Klebrige. Weihnachten

r de ion t s it Fe ad Tr Süsser Brauch Die Goofen bestaunen den Chlausezüüg im Hotel Hof Weissbad in Weissbad AI. Von links: Pam, Levin, Laurin, Anina...
Author: Günther Waltz
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r de ion t s it Fe ad Tr Süsser Brauch Die Goofen bestaunen den Chlausezüüg im Hotel Hof Weissbad in Weissbad AI. Von links: Pam, Levin, Laurin, Anina (sitzend), Livia, Rahel, Jan und Lionel.

Klebrige Weihnachten

Stille Nacht, süsse Nacht! In Appenzell Innerrhoden stellt man an Heiligabend statt dem Christbaum einen CHLAUSEZÜÜG in die Stube. Ein Turm aus Bickli, Devisli und allerlei Feinem zum Schlecken und Knabbern. 34 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE

In der warmen Backstube Christof Koller (l.) bearbeitet den Teig, aus dem er Chlausebickli aus­stechen wird.

Hauptgasse 16 Im Café Conditorei Fässler in Appenzell werden die Chlausebickli nach alter Tradition hergestellt.

Wichtigster Bestandteil des Chlausezüüg sind die Chlausebickli. «Schöös fös Aug!» Süsse Bilder 52 verschiedene Bickli-Motive gibt es. Geschmacklich ist ein Bickli dem Lebkuchen sehr ähnlich.

Gestapelte Tradition Christof Koller, 30, der Pächter vom Café Fässler, hat die Bleche voller frischer Bickli.

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Hand

Von  verzieren Lisbeth und Marie jedes einzelne Chlausebickli

ZuckergussMalerinnen Marie Rusch (l.) und Lisbeth Manser pinseln still und emsig. Viele Stunden täglich, Hunderte Bickli. 38 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE

Für Augen und Gaumen Die Motive aus Zuckerguss zeigen den Alltag der Appenzeller Bauern und Advents-Szenen. Rechts: So geht das! Von jedem der 52 BickliSujets gibt es eine eiserne Schablone. Diese wird aufs Bickli gelegt, dann Zuckerguss da­ rübergestrichen. Sobald alles trocken und steif ist, wird gemalt.

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TEXT MARCEL HUWYLER FOTOS FABIENNE BÜHLER

W Der Drechsler Hans Keller zimmert in seiner Werkstatt fünfeckige Holzge­ stelle, an die die Bickli gehängt werden.

Züüg zeigen Ramona Mazenauer dekoriert das Schaufenster der Conditorei Fässler mit einem grossen Chlausezüüg.

o der Weihnachtsbaum am süssesten schmeckt. Der Kanton Appenzell Innerrhoden mag winzig sein, die Einwohnerzahl mit 16 036 Personen schon sehr gering, doch kaum ein Völkchen in der Schweiz tickt eigenwilliger, handelt eigenbrötlerischer – und feiert einzigartiger. In Sachen Brauchtum ist der Halbkanton eine Wundertrucke. Auch zur Weihnachtszeit. Noch heute feiern viele Familien den Heiligabend auf traditionelle Art mit einem Chlausezüüg in der Stube, dem Vorgänger des Christbaums. «En Züüg», so die Kurzform, ist ein turmartiges Gebilde aus allerlei Zuckrigem, Deliziösem und Köstlichem. Frohes Knabbern! Man sagt der. Nicht das. Es heisst «en Chlausezüüg». Gemeint ist entweder der Teig («man soll den Zeug nicht zu sehr auswallen», rät ein uraltes Rezept) oder der Sammelbegriff für Hab und Gut. Und das Wort Chlause umfasst im Innerrhodischen alles rund ums Schenken: «I bring dir en Chlause» bedeutet: Ich bringe dir ein Geschenk. Und wer am Chläusele ist – geht Weihnachtsgeschenke einkaufen. Warum aber machen die Appenzeller so ein Züügs um ihren Züüg? Es geht wie so vieles in diesem gewitzten Flecken im Alpsteingebiet um Vergangenheit, die noch immer quicklebendig ist. Um wundertolle Tradition. Doch bis so ein Chlausezüüg uns Heiligabend versüsst, von Erwachsenen bestaunt («nöbes Schöös fös Aug!») und von Goofen angeknabbert werden darf, benötigt es viel Vorbereitung und traditionelles Handwerk.

Unser Postizettel: Chlausebickli Von Hand bemalte, ungefüllte Lebkuchen. Devisli Zierliche, bemalte Täfelchen aus Eiweiss-Zuckerteig. Chlausäpfel Möglichst kleine, runde, rotbackige Äpfel. Filebrot Eierlose Brotringe mit Zopfmuster. Bickli-Halter Fünfeckiges, konisches Holzgestell. Napf Grosses flaches Milch­ geschirr aus Weissholz. Plastiktännchen Früher musste das zwingend aus einem Wiener Warenhaus stammen, in der Sache war der Innerrhödler fast ein wenig ein Snob. Wir werden heute teigen, backen, bemalen, sägen, hobeln und nageln. Träfstes Innerrhödler ­ Kunsthandwerk. Und das findet man in geballter Ladung mitten im Hauptort, wo die schmucken alten Häuser mit ihren geschweiften Giebeln und tätschfarbig bemalten Fassaden prunken. An der Hauptgasse in Appenzell. Im Schaufenster von Haus Nummer 16 steht ein zünftiger Züüg, fünfstöckig, ein Meisterwerk der Zuckerbäckerkunst. Gebaut von Christof Koller. Er ist der Pächter vom Café Conditorei Fässler und dabei erst 30 Jahre alt. Der gelernte Bäcker-Konditor fabriziert die wichtigsten Teile des Züüg – die Chlausebickli. Da steht der junge Meister in seiner Backstube, puderzuckerweiss die Arbeitskluft und sein Haarschopf so schwarz und glänzend wie die Zartbitter-DarkSchoggi-Kuvertüre, mit der er seine Patisserie garniert. Koller hebelt grad an einer Teigportioniermaschine herum, auf deren Eisenbauch «Erika» eingraviert ist (im Laufe des Tages werden wir dann auch noch den Teig­ apparat Stefan kennenlernen). Bickliteig ist ein leicht abgeänderter Lebkuchenteig. Das Wort

Devisli Jeannine Wetter, 46, modelliert die Zuckerteig-Täfelchen, die ebenfalls an den Züüg gehängt werden, nur mit ihren Fingern und einem Zahn­ stocher. Zum Schluss malt sie die Devisli an.

stammt wohl von «bicken», was ausstechen bedeutet. Bis zu 30 Bickli hängen an einem Züüg. Koller sticht mit den fünf verschieden grossen Chlausebickliformen Chlausebickli aus dem Clausebickliteig. Das ist so, muss so sein, war schon immer so. Als Koller hier als Chef anfing, vor über drei Jahren, ersann er neue Bicklimotive. «Mach um Himmels willen nur ja nichts Neues», rieten ihm aber die Chlausezüüg-Kenner (also im Grunde sämtliche 16 035 Innerrhödler), man wolle Tradition – zu Weihnachten sowieso. Also liess Koller alles beim Alten. Brauchtum sei auch für ihn etwas «föchelig Schöös», sagt er, der den Spagat zwischen Brauchund Jung­ unternehmertum perfekt beherrscht: Am Eingang heisst er die Kunden auf einem Schild nach alter Väter Art «Sönd wöllkomm», im Backstubenradio soundet Radio Energy. Koller schiebt ein Blech mit Bickli in den Ofen, 190 Grad Unter-, 215 Grad Oberhitze, Backzeit 10 Minuten. Der Ofen brummt, die Bickli bräunen, es duftet wunderbar – wie alles hier: Ein Wohlgeruchsmix aus Gugelhopf, Meringues, Spitzbuben, Biberfladen, sogar das Putzmittel Allzweckreiniger Citro schmiegt sich passend ins aromatische Ambiente. Nach dem Backen müssen die Bickli auskühlen. Also nutzen wir die Pause und besuchen einen weiteren Zulieferer für unseren Chlausezüüg. Ein Nachbar der Conditorei Fässler, Hauptgasse 33. An der Hausfront, auf einem ovalen Schild, steht in alter Schrift «Drechslerei H. Keller». Hans Keller, 63, wenig Haar, viel Witz, ganz in Grün gekleidet, steht an der Werkbank und schreinert jene fünfeckigen Holzregale, an denen man die Chlausebickli befestigt. Es gibt sie in drei-, vier- und fünfstöckiger u SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 43

u Ausführung. Zwischen 295 und

450 Franken teuer. Ursprünglich bestand das Innere eines Züüg aus Filebrot, einer Art Zopfkranz, erzählt Drechsler Keller, doch heute verwende man meist solche hölzernen Bickli-Halter. Keller fertigt in seiner «Wechstatt» das Jahr über Pfeffermühlen, Drehteller und allerlei sennisches Geschirr, das seine Frau Hedi vorne im Lädeli verkauft. Er habe vermehrt junge Familien als Kunden, der Chlausezüüg sei wieder im Kommen, sagt Keller und wirft ein paar Holzabfälle in den alten Feuerofen, Funken stieben. Das sei noch praktisch, meint er, «wenn mir beim Drechseln etwas misslingt, gibt es mir wenigstens warm». Apropos warm – unsere Bickli sind mittlerweile ausgekühlt. Zurück in die Backstube. Jetzt wirds kreativ. Es gibt 52 BickliMotive, alles Szenen aus dem Bauernalltag und Weihnächtliches. Von jedem Sujet besitzt Koller eine eiserne Schablone, welche er auf die Bickli legt und Zuckerguss darüberkleistert. Dann folgt das farbige Finale. In einem Stübli im Obergeschoss höckeln zwei ältere Frauen an Holztischen. Lisbeth Manser, 68, und Marie Rusch («ich bin ein paarmal 20 geworden») bepinseln die weissen Zuckergussmotive mit Lebensmittelfarbe. Aberhunderte von Bickli. Alle von Hand. Mucksmäuschenstill ist es, nur das Elektro-Öfeli klickt, und der Bretterboden ächzt. Bis zu 80 Minuten werkeln sie an einem süssen Kunstwerk. Geissen seien am einfachsten zu bemalen, erzählen die Frauen, bei Gesichtern müsse man aufpassen, dass es keine Chinesen gebe. Und Marie Rusch erklärt mit spitzmeitlischem Grinsen: «Ich male am liebsten junge Mannen an.» Seit vielen Jahren machen die Frauen das, jede Adventszeit, wochenlang. In riesigen Holzschub44 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE



Goofen

Die haben den Chlausezüüg «föchelig» gern

Inne ond Osse Osse ond Inne Brauchtum Appenzell Innerrhoden / Ausserrhoden. Rudolf Hug, CHF 49.50

laden werden die Bickli anschliessend gelagert, jedes Fach ist beschriftet, je nach Motiv: Senn und Bless, de Stei, Chlaus und Goofen, de Seppli. Es sei nicht alles in korrektem Innerrhoder Dialekt angeschrieben, entschuldigt sich Koller, eine Mitarbeiterin habe das drum gemacht, er grinst, «sie ist halt Thurgauerin». Zwischen 10 und 23 Franken kostet ein Bickli. Am beliebtesten bei der Käuferschaft ist «de Ofe», ein Sujet, das immer wieder zu Spötteleien führt: Die Frau stickt, ihr Mann liegt faul auf dem Sofa. Ebenfalls begehrt ist das Bickli mit dem Samichlaus, der mit der Rute einen Bub verklopft. «Sicher ein Ausserrhödler Kind!», meint Koller. Zum Glück sind seine Bickli nicht so trocken wie sein Witz. Die Zeit der Chlausebickli beginnt am 1. November. Zu Allerheiligen schenken Götti und Gotte den Goofen Bickli, je artiger ein Kind während des Jahres war, desto grösser das Bickli. Dann werden diese Trophäen des Bravseins zwischen Fenster und Vorfenster ausgestellt, damit auch die Nachbarn sehen, wie folgsam man war. Kurz vor dem 24. Dezember «verschwinden» dann die Bickli und tauchen erst an Heiligabend wieder auf – am Chlausezüüg. Bald haben wir alles Züüg für unseren Züüg beisammen. Kleine rote Äpfel brauchen wir noch und Devisli. Das mit den Äpfeln sei ein Problem, sagt Konditor Koller. Ursprünglich nahm man heimische Sorten, gern Berner Rose. Doch seien diese mittlerweile zu

gross gezüchtet. Wirklich schöne kleine, rote Öpfeli fand Koller schliesslich ausserkantonal. Wo genau? Er spricht nur ungern von der zuckerbäckerschen Kultur­ revolution: «Im Aargau!» Bleiben noch die Devisli. Filigrane Täfelchen aus Zuckerteig. Diese fabriziert Jeannine Wetter, 46. Die Motive werden allein mit den Fingern und einem Zahnstocher modelliert und anschliessend bemalt. Die Sujets sind, wie bei den Bickli, meist weihnächtlich und sennisch. «Es darf aber auch mal ein frecher Froschkönig sein», sagt Jeannine Wetter, die bis zu drei Stunden an einem ihrer Täfelchen tüftelt. Und dann kann unsere Inner­ rhoder Weihnachten kommen. Im Hotel Hof Weissbad baut man für die Gäste seit vielen Jahren einen Chlausezüüg auf. Kultur­ vermittlerin Agathe Nisple tut dies jeweils nach alter Sitte, sie verwendet statt dem hölzernen Bickli-Halter sogar Filebrot. Über zwei Stunden baut sie den Züüg auf: angefangen vom Napf, dem Milchgeschirr der Sennen, als Fundament – bis zuletzt zuoberst das Zwergtännchen aus Plastik. Dann «isch fettig!». Er steht. Er duftet. Er lockt. Ein Prachtszüüg. Das finden auch die Goofen: Levin, Lionel, Jan, Anina, Pam, Livia, Rahel und Laurin stürmen herein und bestaunen die Weihnachtspyramide. So viel Klebriges, Leckeres, Bicklisüsses, Wunderzuckriges zum Schlecken, Nagen und Knabbern. Frohe Feinachten! 

Familie 1958 Appenzell Innerrhoden war einst ein armer Kanton. Der Züüg ein kulinarischer Höhepunkt im Jahr.

Nur schauen! Laurin, Rahel und Jan (v. l.) bewundern den Züüg. Mit Essen und Schlecken müssen sie noch warten.