Jugendliche mit dissozialem Verhalten

Klinikum Nordschwarzwald/Fachtagung Jugend-Sucht-Hilfe; 29.4.2010 Jugendliche mit dissozialem Verhalten 1. 2. 3. 4. Wer sind die dissozialen Jugendl...
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Jugendliche mit dissozialem Verhalten 1. 2. 3. 4.

Wer sind die dissozialen Jugendlichen? Was erleben wir mit dissozialen Jugendlichen? Dissoziales Verhalten als Problemlöseversuch: eine funktionale Analyse? Was hilft?

Meine Aufgabe soll heute darin bestehen, Ihnen einige Gedanken und Erfahrungen über Jugendliche vorzutragen, die sich dissozial verhalten. Es lässt sich natürlich fragen, warum diese Gruppe von Jugendlichen auf einer Tagung, die in einem Suchthilfekontext stattfindet, besonderes Augenmerk erhalten soll. Vermutlich deshalb, weil eine große Anzahl der suchtkranken jungen Erwachsenen einstmals dissoziale Jugendliche waren und ihre dissoziale Dynamik in das Hilfesystem „einbringen“. Vermutlich auch deshalb, weil suchtkranke Jugendliche häufig auch dissoziale Verhaltensweisen zeigen. Erlauben sie mir noch eine Vorbemerkung: natürlich ist es nicht korrekt von dissozialen Jugendlichen zu sprechen. Es sind selbstverständlich ihre Verhaltensweisen, die dissozial sind. Diese Jugendlichen zeigen nicht andauernd und ständig dissoziales Verhalten, sie können - zum Glück - auch ganz anders. Daher mute ich Ihnen zu, dass ich in der Folge von Jugendlichen mit dissozialen Verhaltensweisen spreche. Kurz möchte ich Ihnen noch meinen Erfahrungshintergrund beschreiben, aus dem heraus ich meine Gedanken formuliere. Ich war zu Beginn meiner beruflichen Tätigkeit hier in der Klinik im Bereich der qualifizierten Entzugsbehandlung beschäftigt, danach fast 10 Jahre in der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Ich habe dann drei Jahre die Leitung der Fachklinik Schielberg inne gehabt, einer Einrichtung zur Kurzzeittherapie von Drogenabhängigen, und bin jetzt seit nunmehr fünf Jahren Einrichtungsleiter der Jugendhilfeeinrichtung „die Distel“, einer teilgeschlossenen intensiv-pädagogischen Einrichtung für Mädchen. In der "Distel" betreuen wir Mädchen, die im bisherigen familiären oder Jugendhilfekontext nicht angemessen betreut werden können und die sich häufig der Betreuung durch Weglaufen entzogen habe. Ich möchte auf folgende Aspekte eingehen: Folie 2 1. Wer sind die dissozialen Jugendlichen? Sehr vereinfachend spreche ich von diesen Kindern und Jugendlichen hier: Folie 3 und 4 Jugendliche, die sich dissozial verhalten, haben inzwischen einen festen Platz in den wiederkehrenden öffentlichen Debatten, vergleichbar mit den Debattenwellen um den Klimawandel, einer drohenden Grippeepidemie oder angeblich arbeitsscheuen Hartz4Empfängern. In steter Regelmäßigkeit gibt es eine veröffentlichte Empörung über jugendliche Intensivtäter, die „Monster-Kids“, die Problemjugendlichen, über außer Rand und Band geraten Jugendliche – immer dann, wenn eine besonders erschreckende Tat bekannt wird und das Thema mal wieder dran zu sein scheint. Dabei werden dann die Experten im Wesentlichen zu zwei Themenkomplexen befragt: „Wird es immer schlimmer?“ und „Muß die Gesellschaft härter reagieren?“ Zu beiden Themenkomplexen gibt es wenig Neues und die Karawane der öffentlichen Aufmerksamkeit zieht dann ja auch nach einiger Zeit weiter, nicht 1

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ohne eine von einem Politiker geäußerte Forderung nach härteren Strafen und konsequenterem Vorgehen debattiert zu haben. Ich erwähne dies deshalb, weil diese beiden Themenkomplexe unmittelbar etwas mit der Dynamik, in die man mit diesen Jugendlichen verstrickt wird, zu tun haben. Ähnliche Fragen durchziehen häufig die Teamsitzungen und Fallbesprechungen zu diesen Jugendlichen. Der erste Befund: dissoziales Verhalten erzeugt enormen Handlungsdruck. Ich werde noch darauf zurückkommen, warum dies zwingend so ist. Und weiter: dissoziales Verhalten erzeugt in den Institutionen, der Öffentlichkeit usw. zwei gegensätzliche aber immer wiederkehrende Impulse: einsperren oder rausschmeißen! Also, wer sind diese Jugendlichen? Eine allgemeine Definition könnte lauten: Dissozialität meint die langanhaltende und sich auf weite Verhaltensbereiche erstreckende Neigung, von den in der Gesellschaft bestehenden normativen Verhaltenserwartungen in negativer Weise abzuweichen. Die entsprechende psychiatrische Diagnose lautet „Störungen des Sozialverhaltens“. Die Definition der ICD lautet: Folie 5 Störungen des Sozialverhaltens sind durch ein sich wiederholendes und anhaltendes Muster dissozialen, aggressiven und aufsässigen Verhaltens charakterisiert. Dieses Verhalten übersteigt mit seinen gröberen Verletzungen die altersentsprechenden sozialen Erwartungen. Es ist also schwerwiegender als gewöhnlicher kindischer Unfug oder jugendliche Aufmüpfigkeit. Als Beispiele werden genannt: Folie 6 • ein extremes Maß an Streiten oder Tyrannisieren, • Grausamkeit gegenüber anderen Personen oder Tieren, • erhebliche Destruktivität gegenüber Eigentum, • Feuerlegen, Stehlen, häufiges Lügen, Einbruch • Schulschwänzen, • Weglaufen von zu Hause, • ungewöhnlich häufige und schwere Wutausbrüche und Ungehorsam, • Häufiges beginnen von körperlichen Auseinandersetzungen, • Zwingen einer anderen Person zu sexuellen Aktivitäten, • häufiges Verantwortlichmachen anderer für die eigenen Fehler, • häufiges, offensichtlich wohlüberlegtes Ärgern anderer, • Aktive Ablehnung und Zurückweisung von Wünschen und Vorschriften Erwachsener Es gibt Hinweise darauf, dass man zwei Entwicklungspfade oder Verlaufstypen unterscheiden kann. Beim einen Verlaufstyp tritt dissoziales Verhalten erst im Jugendalter auf. Hier ist die Aggressivität geringer ausgeprägt, das Verhalten steht eng im Zusammenhang mit dem Einfluss einer Peergroup, die Prognose ist insgesamt besser. Beim anderen Verlaufstyp bestehen die Probleme schon seit der frühen Kindheit. Es bestehen schon sehr früh gravierende Konflikte in der Eltern-Kind-Beziehung und es ist eine völlig 2

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unzureichende Erziehung durch die Eltern erkennbar. Jugendliche dieses Verlaufstyps sind die eigentlichen Problemfälle, die Delikte nehmen qualitativ und quantitativ mit dem Alter zu und es besteht eine Gefahr der Fortsetzung des Verhaltens bis in das Erwachsenenalter hinein.

2. Was erleben wir mit dissozialen Jugendlichen? Ein Beispiel: Hannah und das Absperrband. Wir haben im Garten der Einrichtung eine Raucherhütte für die rauchenden Mädchen. Es führt ein Plattenweg vom Haus dorthin, aber im rechten Winkel. Die Mädchen kürzen nun regelmäßig den Weg über den Rasen ab, in den Wintermonaten führt dies dazu, dass sie mit viel Dreck an den Schuhen ins Haus kommen. Also war die Ansage: bitte lauft auf den Platten. Das taten sie nicht. Ich ärgerte mich und war gerade dabei, ein Absperrband anzubringen, als eines der Mädchen mich fragte, was ich da mache. Als ich ihr erklärte, dass das Absperrband sie daran erinnern solle, auf den Platten zu bleiben, sagte sie sofort und spontan: "Iss mir doch egal, dann klettere ich eben unter dem Band durch!" Ich ärgerte mich über die Unverfrorenheit des Mädchens und reagierte meinerseits spontan und klassisch mit einer Strafandrohung: "Dann werde ich Dir eben verbieten, in die Raucherhütte zu gehen!" Gewünscht hätte ich mir eine gelassenere Reaktion, z.B. sie um einen Vorschlag zu bitten, wie das Problem ihrer Meinung nach gelöst werden könnte. Für mich immer wieder beeindruckend war und ist aber nicht nur die Dynamik bei einem einzelnen Helfer, sondern auch die Dynamik, die in einem Team in Reaktion auf einen Regelverstoß entsteht und - wie ich oben schon angedeutet habe - hier sehe ich eine große Parallele zur Reaktion der Medien auf eine öffentlichkeitswirksame Straftat eines Jugendlichen. Ich nenne Ihnen ein paar Beispiele aus dem Alltag: Der 16jährige Paul weigert sich zum wiederholten Mal, regelgemäß um 22.00 Uhr den Fernseher der Wohngruppe auszumachen und Schlafen zugehen und beleidigt die Erzieherin auf das Übelste. Der 20jährige Herr Müller raucht trotz Androhung einer disziplinarischen Entlassung weiterhin nachts in seinem Zimmer in einer Reha-Klinik. Die 17jährige Janine droht in einer Auseinandersetzung mit einer Mitbewohnerin der Wohngruppe, sie „abzustechen“. Und was passiert jetzt in der Dienhstbesprechung oder Übergabe. Kennen Sie das? Jetzt entsteht ein Druck, zu reagieren. Es gibt die üblichen Forderungen: „Jetzt ist Schluß!“ „Wir müssen jetzt einschreiten, so kann es nicht weitergehen!“. In der öffentlichen Debatte um die straffälligen Jugendlichen ist es irgendein Politiker. Im Team sind es meist diejenigen, die von ihrer eigenen psychischen Konstitution her von sich oder der Institution erwarten, die Klienten kontrollieren zu können. Oder diejenigen, die besonders ängstlich darauf reagieren, wenn Klienten sich nicht erwartungskonform verhalten.

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Dahinter steckt tatsächlich die Angst, dass einem die Zügel, von denen man glaubt, sie in der Hand zu halten, entgleiten. „Der tanzt uns doch auf der Nase herum!“ wird dann dramatisierend vorgebracht. Was ist, wenn das regelverletzende Verhalten überhand nimmt? Schauen sich die anderen Klienten das Verhalten ab? Verlieren wir völlig die Kontrolle? Diese Empfindungen führen zusätzlich zu einem enormen Handlungsdruck. Zum Thema Handlungsdruck durch dissoziales Verhalten fällt mir immer zuerst die folgende Geschichte ein, die ich vor vielen Jahren hier in der Kinderstation erlebt habe: Der 13jährige Valentin stand im Verdacht, den Geldbeutel einer Lehrerin der Klinikschule geklaut zu haben. Während wir noch in der Übergabe über Konsequenzen und Vorgehen sprachen und unser Empörung Luft machten, kam die Meldung, dass er sich von der Station entfernt habe und auf dem Gelände auf einen sehr hohen Baum geklettert sei, von dort Passanten beschimpfe und außerdem drohe, runterzuspringen. Sie können sich vielleicht vorstellen und nachempfinden, wie schwer es dabei viel, in Ruhe die Reaktionen auf sein Verhalten abzuwägen und die Situation zu reflektieren. Sein Verhalten erzeugte einen enormen Handlungsdruck! Zusammenfassend könnte man also über diese Jugendlichen und die Reaktion auf sie sagen: Wir erleben sie als anstrengend, ihr Verhalten macht uns ärgerlich. Sie beschäftigen uns und sie verunsichern uns, da ihr Verhalten eben immer wieder nicht erwartungsgemäß ist. Wir erleben uns hilflos und diese Hilflosigkeit drückt sich darin aus, dass wir die Jugendlichen als die aktiven Bestimmer einer Situation erleben: Sie stören, sie zwingen uns, zu handeln usw. Diese Hilflosigkeitsgefühle drücken wir dann auch noch sprachlich aus und zementieren auf diesem Wege weiter den Handlungsdruck Sie scheinen uns dazu zu zwingen, uns noch mehr anzustrengen, ihr Verhalten kontrollieren zu können. Sie bringen uns dazu, über Konsequenzen für ihr Fehlverhalten, über härtere Strafen nachzudenken und wir erleben uns dennoch immer wieder hilf- und erfolglos. Eine Mischung aus Angst, Ohnmacht und Wut braut sich zusammen. Ergebnis: Wir erleben diese Jugendlichen als störend, man will sie daher wieder loswerden!! Und den meisten sozialen Funktionssystemen gelingt das ja auch. Zusammengefasst ergibt sich folgende Dynamik. Folie 7

3. Dissoziales Verhalten als Problemlöseversuch: eine funktionale Analyse Wie können wir nun dieses Verhalten verstehen? Was bringt diese Jugendlichen zu diesem Verhalten? Sind sie zuviel oder zuwenig bestraft worden? Sind sie böse und destruktiv? Kennen Sie die sozialen Regeln nicht? Für mich und ich hoffe auch für Sie ist ein Erklärungsmodell des Kölner Kinder- und Jugendpsychiaters Roland SCHLEIFFER sehr einleuchtend, das ich Ihnen hier kurz darstellen möchte. SCHLEIFFER formuliert eine funktionale Analyse des dissozialen Handelns. Seine These ist, dass dissoziales Handeln Sicherheit und Vorhersehbarkeit für den Jugendlichen herstellt. Ein einfaches Beispiel kann dies verdeutlichen. 4

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Stellen Sie sich vor, ich würde Sie auffordern, sich zu überlegen, jetzt und hier etwas zu tun, um bei mir ganz sicher eine Reaktion hervorzurufen, die Sie sich dann selbst ursächlich zuschreiben könnten. Beobachten Sie, welche spontanen Einfälle Ihnen kommen! Ich vermute, dass Ihnen Handlungen eingefallen sind, die mich stören könnten oder meinen normativen Erwartungen eindeutig zuwiderlaufen. Würden Sie meinen Erwartungen entsprechen, nämlich hier ruhig auf dem Stuhl zu sitzen und mir freundlich und wohlwollend zuzuhören, würden Sie kaum eine sichtbare Wirkung bei mir erzielen. Anders wäre es, wenn sie sich auf den Boden legen würden um zu schlafen oder hier vorne einen Flamencotanz beginnen würden. Sie könnte sich ihrer Wirkung und meiner Reaktion sicher sein. Das bedeutet: von einem abweichenden Handeln wird eine höhere Wirksamkeit erwartet als von einem normkonformen Handeln. Die Funktion eines regelverletzenden Handelns besteht also darin, sich soziale Resonanz zu verschaffen, sich die Gelegenheit zu verschaffen, sich als Ursache einer Wirkung erleben zu können. Enttäusche ich die normativen Erwartungen anderer, kann ich mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Wirkung erzielen, kann ich mich wirkmächtig erleben. Folie 8 Schleiffer formuliert es so: Folie 9 Sich wirkmächtig zu erleben ist für das psychische Überleben notwendiger als sich geliebt zu fühlen! Die Funktion abweichenden, dissozialen Verhaltens besteht also darin, sich seiner Handlungskompetenz zu vergewissern. Es kann als Problemlösungsversuch verstanden werden. Ich möchte Ihnen dazu von Tanja erzählen. Sie kam vor einigen Wochen zu uns, gegen ihren Willen und nachdem sie mehrmals kurz vor der Aufnahme den Eltern wieder weggelaufen war. Sie hatte in den vergangenen Monaten ganz entsprechend ihrer Bedürfnisse gelebt und sich an keine Regeln mehr gehalten. Nach einer Woche in der „Distel“ berichtete sie dem Vater freudestrahlend, dass es in der „Distel“ gar nicht so schlimm sei, die Mädchen würden ohnehin machen was sie wollten. So würden sie z.B. nachts heimlich in den Zimmern rauchen. Diese Botschaft war wichtig für ihr Selbstkonzept: ich bin jetzt zwar in dieser Einrichtung, aber ich bin weiterhin kein braves Mädchen und tue eben nicht, was Erwachsene von mir erwarten. Man könnte sich nun empören über die Regelverletzung. Aber nebenbei: einerseits stimmte die Behauptung so nicht und andererseits war erkennbar, dass sie sich sehr wohl an viele Regeln gehalten hatte. Ich habe eben formuliert, dass dissoziales Verhalten als Problem-Lösungsversuch verstanden werden kann. Aber für welches Problem? SCHLEIFFER vermutet, dass diese Kinder und Jugendlichen v.a. Probleme mit dem Selbstkonzept haben, dass sie ein unsicheres und schwaches Selbstkonzept entwickelt haben, da sie sich in ihrer Entwicklung nicht ausreichend sicher sein konnten, sich als Ursache von Wirkung bei anderen erleben zu können. Zentral für uns alle ist ja die Erfahrung, an der Kommunikation mit anderen beteiligt zu sein und diese auch anstoßen zu können. Ich 5

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erinnere dabei an die Interaktion eines Babys mit einem Mobile. Hängt es für das Baby unmanipulierbar über dem Bett, verliert das Baby bald das Interesse. Kann das Baby dagegen das Mobile anstoßen, beschäftigt es sich immer wieder damit - eben weil es Einfluss nehmen kann und dadurch sich selbst erlebt. Die Kommunikationserfahrung mit feinfühligen Eltern führt zur Herausbildung einer sicheren Bindungsorganisation und darüber dann zu einem guten Selbstkonzept. Feinfühlige Eltern sind Eltern, die die Signale des Kindes wahrnehmen können und unmittelbar und direkt beantworten. Bieten die Eltern dies nicht oder nicht ausreichend, muss das Kind gewissermaßen selbst initiativ werden, um sich selbst als handelnd erleben zu können. Erhält das Kind keine Informationen für ein positives Selbstkonzept (also dafür, was gut an ihm ist), versucht es irgendwelche Informationen über sich zu erhalten, und sei es eben über negatives, erwartungswidriges Verhalten. Die Wahrnehmung, die Erwartungen der Eltern zu enttäuschen und eine negative Reaktion auszulösen ist dann zumindest eine Form der Selbstbestätigung, für manche Kinder eben die einzige. Es gab und gibt für sie keine erkennbare Antwort auf die innere Frage: Was muß ich tun, dass Du meine Bedürfnisse erkennst und befriedigst? Was muß ich tun, dass Du mich als gut beschreibst? Prosoziales, angepasstes Verhalten wird nicht beachtet, kommuniziert wird über das Kind und mit dem Kind nur dank seiner Regelverletzung. Dies führt zu einem negativen Selbstkonzept (also: Ich bin nicht in Ordnung, ich bin böse), und dieses Selbstkonzept muss immer wieder bestätigt werden. Das tragische ist also: Ein negatives Selbstkonzept ist besser als gar kein Selbstkonzept. Ganz kurz möchte ich ihnen einige Befunde zu den Familien dieser Jugendlichen zeigen. Folie 10  geringer familiärer Zusammenhalt: Schwanken zwischen Bindungs- und Ausstossungstendenzen innerhalb kurzer Zeiträume  Unvorhersagbarkeit und Unbeständigkeit der Interaktionen, instabile Rollenstruktur  häufige gegenseitige Entwertungen besonders zwischen den Eltern  Negativer Kommunikationsstil: Kritik überwiegt  Schnelles Deuten des Verhaltens der Kinder als aggressiv oder gegen die Erwachsenen gerichtet Folie 11 Der norwegische Dissozialitätsforscher Olweus charakterisiert das familiäre Klima, in dem solche Kinder aufwachsen, folgendermaßen: „too little love, too much freedom!“

Welche Rolle spielt das aggressive Verhalten? Aggressivität dient u.a. der Klärung uneindeutiger Situationen. Schlage ich jemanden, bin ich mir sicher, dass ich gehandelt habe. Um aggressiv handeln zu können, muss man sich aber 6

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motivieren. Dies geschieht bei diesen Jugendlichen über einen Attributionsfehler, dass sie nämlich vornehmlich solche Informationen einer sozialen Interaktion entnehmen, die sie davon überzeugen können, sich wehren zu müssen. Beispiel: Kürzlich sah ich einen Film über gewalttätige Jugendliche in Pforzheim: ein Mädchen schlug eine Passantin, die vermeintlich eine herabsetzende Bemerkung zu ihr gemacht hatte; sie war sich danach aber nicht mehr sicher, ob diese Bemerkung überhaupt ihr gegolten hatte. Zweites Beispiel: Melanie zerknüllt im Unterricht den Aufgabenzettel und wirft ihn in Richtung des Papierkorbs. Der ist aber knapp neben Laura, die den Zettelwurf als gegen sich gerichtet interpretiert und sofort in eine heftige Auseinandersetzung mit Melanie geht. Es wäre ohne Eingreifen der Lehrerin zu einer körperlichen Auseinandersetzung gekommen. Wie die Eltern, so richten also auch die dissozialen Jugendliche ihre Aufmerksamkeit auf aggressive Sachverhalte, insbesondere auf solche, die sie als feindlich gegen sich interpretieren können. Uneindeutige Situationen klären sie, indem sie dem Anderen eine feindselige Absicht unterstellen. Und spannend ist nun, das der genau gleiche Attributionsfehler uns in der Arbeit mit den Jugendlichen auch unterläuft: in den Übergaben werden die Regelverletzungen thematisiert; wir erleben die Regelverletzungen als gegen uns gerichtet. Es besteht die Gefahr von Deutungsmustern in der Weise wie: "Das macht der, um uns zu ärgern!"; "Der will wissen, wer hier das sagen hat!"; (siehe Hannah und das Absperrband!) Die Enttäuschung normativer Erwartungen führt in der Regel allein schon zu einer Emotionalisierung, der wiederum einen Handlungsdruck erzeugt. Unterstelle ich jedoch eine aggressive Absicht mir gegenüber, ist meine emotionale Reaktion sicherlich noch heftiger.

5. Was hilft? Ich habe den Strafimpuls bei den Erwachsenen erwähnt, der unweigerlich durch das dissoziale Verhalten ausgelöst wird. Aber warum helfen Strafen nicht? Strafen sind lediglich eine Form, den Jugendlichen erfahren zu lassen, dass es ein Gegenüber gibt, das auf sein Verhalten reagiert. Er erfährt, wie oben beschrieben, eine Wirkung. Das bedeutet aber nicht, dass er aufhört, sich dissozial zu verhalten. Wenn wir nichts anderes tun, als das Fehlverhalten zu bestrafen, sind wir nicht mehr als das oben beschriebene Mobile für den Säugling: man stößt uns an, wir reagieren und der Anstoßende erlebt eine Bestätigung seiner Wirkungsmacht. Sein Selbstkonzept bleibt aber unverändert! Wie könnte man aus diesem Teufelskreis aussteigen und wodurch könnte ein Engelskreis entstehen? Ein Engelskreis, der die Erfahrung von Wirkmächtigkeit mit konstruktivem und prosozialem Verhalten verbindet und der die Ausstoßungsdynamik beendet.

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Ich möchte hier im heutigen Rahmen auf zwei Aspekte hinweisen, die meiner Erfahrung nach für eine änderungsorientierte Arbeit mit diesen Jugendlichen notwendig ist. Diese Aspekte gelten gleichermaßen für den einzelnen Helfer, für das Team und die Institution. Ich glaube, dass es hilfreich ist, angesichts dissozialem Verhalten Zweierlei zu tun: 1. natürlich zu reagieren und das dissoziale Verhalten nicht zu ignorieren, also ein deutliches Stop-Signal zu geben und 2. eine stabile Beziehung anzubieten, also dranzubleiben, sich nicht abschrecken zu lassen; eine Beziehung zu versuchen, die das Gefühl vermittelt: „Ich sehe dich mit all Deinen Fähigkeiten und alledem, was Du noch lernen kannst und nicht nur mit deinem Fehlverhalten!" Ich habe dazu überlegt, mit welchem Bild ich Ihnen das verdeutlichen könnte. Und mir sind diese beiden hier eingefallen. Sie sehen: das ist segeln Folie 12….. und das ist segeln Folie 13. Für alle, denen das Segeln nicht vertraut ist: am besten kommt man vorwärts, wenn der Wind von schräg vorne kommt. Beziehung zu diesen Jugendlichen zu halten und auszuhalten ist eher nicht wie das Segeln auf Bild 1, ruhig und gemütlich, sondern eher wie segeln auf Bild 2. Der Wind kommt von vorne, Wasser spritzt einem ins Gesicht, und bei heftigem Wind wird man von einer Welle, die über die Reling schwappt, nass gespritzt, man muss sehr auf Windstärke und Windrichtung reagieren. Man kann, wenn man sein Ziel erreichen möchte, nicht vor dem Wind "davon segeln", nicht abhauen. Es hat auch wenig Sinn, sich über die Welle oder den Wind zu ärgern. Man muss standhalten und dranbleiben und die Energie des Windes nutzen, um vorwärts zu kommen. Und man kann dabei Spaß und Sinn erleben. Es wäre widersinnig, auf ein Segelboot zu gehen und sich dann zu empören, dass man nass wird oder es ungemütlich wird. Beziehungsarbeit mit diesen Jugendlichen bedeutet also, sich dem Sturm und den Wellen auszusetzen. D.h. nicht nur im lauen Wind freundlicher Gefühle füreinander dahinzuschippern, sondern die negativen Affekte und die problematischen Verhaltensweisen eher als erwartbar zu registrieren. Und es bedeutet, sich nicht von den problematischen Verhaltensweisen abhalten zu lassen, positive Erlebnisse mit dem Jugendlichen zu haben und gezielt herzustellen. Einerseits ist es notwendig, auf Regelverstöße zu reagieren. Täte man dies nicht, würde man eine große Verunsicherung auslösen, die zu verstärkten dissozialen Aktivitäten führen würde, weil der Jugendliche sich erneut nicht in Kommunikation und Beziehung erleben würde. Der zweite Aspekt ist dann aber der entscheidende und schwierigere: in Beziehung gehen und zwar sowohl über das dissoziale Verhalten als auch und v.a. über andere Erlebensinhalte. Ziel ist es, eine Beziehung herzustellen, in der erwartungskonformes Verhalten möglich ist und beachtet wird und in der sich der Jugendliche geachtet fühlen kann. Eine Beziehung, die dazu führt, dass der Jugendliche zunächst um der Beziehung willen Erwartungen erfüllt und nicht, weil er schon von der Richtigkeit der Regeln überzeugt wäre.

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Ein Beispiel: Laura hatte mit ihrer Bezugsbetreuerin vereinbart, am Nachmittag Klamotten kaufen zu gehen. Beim Mittagessen kommt es zu einer Auseinandersetzung in der Angelika die Betreuerin als "blöde Schlampe" beschimpft. In der Übergabe kam es nun im Team die Debatte, ob die Betreuerin mit Angelika zum Einkauf fahren sollte oder sie zur Strafe die Fahrt abbläst. Die Einkaufsfahrt ist die Gelegenheit, positive Erfahrungen miteinander zu machen; sie zur Strafe abzublasen würde bedeuten, erneut nur über das Negativverhalten zu kommunizieren und die Beziehung davon bestimmen zu lassen. Ich halte also eine "sturmsichere Beziehungsarbeit" für die beste Art, in einen Engelskreis zu kommen: ( siehe Folie 14) ein „taktisches Reagieren“ auf problematisches Verhalten, aber ohne Affekt, ohne Handlungsdruck und ohne Selbstverpflichtung, das Verhalten ändern zu müssen! Reagieren und Beziehung halten mit der Botschaft: „ich will eine Beziehung zu Dir, Dein problematisches Verhalten übersehe ich aber nicht, nehme ich nicht hin. Aber was Du auch tust (im Rahmen dessen, was ich und mein System ertragen kann), ich bleibe im Kontakt und kommuniziere auch über andere Inhalte als nur über das problematische Verhalten mit Dir“. Das ist schwer! Aber nicht unmöglich. Diese Art von Beziehungsarbeit, bedeutet keinesfalls, die "Segel zu streichen" und sich vom Sturm und den Wellen treiben zu lassen. Das passiert ja nicht selten, dass dissoziale Jugendliche zwar in einem Betreuungsrahmen leben, den aber komplett bestimmen und keine konstruktiven Veränderungen geschehen. Die Frage ist also, welche alternativen Verhaltensweisen können dem Jugendlichen angeboten werden, mit denen er ebenfalls Informationen über sich und seine Umwelt erhalten kann und mit denen er seine Autonomie behalten kann. Die Handlungen des Jugendlichen sollten als Handlungen verstanden werden, die er für sich tut und nicht gegen andere. Ziel der „sturmsicheren Beziehungsarbeit“ ist es dann, Erwartungsschemata aufzubauen, die positive Verhaltensweisen enthalten, die nicht mehr die Bestätigung des negativen Selbstkonzepts zur Folge haben aber trotzdem die Erfahrung ermöglichen, wirkmächtig zu sein. Zusammenfassend halte ich die folgenden Punkte für wichtig, um eine Chance auf Verhaltensänderung zu haben: Folie 15 und 16 Voraussetzungen für eine „sturmsichere Beziehungsarbeit“: Die richtige Einschätzung des Verhältnisses zwischen zu erwartendem Sturm und der eigenen Sturmfestigkeit, um erneute destruktive Beziehungsabbrüche zu vermeiden  Ressourcenausstattung: Personal, Räume, Aktivitäten  Stabilität der Institution  Zeit  Realistische Erwartungen der Partner Was hilft? 1. Kontinuierliche, langfristige und belastbare Beziehungen 9

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2. Neutrales Beschreiben des Verhaltens statt zu bewerten, um im Blick zu behalten, dass der Jugendliche etwas für sich und nicht gegen uns tut. So kann die Entwicklung einer destruktiven Strafatmosphäre mit Fokussierung auf die negativen Verhaltensweisen vermieden werden 3. Pädagogisch-therapeutische Arbeit mit Jugendlichen mit dissozialem Verhalten ist außerordentlich belastend: eine kontinuierliche Supervision und eine sehr gute institutionelle Unterstützung ist dringend erforderlich, um das Beziehungsangebot durchhalten zu können

5. Zum Schluß Ich habe versucht darzustellen, dass das dissoziale Verhalten in allen Bereichen der Gesellschaft, in den Medien, der Politik und in den sozialen Funktionssystemen ein ähnliche Dynamik auslöst: eine starke Emotionalisierung, einen starken Handlungsdruck, das problematische Verhalten schnell zu unterbinden und einen Reflex, zu strafen. Hintergrund des dissozialen Verhaltens ist der Versuch der Jugendlichen, sich wirkmächtig erleben zu können und ein Konzept über sich und die Beziehungen zu entwickeln und zu erhalten. Hilfreich für eine Veränderung ist ein doppelte Strategie: ein nüchternes Reagieren auf das Problemverhalten und ein Beziehungsangebot, das nicht von den Problemverhaltensweisen bestimmt wird sondern neue Wirkungserfahrungen (z.B. durch Schulerfolg, neue Freizeitaktivitäten, Erfahrung von Fürsorge und Achtsamkeit) ermöglicht! Vielen Dank. Sebastian Lustnauer Einrichtungsleiter der Jugendhilfeeinrichtung „die Distel“; Gärtringerstr.19, 75392 Deckenpfronn; [email protected]

Literatur: Roland Schleiffer; Der Heimliche Wunsch nach Nähe; Juventa 2007

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