω × R3 → R der zur physikalischen Gr¨oße ϕ geh¨orige physikalische Fluss und r : R+ × Ω → R eine Reaktionsrate. Alle Gr¨oßen sind im Euklidischen Raum R+ ×Ω ⊂ R+ ×R3 gegeben. Als Testvolumina U sind nur Gaußgebiete zugelassen. Desweiteren haben wir angenommen, dass das Cauchy-Axiom gilt. Das Cauchy-Axiom: Der physikalische Fluss ist eine Funktion, welche von der ¨ außeren Normalen ~n abh¨ angt, das heisst ψ = ψ(t, x, ~n) . Wir definieren die zu ϕ geh¨orige Gesamtheit Φ(t, U ) im Testvolumen U f¨ ur alle Zeiten t > 0 durch Z Φ(t, U ) = ϕ(t, x)dx . U

¨ Somit gibt der erste Term in (10.7) die zeitliche Anderung der physikalischen Gr¨oße ¨ ϕ in der Region U an. Diese Anderung ist gleich dem was durch den Fluss ψ u ¨ber den Rand von U hinaus oder hineinfließt und dem was durch die Reaktionsrate r in U produziert oder vernichtet wird. Wir betrachten nun den Oberfl¨achenterm Z ψ(t, x, ~n)dsx . ∂U

Wir werden im n¨ achsten Satz zeigen, dass der physikalische Fluss linear vom Normalenvektor ~n abh¨ angt. Satz von Cauchy 10.1 (Existenz des Flussvektors). Es gelte das Cauchy-Axiom und die Funktionen ϕ, ψ und r seien hinreichend glatt. Dann gilt: ∀ x ∈ ∂U, t > 0

∃ ψ˜ = (ψ˜i )3i=1 : R+ × ∂U → R3 ˜ x) · ~n(x) = ψ(t, x, ~n(x)) = ψ(t,

3 X

mit ψ˜i (t, x)ni (x) .

i=1

Beweis. Grundlegend f¨ ur den Beweis ist die eingf¨ uhrte Erhaltungsgleichung (10.7). Wir definieren ψ˜ als  ˜ x) = ψ˜1 (t, x), ψ˜2 (t, x), ψ˜3 (t, x) ψ(t,

10. Kontinuumsmechanik

55

mit ψ˜i (t, x) := ψ(t, x, ~ei )

i = 1, 2, 3 .

3

F¨ ur ~n ∈ R , |~n| = 1 und nj > 0 betrachten wir das Tetraeder V ⊂ R3 mit den Seitenfl¨ achen Sj := ∂V ∩ {x ∈ R3 : xj = 0} und S = ∂V \ ∪3j=1 Sj , wobei ~n die Normale auf die Seitenfl¨ ache S ist

x3



n

x

x2

x1 Der Inhalt |Sj | der Seitenfl¨ ache Sj ist die Projektion von |S| auf nj |Sj | = |S|nj

(j = 1, 2, 3) .

Wir wenden jetzt die Erhaltungsgleichung (10.7) auf U ≡ V an. Mit Hilfe des Mittelwertsatzes der Integralrechnung k¨onnen wir schreiben 3  X |Sk |ψ(t, η (k) , −~ek ) + |S|ψ(t, η (0) , ~n) |V | ∂t ϕ(t, ξ) − r(t, ξ) = k=1

mit ”Zwischenwerten” ξ ∈ V, η (k) ∈ Sk und η (0) ∈ S . Der Grenz¨ ubergang |S| → 0 | |Sk | liefert |V → 0 und = n (siehe oben) und damit k |S| |S| 0=

3 X

ψ(t, x, −~ek )nk + ψ(t, x, ~n) .

k=1

Wir hatten ψ als hinreichend glatt vorausgesetzt. Folglich gilt nach dem Grenz¨ ubergang ~n → ~ej (j = 1, 2, 3) die Identit¨at ψ(t, x, −~ej ) = −ψ(t, x, ~ej ) . Dies besagt, dass in jedem Punkt x ∈ Ω ein Gleichgewicht herrscht. Man erh¨alt also insgesamt ψ(t, x, ~n(x)) =

3 X k=1

˜ x) · ~n(x) . ψ(t, x, ~ek )nk (x) = ψ(t,



56

Kapitel III. Mechanik Wir wenden den Satz von Cauchy 10.1 an ˜ x) · ~n(x) . ψ(t, x, ~n) = ψ(t,

und erhalten, eingesetzt in die Erhaltungsgleichung (10.7), d dt

Z

Z

˜ x) · ~n(x)dsx = ψ(t,

ϕ(t, x)dx + U

Z r(t, x)dx

∂U

.

(10.8)

U

Unter Benutzung des Gaußschen Satzes erhalten wir f¨ ur das Volumen U Z Z Z ˜ x))dx = ∂t ϕ(t, x)dx + div(ψ(t, r(t, x)dx . U

U

U

Diese Gleichung gilt nun f¨ ur jedes beliebige Testvolumen U , welches Teilmenge eines gegebenen Gebietes Ω ⊂ R3 ist. Das heisst es gilt folglich die differentielle Form der Erhaltungsgleichung ˜ x)) = r(t, x) ∂t ϕ(t, x) + div(ψ(t,

(t, x) ∈ R+ × Ω .

(10.9)

Wir m¨ ochten im Folgenden die drei g¨angisten Gleichungen der Kontinuumsmechanik herleiten. Das sind die Massenerhaltung, Impulserhaltung und Energieerhaltung. Massenerhaltung: Wir nehmen an es existiere eine Massendichte %, welche in einem Geschwindigkeitsfeld v transportiert wird. Der zur Massendichte geh¨orige Flussvektor ψ˜% enth¨alt den Anteil der Massendichte %, welcher mit dem Geschwindigkeitsfeld v u ¨ber den Rand eines Volumens U transportiert wird. Das heisst, es ist ψ˜% = %v + J ,

(10.10)

wobei J weitere Flussvektoren darstellen. Dies kann zum Beispiel die Diffusion sein. Eingesetzt in die Erhaltungsgleichung (10.9) bekommen wir ∂t % + div(%v + J) = r Gehen wir nun davon aus, dass keine Masse % im Testvolumen U produziert wird, dass heisst r% = 0 und das es keinen weiteren Massenfluss u ¨ber den Rand von U gibt, dass heisst J = 0, dann folgt die Massenerhaltung ∂t % + div(%v) = 0

.

Diese Gleichung wird auch (differentielle) Kontinuit¨atsgleichung genannt.

(10.11)

10. Kontinuumsmechanik

57

Das der Flussvektor ψ˜% auch nur die in (10.10) angegebene Form haben kann, folgt aus der Beobachterunabh¨angigkeit. Die Beobachterunabh¨angigkeit ist ein grundlegendes physikalisches Prinzip, welches wir in Kapitel 13 einf¨ uhren. Eine ausf¨ uhrliche Darstellung zu ψ˜% wird in [?] gegeben. Impulserhaltung: Die Impulsdichte ist definiert durch %v : R+ × Ω → R3 . Zu jedem i ∈ {1, 2, 3} gibt es einen Impulsfluß ψ˜v,i und eine Reaktionsrate rv,i . Der Impulsfluss ist gegeben durch ψ˜v,i = %vi v − σi . Der erste Summand ist ein Transportterm, welcher angibt wieviel Impulsdichte %vi im Geschwindigkeitsfeld v u ¨ber den Rand eines Testvolumens U transportiert wird. Der zweite Summand ist eine fl¨achenbezogene Kraftdichte σi : R+ × ∂U → R3 . Die Reaktionsrate rv,i ist gegeben durch rv,i = %fi , wobei f : U → R3 eine massenbezogene Kraftdichte darstellt. Eingesetzt in die Erhaltungsgleichung (10.9) ergibt    ∂t %vj + div %vj v = div σ j + %fj . (10.12) Bei div σ(t, x) handelt es sich um die ”Matrixdivergenz”, definiert durch div σ(t, x) =

!3 3 X ∂ σjk (t, x) ∂xk

k=1

.

j=1

Der Term σ ist der Spannungstensor. Er beschreibt die inneren Wechselwirkungskr¨ afte zwischen den Teilchen aus denen das Medium aufgebaut ist. Dies haben wir in Kapitel 9 bereits hergeleitet. Der Spannungstensor kann den Druck und die Viskosit¨ at enthalten. Im Unterschied dazu ist die massenbezogene Kraftdichte f eine ¨ außere Kraft, zum Beispiel die Gravitation. Lemma 10.2. Es gelte die Massenerhaltung (10.11). Die Impulserhaltung (10.12) ist ¨ aquivalent zu %∂t vj + %v · ∇vj − div σ

 j

= %fj

.

Beweis. Die Kontinuit¨ atsgleichung (10.11) eingesetzt in die Impulserhaltung (10.12) ergibt   −div(%v)vj + %∂t vj + div %vj v − div σ j = %fj .

58

Kapitel III. Mechanik

Da div(%vj v) = div(%v)vj + %v · ∇vj gilt, ergibt sich somit  %∂t vj + %v · ∇vj − div σ j = %fj . ¨ Obige Uberlegung funktioniert auch umgekehrt.



Energieerhaltung: Es sei e die Gesamtenergie eines Systems und ψ˜e und re , der zu e geh¨orige Flussvektor und Reaktionsterm. Die Gesamtenergie e setzt sich zusammen aus kinetischer Energie und innerer Energie 1 %|v|2 + %u . 2 Hier ist u die massenbezogene Dichte der inneren Energie, das heisst die spezifische innere Energie. Der Flussvektor ψ˜e enth¨alt denjenigen Teil der Energie, welcher mit der Geschwindigkeit v u ¨ber den Rand eines Testvolumens transportiert wird. Weiterhin sind die durch Oberfl¨achenkr¨afte zugef¨ uhrt Leistung −σ t v und der W¨ armefluss q enthalten. Somit ergibt sich e=

ψ˜e = ev − σ t v + q . Die Reaktionsrate re enth¨ alt die durch ¨außere Volumenkr¨afte zugef¨ uhrte Leistung %f · v und die zugef¨ uhrte Energie durch (¨außere) W¨armequellen %g. re = %f · v + %g . Die Funktion g ist eine massenbezogene Dichte von W¨armequellen. Eingesetzt in die Erhaltungsgleichung (10.9) ergibt sich der Energieerhaltungssatz   1  1   ∂t % |v|2 + u + div % |v|2 + u v − σ t v + q = %f · v + %g . (10.13) 2 2 Lemma 10.3. Es gelte die Massenerhaltung (10.11) und die Impulserhaltung (10.12). Die Energieerhaltung (10.13) ist ¨ aquivalent zu %∂t u + %v · ∇u − σ : Dv + div q − %g = 0

.

Hierbei ist 



∂x1 v1

∂x2 v1

∂x3 v1

 Dv :=  ∂x1 v2

∂x2 v2

 ∂x3 v2 

∂x1 v3

∂x2 v3

∂x3 v3

die Matrix der Ableitungen der Komponenten von v und A:B := das ”Skalarprodukt” der Matrizen A und B .

P3

j,k=1

ajk bjk

10. Kontinuumsmechanik

59

Beweis. Es ist −div(σ t v) = −divσ · v − σ : Dv . Weiter betrachten wir nur den kinetischen Anteil der Energie und erhalten mit der Massen- und Impulserhaltung ∂t

 1  1 %|v|2 + div %|v|2 v = ∂t %|v|2 + %v · ∂t v 2 2 2   1 + div(ρv)|v|2 + %(v · ∇)v · v 2   = %v · ∂t v + %(v · ∇)v · v

1

= divσ · v + %f · v . Weiter haben wir mit der Massenerhaltung  ∂t (%u) + div %uv = %∂t u + %v · ∇u . Setzen wir diese Identit¨ aten in (10.13) ein, dann erhalten wir die Behauptung und umgekehrt.  Wir fassen jetzt alle Gleichungen zusammen. Grundgleichungen der Kontinuumsmechanik: Kontinuit¨ atsgleichung:

∂t % + div(%v) = 0

Impulserhaltungsgleichung:

%∂t v + % (v · ∇)v − div σ = %f

Energieerhaltung:

%∂t u + %v · ∇u − σ : Dv + div q = %g .

Die Grundgleichungen der Kontinuumsmechanik gelten f¨ ur feste, fl¨ ussige und gasf¨ ormige K¨ orper, welche aus allen m¨oglichen Materialien bestehen k¨onnen. Um einen bestimmten K¨ orper aus einem bestimmten Material zu modellieren, treten zu den Grundgleichungen noch materialabh¨angige Beziehungen hinzu, sogenannte konstitutive Gleichungen. Es werden in der Kontinuumsphysik grunds¨atzlich zwei Richtungen unterschieden. Erstens: Bei Fl¨ ussigkeiten und Gasen sind die Ver¨anderlichen in den Erhaltungsgleichungen %, v und u, und es werden die Unbekannten σ, q, J, f und g in den konstitutive Gleichungen festlegt. Zweitens: Bei Festk¨orpern sind die Ver¨ anderlichen % und u, und es werden die Unbekannten σ, q, J, f , g und v in den konstitutive Gleichungen festlegt. Weiterhin wird eine neue Ver¨anderliche x gesucht, welche bestimmt wird durch v(t, x) := ∂t x(t, χ) mit x = x(t, χ). Es sind x die Euler Koordinaten und χ die Lagrange Koordinaten.

60

Kapitel III. Mechanik

11

Lagrange Koordinaten

Wir betrachten ein Gebiet Ω ⊂ R3 und nennen es die Referenzkonfiguration. Dies kann zum Beispiel die Menge aller m¨oglichen Anfangssituationen χ eines Partikels zur Zeit t = 0 sein. Der zeitliche Verlauf der Position χ ∈ Ω wird beschrieben durch eine Abbildung (z.B. die L¨ osung eines Anfangswertproblems mit Anfangswert χ) t 7→ x(t, χ ) mit t ∈ [0, ∞).

x(t,) x(t,.)  

(t)

Wir machen folgende Annahmen zur Abbildung x: (i) x(0, χ) = χ, (ii) (t, χ) 7→ x(t, χ) ist stetig differenzierbar , (iii) Ω 3 χ 7→ x(t, χ) = x ∈ x(t, Ω) ist invertierbar ∀ t ≥ 0 , (iv) Die Jacobi-Determinante J(t, χ) := det F (t, χ),

wobei

F (t, χ) := ∂χk xj

3 j,k=1

(t, χ)

ist f¨ ur alle t ≥ 0 positiv : J(t, χ) > 0 Die Bezeichnungen dinaten:

∀t ≥ 0 , ∀χ ∈ Ω .

χ beziehungsweise x beziehen sich auf zwei Typen von Koor-

• Materielle oder Lagrange Koordinaten χ: Ein fester Materiepunkt wird betrachtet und seine Bewegung in der Zeit t verfolgt. • Eulersche Koordinaten x = x(t, χ): Es wird ein fester Punkt im Raum betrachtet. Dabei wird verfolgt, welche Materiepunkte sich zu welchen Zeitpunkten t an dieser Stelle befinden. Wir bezeichnen die Beschreibung einer Variablen in Lagrange Koordinaten durch Großbuchstaben Φ(t, χ) und in Euler Koordinaten durch Kleinbuchstaben ϕ(t, x). Oder anders ausgedr¨ uckt

11. Lagrange Koordinaten

61

• Φ(t, χ) ist die Lage des Materiepunktes zur Zeit t, der in der Referenzkonfiguration an der Stelle χ war. • ϕ(t, x) beschreibt den Materiepunkt, der zur Zeit t an der Stelle x ist. Es gilt somit ϕ(t, x) = ϕ(t, x(t, χ)) = Φ(t, χ) . Mit der Kettenregel gilt ∂t ϕ(t, x(t, χ)) = ∂t Φ(t, χ) = ∂t ϕ(t, x(t, χ)) + ∇x ϕ(t, x(t, χ)) · ∂t x(t, χ) . Bezeichnung: • V (t, χ) := ∂t x(t, χ) Geschwindigkeit des Materiepunktes Koordinaten ;

χ in Lagrange

• v(t, x) := V (t, χ) Geschwindigkeit des Materiepunktes x in Euler Koordinaten. Definition 11.1. Dt ϕ(t, x) := ∂t ϕ(t, x) + ∇ϕ(t, x) · v(t, x) heißt materielle Ableitung von ϕ nach t . ¨ Sie beschreibt die Anderung der durch ϕ im Eulerschen Koordinatensystem definierten Gr¨ oßen f¨ ur einen festen Materiepunkt, der sich zum Zeitpunkt t an der Stelle x befindet und mit der Geschwindigkeit v(t, x) bewegt. Bezeichnung 11.2. • Bahnlinien sind L¨ osungen der Differentialgleichung y(t) ˙ = v(t, y(t)) . Sie geben an, welche Kurve ein Materiepunkt im Laufe der Zeit t durchl¨auft. • Stromlinien f¨ ur einen festen Zeitpunkt t sind L¨osungen der Differentialgleichung z 0 (s) := v(t, z(s)) . Sie beschreiben eine Momentaufnahme des Geschwindigkeitsfeldes zum Zeitpunkt t. Wir untersuchen die Verformung eines Gebietes mit Referenzkonfiguration Ω . Es sei Ω(t) := {x(t, χ) : χ ∈ Ω} das Gebiet zum Zeitpunkt t. F¨ ur die Volumen¨ anderung des Gebietes Ω(t) gilt Z Z |Ω(t)| = 1 dx = J(t, χ)dχ Ω(t)



62

Kapitel III. Mechanik

mit der Jacobi-Determinante J(t, χ). Wir beweisen jetzt die Eulersche Entwicklungsformel. Lemma 11.3 (Eulersche Entwicklungsformel). Die Abbildung (t, χ) 7→ x(t, χ) erf¨ ulle die Bedingung (i)–(iv), und (t, χ) 7→ ∂t x(t, χ) sei stetig differenzierbar. Dann gilt:  ∂t J(t, χ) = div v(t, x) J(t, χ) . x=x(t,χ)

Beweis. Es gilt nach Voraussetzung ∂t ∂χj x(t, χ) = ∂χj ∂t x(t, χ) = ∂χj V (t, χ) und weiter ∂χj Vi (t, χ) = ∂χj vi (t, x(t, χ)) =

3 X

∂xk vi (t, x(t, χ))∂χj xk (t, χ) .

k=1

Dann folgt ∂t J(t, χ) = ∂t

 X

sign π

X

sign π

π∈P3

∂χπ(j) xj (t, χ)



4)

j=1

π∈P3

=

3 Y

3 3 Y X i=1

∂χπ(j) xj (t, χ)∂t ∂χπ(i) xi (t, χ)

(Produktregel) .

j=1 j6=i

Dabei ist P3 die Menge der Permutationen von {1, 2, 3} . Weiter gilt ∂t ∂χπ(i) xi (t, χ) = ∂χπ(i) ∂t xi (t, χ) = ∂χπ(i) vi (t, x(t, χ)) =

3 X

∂xk vi (t, x(t, χ))∂χπ(i) xk (t, χ) .

k=1

=⇒

∂t J(t, χ) =

3 X 3 X i=1 k=1

∂xk vi

X

4)

Y

∂χπ(j) xj

j=1 j6=i

π∈P3

| mit

sign π ∂χπ(i) xk

{z  = det ∂χ x ˜i,k



 x1 (t, χ) x ˜i,k (t, χ) = xk (t, χ) ← i-te Komponente . x3 (t, χ) sign π = +1 f¨ ur π gerade Permutation von {1, 2, 3}, sign π = −1 f¨ ur π ungerade Permutation von {1, 2, 3} .

}

11. Lagrange Koordinaten

63

Es ist somit 

 det ∂χ x ˜i,k = δik J(t, χ) ,

δik :=

1 0

f¨ ur i = k , f¨ ur i = 6 k.

Daher folgt ∂t J(t, χ) =

3 X i=1

 J(t, χ) . ∂xi vi (t, x(t, χ))J(t, χ) = div v(t, x) x=x(t,χ)

Folgerung 11.4. F¨ ur das Volumen Z |Ω(t)| =

Z 1 dx =

Ω(t)

gilt



J(t, χ)dχ



Z ∂t |Ω(t)| =

div v(t, x)dx . Ω(t)

Satz 11.5 (Reynoldsches Transporttheorem). 5) Die Abbildung (t, χ) 7→ x(t, χ) erf¨ ulle die Bedingungen (i)–(iv) und die Funktionen (t, χ) 7→ ∂t x(t, χ) und (t, x) 7→ ϕ(t, x) seien stetig differenzierbar. Dann gilt Z Z   d ϕ(t, x)dx = ∂t ϕ(t, x) + div ϕ(t, x)v(t, x) dx dt Ω(t) Ω(t) Beweis. Z Z Z  d d d ϕ(t, x)dx = ϕ(t, x(t, χ))J(t, χ)dχ = ϕ(t, x(t, χ))J(t, χ) dχ , dt Ω(t) dt Ω Ω dt mit der Kettenregel und Lemma 11.3 Z h 3 X = ∂t ϕ(t, x(t, χ)) + ∂xk ϕ(t, x(t, χ))Vk (t, χ) Ω

k=1

 + ϕ(t, x(t, χ))div v(t, x) Z =

i x=x(t,χ)

J(t, χ) dχ

 ∂t ϕ(t, x) + div ϕ(t, x)v(t, x) dx

Ω(t)

x  ¨ Einfluß der Anderung der Gr¨ oße ϕ(t, x)

x  Z =

ϕ(t, x)v(t, x) · ~n(t, x)dsx

∂Ω(t)

¨ Anderungsrate durch die Verformung des Randes ∂Ω(t) von Ω(t)  5) Reynolds, Osborne: 1842-1912, britischer Physiker. Wesentliche Beitr¨ age in der Str¨ omungsmechanik und zum W¨ armetransport zwischen Festk¨ orpern und Fl¨ ussigkeiten.

64

12

Kapitel III. Mechanik

Drehimpulserhaltung

Die Drehimpulserhaltung ist keine zus¨atzlich den physikalischen Prozess bestimmende Erhaltungsgleichung. Sie stellt eine weitere Eigenschaft dar und liefert die Symmetrie des Spannungstensors σ. Damit geh¨ort sie inhaltlich zu den konstitutiven Gesetzen. Drehimpulserhaltung: Der Drehimpuls L einer Masse m an der Position x bez¨ uglich des Drehpunktes x(0) und der Geschwindigkeit v ist L = (x − x(0) ) × (mv) . Bei einer am Massenpunkt angreifenden Kraft F ist das Drehmoment M = (x − x(0) ) × F . Die Erhaltung des Drehmomentes besagt d L(t) = M (t) , dt oder auf die Kontinuumsmechanik u ¨bertragen: Z Z Z d (0) (0) (x − x ) × (%v) dx = (x − x ) × (%f ) dx + (x − x(0) ) × (σ · ~n)dsx dt Ω(t) Ω(t) ∂Ω(t) x x x       von den Volumenkr¨aften bewirktes Drehmoment

zeitliche Ver¨ anderung des Drehimpulses des Gebietes Ω(t)

von den Oberfl¨achenkr¨aften bewirktes Drehmoment .

Notation: Seien a, b ∈ R3 . (a × b)i =

3 X

εijk aj bk

j,k=1

mit εijk

  1 −1 :=  0

f¨ ur gerade Permutation {i, j, k} von {1, 2, 3}, f¨ ur ungerade Permutation {i, j, k} von {1, 2, 3}, sonst.

Wir wollen das Reynoldsche Transporttheorem auf Z d (x − x(0) ) × (%v) dx dt Ω(t)

12. Drehimpulserhaltung

65

anwenden. Dazu f¨ uhren wir zun¨achst folgende Nebenrechnung durch 3 X   (0) div ((x − x(0) ) × %v)i v = ∂xj εikl (xk − xk )% v` vj j,k,`=1

(Produktregel) =

3 X

εikl δjk % v` vj +

j,k,`=1

3 X

(0)

εikl (xk − xk )∂xj (% v` vj )

j,k,`=1

 = (x − x(0) ) × 



3 X

∂xj (% vj v) (h¨angt nicht von i ab !) .

j=1

Auf ϕ(t, x) := (x − x(0) ) × (%v) wird jetzt das Reynoldsche Transporttheorem angewandt d dt

Z (x − x

(0)

Z ) × (%v) dx =

Ω(t)

(x − x

(0)

 ) × ∂t (%v) +

Ω(t)

3 X

 ∂xj (% vj v) dx .

j=1

Zusammen ergibt das den Drehimpulserhaltungssatz   3 X (x − x(0) ) × ∂t (%v) + ∂xj (% vj v) dx

Z

Ω(t)

j=1

Z (x − x

=

(0)

. Z

) × (%f ) dx +

(x − x

Ω(t)

(0)

) × (σ · ~n) dsx

∂Ω(t)

Eine wichtige Konsequenz aus der Drehimpulserhaltung ist Satz 12.1. Unter den Voraussetzungen des Satzes von Cauchy 10.1, der Impulsund Drehimpulserhaltung ist der Spannungstensor σ symmetrisch; das heisst σjk = σkj f¨ ur j, k = 1, 2, 3 . Beweis. Sei a ∈ R3 beliebig. Mit der Drehimpulserhaltung gilt dann Z a·

(x − x Ω(t)

(0)

  3 X ) × ∂t (%v) + ∂xj (% vj v) dx j=1

Z =a· Ω(t)

(x − x(0) ) × (%f ) dx + a ·

Z

(x − x(0) ) × (σ · ~n) dsx .

∂Ω(t)

Mit der Regel a · (b × c) = (a × b) · c und dem Gaußschen Satz k¨onnen wir den zweiten Summanden der rechten Seite auswerten Z a· (x − x(0) ) × (σ · ~n) dsx ∂Ω(t)

66

Kapitel III. Mechanik Z

 a × (x − x(0) ) · (σ · ~n) dsx

= ∂Ω(t)

3 X

Z =

 ∂xj (a × (x − x(0) ))i σij dx

Ω(t) i,j=1



Z = Ω(t)

 3 X   a × (x − x(0) ) · div σ + ∂xj a × (x − x(0) ) i σij dx . i,j=1

Zusammengefaßt:   Z (0) a × (x − x ) · ∂t (%v) + div (%vv` )`=1,2,3 − %f − div σ dx Ω(t) {z } | = 0 (Impulserhaltung!) Z 3 X  = ∂xj a × (x − x0 ) i σij dx . Ω(t) i,j=1

3 X

=⇒

 ∂xj a × (x − x0 ) i σij = 0 .

i,j=1

Setze a := e1 . 

=⇒

=⇒

 0  (0)  e1 × (x − x(0) ) =  −(x3 − x3 )  (0) (x2 − x2 ) 3 X

 ∂xj a × (x − x0 ) i σij = −σ23 + σ32 = 0

und somit

σ32 = σ23 .

i,j=1

Durch a := e2 beziehungsweise a := e3 erh¨alt man σ13 = σ31 beziehungsweise σ12 = σ21 . 

13

Beobachterunabh¨angigkeit

Unterschiedliche Beobachter werden die Bewegung eines K¨orpers unterschiedlich wahrnehmen: Ein Beobachter, der auf dem K¨orper sitzt, wird ihn als ruhend empfinden, w¨ ahrend ein anderer ihn als in Bewegung wahrnimmt. Zwei Beobachter unterscheiden sich durch eine Translation und eine Drehung. Wie werden dabei die Variablen und die Gleichungen der Kontinuumsmechanik transformiert?

13. Beobachterunabh¨ angigkeit

67

Sei die Bewegung eines K¨ orpers A durch die Abbildung (t, A) 7→ x(t, A) gegeben. Definition 13.1. Es gehe x∗ durch einen Beobachterwechsel aus x hervor, falls x∗ (t, A) = α(t) + Q(t)(x(t, A) − ϑ)

(ϑ - Ursprung)

mit einer Translation α : [0, ∞) → R3 und einer Drehung Q : [0, ∞) → L(R3 , R3 ), wobei Qt Q = id und det Q = 1 gilt. Wir nehmen an, dass α und Q glatte Funktionen sind. Wir setzen F (t, x) := α(t) + Q(t)(x − ϑ) . Dann folgt x∗ (t, A) = F (t, x(t, A)) . Im Diagramm sehen wir die Zusammenh¨ange:

x *(,t)

R * (t)

R(0)

x *  Koordinaten

x (,t ) F ( , t )

R(t)

x  Koordinaten F¨ ur die Ableitung D(·) erhalten wir DA x∗ = Dx F DA x = Q DA x , ∗



v (t, x (t, A)) = ∂t x∗ (t, A) = ∂t α(t) + ∂t Q(t)(x(t, A) − ϑ) + Q(t)v(t, x(t, A)) ,

68

Kapitel III. Mechanik ~n∗ = Q~n , Dx∗ v ∗ = ∂t Q Dx∗ (x − ϑ) + Q Dx∗ v | {z } {z } | = Qt

= Dx v Dx∗ x = Dx v Qt

Dx∗ v ∗ = ∂t Q Qt + Q Dx v Qt .

(13.14)

Wir nennen eine skalare Gr¨ oße ϕ (z.B. Temperatur θ), einen Vektoren b (z.B. W¨ armefluss q) oder einen Tensoren τ (z.B. Spannungstensor σ) beobachterunabh¨ angig, falls bei einem Beobachterwechsel gilt ϕ(t, x) = ϕ∗ (t, x∗ ) = ϕ∗ (t, α(t) + Q(t)(x − ϑ)) , b(t, x) = Qt (t) b∗ (t, x∗ ) = Qt (t) b∗ (t, α(t) + Q(t)(x − ϑ)) , τ (t, x) = Qt (t) τ ∗ (t, x∗ ) Q(t) = Qt (t) τ ∗ (t, α(t) + Q(t)(x − ϑ)) Q(t) . Wir haben oben gesehen, dass v nicht beobachterunabh¨angig ist. Wie ist der Zusammenhang von σ und σ ∗ ? Wir setzen voraus, dass der Vektor b aus dem Satz von Cauchy 10.1 beobachterunabh¨angig ist. Nach dem Satz von Cauchy 10.1 gilt dann σ ∗ (t, x∗ )~n∗ = b∗ (t, ~n∗ , x∗ ) = Q(t) b(t, ~n, x) = Q(t) σ(t, x)~n . Wegen (s.o) ~n∗ = Q~n (oder Qt~n∗ = ~n) folgt σ ∗ (t, x∗ )~n∗ = Q(t) σ(t, x) Qt (t)~n∗ . Also ist σ ∗ = QσQt

.

(13.15)

Das heisst, der Spannungstensor σ ist beobachterunabh¨angig. Die Forderung nach Beobachterunabh¨angigkeit hat Konsequenzen auf die Struktur der Gr¨ oßen. Beispiel 13.2.

(i) F¨ ur ein System gelte das konstitutive Gesetz σ=σ ˆ (%, θ) ,

das heisst der Spannungstensor sei nur von % und θ abh¨angig. Die Gr¨oßen θ und % seien beobachterunabh¨angig. Dann folgt notwendigerweise σ = −ˆ p(%, θ)id .

13. Beobachterunabh¨ angigkeit

69

Beweis. Sei (%, θ) fest gew¨ahlt. Nach Satz 12.1 ist σ symmetrisch. Dann existiert eine orthogonale Matrix Q und eine Diagonalmatrix Diag mit σ ˆ (%, θ) = Qt Diag Q. Nehme dieses Q in der Beziehung (13.15). Dann folgt σ = Qt σ ∗ Q ⇒

Qt Diag Q = σ ˆ (%, θ) = Qt σ ˆ (%∗ , θ∗ )Q = Qt σ ˆ (%, θ)Q .

Somit gilt ⇒

σ ˆ (%, θ) = Diag .

Wir w¨ ahlen nun nacheinander in der Beziehung (13.15):       0 0 1 1 0 0 0 1 0 0 1 . Q =  −1 0 0  ,  0 1 0  ,  0 −1 0 0 0 −1 0 0 0 1 F¨ ur diese Matrizen gilt jeweils Qt Q = id und det Q = 1. Somit folgt aus der Beziehung (13.15), dass alle Diagonalelemente gleich sein m¨ ussen. ⇒

σ = −ˆ p(%, θ)id.



(ii) F¨ ur ein System gelte das konstitutive Gesetz q = qˆ(%, θ, ∇θ) . Es gilt mit der Kettenregel Dx∗ θ∗ = Dx θ Qt



∇x∗ θ∗ = Q∇x θ .

6)

Wegen der Forderung nach Beobachterunabh¨angigkeit muss gelten qˆ∗ = Qq . Dann

qˆ(%∗ , θ∗ , ∇θ∗ ) = Q qˆ(%, θ, ∇θ) ⇒

qˆ(%, θ, Q∇θ) = Q qˆ(%, θ, ∇θ) .

Da der Term ∇θ beliebig ist, folgt die Forderung qˆ(%, θ, QX) = Q qˆ(%, θ, X) f¨ ur alle %, θ, X und alle Rotationen Q. Nun gilt aber der folgende Satz 6) Dx∗ ist das totale Differential. Somit ist Dx∗ θ∗ eine lineare Abbildung, welche durch einen Zeilenvektor repr¨ asentiert wird. ∇x∗ θ∗ ist die Darstellung des Differential bez¨ uglich eines Skalarproduktes. Es gilt (Dx∗ )t = ∇x∗ θ∗ .

70

Kapitel III. Mechanik Satz 13.3. Alle konstitutiven Gesetze, die der Forderung qˆ(%, θ, QX) = Q qˆ(%, θ, X) gen¨ ugen, lassen sich auf die Form qˆ(%, θ, X) = −χ(%, ˆ θ, |X|)X bringen (Verallgemeinertes Fourier Gesetz!). Beweis. Wir k¨ ummern uns nicht um die explizite Abh¨angigkeit des W¨armeflußes q von % und θ. Wir zeigen zuerst, dass qˆ(X) und X zueinander parallel sind. Angenommen es ist qˆ(X) ∦ X. O.B.d.A. qˆ(e1 ) ∦ e1 mit e1 = (1, 0, 0)t . Betrachte nun die spezielle Drehung   0 − sin ϑ − cos ϑ ˜ := 0 cos ϑ − sin ϑ  . Q 1 0 0 ˜ 1 = e3 = (0, 0, 1)t . Das Prinzip der Beobachterunabh¨angigkeit Es ist Qe ˜ dass besagt f¨ ur alle Drehungen Q, insbesondere auch f¨ ur Q, ˜ 1 ) = Qˆ ˜ q (e1 ) qˆ(e3 ) = qˆ(Qe ˜ q (e1 ) parallel zu qˆ(e3 ). Das kann im Allgemeinen aber nur gilt. Somit ist Qˆ der Fall sein, falls qˆ(e1 ) k e1 gilt. Das ist ein Widerspruch zur Annahme. Es l¨ aßt sich qˆ also in folgender Form schreiben qˆ(X) = α(X)X f¨ ur eine Funktion α : R3 7→ R. Die Beobachterunabh¨angigkeit impliziert α(QX)QX = α(X)QX ⇒

α(QX) = α(X)

f¨ ur alle X ∈ R3 und alle Drehungen Q. Die Vektoren α(X)X und α(QX)X haben also gleiche L¨ ange, dass heisst es muss eine Funktion χ(|X|) ˆ geben mit α(X) = −χ(|X|) ˆ .



Wir betrachten jetzt konstitutive Gesetze f¨ ur viskose Fl¨ ussigkeiten, das heisst Fl¨ ussigkeiten mit innerer Reibung. Diese innere Reibung wird duch Geschwindigkeitsvariationen verursacht. Wir machen den Ansatz σ=σ ˆ (%, θ, Dv)

(13.16)

13. Beobachterunabh¨ angigkeit

71

und fragen nach solchen Gesetzen (13.16), welche beobachterinvariant sind. Also f¨ ur welche gilt σ ∗ = QσQt . Ausf¨ uhrlicher geschrieben fordern wir, dass σ ∗ (%∗ , θ∗ , Dx∗ v ∗ ) = Qˆ σ (%, θ, Dx v)Qt . Mit Rechnung (13.14) ist  σ ∗ %, θ, ∂t Q Qt + QDx vQt = Qˆ σ (%, θ, Dx v)Qt . O.B.dA. durch Unterdr¨ uckung der Variablen %, θ und da der Term Dx v beliebig, fordern wir  σ ∗ ∂t Q Qt + QDQt = Qˆ σ (D)Qt ∀D ∈ R3×3 . (13.17) Lemma 13.4. Es gilt f¨ ur D ∈ R3×3  1 (D + Dt ) . σ ˆ (D) = σ ˆ |2 {z } symmetrischer Anteil von D! Beweis. Sei W eine schiefsymmetrische Matrix (wij = −wji ). Somit W + W t = 0. Setze Q(t) := e−tW . Dann Q · Qt = e−tW e−tW

t

= e−t(W +W

t

)

= id

und (det Q)2 = det(QQt ) = 1 , det(Q(0)) = det(id) = 1 . So ist det(Q(t)) = 1 f¨ ur alle t ∈ R. Das heisst, Q ist eine Drehung. Weiter gilt ∂t Q(t) = −W e−tW und Q(0) = id,

∂t Q(t)|t=0 = −W .

Dann mit (13.17)  t  t t σ ˆ −W e−tW e−tW + e−tW D e−tW = e−tW σ ˆ (D) e−tW . F¨ ur t = 0 ist σ ˆ (−W + D) = σ ˆ (D) .

72

Kapitel III. Mechanik

Setze W := dann

 σ ˆ

 1 D − Dt , 2

 1 D + Dt 2

 =σ ˆ (D) .



Der Spannungstensor σ ˆ h¨ angt also nur vom symmetrischen Anteil von D ab. Diese Abh¨ angigkeit ist von ganz spezieller Gestalt, wie das Theorem von RivlinEricksen zeigt. Satz 13.5 (Rivlin-Ericksen-Theorem).   Eine Abbildung σ ˆ : M ∈ R3×3 M = M t , det M > 0 → N ∈ R3×3 N = N t besitzt die Eigenschaft σ ˆ (QM Qt ) = Qˆ σ (M )Qt

f¨ ur alle Drehungen Q (Beobachterinvarianz !) ⇐⇒

σ ˆ (M ) = a0 (iM )id + a1 (iM )M + a2 (iM )M 2 . Dabei sind a0 , a1 , a2 Funktionen der Grundinvarianten  iM = i1 (M ), i2 (M ), i3 (M ) der Matrix M i1 (M ) := λ1 + λ2 + λ3 i2 (M ) := λ1 λ2 + λ1 λ3 + λ2 λ3 i3 (M ) := λ1 λ2 λ3 mit λ1 , λ2 , λ3 die Eigenwerte von M . Beweis. “⇐”: Da Q Drehmatrix, so hat QM Qt die gleichen Grundinvarianten wie M. Es gilt Vor.

Qˆ σ (M )Qt = Q(a0 id + a1 M + a2 M 2 )Qt = a0 id + a1 QM Qt + a2 QM M Qt Vor.

= a0 id + a1 QM Qt + a2 QM Qt QM Qt = σ ˆ (QM Qt ) . “⇒”: Sei M ∈ R3×3 eine symmetrische Matrix, das heisst es gilt M = QΛQt mit einer Orthogonalmatrix Q und   λ1 0 0 Λ =  0 λ2 0  . 0 0 λ3

13. Beobachterunabh¨ angigkeit

73

Wenn die Implikation “⇒” f¨ ur Diagonalmatrizen Λ gilt, so gilt sie auch f¨ ur jede symmetrische Matrix M . Denn es ist σ ˆ (M ) = σ ˆ (QΛQt ) = Qˆ σ (Λ)Qt

nach Voraussetzung 2

t

= Q(a0 (iΛ )id + a1 (iΛ )Λ + a2 (iΛ )Λ )Q

nach Annahme t

t

= a0 (iΛ )id + a1 (iΛ )QΛQ + a2 (iΛ )QΛΛQ | {z } = QΛQt QΛQt = M 2 = a0 (iM )id + a1 (iM )M + a2 (iM )M 2 . Es reicht also aus die Implikation f¨ ur Diagonalmatrizen zu beweisen. Sei M eine Diagonalmatrix mit   λ1 0 0 M =  0 λ2 0  , 0 0 λ3 wobei λj ∈ R und sei λ := (λ1 , λ2 , λ3 ). Wir zeigen, dass σ ˆ (M ) wieder eine Diagonalmatrix ist. F¨ ur die Matrix   1 0 0 0  Q =  0 −1 0 0 −1 gilt Qt = Q, Qt Q = id und det Q = 1. Das heisst, Q ist eine Drehung. Wir k¨onnen nun rechnen ˆ (M )Qe1 = Qˆ σ (Qt M Q)e1 = Qˆ σ (M )e1 . σ ˆ (M )e1 =QQt σ |{z} |{z} = id = e1 - Vorauss. und Q = Qt

(13.18)

Damit ist σ ˆ (M )e1 Eigenvektor von Q zum Eigenwert 1. Der Eigenraum zu diesem Eigenwert wird von e1 erzeugt. Denn aus (13.18) und der speziellen Gestalt von Q folgt, es existiert eine Funktion t1 mit σ ˆ (M )e1 = t1 (λ)e1 . Analog zeigt man σ ˆ (M )ej = tj (λ)ej ,

j = 2, 3 .

Dann gilt insgesamt   t1 (λ1 ) 0 0 t2 (λ2 ) 0 . σ ˆ (M ) =  0 0 0 t3 (λ3 )

(13.19)

Wir zeigen weiter, vertauscht man die Nummerierung der Eigenwerte, so vertauschen sich entsprechend die tj . Also gilt tπ(j) (λπ(1) , λπ(2) , λπ(3) ) = tj (λ1 , λ2 , λ3 )

74

Kapitel III. Mechanik

f¨ ur jede Permutation π der Zahlen {1, 2, 3}. ( z.B. sei π(1) = 2, π(2) = 1, π(3) = 3 ⇒

!

t2 (λ2 , λ1 , λ3 ) = t1 (λ1 , λ2 , λ3 )

) usw.

(13.20)

Es reicht aus, diese Aussage f¨ ur die Elementarpermutationen nachzuweisen. Wir zeigen, dass das Beispiel (13.20) gilt. Betrachte hierzu die spezielle Drehmatrix   0 1 0 0 . Q :=  1 0 0 0 −1 Dann gilt elementar 

λ2 0 0 Somit  λ2 σ ˆ  0 0

0 λ1 0

0 λ1 0

 0 0  = QM Qt . λ3

 0  0  = σ ˆ QM Qt λ3 Vor.

= Qˆ σ (M )Qt     t2 (λ) 0 0 t1 (λ) 0 0 (13.19) t1 (λ) 0 . t2 (λ) 0  Qt =  0 = Q 0 0 0 t3 (λ) 0 0 t3 (λ) Wir zeigen jetzt σ ˆ (M ) = a0 (iM )id + a1 (iM )M + a2 (iM )M 2 f¨ ur geeignete Funktionen a0 , a1 , a2 . Da M eine Diagonalmatrix ist, ist das ¨aquivalent zu dem Gleichungssystem tj (λ) = a0 (λ) + a1 (λ)λj + a2 (λ)λ2j

(j = 1, 2, 3) .

(13.21)

Dabei ist tj (λ) bekannt. Wir unterscheiden nun drei F¨alle: 1. Fall: Alle Eigenwerte λ1 , λ2 , λ3 sind verschieden. Dann besitzt das Gleichungssystem (13.21) eine eindeutig bestimmte L¨osung a0 , a1 , a2 . 2. Fall: λ1 = λ2 6= λ3 s.o.



s.o.

t1 (λ) = t1 (λ1 , λ2 , λ3 ) = t2 (λ2 , λ1 , λ3 ) = t2 (λ1 , λ2 , λ3 ) = t2 (λ) .

14. Konstitutive Gleichungen

75

Setze in (13.21) a2 = 0 und bestimme a1 und a0 aus tj (λ) = a0 (λ) + a1 (λ)λj

(j = 1, 3) .

3. Fall: λ1 = λ2 = λ3 Dann gilt t1 (λ) = t2 (λ) = t3 (λ) . Somit σ ˆ (M ) = a0 (λ)id mit a0 (λ) = t1 (λ).



Bemerkung 13.6. Sei σ ˆ beobachterunabh¨angig und linear, so h¨angt σ ˆ nur von zwei Parametern ab. Es gilt σ ˆ (M ) = 2µM + λ spurM id mit µ =Scherviskosit¨ at, λ =Volumenviskosit¨at. Ein solches Fluid heißt Newtonisch.

14

Konstitutive Gleichungen

Die konstitutiven Gesetze sind Beziehungen, die meist auf experimentellen Beobachtungen beruhen. Sie setzen einige der in den Grundgleichungen auftretenden Variablen zueinander in Beziehung, so dass ein geschlossenes System entsteht. Die unbestimmten Gr¨ oßen in den Grundgleichungen sind • der Spannungstensor σ ; • der W¨ armefluß q ; • thermodynamische Zustandsgleichung F (T, %, p) = 0

(T = Temperatur, % = Dichte, p = Druck) ;

• innere Energie u = u(T, %, c1 , . . . , cM ) . Einige Beispiele von konstitutiven Gesetzen: • Das Fouriergesetz der W¨ armeleitung: q = −κ∇T . Die W¨ armeleitf¨ ahigkeit κ ist positiv. Das Gesetz besagt, W¨arme fließt von Bereichen hoher Temperatur in Bereiche niederer Temperatur; denn −∇T weist in Richtung des st¨ arksten Abfalls der Temperatur. Der Term κ kann von verschiedenen Gr¨ oßen, zum Beispiel von der Temperatur T selbst, abh¨ angen. Es kann eine skalare Gr¨oße oder eine Matrix sein. • Spannungstensor bei reibungsfreier Str¨omung: Wegen der Reibungsfreiheit der Str¨omung k¨onnen nur Druckkr¨afte u ¨bertragen werden; das heisst σ = −p id (id = Einheitsmatrix) .

76

Kapitel III. Mechanik • Viskose Str¨ omungen mit innerer Reibung: Eine genaue Analyse, die wir hier nicht mehr durchf¨ uhren wollen, ergibt σ = µ ε(v) + λ div v id − p id , wobei

1 ε(v) := 2



∂vi ∂vj + ∂xj ∂xi

 i=1,2,3

der Verschiebungstensor, µ die Scherviskosit¨at und λ die Volumenviskosit¨at sind. Mit Hilfe solcher konstitutiven Gesetze gewinnt man die Prozeßgleichung aus den Grundgleichungen der Kontinuumsmechanik. Beispiel 14.1 (W¨ armeleitungsgleichung). Wir betrachten den W¨ armediffusionsprozeß ohne Str¨omung (v = 0), und es ist % = konstant und bekannt. In der Energieerhaltungsgleichung ist u die massenspezifische Dichte der inneren Energie. Dann folgt aus der Thermodynamik ∂t u = cP (T )∂t T , mit cP (T ) die spezifische W¨ armekapazit¨at bei konstantem Volumen V . Aus der Energieerhaltung folgt:

=⇒

%∂t u + div q = %g  % cP (T )∂t T − div(κ∇T ) = %g ,

Fourier– gesetz

oder f¨ ur konstante Parameter und entdimensionalisiert: ∂t T − 4T = g

15

(W¨armeleitungsgleichung !) .

Aufgaben

Aufgabe 15.1 (Massenpunkt im Potentialfeld). Ein Massenpunkt mit konstanter Masse m bewege sich in einem Kraftfeld F , welches durch ein Skalarpotential Ψ definiert wird. Es ist F = −m∇Ψ . Sei v die Geschwindigkeit des Massenpunktes. Zeigen Sie, dass v2 + Ψ = konstant 2 gilt. Das heisst, die Summe aus kinetischer und potentieller Energie ist konstant.

15. Aufgaben

77

Aufgabe 15.2 (Wirbeldichte von Str¨omungen). Die Wirbeldichte eines Geschwindigkeitsfeldes v sei definiert durch rot v = ∇ × v . Zeigen Sie, dass  v2 

− v × rot v . 2 Aufgabe 15.3. Zeigen Sie, dass f¨ ur allgemeine Materialien, f¨ ur welche (v · ∇)v = ∇

div v = 0 erf¨ ullt ist, die Massendichte ρ nur entlang der Bahnlinien y(t) konstant bleibt, nicht aber im ganzen Raum. Aufgabe 15.4. Wir betrachten auf einem einfach zusammenh¨angenden Gebiet eine ebene, homogene, station¨ are Str¨omung v mit div v = 0 ,

rot v = 0 .

Zeige, dass ein Geschwindigkeitspotential Φ existiert, so dass v = ∇Φ . Aufgabe 15.5. Wir betrachten sechs Parameter, welche in einem typischen W¨armeleitungs- und Str¨ omungsproblem auftreten: ` typische L¨ ange, [`] = L ; v typische Geschwindigkeit [v] = L/T ; % Dichte, [%] = M/L3 ; κ W¨ armeleitkoeffizient, [κ] = LM/(T 3 K) ; c spezifische W¨ armekapazit¨ at, [c] = L2 /(T 2 K) ; µ Viskosit¨ at, [µ] = M/(LT ) , hierbei ist K die abstarkte Dimension der absoluten Temperatur θ . 1. Zeigen Sie, dass sich folgende drei dimensionslosen Parameter aus obigen dimensionsbehafteten Parametern ergeben: Re =

%v` , µ

Pr =

µc , κ

Pe = Re · Pr =

%v`c . k

Hierbei ist Re die Reynolds-Zahl, Pr die Prandtl-Zahl und Pe die Peclet-Zahl. 2. Die Peclet-Zahl kann interpretiert werden als τDiffusion Pe = , τDrift wobei τDiffusion eine typische Zeitskala der Diffusion und τDrift eine typische Zeitskala des Driftes ist.

78

Kapitel III. Mechanik

Kapitel IV

Str¨ omungen 16

Die Grundgleichungen

Wir werden uns jetzt mit der Modellierung von Str¨omungen und insbesondere mit der Umstr¨ omung von K¨ orpern befassen. Dazu betrachten wir die Kontinuit¨ atsgleichung (Massenerhaltung) ∂t % + div (%v) = 0 und die Impulserhaltungsgleichung %∂t v + %(v · ∇)v − div σ = %f . Zur Vereinfachung werde angenommen, dass % ≡ %0 im ganzen Gebiet Ω konstant ist, der Spannungstensor σ nicht von der Temperatur θ abh¨angt und keine ¨außeren Kr¨ afte vorliegen f = 0. Wir unterscheiden zwei F¨ alle (A) Reibungsfreie Str¨ omungen: σ = −p id und (B) Str¨ omungen mit Reibung (viskose Str¨omungen): σ = µε(v) + λdiv v id − p id. Hierbei ist ε(v) :=

 1 ∂xj vi + ∂xi vj i,j=1,2,3 2

80

Kapitel IV. Str¨omungen

der Verschiebungstensor, µ ist die Scherviskosit¨at und λ die Volumenviskosit¨at. Es sei Ω ein festes Gebiet, in dem sich die Fl¨ ussigkeit befindet. (A) Reibungsfreie Str¨ omungen (z.B. Gase): Aus der Kontinuit¨ ats - und Impulserhaltungsgleichung, sowie den Annahmen, folgen die Gleichungen %0 (∂t v + (v · ∇)v) = −∇p , div v = 0 . Das sind die inkompressiblen Eulergleichungen 1) f¨ ur die Geschwindigkeit v : [0, ∞) × Ω → R3 und den Druck p : [0, ∞) × Ω → R in einer reibungsfreien Str¨ omung mit konstanter Dichte %0 und ohne Einwirkung ¨ außerer Kr¨ afte. Die Str¨omung wird noch bestimmt durch die Anfangsbedingungen v(0, x) = v0 (x)

∀x ∈ Ω ,

und die Randbedingungen v · ~n = 0

∀ x ∈ ∂Ω, ∀ t > 0 .

Die Randbedingungen sagen aus, dass das Medium das Gebiet Ω nicht verlassen kann. Es sind nat¨ urlich auch andere Randbedingungen m¨oglich. (B) Str¨ omungen mit innerer Reibung: Wegen div v = 0 lautet der Spannungstensor σ = µε(v) − p id. Wir betrachten div(ε(v)) beispielhaft f¨ ur die erste Zeile   ∂x1 v1 + ∂x1 v1   div  ∂x2 v1 + ∂x1 v2  ∂x3 v1 + ∂x1 v3 = ∂x1 x1 v1 + ∂x1 x1 v1 + ∂x2 x2 v1 + ∂x1 x2 v2 + ∂x3 x3 v1 + ∂x1 x3 v3 = 4v1 + ∂x1 div v = 4v1 . 1)

Euler, Leonhard: 1707-1783, Mathematiker.

16. Die Grundgleichungen

81

Analog folgt 

 4v1 div(ε(v)) =  4v2  = 4v . 4v3 F¨ ur Str¨ omungen mit innerer Reibung gelten also die inkompressiblen NavierStokes Gleichungen 2) 3) %0 (∂t v + (v · ∇)v) = −∇p + µ 4v , div v = 0 . Hierbei ist µ die dynamische Viskosit¨at. Es handelt sich um ein Newtonisches Fluid! Es kommen noch die Anfangsbedingungen v(0, x) = v0 (x)

∀x ∈ Ω ,

und die Randbedingungen v(t, x) = 0

∀ x ∈ ∂Ω, ∀ t > 0 . “Non-slip-Bedingung” (Haftbedingung!)

Im Allgemeinem haften Fl¨ ussigkeiten an einer festen Wand. Einige Beispiele bekannter Str¨ omungen. Beispiel 16.1. (i) Str¨ omung einer Fl¨ ussigkeit in einem ebenen Kanal (Modellierung mit der Eulergleichung) Sei Ω := R × Ω 0 ein unendlich langer Kanal mit Profil Ω 0 . An der Stelle x1 = 0 sei der Druck p1 gr¨oßer als der Druck p2 an der Stelle x2 = L. Alle auftretenden Gr¨ oßen h¨ angen nicht von x3 ab.

2) Navier, Claude L.M. Henri: 1785-1836, franz¨ osischer Mathematiker. Mathematische Formulierung der Elastizit¨ atstheorie, Begr¨ under der Baustatik. 3) Stokes, George G.: 1819-1903, Mathematiker und Physiker. Besch¨ aftigte sich mit der elektromagnetischen Ausbreitung von Wellen und der Theorie der Schallausbreitung.

82

Kapitel IV. Str¨omungen Annahme: p1 > p2 und p1 ist unabh¨angig von der Zeit t. Druck und Geschwindigkeit m¨ ogen nur von x1 abh¨angen. ⇒

v(t, x) = (u(t, x1 ), 0, 0)

und p(t, x) := p(t, (x1 , x2 , x3 )) = pˆ(x1 ) .

Wir l¨ osen die inkompressiblen Eulergleichungen div v = 0



%0 (∂t v + (v · ∇)v) = −∇p

∂x1 u = 0 , ⇒

%0 ∂t u = −∂x1 pˆ .

Daraus folgt −∂x1 x1 pˆ = %0 ∂x1 ∂t u = %0 ∂t ∂x1 u = 0 p1 − p2 x1 . L Daraus folgt mit %0 ∂t u = −∂x1 pˆ f¨ ur die Geschwindigkeit Integration

=⇒

+ Randbed.

p(t, x) = pˆ(x1 ) = p1 −

u(t, x1 ) = ⇒

p1 − p2 t + c mit c ∈ R L%0

u → +∞ f¨ ur t → ∞.

Es widerspricht aber der Erfahrung, dass bei konstanter Druckdifferenzvorgabe die Geschwindigkeit unendlich wird. Die Eulergleichungen spiegeln daher nicht die Erfahrung wieder. (ii) Ebene Couette-Str¨ omung (Modellierung mit den inkompressiblen Navier-Stokes-Gleichungen) Die Geometrie sei wie unter (i). Nur sei jetzt Ω 0 := (0, d), das heisst Ω = R × Ω0 . Wir betrachten eine Str¨ omung zwischen zwei Platten mit dem Abstand d . ¨ Uberdies m¨ oge sich die obere Platte mit der Geschwindigkeit U in Richtung x1 bewegen. Die Symmetrie des Problems impliziert v(t, x) = (u(t, x2 ), 0, 0) . Wir suchen L¨ osungen, die nicht von der Zeit abh¨angen, das heisst v(t, x) = (u(x2 ), 0, 0) . Massenerhaltung:

div v = 0 ,

Impulserhaltung: %0 (∂t v + (v · ∇)v) = −∇p + µ4v . Es folgt µ∂x2 x2 u(x2 ) = ∂x1 p,

∂x2 p = 0,

∂x3 p = 0 .

16. Die Grundgleichungen

83

Aus den Annahmen gilt p(t, x) := pˆ(t, x1 ) und damit µ∂x2 x2 u(x2 ) = ∂x1 pˆ(t, x1 ) .

(16.1)

Das kann nur gelten, falls ∂x2 x2 u(x2 )

und

∂x1 pˆ(t, x1 )

konstant sind. Die Geschwindigkeit u soll allein durch U , die Geschwindigkeit der oberen Platte, bestimmt sein. Also setzen wir ∂x1 pˆ(t, x1 ) = 0 und erhalten ∂x2 x2 u(x2 ) = 0 . Die Randbedingungen f¨ ur unser Experiment sind

Dann

v(t, x) = (0, 0, 0)

f¨ ur x2 = 0 ,

und v(t, x) = (U, 0, 0)

f¨ ur x2 = d .

U x2 , d  U x2 ⇒ v(t, x) = , 0, 0 . d u(x2 ) =

Skizze des Geschwindigkeitsprofils

Welche Spannung u ¨bt die Str¨omung auf die untere Platte aus? F¨ ur die Spannung gilt nach dem Satz von Cauchy 10.1   1 b(~n) = σ · ~n = − p id + λdiv v id + µ Dv + (Dv)t · ~n , 2 wobei in unserem Fall ~n = (0, 1, 0)t ist. Da der Druck p konstant ist, beeinflusst er das Geschwindigkeitsfeld nicht. Die Str¨omung wird einzig durch die Bewegung der oberen Platte erzeugt. Wir betrachten die Schubspannung   1 bs (~n) := λdiv v id + µ Dv + (Dv)t · ~n 2

84

Kapitel IV. Str¨omungen     0 ∂x2 u 0 0 1 ∂x2 u 0 0  1  =  =µ 2 0 0 0 0

µ 2 ∂x2 u

0 0

 .

Folglich wirkt die Spannung in Richtung der positiven x1 -Achse und hat den Betrag U µ . d Je geringer der Plattenabstand, um so gr¨oßer die Spannung. Je gr¨oßer die Viskosit¨ at µ, um so gr¨ oßer die Spannung. Experiment zur Bestimmung von µ! (iii) Ebene Poiseuille Str¨ omung Die Geometrie sei wie unter (ii) aber mit fester oberer Platte. Die Str¨omung werde durch eine Druckdifferenz angetrieben. Wir nehmen an, dass p = pˆ(x1 )

mit

∂x1 pˆ = −c f¨ ur c ∈ R ,

sowie v(t, x) = (u(x2 ), 0, 0) . Aus den inkompressiblen Navier-Stokes-Gleichungen folgt, wie unter (ii), siehe Gleichung (16.1) µ∂x2 x2 u = −c . Die Randbedingungen implizieren u(0) = u(d) = 0 . Dann u(x2 ) =

c (d − x2 )x2 . 2µ

Skizze:

Je z¨ aher die Fl¨ ussigkeit (µ groß), um so geringer die Geschwindigkeit. Je gr¨ oßer der Plattenabstand, um so gr¨oßer die Geschwindigkeit (quadratisch in d). 

16. Die Grundgleichungen

85

Entdimensionalisierung der inkompressiblen Navier-Stokes-Gleichungen Die Navier-Stokes-Gleichungen %0 (∂t v + (v · ∇)v) = −∇p + µ4v ,

(16.2)

div v = 0

(16.3)

sind dimensionsbehaftet. Variable v

Geschwindigkeit

%0 Massendichte p

Druck/Fl¨ ache

µ dynamische Viskosit¨at

abstrakte Dimension L T M L3 M M · L/T2 = 2 L LT2 M LT

Alle Terme der Navier-Stokes-Gleichungen haben die Dimension M/(L2 T2 ). Dies l¨ aßt sich leicht nachrechnen M M 1 L [%0 ∂t v] = 3 · · = 2 2 , T T L L T M L 1 L M [%0 (v · ∇)v] = 3 · · · = 2 2 , L T L T L T M 1 M = 2 2, [∇p] = · L LT2 L T M 1 L M [µ4v] = · = 2 2. · LT L2 T L T Wir wollen jetzt die Navier-Stokes-Gleichungen entdimensionalisieren. Dazu definieren wir mit den Referenzgr¨oßen l, t∗ folgende dimensionslose Variablen x , l Zur Referenzgr¨ oße p0 sei f¨ ur den Druck y :=

r(τ, y) :=

τ :=

t . t∗

p(t, x) . p0

Die Gr¨ oßen l, t∗ und p0 sind sp¨ ater noch zu bestimmen sind. Die Geschwindigkeit v skalieren wir durch v(t, x) u(τ, y) := , |v∞ |

86

Kapitel IV. Str¨omungen

wobei wir annehmen, dass v(t, x) → v∞ ∈ R3

f¨ ur |x| → ∞

mit v∞ konstante Anstr¨ omgeschwindigkeit. Nach Einf¨ uhrung der neuen Variablen erh¨alt man aus (16.2) die Gleichung ∂τ u +

t∗ |v∞ | p0 t∗ µ t∗ 4y u . (u · ∇y )u = − ∇y r + l %0 l |v∞ | %0 l2

4)

Wir setzen die noch freien Referenzgr¨oßen fest t∗ :=

l , |v∞ |

und f¨ uhren durch ν :=

p0 := %0 |v∞ |2 µ %0

die kinematische Viskosit¨ at des Fluids ein. Dann ∂τ u + (u · ∇y )u = −∇y r +

ν 4y u . |v∞ | l

Mit

|v∞ | l ν bezeichnet man die Reynoldszahl eines Fluids. Sie ist dimensionslos und gibt das Verh¨ altnis von Konvektion zu Diffusion in einer Str¨omung wieder. Die entdimensionalisierten Navier-Stokes-Gleichungen (16.2), (16.3), inklusive der Massenerhaltung, lauten dann in unserem Fall Re :=

∂τ u + (u · ∇)u = −∇r + div u = 0 . 4)

1 4u , Re

5)

Mit der Kettenregel berechnen wir |v∞ | ∂τ u , t∗ 3 3 3 X X 1 |v∞ |2 X |v∞ |2 ui ∂yi u = (u · ∇y )u , (v · ∇x )v = vi ∂xi v = |v∞ |ui |v∞ |∂yi u = l l i=1 l i=1 i=1 ∂t v =

p0 ∇y r , l 3 3 3 “ X X 1” |v∞ | X 1 |v∞ | µ4x v = µ ∂x i x i v = µ ∂xi |v∞ |∂yi u =µ ∂yi yi u = µ 2 4y u . l l l l i=1 i=1 i=1 ∇x p =

Wir setzen diese Ableitungen in Gleichung (16.2) ein und multiplizieren die erhaltene Identit¨ at mit t∗ /|v∞ | .

16. Die Grundgleichungen

87

|v∞ | l ¨ Die Reynoldszahl Re = ist die grundlegende Gr¨oße f¨ ur die Ahnlichkeitsν theorie und erm¨ oglicht es, großdimensionierte Experimente im Windkanal durchzuf¨ uhren. Der Versuch im Windkanal muss nur so durchgef¨ uhrt werden, dass die Reynoldszahlen u ¨bereinstimmen. Dann liefern die Navier-Stokes-Gleichungen das gleiche Resultat u. Will man die Str¨ omungsverh¨altnisse um einen Tragfl¨ ugel im Windkanal simulieren, so muss man etwa das Modell um den Faktor 1000 verkleinern. Man erh¨ alt dann das gleiche Ergebnis, als wenn man die Anstr¨omgeschwindigkeit um den Faktor 100 vergr¨ oßert und die kinematische Viskosit¨at um den Faktor 10 verkleinert. Wir wenden uns jetzt der Frage zu: Kann man die Navier-Stokes-Gleichungen vereinfachen? F¨ ur viele Str¨ omungen gilt Re  1 . Dann ist ε4u =

1 4u Re

ein sehr kleiner Term. Wenn wir ihn vernachl¨assigen, gehen die Navier-StokesGleichungen in die Eulerschen Gleichungen ∂τ u + (u · ∇)u = − ∇r, div u = 0 u ¨ber. Welche Ph¨ anomene beschreiben die Eulerschen Gleichungen, oder beschreiben sie nicht? • Die Eulerschen Gleichungen erlauben keine Wirbelbildung, wenn zur Zeit t = 0 keine Wirbel vorhanden waren. • Der Term ε4u ist nahe ∂Ω nicht klein. • Der K¨ orper leistet der Str¨omung keinen Widerstand (D’Alambertsches Paradoxon). • Es wirken keine Auftriebskr¨afte. Grund: Die Eulerschen Gleichungen sind eine singul¨are St¨orung der Navier-StokesGleichungen. Die Navier-Stokes-Gleichungen sind vom parabolischen -, die Eulerschen Gleichungen vom hyperbolischen Typ. 5)

Die Massenerhaltung a ¨ndert, im Gegensatz zur Impulserhaltung, ihr Aussehen nicht. Denn 0

(16.3)

=

div v =

3 X i=1

∂xi vi =

3 X i=1

|v∞ |∂yi ui

1 |v∞ | = div u l l



div u = 0 .

88

Kapitel IV. Str¨omungen

Wir hatten eine Methode kennengelernt, wie man auch in einem solchen Fall L¨ osungen konstruieren kann, das “Asymptotische Matching”. Wir betrachten jetzt die entdimensionalisierten Navier-Stokes-Gleichungen  1 ∂t v + (v · ∇)v = − ∇p + 4v,  Re in Ω  div v = 0 v=0

auf ∂Ω

f¨ ur große Reynoldszahlen Re und daneben die Eulerschen Gleichungen ) ∂t v + (v · ∇)v = − ∇p in Ω div v = 0 v · ~n = 0

auf ∂Ω .

Als Beispiel betrachten wir die 2D Str¨omung u ¨ber einer festen Platte.

Wir nehmen an, dass  v(t, x1 , x2 ) →

U1 0



f¨ ur x2 → ∞ gilt, das heisst keine Geschwindigkeitskomponente in x2 -Richtung in großer Entfernung von der Platte. Wir suchen eine L¨osung der Form   u(t, x2 ) v(t, x1 , x2 ) = , ∇p = 0 . 0 Wegen (v · ∇)v = v1 ∂x1 v + v2 ∂x2 v = v1 · 0 + 0 · ∂x2 v = 0

und ∇p = 0

erh¨ alt man aus den Navier-Stokes-Gleichungen und den Randbedingungen folgendes Randwertproblem  1  ∂x2 x2 u , ∂t u =   Re (16.4) u(t, 0) = 0 ,    u(t, x2 ) → U1 f¨ ur x2 → ∞ .

16. Die Grundgleichungen

89

Wir untersuchen nun die Skalierungseigenschaft von L¨osungen u des Problems (16.4). Sei u L¨ osung von (16.4) . Dann ist t x  2 w(t, x2 ) := u , T L L¨ osung von ∂t w = ∂t u

1 1 L2 = ∂x x w T Re T 2 2

f¨ ur beliebige

L, T ∈ R .

Die Funktion w erf¨ ullt f¨ ur T = L2 wieder das Problem (16.4). Wir nehmen jetzt an, dass (16.4) genau eine L¨ osung hat. Das heisst, es gilt t x  2 , u(t, x2 ) = w(t, x2 ) = u T L √ Setze t := T und somit L = t . Dann gilt  x  2 u(t, x2 ) = u 1, √ . t

f¨ ur

T = L2 .

Kennt man die L¨ osung zum festen Zeitpunkt t∗ = 1, so erh¨alt man die L¨osung zur Zeit t durch eine einfache Streckung. Diese Eigenschaft der L¨osung nennt man Selbst¨ ahnlichkeit der L¨ osung . √ Re x2 √ ein und Wir f¨ uhren diese Streckung als eine neue Variable η := 2 t definieren √ 1 1  2 t  f (η) := u(t, x2 ) = u t, √ η . U1 U1 Re F¨ ur die Randwerte gilt dann f (0) = 0 und f (∞) = 1. Wegen ∂t η = − und

1√ x2 1η Re 3/2 = − 4 2t t

√ Re ∂x2 η = √ , 2 t

∂x2 x2 η = 0

folgt aus (16.4)   1 1 1 0= ∂t u − ∂x2 x2 u = ∂t f (η) − ∂x x f (η) U1 Re Re 2 2    2 1 = f 0 (η)∂t η − f 00 (η) ∂x2 η + f 0 (η)∂x2 x2 η Re η 0 1 = − f (η) − f 00 (η) . 2t 4t

90

Kapitel IV. Str¨omungen

Die Funktion f muss somit das folgende Randwertproblem erf¨ ullen f 00 (η) + 2ηf 0 (η) = 0 , Dann ist

0

f (η) = ce

−η 2

f (0) = 0 , Zη

und

f (η) = c

f (∞) = 1 .

2

e−s ds .

0

Wegen

Z∞ 1 = f (∞) = c

√ 2

e−s ds = c

π 2

0

{z

|

}

Fehlerintegral ergibt sich f¨ ur f 2 f (η) = √ π



2

e−s ds .

0

Somit gilt f¨ ur die L¨ osung √ x2 Re √ 2 t

2 u(t, x2 ) = U1 f (η) = U1 √ π |

Z

2

e−s ds

0

{z

}

→ 1 f¨ ur x2 → ∞. r t Das Fehlerintegral konvergiert sehr schnell, proportional , gegen 1. Re Skizze:

Wir sagen, dass wir uns in der Randschicht der Dicke ε > 0 (ε fest) befinden, falls u < (1 − ε)U1

17. Grenzschichten

91

gilt. Wegen der Monotonie von f gibt es genau ein η0 mit f (η0 ) = 1 − ε . Dann ist die Randschicht gegeben durch alle x2 , f¨ ur die ! r √ Re x2 t √ < η0 η0 oder x2 < 2 2 Re t gilt. r Ergebnis: Die Dicke der Randschicht ist proportional

17

1 . Re

Grenzschichten

Im vorigen Abschnitt haben wir erkannt, dass die Grenzschicht einer Str¨omung umgekehrt proportional der Reynoldschen Zahl ist. Das heisst, je z¨aher das Fluid (umso kleiner die Reynolds Zahl), umso gr¨oßer die Grenzschicht und umgekehrt. Wir wollen jetzt die Methode der asymptotischen Entwicklung und des ’asymptotischen Matching’ auf Navier-Stokes-Gleichungen anwenden. Es ist unser Ziel gute N¨ aherungen zu deren exakten L¨osungen zu berechnen. Wir beschr¨anken uns auf die Umstr¨ omung eines flachen K¨orper im R2 . Die Geschwindigkeit habe also zwei Komponenten (u, v)t ∈ R2 , die jeweils von den Variablen (x, y) abh¨angen. Dann lauten die Navier-Stokes-Gleichungen in der entdimensionalisierten Form mit Haftrandbedingungen bei {y = 0}  1  ∂t u + u∂x u + v∂y u = − ∂x p + 4u    Re  1 ∂t v + u∂x v + v∂y v = − ∂y p + 4v   Re    ∂x u + ∂y v = 0 u=v=0

in {y > 0}

(17.5)

auf {y = 0} .

Wir betrachten den Fall großer Reynoldszahlen, zum Beispiel bei Gasstr¨omungen. Sei 1 ε := Re klein. Wir betrachten also den singul¨are Fall von (17.5). In einem 1. Schritt untersuchen wir den Fall großer Entfernungen von der Grenzschicht und machen eine ¨außere asymptotische Entwicklung f¨ ur die L¨osung (u, v, p)t in der Form u = u0 + εu1 + εu2 + ... ,

92

Kapitel IV. Str¨omungen v = v0 + εv1 + εv2 + ... , p = p0 + εp1 + εp2 + ... .

Diese Entwicklungen setzen wir in die Navier-Stokes-Gleichungen (17.5) ein und vergleichen in Ordnungen von ε . In 0-ter Ordnung (ε0 ) ergeben sich die Eulerschen Gleichungen  ∂t u0 + u0 ∂x u0 + v0 ∂y u0 = − ∂x p0   ∂t v0 + u0 ∂x v0 + v0 ∂y v0 = − ∂y p0 in {y > 0} .   ∂x u0 + ∂y v0 = 0

(17.6)

Im 2. Schritt betrachten wir das Gebiet der Grenzschicht nahe des Randes {y = 0}. Die L¨ osung wird sich in y-Richtung stark ¨andern und damit auch die Geschwindigkeit v. Wir betrachten daher die Umgebung nahe {y = 0} mit der Lupe und skalieren y t := t , X := x , Y := k ε mit einem noch zu bestimmenden Parameter k ∈ R , k > 0 . Setze  y u(t, x, y) =: U (t, X, Y ) = U t, x, k , ε   y v(t, x, y) =: V (t, X, Y ) = V t, x, k , ε  y p(t, x, y) =: P (t, X, Y ) = P t, x, k . ε F¨ ur U, V, P setzen wir an f¨ ur m ∈ R , m > 0 U = U0 + εm U1 + ε2m U2 + ... , V = V0 + εm V1 + ε2m V2 + ... , P = P0 + εm P1 + ε2m P2 + ... . Mit diesen Ans¨ atzen gehen wir in die Gleichung f¨ ur die Massenerhaltung ∂x u + ∂y v = 0 ein. Dann 0 = ∂x u + ∂y v = ∂X U + ε−k ∂Y V  = ∂X U0 + εm ∂X U1 ... + ε−k ∂Y V0 + εm ∂Y V1 + ... . Die N¨ aherung niedrigster (0-ter) Ordnung ergibt ∂Y V0 = 0 . Wegen V (t, X, 0) = 0 (Randbedingung) gilt V0 = 0 .

17. Grenzschichten

93

Die N¨ ahrung n¨ achster (1-ter) Ordnung ist nur dann sinnvoll, wenn m = k gesetzt wird. ∂X U0 + ∂Y V1 = 0 . ⇒ Nun gehen wir mit diesen Ans¨atzen in die Impulserhaltung von (17.5) ein und gleichen danach wieder in den Potenzen von ε ab. F¨ ur m = k und V0 = 0 erhalten wir durch das Einsetzen der Ans¨atze ∂t U0 + U0 ∂X U0 + εk V1 ∂Y U0 ε−k + . . . = −∂X P0 + ε∂XX U0 + ε1−2k ∂Y Y U0 + . . . , εk ∂t V1 + εk U0 ∂X V1 + ε2k V1 ∂Y V1 ε−k + . . . = −ε−k ∂Y P0 + ε1+k ∂XX V1 + ε1+k−2k ∂Y Y V1 + .. . Aus der ersten Gleichung liest man ab, dass nur k = 1/2 sinnvoll ist. Denn w¨are k > 1/2, so m¨ ußte man zur Ausbalanzierung ∂Y Y U0 = 0 setzen. Somit w¨ urden nur viskose Terme in 0-ter N¨ahrung ber¨ ucksichtigt und die Beschleunigungsterme blieben unber¨ ucksichtigt. F¨ ur k < 1/2 hingegen w¨ urde man in 0-ter N¨ ahrung die viskosen Terme total vernachl¨assigen. Wir w¨aren damit zu weit weg vom Rand. Also setzen wir k=

1 2

und erhalten in niedrigster (0-ter) Ordnung in der Grenzschicht die Beziehungen ∂t U0 + U0 ∂X U0 + V1 ∂Y U0 = − ∂X P0 + ∂Y Y U0 , ∂Y P0 = 0 .

(17.7)

Als Randbedingungen gilt U0 = V1 = 0

auf {Y = 0} .

Insbesondere h¨ angt der Druck nicht von Y ab, also P0 = P0 (t, X) . Im 3. Schritt werden die Approximationen innerhalb der Grenzschicht und außerhalb der Grenzschicht ’gematcht’. Setze yβ :=

1 y = Y ε 2 −β , εβ

mit 0 < β
0 ,

(17.8)

auf {Y = 0} ,

(17.9)

auf {Y = ∞} .

(17.10)

      

F¨ ur die ¨ außere Entwicklung l¨osen wir die Eulerschen Gleichungen mit der Randbedingung v0 = 0 . Das entspricht der bekannten Bedingung, dass die Normalenkomponente des Geschwindigkeitsvektors am Rand verschwindet. Zusammenfassend erh¨ alt man das folgende System von Gleichungen zur Berechnung der 0-ten N¨ ahrung einer Str¨omung mit großer Reynoldszahl.

18. Hele-Shaw-Str¨ omungen

95

Außerhalb einer Grenzschicht, die Eulerschen Gleichungen  ∂t u0 + u0 ∂x u0 + v0 ∂y u0 = − ∂x p0   ∂t v0 + u0 ∂x v0 + v0 ∂y v0 = − ∂y p0 in (t, x, y) mit t, y > 0 ,   ∂x u0 + ∂y v0 = 0   u0 · ~n = 0 auf {y = 0} . v0 Innerhalb einer Grenzschicht, die Prandtlschen Grenzschicht-Gleichungen 6) ) ∂t U0 + U0 ∂X U0 + V1 ∂Y U0 = ∂Y Y U0 + ∂t u0 + u0 ∂x u0 in (t, X, Y ) mit t, Y >0 , ∂X U0 + ∂Y V1 = 0 U0 = V1 = 0 U0 (t, X, ∞) = u0 (t, x, 0)

auf {Y = 0} , ∀ t, X = x .

Bemerkung 17.1. Gemessen in einer geeigneten Norm ist der Fehler, den man macht, wenn man in der Grenzschicht die Prandtlschen Grenzschicht-Gleichungen √ anstatt der Navier-Stokes-Gleichungen l¨ost O( ε) .

18

Hele-Shaw-Str¨ omungen

In vielen Anwendungen begegnet man Mehrphasenstr¨omungen, bei denen Fl¨ ussigkeiten unterschiedlicher Viskosit¨aten sich nicht mischen, sondern filigrane Verteilungsmuster ausbilden. Ein Beispiel hierf¨ ur findet man bei der Exploration von Erd¨ ol: Zur Erh¨ ohung des Ertrages wird Wasser in den Boden gepumpt, sodass das Erd¨ ol durch spezielle R¨ ohren nach oben dr¨ uckt. Dabei kann das Ph¨anomen des ”Fingering” auftreten, welches den Ertrag verringert. Fingering:

6) Prandtl, Ludwig: 1875-1953, deutscher Physiker. Bedeutende Beitr¨ age zur Str¨ omungsmechanik, entwickelte die Grenzschichttheorie; auf ihn geht Prandtl-Zahl zur¨ uck.

96

Kapitel IV. Str¨omungen

Wir wollen in diesem Abschnitt die zeitliche Entwicklung des Randes ∂Ω(t) studieren. Wir nehmen vereinfachend an, dass sich zwischen zwei parallelen und unendlich ausgedehnten ebenen Platten mit Abstand 2h > 0 (h  1) eine Fl¨ ussigkeit befindet, die im Verlauf der Zeit die dort vorhandene Luft verdr¨angt. Eine solche Str¨ omung heißt Hele-Shaw-Str¨ omung 7) und repr¨asentiert ein spezielles Randwertproblem. Der Rand von Ω(t) ist a-priori unbekannt und Teil des Problems. Die Bewegung der Fl¨ ussigkeit in Ω(t) werde durch die kompressiblen Navier-StokesGleichungen ∂t (%u) + div (%u ⊗ u) + ∇p = ∇((λ + µ)div u) + µ4u, ∂t % + div (%u) = 0 beschrieben, wobei % = %(t, x) die Dichte der Fl¨ ussigkeit und u = u(t, x) ihre Geschwindigkeit darstellen. Geometrie einer Hele-Shaw-Zelle:

Wir machen folgende Annahmen: • Die Fl¨ ussigkeit ist homogen (% = %0 =konstant) und station¨ar (∂t u = 0). • Der Abstand h sei so klein, dass es keine Str¨omung in x3 -Richtung gibt, das heisst u = (u1 , u2 , 0)T . • Die Ableitungen von u nach x1 und x2 sind vernachl¨assigbar, verglichen mit der Ableitung nach x3 . • An den Platten gilt die Haftbedingung u = 0 f¨ ur x3 = ±h. Wegen der ersten Annahme folgt div u = 0 und damit weiter %0 (u · ∇)u + ∇p = µ4u . 7)

(18.11)

Hele-Shaw, Henry S.: 1854-1941, britischer Ingenieur. Pinonier auf dem Gebiet der Automobiltechnik und Luftfahrt.

18. Hele-Shaw-Str¨ omungen

97

Aus der zweiten und dritten Annahme ergibt sich  (u · ∇)u = u1 ∂x1 u + u2 ∂x2 u +  u3 ∂x 3 u = u1 ∂x1 u + u2 ∂x2 u ≈ 0 und



∂x3 x3 u1



  4u =  ∂x3 x3 u2  . 0 Dann folgt mit (18.11) 

 u1 ∇p = µ∂x3 x3  u2  . 0 Daraus folgt speziell ∂x3 p = 0 . Das heisst der Druck p ist eine Funktion von x1 und x2 alleine und konstant bez¨ uglich x3 . Wir integrieren bez¨ uglich x3 und erhalten u1 (x1 , x2 , x3 ) = A(x1 , x2 ) + B(x1 , x2 )x3 +

x23 ∂x p . 2µ 1

Unter Ber¨ ucksichtigung der Randbedingungen u = 0 f¨ ur x3 = ±h l¨aßt sich setzen A=−

h2 ∂x p, 2µ 1

B =0.

Dann gilt u1 (x1 , x2 , x3 ) = −

h2 − x23 ∂x1 p(x1 , x2 ) 2µ

und analog u2 (x1 , x2 , x3 ) = −

h2 − x23 ∂x2 p(x1 , x2 ) . 2µ

Wir f¨ uhren eine Mittelung bezgl. x3 u ¨ber (−h, +h) durch und definieren 1 v1 := 2h

Z+h u1 dx3 −h

und

1 v2 := 2h

Z+h u2 dx3 −h

Dann ist 1 v1 = − 4µh

Z+h h2 (h2 − x23 ) dx3 · ∂x1 p = − ∂x1 p 3µ −h

und

98

Kapitel IV. Str¨omungen v2 = −

h2 ∂x p . 3µ 2

Mit v := (v1 , v2 )T erhalten wir v=−

h2 ∇p , 3µ

und da div v = 0 folgt 4p = 0 , oder nach Umskalierung v = −∇p

und

4p = 0

in Ω(t),

(18.12)

wobei Ω(t) die 2-D Projektion des Fl¨ ussigkeitsgebietes sei. Der Druck p ist eine harmonische Funktion in Ω(t). Allerdings ist Ω(t) selbst unkekannt. Es ist unser Ziel, eine Formel f¨ ur die zeitliche Entwicklung von ∂Ω(t) herzuleiten. Wir nehmen dazu an, dass der Druck p auf dem Rand ∂Ω(t) konstant ist. Das gilt n¨ aherungsweise, wenn die Kr¨ ummung des Randes nicht zu groß ist. Sonst muss man p = 0 auf ∂Ω(t) durch p = γκ

auf ∂Ω(t)

ersetzen. Hierbei ist κ die Kr¨ ummung und γ der Koeffizient der Oberfl¨achenspannung. O.B.d.A. nach Wahl eines geeigneten Referenzdruckes nehmen wir p=0

auf ∂Ω(t)

an. Es sei (x1 (t), x2 (t))T eine L¨osungstrajektorie, f¨ ur welche (x01 (t), x02 (t))T = v gilt. Dann folgt auf ∂Ω(t) 0=

d T d d p(t, x1 (t), x2 (t)) = ∇p · x1 (t), x2 (t) + ∂t p = ∂t p + v · ∇p . dt dt dt ⇒ (18.12)

∂t p − |∇p|2 = 0

auf ∂Ω(t).

Wir nehmen an, dass sich an der Stelle (x1 , x2 ) = 0 eine Quelle (Wasserinjektion) oder Senke (Wasserabsaugung) befindet: p(x1 , x2 ) ∼ −

Q ln(x21 + x22 )1/2 2π

˚ f¨ ur (x1 , x2 ) → 0. O.B.d.A. sei (0, 0) ∈ Ω(t).

18. Hele-Shaw-Str¨ omungen

99

Folgerung 18.1. 

2π p· − Q ln(x21 + x22 )1/2

 →1

f¨ ur

(x1 , x2 ) → (0, 0) .

Damit haben wir zur Bestimmung des freien Randes ∂Ω(t) folgendes System zu l¨ osen: (v = −∇p) , 4p = 0 p = 0,

in Ω(t) 2

∂t p − |∇p| = 0 Q p(x1 , x2 ) ∼ − ln(x21 + x22 )1/2 2π

auf ∂Ω(t) f¨ ur (x1 , x2 ) → (0, 0) .

Das (unbekannte) Gebiet Ω(t) wird auf dem Einheitskreis in der komplexen ζEbene transformiert und die Transformation bestimmt. Sei t := x1 + ix2 ∈ C und {ζ ∈ C : |ζ| < 1} der (offene) Einheitskreis. Wir setzen voraus, dass Ω(t) beschr¨ ankt und einfach zusammenh¨angend ist. Nach dem Riemannschen Abbildungssatz gilt: ∃f (·, t) : {ζ ∈ C : |ζ| 6 1} → Ω(t),

z = f (ζ, t) mit

(i) f ({|ζ| = 1}) = ∂Ω(t), (ii) ζ 7→ f (ζ, t) ist analytisch, (iii) f ist reell und positiv f¨ ur ζ = 0, (iv) df ζ 6= 0. Frage: Welcher Differentialgleichung gen¨ ugt f ? Sei w(z) := p(x1 , x2 ) + iψ(x1 , x2 ) der “komplexe” Druck mit einer Funktion ψ. Dann ist Q w(z) = w(f (ζ, t)) = − ln ζ , (18.13) 2π denn wegen

und

4p = 0 existieren, wenn n > 2 und Q > 0 gilt. Beweis. F¨ ur j = n + 1 erh¨ alt man die Differentialgleichung −a−1 a0n + nan a0−1 = 0 ⇒ ⇒

n

a0−1 a0 − n =0 a−1 an

d an ln =0 dt an−1

oder

(Integration von 0 bis t)  an (t) = αn

Aus

n X

kak a0k = −

k=−1

a−1 (t) α−1

n

Q erh¨ alt man 2π d dt

n X

! ka2k

=−

k=−1

Q π

und nach Integration schließlich n X

k(a2k (t) − αk2 ) = −

k=−1

Qt π

n

=⇒ Umformulierung

2 a2−1 (t) = α−1 +

Qt X + k(a2k (t) − αk2 ) π k=1

wegen Q > 0. Andererseits folgt mit  an (t) = αn

a−1 α−1

n

→ ∞ f¨ ur t → ∞,

102

Kapitel IV. Str¨omungen

die Beziehung und schließlich die Absch¨atzung a2−1 (t) = n(a2n (t) − αn2 ) +

n−1 X

k(a2k (t) − αk2 ) +

k=1

Qt 2 + α−1 = π

n−1

=

X Qt −2n 2 + nαn2 · α−1 · a2n k(a2k (t) − αk2 ) + α−1 − nαn2 > −1 (t) + π k=1

−2n 2n > nαn2 α−1 a−1 (t) −

n−1 X

−2n 2n kαk2 − nαn2 = nαn2 α−1 a−1 (t) −

k=1

n X

kαk2

k=1

oder weiter n X  −2n 2n−2 kαk2 > −∞ a2−1 (t) 1 − nαn2 α−1 a−1 (t) > − {z } | k=1

(18.15)

→ −∞ f¨ ur t → ∞ wegen der Absch¨ atzung oben folgt Widerspruch.



Die L¨ osung kann also nicht f¨ ur alle Zeiten existieren. Um dieses unerwartete Ergebnis besser zu verstehen, betrachten wir einen Spezialfall. Sei f (ζ, t) = a1 (t)ζ + a2 (t)ζ 2 f¨ ur |ζ| 6 1. Wir erhalten dann die beiden Gleichungen: Qt d 2 (a + 2a22 ) = − dt 1 π

und

0 = a1 a02 + 2a2 a01 =

Qt + α12 + 2α22 π Wir suchen eine Zeit t = t∗ > 0, so dass ⇒

a21 (t) + 2a22 (t) = −

a21 (t∗ ) + 2a22 (t∗ ) = −

und

1 d 2 (a a2 ) a1 dt 1

a21 (t)a22 (t) = α12 · α2

Qt∗ + α12 + 2α22 = 3(α12 α2 )2/3 = 3(a21 (t∗ )a2 (t∗ ))2/3 π

die L¨ osung a2 (t∗ ) = a1 (t∗ ) unter der Annahme α1 , α2 > 0 besitzt. Die Zeit  π  t∗ = − 3(α12 α2 )2/3 − (α12 + 2α22 ) > 0 Q leistet das Gew¨ unschte. ⇒

∂ζ f (ζ, t∗ ) = a1 (t∗ ) + 2a2 (t∗ )ζ = a1 (t∗ ) − a2 (t∗ ) = 0

f¨ ur ζ =

1 2

⇒ f (ζ, t∗ ) ist nicht mehr injektiv, d.h. die Transformation ist nicht mehr zul¨ assig!

19. Aufgaben

103

Anders betrachtet: Der Rand z = f (ζ, t) = a1 (t)ζ + a2 (t)ζ 2 , |ζ| = 1 hat bei t = t∗ eine Singularit¨ at, d.h. die Kr¨ ummung wird dort unendlich. Das war aber in unserem Modell gerade ausgeschlossen. Das Model muss verbessert werden (zulassen von Oberfl¨ achenspannungen!).

19

Aufgaben

Aufgabe 19.1. Welche L¨ ange sollte der metallene, nicht isolierte Griff einer Eisenpfanne mindestens haben, damit man sich beim Kochen nicht die H¨ande verbrennt? Aufgabe 19.2. Wir betrachten eine station¨are, inkompressible, nicht-viskose Str¨omung im zweidimensionalen Raum. Auf die Str¨omung wirken keine ¨außeren Kr¨afte f , das heisst f ≡ 0 . Zeigen Sie, dass die Wirbeldichte rot v entlang der Bahnlinien y(t) konstant bleibt ! Aufgabe 19.3 (Potentialstr¨ omungen). Wir betrachten eine station¨are, wirbelfreie (rot v = 0) und reibungsfreie Str¨omung konstanter Dichte ρ . Zeigen Sie das Gesetz von Bernoulli v2 ρ + p = konstant . 2 Das Gesetz besagt, dass in der Str¨omung ein Geschwindigkeitsabfall von einem Druckanstieg begleitet wird. ¨ Aufgabe 19.4 (Olpipeline). Durch ein Rohr der L¨ange L und Radius R (L  R) ¨ mit konstanter Dichte ρ und fliesst eine homogene, station¨ are Fl¨ ussigkeit (z.B. Ol) Geschwindigkeit v = (v1 , v2 , v3 ) . Wir nehmen an, dass der Druck im Rohr linear abf¨ allt und dass am Rand des Rohres die Haftbedingung gilt. 1. Zeigen Sie, dass mit ∂x p = µ4v1 (k(x, y, z)k) ,

v1 (R) = 0

ein angemessenes Modell zur Beschreibung des Prozesses aufgnestellt wurde. 2. Berechnen Sie eine L¨ osung von Modell a.)! 3. Zeigen Sie, dass eine geringf¨ ugige Verkleinerung des Rohrradius R eine betr¨ achtliche Verringerung der durchstr¨omenden F¨ ussigkeitsmenge zur Folge hat. Aufgabe 19.5 (Grenzschichten, Ebene Couette-Str¨omung, beeinflußt vom Druckgradienten). Wir betrachten im 2-dimensionalen Raum (x = (x1 , x2 ) ∈ R2 ) eine inkompressible,

104

Kapitel IV. Str¨omungen

station¨ are Str¨ omung unter einem Kr¨aftefeld f = (0, f2 ), welche sich zwischen zwei Platten mit Abstand d bewegt. Die obere Platte hat u ¨berdies die Geschwindigkeit U in Richtung x1 . 1. Zeigen Sie, dass sich die L¨osung darstellen l¨aßt durch  h  x2 i x2  v(t, x) = (v1 (x1 , x2 ), v2 (x1 , x2 )) = U 1 − χ 1 − ,0 d d mit einem dimensionslosen Parameter χ . 2. Skizzieren Sie das Geschwindigkeitsprofil f¨ ur v1 /U entlang der x2 /d Achse, falls erstens ∂x1 p > 0, zweitens ∂x1 p = 0, drittens ∂x1 p < 0, viertens ∂x1 p = 2µU/d2 und f¨ unftens ∂x1 p > 2µU/d2 .

Kapitel V

Thermodynamik, Diffusion 20

Haupts¨atze der Thermodynamik

Die Thermodynamik besch¨ aftigt sich mit den Gesetzm¨aßigkeiten, die bei der Umwandlung von einer Energieform, zum Beispiel W¨arme, in eine andere auftreten. Diese Gesetzm¨ aßigkeiten sind in den Haupts¨atzen der Thermodynamik formuliert. Jedes thermodynamische System muss ihnen gen¨ ugen. In der Modellbildung sind insbesondere nur solche konstitutiven Gesetze zu den Erhaltungsgleichungen zul¨ assig, die diese Forderung erf¨ ullen. 0. Hauptsatz der Thermodynamik: 1) Es existiert eine Temperatur als Grundlage zur Messung der W¨ armemenge eines K¨orpers. Also, es existiert eine Funktion θ = θ(t, x) > 0 1. Hauptsatz der Thermodynamik:

absolute Temperatur . 2)

¨ Energiefluss Energieproduktion Anderung der = + u ¨ ber den Rand im Inneren Gesamtenergie 1) Historische Formulierung des 0. Hauptsatzes:”There exists for every thermodynamic system in equilibrium a property called temperature. Equality of temperature is a necessary and sufficient condition for thermal equilibrium.” 2) Historische Formulierung des 1. Hauptsatzes:”There exists for every thermodynamic system a property called the energy. The change of energy of a system is equal to the mechanical work done on the system in an adiabatic process. In a non-adiabatic process, the change in energy is equal to the heat added to the system minus the mechanical work done by the system.”

106

Kapitel V. Thermodynamik, Diffusion

Also, f¨ ur alle Testvolumina V (t) gilt Z Z Z  %  d %u + v 2 dx = (σ t v − q) · ~ndsx + (%f · v + %g)dx . dt V (t) 2 ∂V (t) V (t) Hierbei ist u die spezifische innere Energie und q ein beliebiger Energiefluss, zum Beispiel der W¨ armefluss. Die Funktion g ist eine beliebige Energiequelle. Nach dem Reynoldschen Transporttheorem und dem Gaußschen Satz gilt    % %  ∂t %u + v 2 + div (%u + v 2 )v − σ t v + q = %f · v + %g . 2 2 Mit der Massen- und Impulserhaltung folgt ∂t (%u) + div(%vu) − σ : Dv + divq = %g . Bemerkung 20.1. Z Die innere Energie eines abgeschlossenen Systems lautet

U :=

%udx . V (t)

Z

Die vom System geleistete Arbeit ist Die W¨ armeleistung lautet

˙ := − W σ : Dvdx . Z V (t) Z Q˙ := − q ·~ndsx + ∂V (t)

%gdx .

V (t)

Wir vernachl¨ assigen die viskosen Kr¨afte und nehmen an, dass der Druck p konstant ist. F¨ ur das Volumen V (t) gilt Z Z ˙ =− W σ : Dvdx = p divvdx V (t) V (t) Z d =p divvdx = p |V (t)| . dt V (t) Im letzten Schritt haben wir Folgerung 11.4 angewandt. Die geleistete Arbeit (Volumenarbeit) W ergibt sich aus W = pV . Aus dem 1. Hauptsatz folgt ˙ . U˙ = Q˙ − W Diese Darstellung entspricht der in der historischen Formulierung des 1. Hauptsatzes angegebenen Form.  2. Hauptsatz der Thermodynamik:

3)

¨ Entropiefluss Entropieproduktion Anderung der − = ≥0. u ¨ber den Rand im Inneren Gesamtentropie 3) Historische Formulierung des 2. Hauptsatzes:”There exists for every thermodynamic system in equilibrium an extensive scalar property called the entropy, S, such that in an infinitesimal reversible change of state of the system, dS = dQ/T , where T is the absolute temperature and dQ is the amount of heat received by the system. The entropy of a thermally insulated system cannot decrease and is constant if and only if all processes are reversible.”

20. Haupts¨ atze der Thermodynamik

107

Also, es existiert ein beobachterunabh¨angiger Skalar s, welcher spezifische Entropie genannt wird, f¨ ur den gilt Z Z Z d %sdx + ψ · ~ndsx = %hdx ≥ 0 . dt V (t) ∂V (t) V (t) Die Funktion ψ ist der Entropiefluss und h eine Entropiequelle. Nach dem Reynoldschen Transporttheorem und dem Gaußschen Satz gilt ∂t (%s) + div(%sv + ψ) = %h ≥ 0 . Die G¨ ultigkeit des 2. Hauptsatzes schließt die Existenz eines Perpetuum Mobiles 2. Art aus. F¨ ur ein abgeschlossenes System (ψ ≡ 0) gilt, dass die Entropie im Laufe der Zeit w¨ achst. In den Haupts¨ atzen allein sind θ, u und s als beliebig gegeben. F¨ ur diese Gr¨ oßen gilt aber noch eine weitere Beziehung untereinander. Im Standardfall setzen wir daher ψ=

q , θ

wobei q der Energiefluss aus der Energieerhaltung ist. Durch diese Beziehung wird die absolute Temperatur θ festgelegt. Damit ist die Entropieungleichung ¨aquivalent zur Clausius-Duhem Ungleichung  q ∂t (%s) + div %sv + = %h ≥ 0 θ

.

Satz 20.2 (Dissipationsungleichung). Aus den Erhaltungsgleichungen und der Clausius-Duhem Ungleichung folgt die Dissipationsungleichung % (Dt u − θDt s) − σ : Dv +

1 q · ∇θ − %g = −θ%h ≤ 0 . θ

Zur Erinnerung: Das Skalarprodukt A : B zweier Matrizen A und B ist definiert durch 3 X A:B= aik bik . i,k=1

Die materielle Ableitung nach Definition 11.1 lautet Dt ϕ := ∂t ϕ + ∇ϕ · v .

108

Kapitel V. Thermodynamik, Diffusion

Weiter ist



∂x1 v1

  Dv :=   ∂x1 v2  ∂x1 v3

∂x2 v1 ∂x2 v2 ∂x2 v3

∂x3 v1



  ∂x3 v2  .  ∂x3 v3

Beweis. Die Kontinuit¨ atsgleichung (Massenerhaltung) besagt ∂t % = −div (%v) . Und die Clausius-Duhem Ungleichung nach Umformung ist 1 1 s∂t % + %∂t s + s div (%v) + %v · ∇s + div q − 2 ∇θ · q = %h ≥ 0 . θ θ Dann folgt zusammen 1 1 %(∂t s + v · ∇s) + div q − 2 ∇θ · q = %h ≥ 0 . θ θ

(20.1)

F¨ ur die Energieerhaltung hatten wir mit der Kontinuit¨atsgleichung die Beziehung %∂ u + %v · ∇u − σ : Dv + div q = %g | t {z } = %Dt u oder %Dt u − σ : Dv + div q = %g . Multiplikation mit von (20.1) mit (−θ) und Addition zur Energieerhaltungsgleichung ergibt: % (Dt u − θDt s) − σ : Dv +

1 q · ∇θ − %g = −θ%h ≤ 0 . θ



Die Forderung der Thermodynamik besagt im Standardfall, dass alle L¨osungen der Erhaltungss¨ atze, der Clausius-Duhem Ungleichung gen¨ ugen m¨ ussen. Das hat Konsequenzen f¨ ur die konstitutiven Beziehungen, wie wir sehen werden. Wir betrachten hierzu nun einen Spezialfall. Lemma 20.3. Es m¨ ogen die Erhaltungsgleichungen mit u=u ˆ(θ, %) := θ , p = pˆ(θ, %) := θ%2

dˆ s0 (%) d%

20. Haupts¨ atze der Thermodynamik

109

gelten. Ist dann die spezifische Entropiedichte s = sˆ(θ, %) := log θ + sˆ0 (%) gegeben, so gilt f¨ ur den Produktionsterm der Clausius-Duhem Ungleichung  1 − µε(v) + λdiv v id : Dv + q · ∇θ − %g = −θ%h ≤ 0 . θ

(20.2)

Es gelten die folgenden konstitutiven Beziehungen. Falls wir  q = −κ∇θ , κ ≥ 0 , µε(v) + λdiv v id : Dv ≥ 0 , %g ≥ 0 w¨ ahlen, so ist Ungleichung (20.2) erf¨ ullt. Es ist im Dreidimensionalen µε(v) + ullt, falls f¨ ur µ ≥ 0 , λ + 31 µ ≥ 0 gilt. Hierbei ist der Term κ λdiv v id : Dv ≥ 0 erf¨ die W¨ armeleitf¨ ahigkeit, die Terme µ und λ die Lam´e Koeffizienten. Beweis. Es folgt mit der Massenerhaltung   1 dˆ s0 % (Dt u − θDt s) = % Dt θ − θ Dt θ + θ (%)Dt % θ d% dˆ s0 dˆ s0 = %θ (%)Dt % = −θ%2 (%)div v . d% d% Eingesetzt in die Dissipationsungleichung 20.2 erhalten wir    1 dˆ s0 (%)+p div v − µε(v)+λdiv v id : Dv + q ·∇θ −%g = −θ%h ≤ 0 −θ%2 d% θ



Im Fall eines idealen Gases gilt sˆ0 := log %

=⇒

p = θ% .

Bemerkung 20.4. Z Die Entropie eines abgeschlossenen Systems lautet

S :=

%sdx . V (t)

Es ist g ≡ 0. Wir nehmen an die absolute Temperatur sei gegeben durch θ(t, x) = T , wobei T konstant ist. Ist h ≡ 0, so folgt aus der Clausius-Duhem Ungleichung ˙ Q˙ = T S, das heisst Entropie = zugef¨ uhrte W¨armemenge pro Temperatur. Diese Darstellung entspricht der in der historischen Formulierung des 2. Hauptsatzes angegebenen Form. Mit dem 1. Hauptsatz folgt ˙ U˙ + W S˙ = . T

(20.3)

Der 2. Hauptsatz besagt nun %h ≥ 0 .



110

Kapitel V. Thermodynamik, Diffusion

Wir wollen im Folgenden eine molekulare Deutung der absoluten Temperatur geben. Bemerkung 20.5 (Molekulare Deutung der Temperatur). Wir betrachten ein einatomiges ideales Gas. Die W¨ arme eines Gases entspricht der ungeordneten Bewegung von Atomen und der ihnen zugeordneten kinetischen Energie, welche als W¨ armeenergie bezeichnet wird. Die Temperatur ist ein lineares Maß f¨ ur den Mittelwert dieser Energie. Sei m die Masse eines Atoms und v seine mittlere Geschwindigkeit. Die Grundgleichung der kinetischen Gastheorie besagt f¨ ur den Druck p (Kraft pro Volumen): pV =

2 2  m 2 N E kin =  N v . 3 3 2

Hierbei ist V das Volumen, N die Anzahl der Teilchen und E kin die mittlere kinetische Energie eines Teilchens. Die Zustandsgleichung eines “idealen Gases” lautet p V = N kB T, wobei T die absolute Temperatur bezeichnet, das heisst θ = T , und kB = 1, 38 · 10−23 J/K die Boltzmann-Konstante ist. Dann ist T =

m 2 v 3kB

.



Wir m¨ ochten eine anschauliche Interpretation der Entropie geben. Bemerkung 20.6 (Molekulare Deutung der Entropie). Die Entropie wird als eine Gr¨ oße betrachtet, die das Ausmaß der Unordnung des Systems beschreibt. Der Makrozustand eines Systems kann durch verschiedene Mikrozust¨ande realisiert werden. Die Entropie ist ein Maß f¨ ur die Anzahl der Mikrozust¨ande, die einen gegebenen Makrozustand realisieren. Es gilt: Die Entropie s eines Makrozustandes ist proportional dem nat¨ urlichen Logarithmus der Zahl W , welche die Anzahl der m¨oglichen Mikrozust¨ande ist. s = kB ln W Boltzmann-Formel kB = Boltzmann-Konstante W = Anzahl der m¨ oglichen Mikrozust¨ande, welche mit einem Makrozustand verkn¨ upft sind. Zust¨ ande mit hoher Entropie, das bedeutet eine hohe Anzahl m¨oglicher Mikrozust¨ ande, sind wahrscheinlicher. Hierbei ist vorausgesetzt, dass alle Zust¨ande gleichwahrscheinlich sind. 

21. W¨ armeleitung

111

Als weiterf¨ uhrende Literatur zur Thermodynamik sei das Buch von I. M¨ uller [8] empfohlen.

21

W¨armeleitung

Es sei Ω ⊂ R3 ein offenes Gebiet und t > 0 die Zeit. Wir betrachten ein ruhendes Medium, das heißt v ≡ 0. Aus der Massen- und Impulserhaltung folgt ∂t % = 0

und

∇p = 0 ,

unter der Voraussetzung, dass keine externe Kraft, f = 0, auf das Medium einwirke. Die spezifische innere Energiedichte u und die absolute Temperatur θ seien Funktionen u, θ : R+ × Ω → R , θ > 0 . Die W¨armequelle bzw. -senke werde ebenfalls durch eine Dichtefunktion g : R+ × Ω → R beschrieben. Der Energiefluß q(t, x) ∈ R3 u ¨ber den Rand sei ein W¨armefluß. Es folgt im Gebiet R+ × Ω %∂t u + div q = %g

.

(21.4)

Das ist eine Transportgleichung f¨ ur die beiden Variablen u und q. Die Funktion g ist bekannt. Wie wir fr¨ uher schon gesehen haben, muss (21.4) durch konstitutive Gleichungen erg¨ anzt werden. In vielen F¨allen, insbesondere im Fall von idealen Gasen, ist die innere Energie linear proportional der Temperatur θ, das heißt u(t, x) = cP θ(t, x) , wobei cP die spezifische W¨ armekapazit¨at des Materials ist. Sie kann neben Ort und Zeit von der Temperatur θ oder sogar von ∇θ abh¨angen. Der W¨ armefluß q h¨ angt u ¨ber das Fouriersche Gesetz (Ficksches Gesetz) von der Temperatur ab q(t, x) = −κ∇θ(t, x) . Dabei ist der W¨ armeleitkoeffizient κ positiv und kann von t, x, θ und ∇θ abh¨angen. Im anisotropen Fall ist κ sogar eine Matrix K, und das Fouriersche Gesetz (Ficksches Gesetz) schreibt sich q(t, x) = −K∇θ(t, x). Wir betrachten jetzt den Spezialfall, dass %, cP und λ konstant sind und erhalten aus (21.4) die W¨ armeleitungsgleichung ∂t θ − D4θ = g˜

in R+ × Ω ,

(21.5)

112

Kapitel V. Thermodynamik, Diffusion

κ 1 und g˜ = g. Die positive Konstante D heißt Temperaturleitzahl. %cP cP ¨ Nach den vorangehenden Uberlegungen in Bemerkung 20.5 kann die W¨armeleitung als Energietransport durch Teilchen verstanden werden.

mit D :=

Gleichung (21.5) ist eine parabolische partielle Differentialgleichung zweiter Ordnung. Wir wollen sie im Folgenden mathematisch behandeln. Gesucht ist also eine L¨ osung u : R+ × Ω → R f¨ ur ∂t u − D4u = g

in R+ × Ω .

(21.6)

Hierbei ist die positive Konstante D und die Funktion g gegeben. Zur L¨osung von (21.6) ben¨ otigt man weiter Anfangsbedingungen: u(0, x) = u0 (x),

x∈Ω

mit einer gegebenen Anfangstemperatur u0 und Randbedingungen: Wir betrachten den W¨ armefluß u ¨ber den Rand ∂Ω. Außerhalb Ω herrsche die Temperatur u∗ . Der W¨ armefluß u ¨ber den Rand versucht die Temperaturunterschiede innerhalb und außerhalb Ω auszugleichen ⇒

q · ~n = α(u − u∗ )

mit einem “W¨ arme¨ ubergangskoeffizienten” α = α(x, u, u∗ ) > 0. Mithilfe des Fouriergesetzes erhalten wir die Robin-Randbedingung (gemischte Randbedingung oder Randbedingung 3. Art): κ∂~n u = −α(u − u∗ )

.

Setze β := α/κ und betrachte die Grenzwerte β → 0 und β → ∞. (i) β → 0:

Homogene Neumann-Randbedingung ∂~n u = 0

.

Es findet kein W¨ armefluß u ¨ber den Rand statt. Der Rand ist isolierend. (ii) β → ∞:

Inhomogene Dirichlet-Randbedingung u = u∗

.

Die Temperatur auf ∂Ω passt sich der Außentemperatur an. Starker W¨armeaustausch !

21. W¨ armeleitung

113

Anmerkung: Wegen Z Z Z %∂t u dx = − div q dx = − q · ~n dsx = 0 Ω



∂Ω

hat man im Fall g = 0 ein geschlossenes System. Ein anderer Typ von W¨ armeleitung liegt vor bei W¨armestrahlung. Das Stefan-Boltzmann-Gesetz: λ∂~n u = −Σε(u4 − u∗ 4 ), mit der Konstanten Σ = 5, 67 · 10−8 J/sm2 K4 und ε ∈ [0, 1]. Es stellt die W¨armeu ¨bertragung durch elektromagnetische Strahlung dar. Durch geeignete Orts-, Zeit- und Temperaturskalierung (die Durchf¨ uhrung bleibt dem Leser u ¨berlassen) k¨ onnen wir die homogene Gleichung (21.6) entdimensionalisieren und erhalten bei Robin-Randbedingungen das Anfangs-Randwertproblem ∂t u = 4u

in R+ × Ω ,

(21.7)

∂~n u = −β(u − u )

auf R+ × ∂Ω ,

(21.8)

u = u0

in {0} × Ω

(21.9)



mit nur einem dimensionslosen Parameter (W¨arme¨ ubergangskoeffizient) β > 0. F¨ ur dieses System leiten wir noch weitere Eigenschaften her: Multiplikation von (21.8) mit u und Integration u ¨ber Ω ergibt Z Z Z Z ∂t u u dx = 4u u dx = − |∇u|2 dx + ∂~n u u dsx . Gauß







∂Ω

Wir setzen die Randbedingung ein und erhalten nach Umformung Z Z Z 1 d 2 |u|2 dx = − |∇u| dx − β (u − u∗ )u dsx 2 dt Ω



∂Ω

und weiter nach Integration nach t u ¨ber [σ, s]   Z Zs Z Z 2 |u(s, x)|2 dx + 2  |∇u(t, x)| dx + β |u(t, x)|2 dsx  dt σ



Z = Ω



|u(σ, x)|2 dx + 2

∂Ω

Zs

Z β

σ

∂Ω

u∗ (t, x) u(t, x)dsx dt .

114

Kapitel V. Thermodynamik, Diffusion

Im Weiteren betrachten wir der Einfachheit halber den Fall u∗ = 0. Mit Z V (s) := |u(s, x)|2 dx Ω

Z =

|u(σ, x)|2 dx − 2

6

  Z Z 2  |∇u(t, x)| dx + β |u(t, x)|2 dsx  dt

σ



Z

Zs

|u(σ, x)|2 dx = V (σ)



∂Ω

∀σ 6 s



erkennt man, dass V (strikt) monoton fallend ist. Gemeinsam mit der Poincar´eUngleichung   Z Z Z Z 2 2 C |u|2 dx 6 2 |∇u| dx 6 2  |∇u| dx + β |u|2 dsx  Ω





∂Ω

f¨ ur eine Konstante C > 0 erh¨ alt man sogar   Z Z dV 2 = −2  |∇u| dx + β |u|2 dsx  6 −C V (t) . dt Ω

∂Ω

Dann V (t) 6 e−Ct V (0) . Man hat also ein exponentielles Abfallen der Temperatur in der L2 -Norm. Die Temperatur konvergiert in der L2 -Norm f¨ ur t → ∞ gegen Null, unabh¨angig von der Anfangstemperatur. Die Funktion u ˆ(x) ist entsprechend die L¨osung des station¨ aren Problems ∂t u ˆ = 0, 4ˆ u=0 in Ω mit Randbedingungen. Die Konvergenz f¨ ur t → ∞ ist sehr schnell, und der Prozess ist irreversibel. Wir zeigen noch, dass die W¨armeleitungsgleichung dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik gen¨ ugt. Der Einfachheit halber betrachten wir den Fall β = 0, also homogene Neumann Bedingungen am Rand ∂Ω. Das bedeutet, es findet kein W¨ armefluß u ¨ber den Rand statt. Es sei die Gesamtentropie S des Mediums definiert durch Z S(t, Ω) := %s(t, x)dx . Ω

Der 2. Hauptsatz besagt, die Entropie S ist monoton wachsend. In dem hier betrachteten Fall von idealen Gasen, ist nach Lemma 20.3 die spezifische Entropiedichte gegeben durch s(t, x) = log u+const. Die absolute Temperatur verh¨ alt sich dabei linear zur mathematischen Temperatur u, welche L¨osung

22. Phasen¨ uberg¨ ange

115

des Systems (21.7)-(21.9) ist. Es gilt Z Z d S(t) = ∂t (%s(t, x))dx = % ∂t (log u(t, x))dx dt Ω Ω Z Z 4u ∂t u dx = % dx =% u Ω u Z ZΩ 1 1 |∇u|2 dx ∂~n udsx + % =% 2 Ω u ∂Ω u Z 1 =% |∇u|2 dx ≥ 0 . 2 Ω u Damit h¨ atte man das Gesuchte. Falls nun ein W¨armefluss u ¨ber den Rand stattfindet, das heißt β 6= 0, dann muss die Entropie nicht wachsen. Sie k¨onnte sich auch verringern.

22

Phasen¨ uberg¨ange

In diesem Abschnitt wollen wir einen Prozess aus der Thermodynamik modellieren, bei dem mit der W¨ armeleitung eine Ver¨anderung des Mediums einhergeht. Solche Phasen¨ uberg¨ ange treten zum Beispiel beim Schmelzen von Eis oder beim Gefrieren von Fl¨ ussigkeiten auf. Das klassische Problem hierf¨ ur ist das Stefan-Problem, mit dem wir uns jetzt befassen wollen. Wir nehmen an, dass die Schmelztemperatur von Eis, also der Phasen¨ ubergang, bei konstant T =0 Grad liegt 4) . Das Gebiet Ω bestehe aus den Teilgebieten Ω1 (t) und Ω2 (t), sowie der Phasengrenze Σ(t): Ω = Ω1 (t) ∪ Σ(t) ∪ Ω2 (t). Dabei ist Ω1 (t) das Eisgebiet und Ω2 (t) das Fl¨ ussigkeitsgebiet. Auf Σ(t) weise der Normalenvektor ~n(t) vom festen Gebiet in Richtung des fl¨ ussigen Gebietes. Beim Schmelzen wird Energie ben¨otigt, beim Frieren wird Energie frei, die sogenannte latente W¨ arme L. Entsprechend unterscheiden sich die inneren Energien ( cP T − L in Ω1 (t), u(x, t) = cP T in Ω2 (t). 4) Die Temperatur T ist hierbei eine Verschiebung zur absoluten Temperatur θ, das heisst T = θ − θ0 mit einem festen θ0 .

116

Kapitel V. Thermodynamik, Diffusion

Obwohl wir keine idealen Gase als Medium betrachten, ist aufgrund einer Linearisierung auch hier die spezifische innere Energie proportional zur Temperatur T .

Es sei χ die Indikatorfunktion von Ω1 (t), das heisst ( 1 f¨ ur x ∈ Ω1 (t), χ(x, t) := 0 f¨ ur x sonst. Dann l¨ aßt sich unser Modell der W¨armeleitung mathematisch folgendermaßen schreiben: Gesucht ist eine L¨ osung u : R+ × Ω → R mit ∂t u = D4u + u =0

L ∂t χ %cP

in Ω , auf Σ(t) ,

sowie Anfangsbedingungen f¨ ur t = 0 und Randbedingungen auf ∂Ω. Wir betrachten zum besseren Verst¨andnis den r¨aumlich eindimensionalen Fall.

Sei Σ(t) = {ξ(t)} und betrachte eine Mittelung u ¨ber ein kleines Intervall I(t) = (ξ(t) − ε, ξ(t) + ε) .

22. Phasen¨ uberg¨ ange Z  ⇒

117

ξ(t)+ε  Z L ∂t u − ∂t χ dx = D u00 (x) dx = %cP

I(t)

ξ(t)−ε

= D (∂x u (ξ(t) + ε, t) − ∂x u (ξ(t) − ε, t)) . Gem¨ aß dem Reynoldsches Transporttheorem Z Z d dξ g(x, t) dx = (g(ξ(t) + ε, t) − g(ξ(t) − ε, t)) + ∂t g(x, t) dx dt dt I(t)

I(t)

L χ die Identit¨at %cP   Z  Z  d L L ∂t χ dx = χ dx ∂t u − u− %cP dt %cP

und wir erhalten f¨ ur g = u −

I(t)

I(t)

+ (u(ξ(t) − ε, t) − u(ξ(t) + ε, t)) +

dξ dt

L dξ (χ(ξ(t) + ε, t) − χ(ξ(t) − ε, t)) . %cP dt

Im lim folgt daraus wegen u(ξ(t), t) = 0 und ε→0

L L L (χ(ξ(t) + ε, t) − χ(ξ(t) − ε, t)) = (1 − 0) = %cP %cP %cP schließlich   L dξ D lim ∂x u (ξ(t) + ε, t) − lim ∂x u (ξ(t) − ε, t) = ε→0 ε→0 %cP dt oder dξ(t) D%cP = [∂x u](ξ(t),t) dt L

Stefan-Bedingung !

Die Schmelzgeschwindigkeit V (t) := dξ(t)/dt ist proportional der Differenz des Temperaturflusses u ¨ber die Grenze ξ(t). In mehr als einer Raumdimension erh¨alt man mit ¨ahnlicher Technik D%cP V~n (x, t) = [∂~n u](x(t),t) , x ∈ Σ(t), L wobei V~n (x, t) die Geschwindigkeit in Richtung der Normalen der Fl¨ache Σ(t) an der Stelle x zur Zeit t ist. Das “Stefan-Problem” l¨ aßt sich dann auch in der Form ∂t u = D4u

in Ω \ Σ(t),

118

Kapitel V. Thermodynamik, Diffusion D%cP [∂~n u] L u =0

V~n =

auf Σ(t), auf Σ(t),

+ Randbedingungen auf ∂Ω und Anfangsbedingungen f¨ ur {t = 0} schreiben.

23

Aufgaben

Aufgabe 23.1. Vergleichen Sie die W¨armeleitung durch ein einfach verglastes Fenster mit der W¨ armeleitung durch ein doppelt verglastes Fenster. Die W¨armeleitkoeffizienten von Luft und Glas sind κLuft = 0, 024 W/mK und κGlas = 1, 16 W/mK . Die Randbedingungen sind durch die Innentemperatur Ti = 22 ℃ und die Außentemperatur Ta = −8 ℃ bestimmt, sowie durch die W¨arme¨ ubergangskoeffizienten αi = 7 W/m2 K und αa = 15 W/m2 K . Vergleichen Sie den Temperaturverlauf und den W¨ armefluß f¨ ur beide Fenstertypen. Wie groß ist jeweils der W¨armeverlust ? Aufgabe 23.2 (Zusammenhang: Wellengleichung – W¨armeleitungsgleichung). Es sei u die L¨ osung der Wellengleichung ∂tt u − 4u = 0

f¨ ur

x ∈ Rn

u(0, x) = f (x)

(23.10) (23.11)

ut (0, x) = 0,

(23.12)

wobei f eine Funktion mit kompaktem Tr¨ager ist. Dann liefert Z

+∞

v(t, x) := −∞

s2

e− 4t √ u(s, x)ds t

eine L¨ osung der W¨ armeleitungsgleichung vt (t, x)−4v(t, x) = 0 f¨ ur x ∈ Rn , t > 0.

Kapitel VI

Fallbeispiele 24

Ist unser Sonnensystem stabil gegen¨ uber St¨orungen?

Das Sonnensystem besteht aus n K¨orpern der Masse m1 , . . . , mn , die sich entlang der Bahnen r1 (t), . . . , rn (t) ∈ R3 bewegen. Die Bewegung erfolgt nach dem Newtonschen Gesetz mi ri00 = Fi

(i = 1, . . . , n) ,

wobei Fi die Kraft darstellt, die von allen anderen K¨orpern auf den i−ten K¨orper ausge¨ ubt wird. Wir betrachten zun¨ achst das ”Zweik¨orperproblem” mit den Gravitationskr¨ aften G m1 · m2 G m2 · m1 F1 := − (r1 − r2 ) , F2 := − (r2 − r1 ) 3 |r1 − r2 | |r2 − r1 |3 und der Gravitationskonstanten G = 6, 7 · 10−11 m3 /(s2 kg) . Es sei m1 die Masse der Sonne und m2 die der Erde. Dann folgt f¨ ur die Bewegungsgleichungen m1 r100 = −

G m1 m2 (r1 − r2 ) , |r1 − r2 |3

m2 r200 = −

G m1 m2 (r2 − r1 ) . |r1 − r2 |3

Es gilt m1  m2 , n¨ amlich m1 = 2 · 1030 kg

und

m2 = 6 · 1024 kg .

K¨ onnen wir das System durch Reduktion vereinfachen?

(24.1)

120

Kapitel VI. Fallbeispiele

F1

m1

m2

F2 r1

r2 0

Das System (24.1) enth¨ alt die Parameter G, m1 , m2 mit den Einheiten cm, g, s . Das ergibt die Koeffizientenmatrix G cm 3 g  −1 s −2 

m1 0 1 0

m2  0 1 . 0

Der Kern der Matrix wird durch den Vektor ( 0 , −1 , 1 ) aufgespannt. Es gibt also nur einen dimensionslosen Parameter ε :=

m2 ≈ 10−6 . m1

F¨ ur die Referenzgr¨ oßen w¨ ahlen wir L := Entfernung Erde ↔ Sonne = 1, 5 · 1011 m s L3 = 5 · 106 s ∼ Zeit, die die Erde braucht, um die Strecke L zu durchlaufen . T := Gm1 Skalierung: ri 7−→ Lri∗

(i = 1, 2)

t 7−→ T t∗ .

und

Damit erh¨ alt man die Gleichungen (der Stern wird wieder weggelassen): r100 = −ε

r1 − r2 |r1 − r2 |3

r200 = −

r2 − r1 . |r2 − r1 |3

(24.2)

Als Anfangsbedingungen w¨ ahlen wir r0 = L f¨ ur r2 (0) und v0 = 2πL/Jahr f¨ ur r20 (0) . Die skalierten Anfangswerte sind dann:       0 1 0 r1 (0) = r10 (0) = 0 , r2 (0) = 0 , r20 (0) = 1 . 0 0 0

24. Ist unser Sonnensystem stabil gegen¨ uber St¨orungen?

121

Wir entkoppeln das Problem (24.1) durch Einf¨ uhrung neuer Variablen: R := r1 + εr2

(gemeinsamer Schwerpunkt)

r := r1 − r2

(Abstandsvektor) .

Dann folgt: R00 = 0 ,

r00 = −(1 + ε)

r . |r|3

(24.3)

Die Wahl ε = 0 w¨ urde das Problem nicht vereinfachen. Wir f¨ uhren daher ε 6= 0 weiter mit und diskutieren den Einfluß von ε sp¨ater. R00 = 0 bedeutet, dass sich der gemeinsame Schwerpunkt gleichf¨ormig (mit konstanter Geschwindigkeit) im Raum bewegt. Zur Behandlung der zweiten Gleichung betrachten wir die etwas allgemeineren Anfangsbedingungen: r(0) = R0 ,

r0 (0) = V0 .

¨ ur die zeitliche Anderung des Drehimpulses gilt: Zwischenbemerkung: F¨

=⇒

d (1 + ε) (24.3) (r × r0 ) = r0 × r0 + r × r00 = r0 × r0 + r×r =0 dt |r|3 r(t) × r0 (t) = konstant =: L f¨ ur alle Zeiten t ≥ 0 ,

also insbesondere R0 × V0 = L . Folglich findet die Bewegung vollst¨andig in einer Ebene statt, und wir nehmen an, dass das die (x, y)-Ebene ist. Wir setzen L = (0, 0, γ)T , γ ∈ R und r(t) verl¨ auft in der (x, y)-Ebene. Transformation der zweiten Gleichung von (24.3) r00 = −(1 + ε) auf Polarkoordinaten

r |r|3



 %(t) cos φ(t) r(t) =  %(t) sin φ(t)  0

f¨ uhrt nach ein paar Rechnungen auf       cos φ − sin φ cos φ 1+ε (%00 − % φ02 )  sin φ  + (2%0 φ0 + % φ00 )  cos φ  = − 2  sin φ  . % 0 0 0

(24.4)

Multiplikation von (24.4) mit (cos φ, sin φ, 0) ergibt %00 − % φ02 = −

1+ε %2

(4.51 )

122

Kapitel VI. Fallbeispiele

beziehungsweise Multiplikation mit (− sin φ, cos φ, 0)T ergibt 2%0 φ0 + % φ00 = 0 .

(4.52 )

Die Gleichung (4.52 ) ist gleichbedeutend mit 1 d 2 0 (% φ ) = 0 % dt

%2 φ0 = konstant .

bzw.

Wegen der Drehimpulserhaltung    0    %(t) cos φ(t) % (t) cos φ(t) − %(t)φ0 (t) sin φ(t) 0 r × r0 =  %(t) sin φ(t)  × %0 (t) sin φ(t) + %(t)φ0 (t) cos φ(t) =  0  , 0 0 %2 φ0 folgt %2 φ0 = γ (konstant f¨ ur alle Zeiten!) . Diese Beziehung wird in (4.51 ) eingesetzt: 1+ε γ2 (24.5) %00 − 3 + 2 = 0 . % % Diese Gleichung (24.5) wird mit %0 multipliziert: %0 %0 %0 %00 − 3 γ 2 + 2 (1 + ε) = 0 . |{z} % %  1 d 0 2 = 2 dt % Integration u ¨ber (0, T ) ergibt:

=⇒

1 0 2 γ2 1+ε 1 0 2 γ2 1+ε % (t) + − = % (0) + − 2 2%(t)2 %(t) 2 2%(0)2 %(0) | {z } =: V (%) 1 0 2 (Energieerhaltung!) . E := % (t) + V (%) ≡ konstant | {z } |2 {z } kinetische Energie

potentielle Energie

Damit folgt p d% = ± 2(E − V (%)) dt =⇒

γ dφ = 2, dt %

und

dφ dφ dt γ = =± p . 2 d% dt d% % 2(E − V (%))

Integration u ¨ber (%0 , %) ergibt: Z

%(φ)

φ = φ(%0 ) ± %0

γ r2

p

2(E − V (r))

dr .

24. Ist unser Sonnensystem stabil gegen¨ uber St¨orungen?

123

Dieses Integral kann man explizit ausrechnen (Substitution u := 1r ). Man erh¨alt: ρ(φ) =

p 1 + q cos(φ − φ1 )

mit p :=

γ2 1+ε s

q :=

1+2

γ2E (1 + ε)2

φ1 := φ0 + arccos

%0

γ − (1 + ε)%0 p2 2Eγ 2 + (1 + ε)2

Die Gleichung (24.6) stellt einen Kegelschnitt dar (Typ h¨angt von q ab):

Parameter q

Kegelschnitt

q=0

Kreis

0



2

=⇒

Bahn ist ein Kreis (s.o.).

=⇒

L2 = γ 2 = v 2

=⇒

Bahn ist eine Ellipse.

=⇒

E>0

=⇒

Bahn ist eine Hyperbel:

=⇒

E=

v2 −1 0 am Ort x ˜n (t˜) ∈ R und bewegt sich mit der Geschwindigkeit d v˜n (t˜) = x ˜n (t˜) . dt˜

(25.7)

Die Autos sind nummeriert in aufsteigender Reihenfolge, es gilt x ˜n+1 − x ˜n > Autol¨ ange . Wir nehmen an, dass sich alle Fahrer an die gleichen Verkehrsregeln halten. ˜ n (t˜) := x Sei h ˜n+1 (t˜) − x ˜n (t˜) die Distanz zum Vorderauto. Wir definieren die diskrete Autodichte durch k %˜n (t˜) := ˜ hn (t˜)

25. Wie lang sollte die Gr¨ unphase einer Ampel sein, um Staus zu vermeiden?125 und machen die grunds¨ atzliche Annahme, dass die Geschwindigkeit v˜n von der Autodichte %˜n abh¨ angt, ˜ (˜ v˜n = U %n ) . ˜ Die Funktion U habe folgendes qualitative Aussehen:  U (m,vm)

  max

Wir k¨ onnen nun das System von Bewegungsgleichungen zu unseren N Autos aufstellen   d k ˜ x ˜n (t˜) = U . (25.8) dt˜ x ˜n+1 (t˜) − x ˜n (t˜) Um das diskrete Modell noch zu vervollst¨andigen ben¨otigen wir Randbedingungen. Es ist anschaulich klar, da wir N Autos haben, muss die Geschwindigkeit des N – ten Autos, an der Spitze der Autogruppe, vorgegeben werden. Es sei v˜N (t˜) = g(t˜) ,

(25.9)

wobei g eine gegebene Funktion ist. Das von uns aufgestellte System (25.8), (25.9) ist dimensionsbehaftet. Wir wollen es nun in ein dimensionsloses System u ¨berf¨ uhren. Sei L eine charakteristische abstrakte L¨ angeneinheit und T eine charakteristische abstrakte Zeiteinheit. Wir definieren dimensionslose Variablen durch x ˜n (t˜) t˜ xn (t) := , t := . (25.10) L T Aus der Beschaffenheit der Straße l¨aßt sich eine maximale Autodichte %∞ angeben. Die maximale Autodichte, auch Staudichte genannt, gibt an, ab welcher maximalen Dichte kein Verkehrsfluß mehr m¨oglich ist. Ein weiterer Indikator der Straße ist die maximale Verkehrskapazit¨ at q∞ , welche angibt wieviele Autos pro Zeiteinheit maximal die Straße passieren k¨ onnen. Die dimensionslose Massendichte und das dimensionslose Geschwindigkeitsfeld lauten dann ˜ (˜ U %n ) %˜n (t˜) , U (%n ) := . (25.11) %n (t) := %∞ q∞ /%∞ Aus (25.10) und (25.11) schliessen wir %n (t) =

1 k · %∞ x ˜n+1 (t˜) − x ˜n (t˜)

126

Kapitel VI. Fallbeispiele =

und

k

k %∞ L xn+1 (t) − xn (t) ·

q∞ ˜ (˜ U %n ) = U (%n ) %∞  q∞  k k . = U · %∞ %∞ L xn+1 (t) − xn (t)

Weiter d 1 d˜ xn dt˜ 1 ˜ xn (t) = = U (˜ %n ) T ˜ dt L dt dt L  k 1 q∞  k · = T U . L %∞ %∞ L xn+1 (t) − xn (t) Wir definieren die Referenzzeit T durch T := L

%∞ q∞

und setzen als dimensionslosen Parameter ε :=

k %∞ L

.

Aus (25.8) und (25.9) erhalten wir die Gleichungen in der dimensionslosen Form   d ε xn (t) = U (%n (t)) = U dt xn+1 (t) − xn (t) vN (t) = g(t) .

(25.12) (25.13)

Wir interessieren uns f¨ ur die zeitliche Entwicklung der Massendichte – in unserem Fall der Autodichte. Um nicht jede Teilchenbahn xn (t) separat zu verfolgen, leiten wir aus unserem diskreten Modell (25.12)-(25.13) ein kontinuierliches Modell in t und x ab. Wir beginnen damit, dass wir annehmen, es existiere eine kontinuierliche Funktion %(t, x), f¨ ur welche %n (t) = %(t, xn (t))

(25.14)

gilt. Es sei % hinreichend glatt, insbesondere existiert ∂t % und ∂x % . Wir k¨onnen nun einerseits aus Gleichung (25.12) folgern, dass  d 1 (25.12) %n (t) = − vn+1 (t) − vn (t) 2 dt (xn+1 (t) − xn (t)) =

−%n (t)

vn+1 (t) − vn (t) . xn+1 (t) − xn (t)

(25.15)

25. Wie lang sollte die Gr¨ unphase einer Ampel sein, um Staus zu vermeiden?127 Da v(t, x) := U (%(t, x)) , so ist

vn+1 (t) − vn (t) ∼ ∂x v(t, xn (t)) . xn+1 (t) − xn (t)

Wir erhalten aus (25.15) somit d %n (t) = −%(t, xn (t))∂x v(t, xn (t)) . dt

(25.16)

Andererseits k¨ onnen wir mit (25.14) und der Kettenregel schliessen d %n (t) = ∂t %(t, xn (t)) + ∂x %(t, xn (t)) vn (t) . | {z } dt = v(t, xn (t))

(25.17)

Aus (25.16) und (25.17) zusammen folgt −%(t, xn (t))∂x v(t, xn (t)) = ∂t %(t, xn (t)) + ∂x %(t, xn (t)) v(t, xn (t)) . Damit gilt  ∂t % + ∂x %v = 0 .

(25.18)

Mit v(t, x) = U (%(t, x)) ergibt sich ein kontinuierliches Modell, welches die zeitliche und r¨ aumliche Entwicklung der Autodichte beschreibt:  ∂t % + ∂x % U (%) = 0 , %(t, x∗ ) = g(t) . Wir mußten jedoch bei der Herleitung des Modells (25.18) nicht u ¨ber die diskreten Zust¨ ande gehen. Nehmen wir an %(t, x) sei eine kontinuierliche Massendichte von Autos zum Zeitpunkt t im Ort x ∈ R. Die Gesamtmasse an Autos Z m(Ω(t), t) = %(t, x)dx Ω(t)

sei zu jedem Zeitpunkt t konstant u ¨ber einem Gebiet Ω(t). Das heisst, Z  d %(t, x)dx = 0 . dt Ω(t) Mit dem Reynoldschen Transporttheorem 11.5 folgt Z   ∂t % + div(%v) dx = 0 . Ω(t)

(25.19)

128

Kapitel VI. Fallbeispiele

Hierbei ist v = v(%) die durchschnittliche Autogeschwindigkeit. Da Ω(t) beliebige Testvolumina sind, gilt aus (25.19) ∂t % + div(% v(%)) = 0 .

(25.20)

Wir m¨ ochten nun verschiedene Verkehrsflussmodelle vorstellen. Die Modelle unterscheiden sich durch die Annahmen an das Verhalten der Geschwindigkeit in Bezug zur Autodichte. 1. Lighthill-Whitham-Modell 1)  v(%) := vmax 1 −

%  %max

,

0 < % < %max

Das heisst, je n¨ aher die Autodichte % der Staudichte %∞ , um so geringer die Geschwindigkeit v. Die Kopplung ist linear. Eingesetzt in (25.20) ergibt  ∂% ∂  %  + vmax % 1 − =0. ∂t ∂x %max % Wir setzen %∗ := 1 − 2 %max

1 ∂  ∗ 2  ∂%∗ + % =0. ∂t 2 ∂x

=⇒

(25.21)

Gleichung (25.21) ist die inviscide Burgers-Gleichung. 2. Greenberg-Modell  %  v(%) := vmax ln , %max

0 < % < %max .

Physikalisch bedeutet dieser Ansatz, dass bei geringer Verkehrsdichte die Autos mit einer sehr hohen Geschwindigkeit fahren. Die Geschwindigkeit v ist unbeschr¨ ankt. 3. Payne-Whitham-Modell  ∂ ∂ %+ % v(%) = 0 , ∂t ∂x  ∂ ∂ (%v) + %v 2 + p(%) = 0 , ∂t ∂x mit p(%) = a%γ , a > 0 , γ ≥ 1 . Der Nachteil bei diesem Modell ist, dass es unter Umst¨ anden L¨ osungen mit negativer Geschwindigkeit geben kann. 1) Lighthill, Michael James: 1924-1998, britischer Mathematiker. Spezialisiert auf Str¨ omungsdynamik, lieferte wichtige Beitr¨ age zur Aeroakustik.

25. Wie lang sollte die Gr¨ unphase einer Ampel sein, um Staus zu vermeiden?129

Die Burgers-Gleichung 2) Wir m¨ ochten uns nun mit dem Lighthill-Whitham-Modell n¨aher besch¨aftigen. Im vorherigen Abschnitt haben wir gesehen, das wir aus unserer Modellierung die Burgers Gleichung erhalten. Im Folgenden wollen wir das Verhalten m¨oglicher L¨ osungen n¨ aher untersuchen. Gegeben sei 1 ∂t u + ∂x (u2 ) = 0 2 u(0, x) = g(x)

auf (t, x) ∈ (0, ∞) × R ,

(25.22)

f¨ ur x ∈ R .

(25.23)

Problem (25.22), (25.23) l¨ aßt sich auch schreiben als ∂t u + u ∂x u = 0 u(0, x) = g(x)

auf (t, x) ∈ (0, ∞) × R ,

(25.24)

f¨ ur x ∈ R .

(25.25)

Wir untersuchen, wie sich eine L¨osung von (25.24), (25.25) entlang von Trajektorien im Raum verh¨ alt. Das heisst, wir betrachten das Verhalten von u(t, x(t)) in der Zeit. Mit der Kettenregel ergibt sich d u(t, x(t)) = ∂t u(t, x(t)) + x0 (t)∂x u(t, x(t)) . dt Unter der Annahme x0 (t) = u(t, x(t)) ,

(25.26)

ergibt sich unter Nutzung von (25.24), dass d u(t, x(t)) = 0 dt

(25.27)

gelten muss. Aus Gleichung (25.25) erhalten wir u(0, x(0)) = g(x(0)) . Damit gilt aus (25.27), dass u(t, x(t)) = g(x(0)) . (25.28) Wir hatten f¨ ur diese Schlussfolgerung die Annahme (25.26) gemacht. Mit (25.28) folgt, dass x(t) = x(0) + g(x(0))t (25.29) gilt. Eine L¨ osung von Problem (25.22), (25.23) ist u(t, x) = g(x0 )

mit

x = x0 + g(x0 )t .

Das bedeutet u ist auf Geraden der Form x = x0 + g(x0 )t konstant. Wir betrachten im Folgenden unterschiedliche Anfangsdaten g. 2) Burgers, Johannes Martinus: 1895-1981, niederl¨ andischer Physiker. Spezialisiert in Str¨ omungsmechanik und Materialtheorie, bekannt f¨ ur die Burgers Gleichung und dazugeh¨ orige Turbulenzmodelle, sowie das Burgers Material in der Viskoelastizit¨ at.

130

Kapitel VI. Fallbeispiele

Beispiel 25.1. Sei g stetig gegeben durch

g(x) =

 

1 1−x  0

g

 

f¨ ur x≤0 f¨ ur 0 ≤ x ≤ 1 ,  f¨ ur x≥1 x

Wir m¨ ochten nun die Trajektorien einzeichnen, f¨ ur die u konstant ist: u

x

Alle Geraden u ¨berdecken die gesamte (t, x)–Ebene, sie schneiden sich jedoch.



Beispiel 25.2. Sei g gegeben durch   ur x≤0   0 f¨ x f¨ ur 0 ≤ x ≤ 1 g(x) = .   1 f¨ ur x≥1 u

x

 Nun folgen zwei Beispiele bei denen wir gleich unstetige Anfangsdaten vorgeben. Beispiel 25.3. Sei  g(x) =

−1 1

f¨ ur x ≤ 0 f¨ ur x > 0

 .

F¨ ur den Kegel |x| < t existieren keine L¨osungstrajektorien. Das heisst, das L¨osungsverhalten in diesem Bereich der (t, x)–Ebene ist unklar. Als st¨ uckweise stetige L¨ osungen k¨ onnen wir zum Beispiel w¨ahlen:   ur x < −t   −1 f¨ 0 f¨ ur −t < x < t u1 (t, x) =   1 f¨ ur t f 0 (ur )

.

Falls (25.44) gilt, so ist  U (., ξ) :=

Ul Ur

f¨ ur ξ ≤ 0 f¨ ur ξ ≥ 0

 .

(25.44)

25. Wie lang sollte die Gr¨ unphase einer Ampel sein, um Staus zu vermeiden?137 die gesuchte stetige L¨ osung des Randwertproblems (25.36), (25.37) und (25.38). Die Bedingung (25.44) nennt man Entropiebedingung. Die Entropiebedingung ist gleichbedeutend mit der Erf¨ ullung des 2. Hauptsatzes der Thermodynamik. Dieser besagt, dass ein physikalisch realer Zustand beim Durchlaufen einer Unstetigkeit seine Entropie nur erh¨ohen kann, und nicht verringern. Nur schwache L¨ osungen, welche die Entropiebedingung erf¨ ullen, sind physikalisch sinnvolle L¨ osungen. F¨ ur unsere Situation, da f (u) = 12 u2 , l¨asst sich (25.44) schreiben zu ul >y 0 > ur =⇒

ul > ur .

Zu Beispiel 25.4. Die Funktionen u2,1 und u2,β waren schwache L¨osungen. Aber nur u2,1 erf¨ ullt die Entropiebedingung, und ist damit die einzig physikalisch sinnvolle L¨ osung. Zu Beispiel 25.3. Die Funktionen u1,2 und u2,α waren schwache L¨osungen. Aber nur u1,α erf¨ ullt die Entropiebedingung. Diese L¨osung wird Verd¨ unnungswelle genannt. Allgemein gilt der Satz (ohne Beweis): Satz 25.7. Schwache L¨ osungen, welche die Entropie-Bedingung (25.44) erf¨ ullen, sind eindeutig. Wir m¨ ochten nun die Antwort auf unsere Ausgangsfrage geben. Beispiel 25.8. Wir w¨ ahlen eine Anwendung aus dem Verkehr. An einer roten Ampel wartet eine endliche Anzahl von Autos. Wir wollen die Bewegung der Autos beschreiben, wenn die Ampel auf gr¨ un wechselt. Die Anfangswerte zum Zeitpunkt t = 0 sind gegeben  ur x≤0  0 f¨ 1 f¨ ur 0 < x ≤ 1 g(x) =  0 f¨ ur x>1

durch   . 

Aus der Sprungbedingung (25.34) folgt 1 y (t) = (ul + ur ) = 2 0

(

1 2 y(t) 2t

f¨ ur t < 2

. f¨ ur t > 2

Das heisst, f¨ ur t < 2 gilt y 0 (t) =

1 2



)

y(t) =

1 t+1, 2

138

Kapitel VI. Fallbeispiele

denn γ1 muss am Punkt P = (0, 1) starten. Ab x = 1 breitet sich ein Stoss mit der Geschwindigkeit y 0 (t) = 21 aus. An der Stelle x = 0 beginnt eine Verd¨ unnungswelle. Somit lautet f¨ ur t < 2 die physikalisch korrekte L¨osung  0    x/t u1 (t, x) = 1    0

f¨ ur x≤0 f¨ ur 0 2 gilt y 0 (t) =

y(t) 2t



y(t) =

Da γ2 im Punkt P = (2, 2) startet, muss C =  ur  0 f¨ x/t f¨ ur u2 (t, x) =  0 f¨ ur





tC ,

2 sein. F¨ ur t > 2 lautet die L¨osung

 x ≤ 0√  0< √ x ≤ 2t  . 2t < x

Das bedeutet, f¨ ur t > 2 holt die Verd¨ unnungswelle den Stoss ein. Die L¨osung ist ab diesem Zeitpunkt N –f¨ ormig (N -Welle). An folgender Graphik l¨ asst sich gut erkennen, wie eine stetige wellenartige L¨ osung mit fortlaufender Zeit immer steiler wird und zum Zeitpunkt t0 bricht, um in eine unstetige L¨ osung u ¨berzugehen.

26. Wie akkretiert ein Stern Materie im interstellaren Medium ?

26

139

Wie akkretiert ein Stern Materie im interstellaren Medium ?

Wir betrachten die kompressiblen Eulerschen Gleichungen der Gasdynamik (siehe Kapitel 16) ∂t % + div(% v) = 0 , %∂t v + %(v · ∇)v + ∇p = % f , %∂t u + %u∇u + p divu − div(κ∇T ) = % g . Hierbei ist % die Massendichte, v das Geschwindigkeitsfeld, u die innere Energiedichte, p der Druck, T die Temperatur und f, g externe Kr¨afte. Der W¨armefluß verh¨ alt sich nach q = κ∇T . Die innere Energiedichte verh¨alt sich hierbei nach u(%, T ) = cV T und der Druck p(%, T ) = cR %T , wobei cV und cR spezifische Konstanten sind, bestimmt durch das ideale Gas. Betrachten wir den barotropen Fall, bei welchem die Temperatur konstant ist, so reduzieren sich die Eulerschen Gleichungen zu ∂t % + div(% v) = 0 ,

(26.45)

%∂t v + %(v · ∇)v + ∇p = % f ,

(26.46)

mit dem konstitutiven Gesetz f¨ ur den Druck p(%) = a%γ , γ ≥ 1 .

(26.47)

Akustische Approximation der Eulerschen Gleichungen Wir wollen die Ausbreitung von Schall in Gasen zeigen. Das heisst, wir m¨ochten das Ph¨ anomen der Wellenausbreitung in Gasen untersuchen. Wir beschr¨anken uns bei der Analyse auf barotrope Str¨omungen in einer Dimension ohne externe Kr¨afte (also f ≡ 0) : ∂t % + v∂x % + %∂x v = 0 ,

(26.48)

%(∂t v + v∂x v) + p|% ∂x % = 0 .

(26.49)

Wir k¨ onnen nun (26.48) umformen zu p|% (∂t % + v∂x %) + p|% ∂x v = 0 . %

(26.50)

Wir setzen  w :=

% v



 ,

A0 (w) :=

p|% /% 0

0 %



 ,

B(w) :=

0 p|%

p|% 0

 .

140

Kapitel VI. Fallbeispiele

Aus System (26.50), (26.49) wird    0 = A0 (w){∂t w + v∂x w} + B(w)∂x w = A0 (w)∂t w + vA0 (w) + B(w) ∂x w. 0 | {z } =: A1 (w) Dann ist A0 (w)∂t w + A1 (w)∂x w = 0

(26.51)

mit  A1 (w) :=

(vp|% )/% p|%

p|% v%

 .

Sei W := (%0 , v0 )T ein konstanter Zustand. Man sieht leicht W ist L¨osung von (26.48) , (26.49). Wir wollen nun Gleichung (26.51) um diesen station¨aren Zustand W linearisieren. Sei     % %˜ =w =W +ε . v v˜ Wir sehen ε als potentiell klein an. Aus der Linearisierung nach dem Vergleich der ε–Terme mit der kleinsten Ordnung erhalten wir     %˜ %˜ A0 (W )∂t + A1 (W )∂x =0. (26.52) v˜ v˜ Da p|% > 0, so ist A0 (W ) positiv definit, und in Diagonalgestalt. Sei A0 (W ) =: H 2 , dann aus (26.52) ergibt sich     %˜ %˜ −1 −1 H∂t + {H A1 (W )H }H∂x =0 (26.53) v˜ v˜ Da H konstant ist, ist Gleichung (26.53) f¨ ur H(˜ %, v˜)T eine Transportgleichung mit −1 −1 Driftkoeffizient H A1 (W )H . Das heisst, die Eigenwerte von H −1 A1 (W )H −1 sind die Ausbreitungsgeschwindigkeiten von St¨orungen ε(˜ %, v˜)T bez¨ uglich des Grundflusses W . Es gilt H −1 A1 (W )H −1 = H −1 {v0 A0 (W ) + B(W )}H −1 = v0 I + H −1 B(W )H −1 mit H

−1

=

−1 p p|% (%0 )/%0 0

Mit c2 := p|% (%0 )

0 √ −1 %0

! .

26. Wie akkretiert ein Stern Materie im interstellaren Medium ?

141

erhalten wir H

−1

B(W )H

−1

 √

%0 /c 0

0 √ = 1/ %0   0 ±c = . ±c 0



0 c2

c2 0

 √

%0 /c 0

0 √ 1/ %0



Die Eigenwerte dieser Matrix sind ±c. Die Eigenwerte von H −1 A1 (W )H −1 sind daher λ1,2 = v0 ± c . Die ε–St¨ orungen breiten sich also mit der Geschwindigkeit c relativ zur Grundstr¨ omung v0 aus. Damit ist q (26.54) c = p|% (%0 ) die Ausbreitungsgeschwindigkeit von Schallwellen. Denn: Betrachte Gleichung (26.52), wobei mit bisheriger Definition gilt  2    c /%0 0 0 c2 A0 (W ) = , A1 (W ) = v0 A0 (W ) + . 0 %0 c2 0 Sei v0 = 0, so k¨ onnen wir schliessen c2 ∂t %˜ + c2 ∂x v˜ = 0 %0

=⇒

%0 ∂t v˜ + c2 ∂x %˜ = 0

=⇒ ∂t v˜ +

∂t %˜ + %0 ∂x v˜ = 0 ,

(26.55)

c2 ∂x %˜ = 0 . %0

(26.56)

Differenziere (26.55) , (26.56) nach t und nach x, dann erhalten wir ∂tt %˜ = −%0 ∂xt v˜ = c2 ∂xx %˜ , ∂tt v˜ = −

c2 ∂xt %˜ = c2 ∂xx v˜ . %0

Dies aber sind die eindimensionalen Wellengleichungen ∂tt %˜ − c2 ∂xx %˜ = 0 , ∂tt v˜ − c2 ∂xx v˜ = 0 . Die St¨ orterme %˜ und v˜ gen¨ ugen jeweils der eindimensionalen Wellengleichung mit Ausbreitungsgeschwindigkeit ±c . Das heisst, das Verhalten als Wellenph¨anomen gilt sowohl f¨ ur die Massendichte als auch f¨ ur das Geschwindigkeitsfeld. γ Es gilt weiter, es ist mit p = p0 %/%0 , wobei p0 = a%γ0 , ⇒

p|% (%) =

p0 γ  % γ−1 %0 %0

142

Kapitel VI. Fallbeispiele ⇒

c=

r r q γ−1   p0 γ  %0  p0 γ  = . p|% (%0 ) = %0 % %0 0

(26.57)

F¨ ur die Luft bei 0°C gilt etwa %0 ≈ 1, 293 kg/m3 , p0 ≈ 1, 0132 bar = 1, 0132 · 105 kg/ms2 , γ ≈ 1, 402 , so hat die Schallgeschwindigkeit c folgenden Wert s r kg m3 m p0 γ 1, 0132 · 1, 402 c= · 105 2 ≈ 331 . ≈ %0 1, 293 ms kg s Bemerkung 26.1. Die Betrachtung l¨asst sich leicht analog in h¨oheren Dimensionen f¨ uhren. Wir erhalten dann, durch Linearisierung der n–dimensionalen EulerGleichungen um eine konstante Hintergrundstr¨omung, die n-dimensionalen Wellengleichungen ∂tt %˜ − c2 4˜ %=0, ∂tt v˜ − c2 4˜ v =0.

Wellengleichung Wir untersuchen die Wellengleichung im Eindimensionalen ∂tt u − c2 ∂xx u = 0   ⇒ (∂t + c∂x )(∂t − c∂x ) u = 0 . Es finden hier zwei Transportph¨anomene gleichzeitig statt (∂t + c∂x )v1 = 0



v1 ist konstant auf ξ = x + ct ,

(∂t − c∂x )v2 = 0



v2 ist konstant auf η = x − ct .

Mit der Koordinatentransformation ξ := x + ct ,

η := x − ct ,

u(t, x) = u ˜(ξ, η)

gilt f¨ ur die partiellen Ableitungen  ∂t u = ∂ξ u ˜∂t ξ + ∂η u ˜∂t η = c ∂ξ u ˜ − ∂η u ˜ ,  ∂tt u = c2 ∂ξξ u ˜ − 2∂ξη u ˜ + ∂ξξ u ˜ ,

(26.58)

26. Wie akkretiert ein Stern Materie im interstellaren Medium ?

143

∂xx u = ∂ξξ u ˜ + 2∂ξη u ˜ + ∂ξξ u ˜. Eingesetzt in (26.58) ergibt ∂ξη u ˜=0. Die allgemeine L¨ osung lautet u ˜(ξ, η) = f (ξ) + g(η) mit f und g beliebige Funktionen. Durch R¨ ucktransformation erhalten wir die L¨ osungsdarstellung der Wellengleichung u(t, x) = f (x + ct) + g(x − ct) . Bemerkung 26.2. • Das heisst, anders als bei Transportgleichung wird ein Signal im Eindimensionalen in zwei Richtungen vorangetragen. • Und im Gegensatz zur Burgers-Gleichung l¨aßt sich dies nur durch die zus¨atzliche Massenerhaltung erreichen.

Entdimensionalisierung der Eulerschen Gleichungen, Mach-Zahl 3) Wir betrachten die Euler-Gleichungen f¨ ur barotrope Str¨omungen im 3-dimensionalen Raum. Die dimensionslosen Variablen seien definiert durch x∗ =

x , L

t∗ =

t , T

(26.59)

und die dimensionslosen Funktionswerte duch %∗ (t∗ , x∗ ) =

%(t, x) , %∞

v ∗ (t∗ , x∗ ) =

v(t, x) , |v∞ |

p∗ (t∗ , x∗ ) =

p(t, x) . (26.60) p∞

Die Anzahl der dimensionslosen Referenzparameter in (26.59) und (26.60) ist u ¨berbestimmt. Aus Gr¨ unden der Konsistenz setzen wir daher T :=

L |v∞ |

und

p∞ := a%γ∞ .

Betrachte zuerst die Massenerhaltung: ∂t % + div(% v) = 0 .

(26.61)

3) Mach, Ernst: 1838-1916, Physiker und Philosoph. Best¨ atigte experimentell den Dopplereffekt und schuf die Grundlagen der Gasdynamik, welche von Ludwig Prandtl weiterentickelt wurde. Ernst Mach gilt als Mitbegr¨ under des Empiriokritizismus und als Wegbereiter der Gestaltpsychologie

144

Kapitel VI. Fallbeispiele

Die partiellen Ableitungen lassen sich schreiben zu “ %∞ |v∞ | %∞ dt∗ ” = ∂t∗ %∗ = ∂t∗ %∗ , ∂t % = %∞ ∂t∗ %∗ dt T L div(%v) =

3 X

∂xi (%v) =

i=1

=

i=1

3 “ X %∞ i=1

3 X ` ´ ∂xi % v + %∂xi v

L

∂x∗i %∗ |v∞ | v ∗ + %∞ %∗

” |v∞ | %∞ ∂x∗i v ∗ = |v∞ |div(%∗ v ∗ ) . L L

Eingesetzt in (26.61) ergibt ´ %∞ |v∞ | ` ∂t∗ %∗ + div(%∗ v ∗ ) = 0 . L

Wir erhalten ∂t∗ %∗ + div(%∗ v ∗ ) = 0 , das heisst es gibt keinen Unterschied zwischen der dimensionsbehafteten und der entdimensionalisierten Massenerhaltung. Betrachte die Impulserhaltung: O.B.d.A. wir setzen die externe Kraft f ≡ 0 . Die Impulserhaltung komponentenweise lautet dann  %∂t vi % v · ∇ vi + ∂xi p = 0 , i = 1, 2, 3 . (26.62) Es gilt

´ %∞ |v∞ |2 ` ∗ 1 ∂t∗ vi∗ = % ∂t∗ vi∗ , T L „X « „X « 3 3 ` ´ 1 % v · ∇ vi = % vj ∂xj vi = %∞ %∗ |v∞ |vj∗ ∂x∗j |v∞ |vi∗ L j=1 j=1

%∂t vi = %∞ %∗ |v∞ |

= ∂xi p =

´ %∞ |v∞ |2 ∗ ` ∗ % v · ∇ vi∗ , L

1 p∞ ∂x∗i p∗ . L

Eingesetzt in (26.62) ergibt f¨ ur i = 1, 2, 3  %∞ |v∞ |2 ∗ ∗  %∞ |v∞ |2 ∗ 1 % ∂t∗ vi∗ + % v · ∇ vi∗ + p∞ ∂x∗i p∗ = 0 . L L L

(26.63)

Wir definieren die (globale) Mach-Zahl Ma durch Ma := p

|v∞ | p∞ /%∞

.

Die Mach-Zahl gibt das Verh¨ altnis von Tr¨agheitskr¨aften zu Kompressionskr¨aften an. Sie ist eine dimensionslose Kennzahl der Geschwindigkeit.

26. Wie akkretiert ein Stern Materie im interstellaren Medium ?

145

Wir dividieren Gleichung (26.62) durch (%∞ |v∞ |2 )/L und erhalten die entdimensionalisierte Impulserhaltung  1 %∗ ∂t∗ v ∗ + %∗ v ∗ · ∇ v ∗ + 2 ∇p∗ = 0 . Ma Nach Rechnung (26.57) hatte die p Schallgeschwindigkeit zur Hintergrundstr¨omung (%0 , v0 ) folgende Gestalt c%0 = (p0 γ)/% . In gleicher Weise ist die Schallgeschwindigkeit zur Hintergrundstr¨ omung (%∞ , v∞ ) gegeben durch r q p∞ γ. c∞ := c%∞ = p|% (%∞ ) = %∞ Die Mach-Zahl l¨ asst sich also umformen zu Ma =

|v∞ | √ γ c∞

und reduziert sich damit auf das Verh¨altnis vom Betrag der Geschwindigkeit |v∞ | ¨ zur Schallgeschwindigkeit c∞ . Ma  1 bedeutet Uberschallstr¨ omung und Ma  1 Unterschallstr¨ omung. Bemerkung 26.3. Die Mach-Zahl Ma ist das Maß f¨ ur die Kompressibilit¨at. F¨ ur Ma → 0 ergibt sich der inkompressible Limes der Euler-Gleichungen.

Sph¨arisch symmetrische Akkretion eines Sternes Wir betrachten einen sph¨ arisch symmetrischen, nicht rotierenden Stern im interstellaren Medium, welcher Masse akkretiert durch Gravitation. Annahmen: 1. Kugelsymmetrie 2. Newton’sche Mechanik 3. station¨ arer Prozess 4. kein Magnetfeld, keine Selbstgravitation, kein Energietransport durch Strahlung oder W¨ arme. Die Str¨ omung der akkretierten Masse verhalte sich nach den Eulerschen Gleichungen der Gasdynamik (26.45)-(26.47). Die externe Kraft ist durch das Newton’sche Gravitationspotential gegeben (Annahme 2). Aus der ersten Annahme gilt die Kugelsymmetrie, das heisst f = −G

M (|x|) x · . |x|2 |x|

146

Kapitel VI. Fallbeispiele

Aus (26.45)-(26.47) erhalten wir damit ∂t % + div(% v) = 0 ,

(26.64)

1 M (|x|) x · ∂t v + (v · ∇)v = − ∇p − G , % |x|2 |x|

(26.65)

Zuerst transformieren wir System (26.64)-(26.65) auf kugelsymmetrische Koordinaten (Annahme 1). Sei r = |x| =

q x21 + x22 + x23 ,

und

%(t, x) = %˜(t, r) ,

v(t, x) = v˜(t, r)

x . r

Zu (26.64): Es ist ∂xi r =

xi , r

∂xi

1 xi xi 1 1 x2 = − xi 2 = − 3i . r r r r r r

Wir erhalten daher ∂t % = ∂t %˜ , div(%v) =

3 X

∂xi (%v) =

i=1

3 X

“1 ` ´ x2 ´ x2 ” 1 ` ∂r %˜v˜ 2i + %˜v˜ − 3i = 2 ∂r r2 %˜v˜ . r r r r i=1

Eingesetzt in (26.64) erhalten wir die transformierte Gleichung ∂t %˜ +

 1 ∂r r2 %˜v˜ = 0 . 2 r

(26.66)

Zu (26.65): Es ist x xi , vi = v˜ , r r 0 1 0 1 0 1 0 1 „ « ε1i x1 x1 x1 “ 1 1 1 ” xi x i ∂xi v = ∂xi v˜ @ x2 A = ∂r v˜ 2 @ x2 A + v˜ @ ε2i A + v˜ @ x2 A − 2 , r r r r r x3 x3 ε3i x3 ∂t v = ∂t v˜

wobei εji = 0 f¨ ur j 6= i und εji = 1 f¨ ur j = i . Somit gilt f¨ ur den nichtlinearen Term 0 1 0 1 0 1 ff 3  x x1 ε1i X ` ´ x2i @ 1 A x2 x i 2 2@ ε2i A 2 − v˜ @ x2 A 4i v·∇ v = v˜∂r v˜ 3 x2 + v˜ r r r i=1 x3 x3 ε3i 0 1 0 1 x1 x1 x 1 x 1 = v˜∂r v˜ + v˜2 @ x2 A 2 − v˜2 @ x2 A 2 = v˜∂r v˜ . r r r r x3 x3 F¨ ur den Druckgradienten gilt 1 1 x − ∇p = − ∂r p˜ . % %˜ r Aus (26.65) wird ∂t v˜

x 1 x GM x x + v˜∂r v˜ = − ∂r p˜ − 2 . r r %˜ r r r

26. Wie akkretiert ein Stern Materie im interstellaren Medium ?

147

Nach Division durch x/r erhalten wir 1 GM ∂t v˜ + v˜∂r v˜ = − ∂r p˜ − 2 . %˜ r

(26.67)

¨ Der Ubersichtlichkeit halber lassen wir Tilde weg, bleiben jedoch immer in kugelsymmetrischen Koordinaten.

Nach Annahme 3 betrachten wir hier einen station¨aren Prozess, das heisst ∂t %˜ = ∂t v˜ = 0 . Aus (26.66) erhalten wir  1 ∂r r2 %v = 0 2 r

r2 %v = const =: −

=⇒

M˙ . 4π

(26.68)

Es gibt also einen konstanten Massenfluss M˙ = −4πr2 %v

,

wobei 4πr2 die Oberfl¨ ache und %v den lokalen Massenfluss darstellt. Aus (26.67) 1 GM v∂r v = − ∂r p − 2 . % r Mit der Kettenregel  1 1 GM ∂r v 2 + p|% ∂r % + 2 = 0 . 2 % r

(26.69)

Die Schallgeschwindigkeit in jedem Punkt ist definiert durch cs (t, r) :=

q

p|% (%(t, r))

.

(26.70)

Siehe Definition (26.54), wo die Schallgeschwindigkeit bzgl. einer konstanten Grundstr¨ omung definiert wurde. Aus (26.68) wissen wir % = const/(r2 v). Damit gilt     1 r2 v const 1  1 2 ∂r % =  ∂ = r v − ∂r (r2 v) = − 2 ∂r (r2 v) . r  2 2 2 % const r v (r v) r v 

(26.71)

(26.70) und (26.71) eingesetzt in (26.69) ergibt   GM 1 c2 ∂r v 2 − 2s ∂r r2 v + 2 = 0 . 2 r v r

(26.72)

148

Kapitel VI. Fallbeispiele

Wir formen weiter um −

  c2s c2s 2c2s c2s 2 2 v∂r v ∂ r v = − 2rv + r ∂ v = − − r r r2 v r2 v r v2  2c2 c2 1 = − s − s2 ∂r v 2 . r v 2

(26.73)

(26.73) eingesetzt in (26.72) ergibt  2c2  c2 1 1 GM ∂r v 2 − s − s2 ∂r v 2 = − 2 . 2 r v 2 r Wir sortieren die einzelnen Summanden um und erhalten      1 c2s GM 2c2s r 2 1 − 2 ∂r v = − 2 1 − 2 v r GM

.

(26.74)

Wir interpretieren nun das Ergebnis 1. Wir betrachten große Entfernungen r: In diesem Fall ist die p Massendichte % = %0 ≡ const. Dann ist die Schallgeschwindigkeit cs = p|% (%0 ) ebenfalls konstant. Die rechte Seite von (26.74) ist daher positiv und nahe Null. F¨ ur große r befindet sich das Gas in Ruhe (v = 0) und die Geschwindigkeit nimmt zum Zentrum hin zu. Allgemein gilt  f¨ ur große r : ∂r v 2 < 0 . Damit die linke Seite von (26.74) positiv bleibt muss gelten c2 1 − s2 < 0 , v 2 2 ur große r haben wir eine Unterschalldas heisst v < cs . Das bedeutet f¨ str¨ omung. 2. Die rechte Seite von (26.74) verschwindet an einem ausgezeichneten Radius rs , welcher erf¨ ullt GM rs := 2 . 2cs (rs ) Dann muss auch die linke Seite von (26.74) verschwinden, das heisst  2  ∂rv =0 

oder

1−

c2s =0. v2

 c2 are unphysikalisch. Daher muss 1 − vs2 = 0, das heisst c2s = v 2 ∂r v 2 = 0 w¨ f¨ ur r = rs . Der Radius rs wird Schallradius bzw. Schallpunkt bezeichnet . 3. F¨ ur den Fall, das die Str¨ omung durch den Schallpunkt hindurch geht, gilt ¨ v 2 > c2s f¨ ur 0 < r  rs . In diesem Bereich kann somit eine Uberschallstr¨ omung existieren.

Sachregister Akustische Approximation, 139 asymptotisch aquivalent, 17 ¨ Entwicklung, 14, 18 Matching, 88, 91 N¨ aherung, 17 Ausbreitungsgeschwindigkeit, 141 Bahnlinien, 61 Beobachtersunabh¨ angigkeit, 66, 68 Beobachterwechsel, 67 Boltzmann-Formel, 110 Buckinghamsches Π–Theorem, 6 Burgers-Gleichung, 129 Entropiebedingung, 135 Grenzschichtverhalten, 135 inviscide, 128 viskose, 135 Clausius-Duhem Ungleichung, 107 Dimensionsanalyse, 3 Dissipationsungleichung, 107 Drehimpulserhaltung, 47, 64, 65 Drehmoment, 64 dynamische Viskosit¨ at, 81 Energie inneren, 58 kinetische, 47 potentielle, 48 Energieerhaltung, 58, 59, 108 Entdimensionalisierung, 85 Entropie, 110, 135 Entropiebedingung, 135

Entwicklung ¨außere, 91 asymptotisch, 14, 18 formal asymptotisch, 27 innere, 92 Eulersche Entwicklungsformel, 62 Gleichungen, 80, 81, 88, 95, 139 Eulersche Gleichungen, 81, 139 Entdimensionalisierung, 143 Fourier Gesetz, verallgemeinertes, 70 Frech´et-differenzierbar, 36 gest¨ort regul¨ar, 28 singul¨ar, 28 Grenzschichten, 91 Grenzschichtverhalten, 31, 135 Grundgleichungen, 79 gut konditioniert, 36 Haftbedingung, 81 Hauptsatz der Thermodynamik, 2., 107, 137 Hele-Shaw-Str¨omung, 95, 96 hydrodynamischen Grenz¨ ubergang, 53 Impulsdichte, 51 Impulserhaltung, 46, 57, 59, 79 kinematische Viskosit¨at, 86 kompressibel, 139 konstitutive Gleichungen, 59, 75

150 konstitutives Gesetz Druck, 68 Spannungstensor, 70 W¨ armefluss, 69 Kontinuit¨ atsgleichung, 56, 59, 79 Kontinuumsmechanik, 53 Koordinaten Eulersche, 60 Lagrange, 60 Materielle, 60 LagrangeKoordinaten, 60 Landauschen Ordnungssymbole, 16 Lighthill-Whitham-Modell, 129 Mach-Zahl, 143 Massendichte, 50 Massenerhaltung, 56 Matching asymptotisch, 88 asymptotisches, 91 materielle Ableitung, 61 Matrixdivergenz, 57 Maßsystem, 4 mehrfache Skalierung, 24 Mehrskalen, 14 Modelle qualitative, 1 quantitative, 1 vollst¨ andige, 5 Modellierungszyklus, 2 N¨ aherung asymptotisch, 17 konsistente, 27 Navier-Stokes-Gleichungen, 81, 88 Entdimensionalisierung, 85 inkompressibel, 82 Newtonisches Fluid, 75, 81 Newtonsches Gesetz, 3 2., 45 3., 45 Non-slip-Bedingung, 81 Parameter, 4

Sachregister Prandtlschen Grenzschicht-Gleichungen, 95 Punktmassesystem, 46 Punktmechanik, 45 Randschichtdicke, 90 reduziertes Problem, 27 Referenzgr¨oße intrinsische, 5 regul¨ar, 30 regul¨ar gest¨ort, 28 Residuum, 27 Reynoldszahl, 86 groß, 87, 91, 95 klein, 91 Rivlin-Ericksen-Theorem, 72 sachgem¨aß gestellt, 39 Satz von Cauchy, 54 Schallwellen, 141 schwache L¨osung, 132 Selbst¨ahnlichkeit, 89 Sensitivit¨at, 36 singul¨ar gest¨ort, 28 singul¨are St¨orung, 87 Skalen Mehr-, 14 Ort, 1 Zeit, 1 Skalierung mehrfache, 24 Skalierungseigenschaft der L¨osungen, 89 Spannungstensor, 54 Existenz, 54 Symmetrie, 65 Stabilit¨at, 39 Str¨omung u ¨ber eine feste Platte, 88 ebene Couette, 82 ebene Poiseuille, 84 Hele-Shaw-, 95 im ebenen Kanal, 81 reibungsfreie, 79

Sachregister viskose, 79 Stromlinien, 61 Transporttheorem Reynoldsches, 63, 127 van der Pol-Gleichung, 21, 25, 29 Verschiebungstensor, 80 Viskosit¨ at dynamisch, 81 kinematische, 86 Scher-, 80 Volumen-, 80 Wellenausbreitung, 139

151

152

Sachregister

Symbolverzeichnis λ .............. µ .............. ∂t . . . . . . . . . . . . . σ ............. ε .............. % .............. ~n . . . . . . . . . . . . . . ¯ ........ C m (Ω) F ............. Lp (Ω) . . . . . . . . . O, o, Os . . . . . . . p .............. Q ............. q .............. Re . . . . . . . . . . . . s .............. sx . . . . . . . . . . . . . v .............. x∗ref , t∗ref . . . . . . . LMT . . . . . . . . . .

Volumenviskosit¨at Scherviskosit¨ at partielle Ableitung nach t Spannungstensor dimensionsloser Parameter Massendichte außerer Normalenvektor ¨ Raum der m-mal stetig differenzierbaren Funktionen Kraft Raum der p-integrierbaren Funktionen bez¨ uglich des LebesqueMaßes Landausche Ordnungssymbole, siehe Definition 3.1 Druck Drehung W¨ armefluß Reynoldszahl Entropie Oberfl¨ achenmaß Geschwindigkeitsfeld intrinsische Referenzgr¨oßen abstrakte Grundeinheiten: L = L¨ange, M = Masse, T = Zeit

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Sachregister

Literaturverzeichnis [1] C. M. Bender und S. A. Orszag. Advanced mathematical methods for scientists and engineers I: Asymptotic and perturbation theory. In International series in pure and applied mathematics, Springer Verlag (1999). [2] J. B. Boyling. A Short Proof of the Pi Theorem of Dimensional Analysis. In Journal of Applied Mathematics and Physics (ZAMP), (30), (1979). ¨ rtler. Dimensionsanalyse. [3] H. Go Springer Verlag, Berlin (1975).

Ingenieurswissenschaftliche Bibliothek,

[4] E. J. Hinch. Perturbation methods. Cambridge texts in applied mathematics, Cambridge University Press (1991). [5] J. K. Kevorkian und J. D. Cole. Multiple Scale and singular perturbation methods Applied mathematical sciences, (114), Springer Verlag (1996). [6] L. D. Landau und E. M. Lifschitz. Hydrodynamik. Lehrbuch der Theoretischen Physik, Bd.6, Akademie Verlag, (1991). [7] C. C. Lin und L. A. Segel. Mathematics applied to Deterministic Problems in the Natural Sciences. Macmillan Publishing, New York (1975). ¨ ller. Thermodynamics. Interaction of mechanics and mathematics, [8] I. Mu Pitman (1985). [9] G. Warnecke. Analytische Methoden in der Theorie der Erhaltungsgleichungen. Teubner Verlag, Stuttgart (1999).