ICH ERLEB ICH schule---- habe ich viel- erlebt

l ingu is tik SCHULE1 VIEL schule---- habe / ICH ERLEB ICH 1 ich viel- erlebt------ Eine empirische Untersuchung zu Kontaktphänomenen zwischen Deut...
Author: Kevin Bach
10 downloads 0 Views 633KB Size
l ingu is tik

SCHULE1 VIEL schule---- habe

/ ICH ERLEB ICH 1 ich viel- erlebt------

Eine empirische Untersuchung zu Kontaktphänomenen zwischen Deutsch und DGS in der Sprache älterer gehörloser Menschen Von Alexandra Kunze

288

DZ 97 14

Lucas und Valli kommen in ihrer Studie von 1992 zu dem Ergebnis, dass Contact Signing auch unter Gehörlosen auftritt, wenn keine hörende Person anwesend ist. Dies wollte ich in Bezug auf Gespräche älterer Gehörloser überprüfen, da diese durch den ihnen in der Schule erteilten Artikulationsunterricht und forciertes Lippenlesen in besonderem Maß von oraler Erziehung beeinflusst worden sind (vgl. Nikolajewa 1978; Slesina 1981; Göbel 1989). Dementsprechend liegen der Untersuchung folgende Forschungsfragen zugrunde: 1. Welche Sprachkontaktphänomene sind im Gespräch zwischen älteren Gehörlosen zu beobachten? und 2. Welchen semantischen Beitrag leisten dabei einerseits die manuelle und andererseits die orale Modalität? Nachfolgend werden zunächst Sprachkontaktphänomene zwischen Deutsch und Deutscher Gebärdensprache (DGS) erläutert, anschließend die durchgeführte empirische Untersuchung beschrieben und deren Ergebnisse zusammengetragen. Der Artikel schließt mit einem Fazit ab.

1. Sprachkontaktphänomene in der Sprachverwendung eines Individuums Sprachkontakt bezeichnet die gegenseitige Beeinflussung von mindestens zwei Sprachen und stellt somit ein Resultat von Mehrsprachigkeit dar (vgl. Riehl 2004). Weinreich (1968) versteht unter Sprachkontakt die abwechselnde Verwendung von zwei oder mehr Sprachen durch eine Person. Sprachkontakt ist allgegenwärtig, sowohl für Individuen als auch für Sprachgemeinschaften (vgl. Ebbinghaus 2012). Nachfolgend werden die Performanzphänomene Code-mixing sowie Codeswitching als Ergebnis des Sprachkontakts eines Individuums beschrieben und anschließend Ablesewörter und Contact Signing erläutert. 1.1. Code-mixing Code-mixing ist ein Sprachkontaktphänomen, das in der Sprachverwendung bilingualer Personen auftritt. Es handelt sich um Sprachmischungen (vgl. Müller et al. 2007) – betroffen sind lexikalische und grammatische Elemente der individuellen Sprachverwendung (vgl. Muysken 2000). Laut Ann (2001) und Ebbinghaus (2012) findet Code-mixing innerhalb eines Satzes statt, indem Elemente von zwei Sprachen gleichzeitig produziert werden (vgl. Sofinski 2002). Zum Teil kann nicht genau festgestellt werden, welche Sprache die sogenannte Matrixsprache, also die Sprache der Interaktion ist (vgl. Auer 1999). 1

1.2. Code-switching Code-switching ist ebenfalls hauptsächlich bilingualen Personen zuzuordnen (vgl. Müller et al. 2007). Es bezeichnet die Verwendung von mindestens zwei Sprachen innerhalb einer Unterhaltung bzw. Äußerung (vgl. Gardner-Chloros 1997; Milroy & Muysken 1997), tritt u. a. an Satzgrenzen oder in Pausen auf (vgl. Zentella 1997; zit. nach Hauser 2000) und kann einzelne Wörter, Phrasen oder vollständige Sätze betreffen (vgl. Riehl 2004). Ob dieses Verhalten eine sprachliche Fähigkeit oder ein Defizit darstellt, ist in der Sprachkontaktforschung umstritten (vgl. Clyne 2003). Wenn Gebärden- und Lautsprachen aufeinandertreffen, laufen andere Prozesse ab als beim Sprachkontakt zwischen zwei Lautsprachen (vgl. Lucas & Valli 1992). Hierfür lassen sich zwei Gründe anführen: 1. Die Sprecher einer Gebärdensprache stellen keine autonome Bevölkerung mit eigenem Gebiet dar: Gehörlose Menschen leben in einer hörenden Gesellschaft, die maßgeblich durch die gesprochene Sprache geprägt wird (vgl. Ebbinghaus 2012). 2. Gebärdensprache ist eine visuellgestische Sprache. Die Modalitäten von Laut- und Gebärdensprache differieren und dementsprechend auch ihre Kommunikationskanäle (vgl. ebd.). Dadurch können Elemente beider Sprachen gleichzeitig produziert werden.2

Der Artikel stellt die überarbeitete Fassung meiner Diplomarbeit dar (vgl. Kunze 2013).

2

Die Sprachkontaktphänomene lautsprachbegleitende sowie lautsprachunterstützende Gebärden (LBG und LUG), das Fingeralphabet als graphembestimmtes Manualsystem und das phonembestimmte Manualsystem (PMS) werden als bekannt vorausgesetzt und daher nicht weiter erläutert.

Beitrag aus: DAS ZEICHEN 97/2014 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)

Lin gui sti k

1.3. Ablesewörter Der Begriff Ablesewörter wurde von Ebbinghaus und Heßmann (1994) 3 eingeführt. Ablesewörter dienen der Benennung – u. a. von Referenzgegenständen –, der Signalverstärkung, können auf Objekte oder Personen verweisen und fungieren, z. T. durch Ergänzungen, als Mittel der Präzisierung sowie der Bedeutungsunterscheidung, z. B. bei den Gebärden BRUDER und SCHWESTER, die dieselbe manuelle Komponente aufweisen (vgl. Ebbinghaus & Heßmann 1990; Boyes Braem 1995; Ebbinghaus 1998a; Heßmann 2001). Sie werden meist stimmlos artikuliert und folgen dem Kriterium der Ähnlichkeit zur lexikalischen Einheit des Deutschen (vgl. Ebbinghaus & Heßmann 1995). Ablesewörter kommen vollständig oder verkürzt vor bzw. treten bei Verben im Infinitiv, Wortstamm oder in der dritten Person Singular Präsens Indikativ Aktiv auf (vgl. Boyes Braem 1995; Ebbinghaus & Heßmann 1995; Ebbinghaus 1998a; Heßmann 2001; Papaspyrou et al. 2008). Es besteht eine „wechselseitige Kontextualisierung“ (Ebbinghaus & Heßmann 1994, 483; Ebbinghaus 1998b, 595), d. h., die Wahrnehmung wird dahin gehend erleichtert, dass Gebärden helfen können, Ablesewörter richtig zu erfassen und umgekehrt Ablesewörter Gebärden präzisieren können. Dieser Sachverhalt „erweist sich als funktional zur Stabilisierung der Zeichenkonstellation“ (Ebbinghaus 1998a, 446). Die wirksam werdenden Prinzipien für gebärdensprachliche

Äußerungen bestehen in „Anschauung und Benennung“, die wiederum die „Anwendung und Vermeidung von Ablesewörtern bestimmen“ (Ebbinghaus 1998b, 604). Das Auftreten von Ablesewörtern unterliegt auch individuellen Präferenzen sowie sozialen und dialektalen Einflüssen (vgl. Ebbinghaus 1998b).

die die ASL kennzeichnen, so z. B. nonmanuelle Signale wie Blickkontakt oder nonmanuelle Negation oder eine nonmanuelle Einführung von Konditionalsätzen, rhetorische Fragen, Gebärden ohne Ablesewort, Richtungsverben und Rollenübernahme (vgl. ebd.).

2. Methodik 1.4. Contact Signing Lucas und Valli beschreiben Contact Signing zwischen American Sign Language (ASL) und Englisch wie folgt: „[C]ontact signing is a third system resulting from the contact between ASL and English and consisting of features from both lan­guages” (1992, 104). Diese Definition muss um den Aspekt ergänzt werden, dass sowohl Lautsprach- als auch Gebärdensprachelemente, also Ablesewörter und manuelle Zeichen, zur Äußerungsbedeutung beitragen. Contact Signing umfasst Ablesewörter, geflüsterte Wörter, den Gebrauch von Präpositionen und morphologischen Änderungen in beiden Sprachen (vgl. Hauser 2000; Bishop & Hicks 2005). Zu diesen Ergebnissen kommen auch Lucas und Valli (1992) in Bezug auf ihr Datenmaterial: Sie identifizieren Elemente, die der englischen Lautsprache zuzuordnen sind – wie Konjunktionen, Präpositionen, Verben mit Präpositionen, Flexions- und Ableitungsmorpheme, englische Satzgliedstellung; englische Ablesewörter mit und ohne Stimme und ungewöhnliche Initialisierungen. Des Weiteren treten auch Elemente auf,

3 Der linguistische Status von Ablesewörtern wurde in den vergangenen Jahren kontrovers diskutiert, vgl. Ebbinghaus & Heßmann 1990; 1994; 1995 und 2001; Leuninger, Pater Amandus & Wempe 1997; Ebbinghaus 1998a und b; Glück & Pfau 1998; Happ & Hohenberger 1998; Keller 1998; 1999 und 2001; Leuninger 1998; Bergman & Wallin 2001; Heßmann 2001; Schermer 2001.

Um die beiden Forschungsfragen – 1. Welche Sprachkontaktphänomene sind im Gespräch zwischen älteren Gehörlosen zu beobachten? und 2. Welchen semantischen Beitrag leisten dabei einerseits die manuelle Modalität und andererseits die orale Modalität? – nachzugehen, wurden empirische Daten von drei älteren Gehörlosen in einer offenen, nicht teilnehmenden Beobachtung und in einem Gruppeninterview erhoben. Dieses Datenkorpus wurde ergänzt durch soziodemografische Daten aus einem Fragebogen. 2.1. Die Probanden Die soziodemografischen Daten der Probanden wurden mithilfe eines Fragebogens ermittelt (vgl. Tab. 1 auf S. 290). 2.2. Erhebung Um das zu beobachtende sprachliche Verhalten der drei Probanden so wenig wie möglich zu beeinflussen (vgl. Albert & Koster 2002), wurde der Forschungsgegenstand auf das Thema Schule gerichtet. Brinker und Sager (2006) folgend wurde den Probanden das Vorhaben zwar verdeutlicht – und sie stimmten einer Aufnahme bereitwillig zu –, ohne dass ihnen hierbei aber das eigentliche

Beitrag aus: DAS ZEICHEN 97/2014 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)

DZ 97 14

289

l ingu is tik

Proband A

Proband B

Proband C

Alter

54 Jahre

68 Jahre

66 Jahre

Geschlecht

weiblich

männlich

weiblich

Familienstand

ledig

ledig

ledig

Hörstatus

gehörlos

gehörlos

gehörlos

Hörstatus der Eltern

hörend

hörend

hörend

Geschwister (ggf. Hörstatus)

2 Schwestern (beide hörend)

keine

1 Bruder (hörend) 1 Schwester (gehörlos)

Schule

Gehörlosenschule

4 Jahre Gehörlosenschule, 7 Jahre Schwerhörigenschule

Gehörlosenschule

Schulabschluss

10. Klasse

10. Klasse

8. Klasse

Tab. 1: Daten zur Person

290

DZ 97 14

Forschungsziel präzise erläutert worden wäre. Die Intention bestand darin, die Aufmerksamkeit nicht auf die sprachlichen Ereignisse zu lenken, die im Zentrum der Untersuchung standen. Das Setting wurde so arrangiert, dass eine statische Aufnahme erfolgen konnte. Als Erhebungsinstrumente wurden – entsprechend der Reihenfolge ihrer Verwendung – ein Gesprächsleitfaden, der oben genannte Fragebogen „Daten zur Person“ sowie ein Interview-Leitfaden genutzt. Die Inhalte habe ich in der Situation in DGS gebärdet. Die freie Unterhaltung der drei Gehörlosen hatte eine Länge von 00:12:52, das Gruppeninterview dauerte 00:25:35. Des Weiteren wurde ein Untersuchungsprotokoll erstellt, das „objektive Daten“ der Aufnahme enthielt (Deppermann 2008, 24).

guistische Faktoren die Sprachverwendung der Probanden beeinflussen. Die freie Unterhaltung wurde in Anlehnung an die Konventionen von Geißler (2006) in Microsoft Word transkribiert, wobei ein Sonderzeichen für den Einsatz von PMS ergänzt wurde (vgl. Tab. 2). Die jeweilige Transkriptionslänge, die durch den entsprechenden Timecode gekennzeichnet wurde, richtete sich nach den Aussagen der Probanden und nach Sinneinheiten. Formgleiche Gebärden mit unterschiedlichen Bedeutungen, die sich aus den begleitenden Ablesewörtern ergaben, wurden in Anlehnung an Langer, Bentele und Konrad (2002) in der Transkription mit verschiedenen Glossen versehen, so bspw. die Verben BESUCH und VERSUCH sowie ARBEIT und MACH. Sofern sich ein Ablesewort über mehrere Gebär-

den erstreckte, wurde eine gestrichelte Linie gezogen, um die Simultaneität aufzuzeigen. Dasselbe Verfahren wurde auch bei einer Gebärde angewandt, die über mehrere Ablesewörter hinweg gehalten wurde. Trat lediglich ein Ablesewort ohne Gebärde auf, wurde mit einem Slash gearbeitet, ebenso bei einer Gebärde ohne Ablesewort bzw. Mundgestik. Konnte ein Ablesewort ohne Gebärde beobachtet werden, weil beide Hände in der Aufnahmesituation zeitgleich etwas festhielten, z. B. die eine Hand die Kuchengabel und die andere den Teller, fand die Aussage in der Analyse keine Berücksichtigung. Ebenso verhielt es sich mit Gebärden, die ohne Ablesewort ausgeführt wurden, weil bspw. zeitgleich Kuchen bei geschlossenem Mund gegessen wurde. Derartige Vorkommen wurden bewusst ausgesondert, da nicht

2.3. Auswertung Der Fragebogen „Daten zur Person“ und das Untersuchungsprotokoll dienten lediglich der Absicherung der Daten. Das Gruppeninterview wurde genutzt, um später Rückschlüsse ziehen zu können, inwiefern soziolin-

Proband

Timecode

DH NDH AW/ MG Typ

Transkription

ggf. Kontext/ Kommentar

Tab. 2: Transkriptionsverfahren (DH = dominante Hand; NDH = nicht dominante Hand; AW = Ablesewort; MG = Mundgestik)

Beitrag aus: DAS ZEICHEN 97/2014 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)

Lin gui sti k

Typ

Verhältnis: manueller Teil (MT) : Deutsch ggf. zeitversetzt/zeitgleich

Transkription

0

MT = Deutsch zeitgleich

Geb.: GEB1 [GEB1&GEB2] [GEB1a-GEB1b] AW: wort1 [wort1&wort2-] [wort1a-wort1b-]

1

MT < Deutsch

Geb.: / AW: wort1

2

MT > Deutsch

Geb.: GEB1 [GEB1---------] [CL:GEB1-----] AW: / [Mundgestik] [Mundgestik]

3

MT ≠ Deutsch zeitgleich

Geb.: GEB2 [CL:GEB1] AW: wort1 [wort1---]

4

MT < Deutsch zeitgleich

Geb.: GEB1--------AW: wort2 wort1

5

MT = Deutsch zeitversetzt

Geb.: GEB1 / [ / GEB1] [GEB1 GEB2] AW: / wort1 [wort1 / ] [wort2 wort1]

6

MT > Deutsch zeitgleich

Geb.: GEB1&GEB2 AW: wort1--------

7

MT < Deutsch zeitversetzt

Geb.: GEB1 AW: [wort1] wort2 wort3 [wort4 wort5]

8

komplexe Kombination

[GEB1-----------] [wort1 wort2]

DZ 97 14

[GEB 1 GEB2] [wort2-------]

Tab. 3: Analyse-Typologie

antizipiert werden konnte, welches sprachliche Verhalten ohne eine parallel laufende Aktion bzw. ohne den Einfluss von zwei Gegenständen zu beobachten gewesen wäre. Hielt nur eine Hand bspw. eine Kuchengabel fest, wurde diese Information in der entsprechenden Zeile so erfasst: [Kuchengabel in der DH]. Diese Angabe erfolgte, um anzugeben, warum einige Zweihand-Gebärden einhändig ausgeführt wurden. Es gab vereinzelt Videoabschnitte, in denen das Verständnis einer kurzen Sequenz Schwierigkeiten bereitete. In solchen Fällen wurden zwei gehörlose Muttersprachler als Informanten unabhängig voneinander konsultiert. Um die Frage, welche Sprachkontaktphänomene im Gespräch auftreten, beantworten zu können, wurde sowohl auf syntaktischer als auch

auf lexikalischer Ebene ein deskriptives Vorgehen gewählt: Dabei wurde nach Fingeralphabet und PMS sowie nach Elementen der deutschen Lautsprache wie Ablesewörter ohne begleitende Gebärden, deutschen Redewendungen oder nach Sätzen bzw. Satzteilen mit Lautsprachgrammatik, insbesondere nach morphologischen Änderungen, geschaut. Ebenfalls als Elemente der deutschen Lautsprache wurden eine Art LBG und eine Art LUG gefasst, die jedoch – sofern sie auftraten – ohne Stimmeinsatz ausgeführt wurden. Ziel war es, eventuell vorkommende Code-switchings, Code-mixings und Contact Signing zu erfassen und zu beschreiben. Contact Signing kann aber nur selektiert aufgezeigt werden, da die nonmanuelle Komponente, mit Ausnahme der Ablesewörter und Mundgestiken, nicht in die Transkription einging.

Um der Frage nach dem semantischen Beitrag der jeweiligen Modalität adäquat nachgehen zu können, wurde eine Analyse-Typologie erstellt, die das Vorgehen vorwiegend auf lexikalischer und nur in seltenen Fällen auf syntaktischer Ebene verdeutlicht (vgl. Tab. 3). Das Hauptaugenmerk der Analyse liegt auf dem Verhältnis von manuellem Teil (MT) zu Deutsch. Dieses kann gleich, ungleich, größer oder kleiner sein. Die Angaben in eckigen Klammern geben lediglich einen Teil möglicher Varianten an. Des Weiteren wurde mit dem Transkriptionsverfahren erfasst, ob Gebärden und Ablesewörter simultan oder zeitlich versetzt auftraten. Aus Tabelle 3 wird ersichtlich, dass bei dieser Vorgehensweise neun Typen voneinander differenziert werden können. Tabelle 4 (auf S. 292) veranschaulicht, wie die-

Beitrag aus: DAS ZEICHEN 97/2014 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)

291

l ingu is tik

Typ

Analysekategorie(n)

Verhältnis: manueller Teil (MT) : Deutsch ggf. zeitversetzt/zeitgleich

0

Semantische Identität zwischen Gebärde und Ablesewort

MT = Deutsch zeitgleich

1

Ablesewort bzw. Mundgestik ohne Gebärde

MT < Deutsch

2

Gebärde ohne Ablesewort bzw. (Klassifikator-)Gebärde mit Mundgestik

MT > Deutsch

3

Semantische Differenz zwischen Gebärde und Ablesewort

MT ≠ Deutsch zeitgleich



292

DZ 97 14

a) inhaltliche Nicht-Übereinstimmung b) Bedeutungsnuancierung zwischen Ablesewort und Gebärde c) umgangssprachlicher Einfluss bzw. Phrase aus der Lautsprache d) Klassifikatorgebärde mit Ablesewort e) Derivation f) Flexion: Deklination, Konjugation, Komparation g) Indexikalische bzw. deiktische Gebärde mit Ablesewort

4

Mehrere Ablesewörter ergänzen eine Gebärde

MT < Deutsch zeitgleich

5

Sequenzielle Verschiebung zwischen Ablesewort und Gebärde

MT = Deutsch zeitversetzt

6

Mehrere Gebärden ergänzen ein Ablesewort

MT > Deutsch zeitgleich

7

Satz bzw. Satzteil aus Ablesewörtern und einer Gebärde

MT < Deutsch zeitversetzt

8

Komplexe Kombination aus Ablesewörtern und Gebärden

komplexe Kombination

Tab. 4: Analysekategorien

se neun Typen betitelt und kategorisiert werden.

3. Ergebnisse 3.1. Beispiele identifizierter Sprachkontaktphänomene Um der ersten Forschungsfrage nach der Art der Sprachkontaktphänomene nachzugehen, werden nachfolgend identifizierte Beispiele auf lexikalischer und syntaktischer Ebene beschrieben, ohne dabei die Häufigkeit von spezifischen sprachlichen Ereignissen zu ermitteln.4 Beispiel 1 auf S. 293 liefert ein Beispiel für Code-mixing: DGS und

Deutsch werden simultan produziert. Auf den ersten Blick handelt es sich um eine Art LBG, jedoch mit dem entscheidenden Unterschied, dass die Ablesewörter stimmlos artikuliert werden, weshalb die Bezeichnung LBG unpassend ist. Im Beispiel folgen sowohl der MT als auch die Ablesewörter der Grammatik des Deutschen. Dies widerspricht Boyes Braems (1995) Beobachtung, dass gehörlose Erwachsene eine solche Kommunikationsform „fast nie in ihren Alltagsgesprächen“ (158) verwendeten. Das Beispiel bestätigt jedoch Ebbing-

haus’ (2012) Aussage, dass „es immer auch gehörlose Erwachsene gegeben (hat), die sich beim Gebärden stärker am gesprochenen Wort orientierten“ (231). Über die Ablesewörter werden in diesem Beispiel zwei Hauptsätze ohne Subjekt – welches auch zuvor nicht explizit erwähnt wird – vermittelt. Der vorangegangene Gesprächskontext lässt jedoch erkennen, dass der Lehrer einer Schwerhörigenschule gemeint ist. Zudem werden morphologische Änderungen vorgenommen, um Flexionen, hier speziell Konjugationen, zu bewirken. Numerus und

4

Aus Platzgründen können hier lediglich einige wenige Beispiele angeführt werden, für eine ausführliche Darstellung vgl. Kap. 7.2 in Kunze 2013.

Beitrag aus: DAS ZEICHEN 97/2014 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)

Lin gui sti k



Tempus werden übermittelt und im zweiten Hauptsatz sogar der Modus Imperativ. Beispiel 2 stellt ebenfalls ein Codemixing dar und kennzeichnet über die Ablesewörter einen vollständigen deutschen Satz. Gebärden und Ablesewörter weisen unterschiedliche Informationen auf, z. B. die Höflichkeitsform „Sie“, bei der die korrekte Konjugation beachtet wird. Es liegt eine Bedeutungsdifferenz zwischen MT und dem Deutschen vor. Im Datenmaterial wurden zahlreiche weitere Fälle von Code-mixing identifiziert, auf die hier jedoch nicht eingegangen wird. Beispiele für Code-switching konnten ebenfalls nachgewiesen werden. Beispiel 3 zeigt einen Wechsel der Modalität: Der Gebärdenfluss wird unterbrochen, um mithilfe von Ablesewör6 tern eine Frage zu formulieren. Während des weiteren Gesprächsverlaufs wird der Gebärdenfluss auch mehrmals unterbrochen, um zu einem manuellen Code zu wechseln. Der Einsatz des Fingeralphabets repräsentiert im Datenmaterial jedoch nicht die Orthografie deutscher Wörter, sondern es werden lediglich einzelne Buchstaben gezeigt, wie unter 3.2 noch ausgeführt werden wird. Ein Grund hierfür könnte darin liegen, dass die Probanden nach eigenen Aussagen das Fingeralphabet im Schulunterricht der ehemaligen DDR nicht gelernt haben, wohingegen dort das Artikulieren und das Lippenlesen kontinuierlich trainiert



(1) S PRE C H spricht---

S C H NELL M USS zu schnell-- muss--

Bsp. 1: Code-mixing: Satz ohne Subjekt als Ablesewörter

(2) ENTSCHULDIGUNG5 MEIN NEUTRAL1 ENTSCHULDIGUNG NEUTRAL1 entschuldigen------- sie---- bitte------



Bsp. 2: Code-mixing: die Ablesewörter bilden einen vollständigen deutschen Satz (3) WAS
 WAS was ist mit dir los
 Bsp. 3: Code-switching

(4) ICH GEFALL ZAHLEN ZAHLEN zahlen-- / /



PMS-A

PMS-B

a-------

b-------

Bsp. 4: Code-switching zum PMS CL:Kniebeule (5) CL:Kopfbeule
 immer blau----------------------Bsp. 5: Contact Signing

wurden (vgl. Nikolajewa 1978; Slesina 1981; Göbel 1989).7 Zur damaligen Zeit wurde in den Gehörlosenschulen der DDR allerdings das PMS als „Sprechlehr- und Sprechlernhilfe“, also als methodisches Mittel eingesetzt (vgl. Schulte 1980, 20). Beispiel 4 veranschaulicht dementsprechend ein Code-switching zu einem manuellen Code, wie es auch Bishop und Hicks (2005) beschreiben. Hier fungiert das PMS als Ablesehilfe (vgl. Langer et al. 2002) und wird benutzt, um auf Besonderheiten des Mathematikunterrichts einzugehen.

5

Die doppelte Anführung einer Glosse – wie hier bei ENTSCHULDIGUNG und NEUTRAL1 – dient der Markierung von Zweihandgebärden. 6

Ein solches Beispiel findet sich auch bei Heßmann 2001, im Gegensatz zu Beispiel 3 aber ohne den Einsatz der Stimme (Flüstern).

7

L A NGS A M DEUTLI C H S P RE C H langsam----- und deutlich sprechen-

Boyes Braem 1995 betont zudem, dass ältere gehörlose Menschen per se selten das Fingeralphabet benutzen.

Beispiel 5 zeigt ein Vorkommen von Contact Signing, bei dem gebärdensprachliche und lautsprachliche Elemente simultan produziert werden. Die Elemente beider Sprachen tragen zur Äußerungsbedeutung bei. Der Wechsel von NDH zu DH wird vermutlich bewusst vorgenommen, um ‚die blauen Flecke‘ an den Körperstellen zu lokalisieren, an denen sie früher aufzufinden waren. In diesem Beispiel werden durch die ikonischen Klassifikatorgebärden, die Beulen darstellen, und mithilfe der Ablesewörter immer blau, einem Temporaladverb und einer Farbe, präzise Informationen übermittelt, die sich in dieser Form nur aus dem Zusammenspiel des MT und der Ablesewörter ergeben. Vergleichsweise würde in einer alltäglichen DGS-Konstruktion wahrscheinlich zunächst die Farbgebärde BLAU mit Ablesewort

Beitrag aus: DAS ZEICHEN 97/2014 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)

DZ 97 14

293

l ingu is tik

294

DZ 97 14

ausgeführt und anschließend über die Klassifikatorgebärden gestreckt werden, was einem Spreading entspräche (vgl. Langer et al. 2002).
 Erörtert man an dieser Stelle die Ursachen für das Auftreten von Contact Signing, so erscheint Fischers Begründung, Contact Signing sei „an interface between deaf signers and hearing speakers“ (1978, 314, zit. nach Lucas & Valli 1992, 18) als nicht plausibel, da alle Gesprächsteilnehmer gehörlos waren. Das Setting der Untersuchung wird von den Probanden nach eigenen Aussagen wie ein „Kaffeeklatsch“ empfunden. A und B nehmen im Verlauf der Unterhaltung auch die Kameras nicht mehr wahr – C stuft deren Vorhandensein als „normal“ ein. Die Gesprächsteilnehmer kennen sich zudem seit über 30 Jahren, B und C sind sogar über 60 Jahre miteinander bekannt. All diese Aspekte sprechen Lucas und Valli (1992) zufolge gegen das Auftreten von Contact Signing. Andererseits betonen sie aber auch die Bedeutung des Gebärdenspracherwerbsalters – ein Faktor, der bei A, B und C entscheidend für die simultane Nutzung von Gebärdensprach- und Lautsprachelementen sein könnte. Hinzu komme, dass die individuelle Spracheinstellung Contact Signing begünstige. Dies kann in Bezug auf das vorliegende Sprachkorpus bestätigt werden, da die Probanden Gebärden als „Plaudern“ bezeichnen. Als A, B und C zur Schule gingen, war der Gebrauch von Gebärdensprache untersagt und ein Zuwiderhandeln wurde in ähnlicher Weise sanktioniert, wie bei McDonnell und Saunders (1993) beschrieben. So wird im Gespräch bspw. von einer STRAF&ECKE/strafecke8 berichtet. Aus diesem Gebärdenverbot und dem kontinu-

ierlichen Druck, verständlich sprechen zu müssen, könnten sich bei A, B und C – folgt man der Argumentation von McDonnell und Saunders (1993) – Kommunikations-, Werteund Identitätskonflikte ergeben haben, aufgrund derer die drei auch in ihrer Unterhaltung auf Contact Signing zurückgreifen. Festzuhalten bleibt, dass im vorliegenden Datenkorpus Beispiele für Code-mixing, Code-switching und Contact Signing identifiziert werden konnten. Darüber hinaus ließen sich folgende weitere Kontaktphänomene feststellen: Ablesewörter traten als Konjunktionen und Präpositionen in Erscheinung, die laut Erlenkamp (2012) in der DGS entweder nicht existieren oder anderen Regeln folgen. Des Weiteren ließen sich über die Ablesewörter deutsche Redewendungen, vollständige deutsche Sätze oder Sätze mit einer fehlenden Konstitu9 ente , Subjekt oder Objekt, bzw. ohne bestimmten Artikel beobachten. Sofern kein gebärdensprachliches Pendant für ein deutsches Wort zur Verfügung stand, erfolgte eine Präzisierung via Ablesewort. Eine solche Strategie beschreiben auch Boyes Braem (1995), Ebbinghaus und Heßmann (1995) sowie Ebbinghaus (1998b). Ablesewörter wurden dementsprechend im vorliegenden Korpus sowohl bei diversen Städtenamen als auch bei einer Berufsbezeichnung angewandt.

3.2. Semantischer Beitrag der manuellen und der oralen Modalität Um die zweite Forschungsfrage nach dem semantischen Beitrag, den die manuelle und die orale Modalität jeweils leisten, beantworten zu können, wurden – wie oben bereits erläutert (vgl. Tab. 3 und 4) – Analysetypen und -kategorien aufgestellt. Die Auszählung ergibt die prozentuale Verteilung der einzelnen Typen (vgl. Abb. 1). Die im Datenkorpus identifizierten neun Typen können mehrere Gebärden resp. mehrere Ablesewörter beinhalten – insgesamt wurden 1.285 Vorkommen verzeichnet. Aufgrund meiner Vorgehensweise10 konnte ich im Gegensatz zu Ebbinghaus (1998b), der feststellt, dass lexikalische Gebärden dreimal häufiger mit einem Ablesewort auftreten und in Abhängigkeit von der Textsorte ca. jede zweite Gebärde mit einem Ablesewort vorkommt, kein Verhältnis von Gebärden zu Ablesewörtern ermitteln. Nachfolgend werden die einzelnen Typen benannt und kurz definiert sowie ihr prozentualer Anteil am Gesamtkorpus und ihr Verhältnis von MT zu Deutsch angegeben. Je nach Komplexität der Vorkommen werden die Beispiele einer entsprechenden Erläuterung voran- bzw. nachgestellt. Bei Typ 0, dessen prozentualer Anteil bei 44,2 % liegt, werden Ge-

8 Diese Notation stellt eine vereinfachte Glossierung im Fließtext dar: Gebärde (Großbuchstaben/Standard) und Ablesewort (Kleinbuchstaben/kursiv) werden simultan ausgeführt. 9 Diese Kategorisierung dient lediglich der Beschreibung – eine defizitäre Wertung ist nicht intendiert. 10

In meiner Diplomarbeit wurden die Ergebnisse der Zuordnung zu jedem einzelnen Typ zusätzlich in Balkendiagrammen veranschaulicht, bei denen nicht mit Prozentangaben, sondern mit der Anzahl der Vorkommen gearbeitet wurde. Sie visualisieren den spezifischen Gebrauch der Typen nach Probanden (vgl. Kunze 2013, 84 ff.).

Beitrag aus: DAS ZEICHEN 97/2014 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)

Lin gui sti k

4,98 % 1,25 %

0,47 %

1,17 % 0 - Semantische Identität

3,66 % 1 - AW/MG ohne Gebärde 2 - Gebärde ohne AW bzw. (Klassifikator-)Gebärde mit MG 44,20 %

3 - Semantische Differenz zwischen Gebärde und AW

19,53 % 4 - Mehrere AWer ergänzen eine Gebärde 5 - Sequenzielle Verschiebung zwischen AW und Gebärde 6 - Mehrere Gebärden ergänzen ein AW 19,38 %

7 - Satz/Satzteil aus AWern und einer Gebärde DZ 97 14

5,37 % 8 - Komplexe Kombination aus AWern und Gebärde

Abb. 1: Prozentuale Verteilung der einzelnen Typen

bärde und Ablesewort simultan produziert und entsprechen einander. Das heißt, beide bezeichnen dasselbe, somit liegt semantische Identität vor.11 Dies gilt u. a. auch für deutsche und gebärdensprachliche Komposita. Typ 0 sind folgende Vorkommen zugeordnet: l Ablesewörter, die unmittelbar im semantischen Feld der begleitenden Gebärde liegen; l STIMM/stimm, GEB/gibt, KLAPP/ klappt, PASS/passt; l die dritte Person Singular Präsens Indikativ Aktiv bei Modalverben12 (die Konjugationen aller anderen Verben sind Typ 3 zugeordnet); 11

Wenn für diesen Typ 0 hier „semantische Identität“ deklariert wird, so nur unter dem Aspekt, dass ich bereits eine Zuordnung von Ablesewörtern vorgenommen hatte, sofern sie im unmittelbaren semantischen Feld der Gebärde lagen, z. B. BEGINN/ anfang oder FINGERALPHABET/alphabet.

12

Diese Form versteht Ebbinghaus 1998a als eine Art Grundform.

l

alle Verben im Infinitiv oder Wortstamm (vgl. Boyes Braem 1995; Ebbinghaus & Heßmann 1995; Heßmann 2001; Papaspyrou et al. 2008).

Semantische Identität stellt laut Ebbinghaus (1998b) ein seltenes Phänomen dar. Im Gegensatz dazu kennzeichnen Langer et al. (2002, 90) sie als „Normalfall“ – diese Einschätzung wird durch das vorliegende Datenmaterial (mit einem Vorkommen von 44,2 %) bestätigt. Für Typ 0 lassen sich – wie sich in der Auflistung der Vorkommen bereits andeutet – Beispiele aus allen Wortarten finden. Ebbinghaus (1998a und b) identifiziert für diese Form der Bedeutungsentsprechung insbesondere



(6) HÖREND hörend--

HUNGER hunger--

VERPASS verpassen

zahlreiche Nomen, was für den vorliegenden Datenkorpus nicht festgestellt werden konnte. Das heißt, dass gebärdensprachliche Nomen nicht häufiger mit einem Ablesewort kombiniert werden als vergleichsweise Verben oder Adjektive. Das von Heßmann (2001) beschriebene Phänomen, dass die Gebärde HÖREND meist mit Ablesewort artikuliert wird, konnte hingegen beobachtet werden. Beispiel 6 zeigt einzelne Vorkommen verschiedener Wortarten (Adjektiv, Nomen, Verben im Infinitiv und in der 3. Person Singular Präsens Indikativ Aktiv), die alle dem Typ 0 angehören. Wie Heßmann (2001) darüber hinaus erläutert, können auch dialektale

WEISS weiß--

Bsp. 6: Vorkommen verschiedener Wortarten (Typ 0)

Beitrag aus: DAS ZEICHEN 97/2014 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)

295

l ingu is tik

296

DZ 97 14

Gebärden mit denselben Ablesewörtern auftreten – im hier beschriebenen Datenmaterial sind entsprechende Beispiele SCHULE1/ SCHULE2 sowie INTERNAT1/ INTERNAT2. Die PMS-Sequenzen – PMS-A/a, PMS-B/b – werden ebenfalls unter Typ 0 eingeordnet. Sie übernehmen Langer, Bentele und Konrad (2002) zufolge die Funktion einer Ablesehilfe. Außergewöhnlich unter den Typ 0 zugeordneten Vorkommen ist UND/ und, das mehrfach auftritt. Dieses Vorkommen erscheint deshalb als nicht charakteristisch, weil es in der DGS die Konjunktion und nicht gibt (vgl. Papaspyrou et al. 2008). Sie stellt hier ein manuelles Zeichen dar, das im Rahmen der LBG eingeführt wurde (vgl. Prillwitz 1990; Boyes Braem 1995). Drei Sonderfälle des Typs 0, die sowohl eine Komparation im MT als auch im Deutschen enthalten, wurden identifiziert (vgl. Bsp. 7). Typ 1 stellt ein Ablesewort bzw. eine Mundgestik ohne Gebärde dar und umfasst 5,37 % des Gesamtdatenmaterials. Der Anteil des MT ist nicht nur kleiner als der des Deutschen, sondern gleich null. Auch Heßmann (2001) beschreibt für seinen Korpus das Auftreten von Ablesewörtern ohne Gebärden. Typ 1 sind folgende Vorkommen zugeordnet: l ausschließlich artikulierte Konjunktionen, so bspw. weil, und, aber, ob; l Präpositionen ohne manuelle Zeichen, so bspw. von, mit; l Pronomen ohne begleitende Gebärden, so bspw. ich oder wir; l Zustimmungskommentare ohne manuelle Zeichen, so bspw. ja; l Verben ohne simultan produzierte Gebärden, so bspw. wird, fahren, muss und l Nomen ohne begleitende Gebärden.

(7) SCHLECHT++------ SCHLECHT++------ sehr sehr schlecht

BESSER++----- SCHLIMM++------BESSER++----- SCHLIMM++------immer besser immer schlimmer



Bsp. 7: Komparationen (Sonderfälle: Typ 0)



(8) CL:Gesicht erröten---- du-ERLÄR-ich--------- CL:Gesicht erröten---- [Mundgestik: pusten] [Mundgestik „zzzz“]



ÜB-angestrengt----ÜB-angestrengt----[Mundgestik „zzzz“]

Bsp. 8: Verschiedene Verbklassen mit Mundgestik (Typ 2)

Nicht charakteristisch erscheinen für diese Gruppe Ablesewörter, die ohne begleitende Gebärde erfolgen, weil sie bspw. als Antwort auf eine zuvor gestellte Frage dienen, so geschehen, als ein Proband einem anderen mit einer indexikalischen Gebärde ein Stück Kuchen, also Z-schokolade/ schokolade, anbot und die Antwort ausschließlich über das Ablesewort schokolade erfolgte. Das Gegenstück zu Typ 1 bildet Typ 2, dessen Vorkommen im Datenkorpus sich auf 19,38 % beläuft. Dabei treten Gebärden ohne Ablesewörter auf oder werden von einer Mundgestik begleitet. Somit ist der Anteil des MT größer als der des Deutschen, der ggf. sogar gleich Null sein kann. Typ 2 sind folgende Vorkommen zugeordnet: l indexikalische Gebärden; l produktive Gebärden; l expressive Gebärden sowie l Richtungsgebärden. Ebbinghaus (1998b) erläutert, dass es sich um sehr anschauliche Gebärden handelt, die keiner expliziten Benennung bedürfen. Deiktische oder indexikalische Gebärden übernehmen verweisende Funktionen, weshalb ein Ablesewort nicht essenziell erscheint (vgl. ebd.). Produktive Gebärden, wie Klassifikatoren, visualisieren eine bestimmte Bedeutung, weshalb eher eine Mundgestik als

ein Ablesewort in Erscheinung tritt (vgl. Ebbinghaus 1998b; Ebbinghaus & Heßmann 2001; Heßmann 2001). Mundgestiken haben die Aufgabe, Gebärden zu illustrieren, zu kommentieren bzw. zu betonen, wodurch die Bedeutung des manuellen Zeichens bereichert wird (vgl. Ebbinghaus & Heßmann 2001; Heßmann 2001). Verbgebärden können wie bei Typ 0 mit einem Ablesewort ausgeführt werden, dies ist jedoch nicht der Regelfall. Genauso können sie mit oder ohne entsprechende Mundgestik auftreten, wie das unten stehende Beispiel der Richtungsgebärde ERKLÄR verdeutlicht (vgl. Bsp. 8). Des Weiteren bewirkt u. a. die Mundgestik bei der Gebärde ÜB-angestrengt die adverbiale Funktion (vgl. Papaspyrou et al. 2008). In Beispiel 8 werden die Klassifikator- und Richtungsgebärden sowie das einfache Verb mit adverbialer Funktion vorgestellt. Expressive Gebärden spiegeln eine physische oder psychische Gemütslage sowohl über die manuelle als auch über die nonmanuelle Komponente wider (vgl. Ebbinghaus 1998b). Oftmals wird eine ausdrucksstarke Mimik von einer Mundgestik begleitet, wie bei der Gebärde FASZINIERT, deren Beschreibung in identischer Weise bei Ebbinghaus (1998b) zu finden ist. Typ 3 kennzeichnet eine Gruppe, in der eine semantische Differenz zwischen Gebärde(n) und einem oder

Beitrag aus: DAS ZEICHEN 97/2014 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)

Lin gui sti k



(9) EINS---------- pflegeeltern

ICH ja---

Bsp. 9: Beispiele für inhaltliche Nicht-Übereinstimmung (Typ 3a)

(10) ENTWICKLUNG TAG-- SUPER KONSTANT ENTWICKLUNG TAG langsam--------- abend gut---- geht--------

Bsp. 10: Bedeutungsnuancierung durch das Ablesewort (Typ 3b)

(11) LERN-viel LERN-viel lernen---

Bsp. 11: Bedeutungsnuancierung im MT (Sonderfall: Typ 3b)

mehreren Ablesewörtern vorliegt. Der prozentuale Anteil dieses Typs am Gesamtkorpus liegt bei 19,53 %. Die Anteile von MT und Deutsch sind ungleich, treten jedoch simultan auf. Eine semantische Differenz zwischen Gebärde und Ablesewort liegt vor bei a) inhaltlicher Nicht-Übereinstimmung; b) Bedeutungsnuancierung zwischen Ablesewort und Gebärde; c) umgangssprachlichem Einfluss bzw. Phrase aus der Lautsprache; d) Klassifikatorgebärde mit Ablesewort; e) Derivation; f) Flexion: Deklination, Konjugation, Komparation und g) indexikalischen bzw. deiktischen Gebärden mit Ablesewort. Typ 3a umfasst die inhaltliche NichtÜbereinstimmung zwischen Ablesewort und Gebärde und tritt verhältnismäßig häufig auf. Es liegt keine Bedeutungsentsprechung, sondern eine große semantische Differenz vor, wie die beiden in Beispiel 9 angeführten Kombinationen aus Gebärde und Ablesewort belegen. Das Ablesewort ja zur simultan ausgeführten Gebärde ICH ist als kurze Rollenübernahme aufzufassen. Hierbei wird deutlich, dass

„Gebärden und Wörter [...] zwei voneinander unabhängige, gleichzeitig wahrgenommene Gegenstände [sind], die in einer funktionalen Beziehung zueinander stehen“ (Ebbinghaus 1998a, 449). Zu dem Vorkommen EINS/pflegeeltern kann ich nur Vermutungen äußern. Der Proband möchte eventuell eine Aufzählung beginnen, weil er anschließend noch die Unterbringung in einem Waisenhaus anführt. Allerdings wird bei einer Aufzählung via Listboje (vgl. Liddell 2003; Liddell, Vogt-Svendsen & Bergman 2007) normalerweise die NDH genutzt. Der Proband hingegen nutzt die DH für die Zahlgebärde EINS, außerdem ergänzt er die nachfolgend genannten Elemente nicht durch ZWEI und DREI. Ebenfalls werden Typ 3a verkürzte Ablesewörter zugeordnet, die im vorliegenden Datenkorpus jedoch selten vorkommen. Beispiele wären ABFAHR/ab sowie UMSTEIG/um. Die Ablesewörter bestehen aus den Partikeln ab resp. um, die somit einen verkürzten Bedeutungsaspekt darstellen und ungenauer als das manuelle Zeichen sind (vgl. Langer et al. 2002). Diese Vorkommen veranschaulichen jedoch, dass Reduktionen nicht willkürlich erfolgen, sondern der Bedingung gerecht werden, dass die lexi-

kalische Einheit des Deutschen durch „inferentielle Rekonstruktion“ noch zu identifizieren ist (Ebbinghaus & Heßmann 1995, 57; Ebbinghaus 1998a, 447). Somit wird das Kriterium der Ähnlichkeit berücksichtigt (vgl. Ebbinghaus & Heßmann 1995). Typ 3b umfasst Fälle einer Bedeutungsnuancierung zwischen Gebärde und Ablesewort. Ebbinghaus (1998b) betont bezogen auf das Vorkommen MUTTER/mutti – welches auch im analysierten Datenkorpus auftritt – die kontextspezifische semantische Akzentuierung. Ebenso identifiziert er verschiedene Ablesewörter zur Gebärde FORT, die das Handlungsziel bzw. eine Kausalität zum Ausdruck bringen (ebd.). Im vorliegenden Datenmaterial kommt die Gebärde FORT – in verschiedene Richtungen weisend – mit folgenden Ablesewörtern vor: pflegeeltern, nach weimar, urlaub, eltern, nach hause, nach nordhausen, nach halle. Ein besonderes Beispiel stellt SCHULE1/ eberswalde dar. Zuvor wurde im Kontext eine Gehörlosenschule erwähnt, weshalb lediglich die Gebärde SCHULE1 durch das Ablesewort spezifiziert wird. Weitere der Kategorie 3b zugeordnete Vorkommen finden sich in Beispiel 10. All diese Beispiele enthalten eine spezifizierende Information in einem oder, wie oben bei FORT, in unterschiedlichen Ablesewörtern. Als nicht charakteristisches Beispiel für 3b kann eine Bedeutungsnuancierung im MT betrachtet werden. In Beispiel 11, das zweimal zu beobachten ist, präzisiert das manuelle Zeichen die Bedeutung der Gebärde-Ablesewort-Kombination. Unter Typ 3c werden der umgangssprachliche Einfluss bzw. eine

Beitrag aus: DAS ZEICHEN 97/2014 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)

DZ 97 14

297

l ingu is tik

Phrase aus der Lautsprache gefasst, die in den Ablesewörtern deutlich werden. In Abgrenzung zu den ursprünglich im Rahmen der ersten Forschungsfrage diskutierten deutschen Redewendungen, die im vorliegenden Artikel nicht en détail vorgestellt werden, wird für den Typ 3c) ausschließlich die lexikalische Ebene betrachtet (vgl. Bsp. 12).13

298

DZ 97 14

Typ 3d umfasst Klassifikatorgebärden mit Ablesewörtern. Diese produktiven Gebärden können mehr Informationen enthalten als das begleitende Ablesewort (vgl. Ebbinghaus & Heßmann 1990). Dies verdeutlichen die Vorkommen in Beispiel 13. Beide Bestandteile, manuelles Zeichen und Ablesewort, interpretieren Langer, Bentele und Konrad (2002) als „gebundene Teilidentität“ bzw. als „Teilidentität“. Bei einer gebundenen Teilidentität wie im Falle der Gebärde CL:DOPPELSTOCKBETT++/doppelbetten ist die produktive Gebärde für die Übermittlung der Bedeutung bereits ausreichend. Das Ablesewort dient lediglich der Illustration und zweifachen Bedeutungsabsicherung. Obwohl hierbei der Plural sowohl im MT als auch im Deutschen berücksichtigt wird, besteht dennoch eine Diskrepanz zwischen beiden. Diese ergibt sich daraus, dass in der deutschen Lautsprache mit „Doppelbetten“ Ehebetten bezeichnet werden. Zur Differenzierung des hier Gemeinten wäre der Begriff „Doppelstockbett“ eindeutig. Im zweiten Vorkommen von Beispiel 13 CL:Jalousie zu/zu liegt Langer, Bentele und Konrad (2002) zufolge Teilidentität vor, d. h., Ablesewort und produktive Gebärde besitzen keine bzw. nur eine unvollständige Bedeutungsentsprechung: Das

(12) SO-------------- TOILETTE SO------------- guten appetit pullern---

bissel------

Bsp. 12: Umgangssprachlicher Einfluss bzw. Phrase aus dem Deutschen (Typ 3c)

(13) CL:DOPPELSTOCKBETT++ CL:DOPPELSTOCKBETT++ doppelbetten---------------

BISSCHEN

CL:Jalousie zu CL:Jalousie zu zu---------------

Bsp. 13: Klassifikatorgebärden mit Ablesewörtern (Typ 3d)

(14) er-HELF-ich er-HELF-ich behilflich--

Bsp. 14: Derivation (Typ 3e)

(15) M A NN 2 männer--

FRAU2 frauen--

Bsp. 15: Deklination von Nomen (Typ 3f)

(16) ANDERS ANDERS andere--

FRAU1 frauen--

VIEL SCHÖN1 viele-

schönes-

Bsp. 16: Deklination von Adjektiven (Kongruenz) (Typ 3f)

Ablesewort zu erscheint im Kontext passend, spiegelt jedoch nur einen Teil der Bedeutung wider. Typ 3e charakterisiert eine Derivation, die allerdings nur einmal auftritt14: Im Datenkorpus konnte die Umwandlung von einem Verb zu einem Adjektiv beobachtet werden (vgl. Bsp. 14). Nachfolgend wird ein Überblick über den Typ 3f, also über die aufgetretenen Flexionen gegeben. Im vorliegenden Datenkorpus werden die als Ablesewörter auftretenden Nomen selten dekliniert; zu einem identischen Ergebnis sind Ebbinghaus und 13

Heßmann (1995) gekommen. Liegt eine Deklination vor, dient sie der Pluralmarkierung (vgl. Bsp. 15). Des Weiteren finden sich im Datenmaterial Fälle deklinierter Adjektive, d. h., diese „richten sich bei attributivem Gebrauch in Kasus, Genus und Numerus nach ihrem Beziehungswort“ (Hentschel & Weydt 2003, 210). Somit liegt Kongruenz zwischen beiden Konstituenten vor (vgl. Hentschel & Weydt 2003). Dies verdeutlichen die Vorkommen in Beispiel 16; die ersten beiden beziehen sich auf darauffolgende Nomen im Plural und das dritte auf das Wetter. Besonders häufig werden Verben konjugiert. In Beispiel 17 wird ein

In der vorhandenen Forschungsliteratur findet sich kein entsprechendes Beispiel.

14

Auch für diese Kategorie findet sich in der vorliegenden Forschungsliteratur kein weiteres Beispiel.

Beitrag aus: DAS ZEICHEN 97/2014 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)

Lin gui sti k

(17) WILL SPRECH wollte spricht-

ERZIEH ERZIEH erzogen

Bsp. 17: Konjugationen (Typ 3f)

(18) GUT--- besser

MACH--- MACH--- gemacht

STRENG STRENG strenger--

Bsp. 18: Komparationen (Typ 3f)

(19) Z-oben Z-geradeaus Z-oben Z-oben nur----- mathematik- und---- von---

Bsp. 19: Arbitrarität zwischen indexikalischer Gebärde und Ablesewort (Sonderfall: Typ 3g)

(20) EINS--- SPASS------- ein jahr macht spaß

AUCH----aber auch

Bsp. 20: Ergänzung durch ein Nomen, konjugiertes Verb, eine Konjunktion im Ablesewort (Typ 4)

kleiner exemplarischer Einblick gegeben, wobei bezüglich des Ableseworts nicht zwischen Tempus, Numerus und Modus unterschieden wird. Vorkommen von Komparation – die teilweise mehrfach identifiziert werden konnten – werden in Beispiel 18 gezeigt. Typ 3g umfasst indexikalische oder deiktische Gebärden mit einem Ablesewort. Das simultan produzierte Ablesewort dient der Kontextualisierung und einer doppelten Bedeutungsabsicherung (vgl. Ebbinghaus 1998b; Langer et al. 2002). Die Beispiele Z-pflaume/pflaume sowie Zschokolade/schokolade veranschaulichen diesen Sachverhalt. Weiterhin stellen Zeigegebärden in der Kombination mit Nomen, Konjunktionen oder Präpositionen (vgl. Bsp. 19) ein häufig zu beobachtendes Phänomen

dar. Solche Kombinationen sind dennoch nicht als charakteristisch anzusehen, weil indexikalischen Gebärden nahezu willkürlich ein Ablesewort zugeordnet wird. Das Zusammenspiel zwischen Konjunktionen wie und, oder, weil und indexikalischen Gebärden konnte häufiger beobachtet werden. In Beispiel 19 verdeutlicht eine exemplarische Auswahl die eben beschriebene Arbitrarität dieses Typs. Typ 4 macht 3,66 % des Gesamtvolumens aus und umfasst die Fälle, in denen mehrere Ablesewörter eine Gebärde ergänzen, d. h., die Ablesewörter beinhalten mehr Informationen als der MT – je nach Kontext präzisieren sie, stellen Satzverbindungen her oder illustrieren den Sachverhalt. Das hinzukommende Ablesewort kann dabei im Verhältnis zum

15 Zu diesem Typ treffen Ebbinghaus & Heßmann 1990; 1994; 1995; 2001; Ebbinghaus 1998a und b; Heßmann 2001 sowie Langer, Bentele & Konrad 2002 keine Aussage.

eigentlichen Ablesewort der Gebärde voran- oder nachgestellt sein. Typ 4 sind folgende Vorkommen 15 zugeordnet: l konjugiertes Verb als zusätzliches Ablesewort; l ein Nomen als zusätzliches Ablesewort; l ein Adjektiv bzw. Numerale als zusätzliches Ablesewort; l ein Adverb als zusätzliches Ablesewort; l eine Präposition als zusätzliches Ablesewort; l eine Konjunktion als zusätzliches Ablesewort oder l eine Verschmelzung aus Präposition und Artikel als zusätzliches Ablesewort. Die Vorkommen in Beispiel 20, bei denen hinzukommende Ablesewörter fett markiert sind, veranschaulichen den Typ 4. Bei EINS/ein jahr wäre eine Inkorporation möglich gewesen. SPASS/ macht spaß weist eine Konjugation auf, die im Numerus mit dem Nomen des manuellen Zeichens übereinstimmt. Insbesondere AUCH/aber auch bietet sich an für diese Ablesewort-Kombination, weil sich die Gebärden ABER und AUCH nur geringfügig – und zwar in der Bewegung – voneinander unterscheiden. Eventuell könnte auch für eine Verschmelzung dieser zwei manuellen Zeichen argumentiert werden, wobei dennoch nur die Gebärde AUCH sichtbar wird, weshalb das vorliegende Vorkommen entsprechend glossiert wurde. In Beispiel 21 auf S. 300 sind Fälle angeführt, in denen ein Numerale, ein Temporaladverb oder eine Präposition hinzugefügt wurden. Die Gebärde MIT hätte der Gebärde KOFFER auch vorangehen können – eventuell

Beitrag aus: DAS ZEICHEN 97/2014 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)

DZ 97 14

299

l ingu is tik

(21) AUF-teller EINS-------- KOFFER-- auf einmal immer eins mit koffer

Bsp. 21: Ergänzung durch ein Numerale, Adverb oder eine Präposition im Ablesewort (Typ 4)

(22) TEIL----- TEIL---- zum teil

300

DZ 97 14

im herz

Bsp. 22: Verschmelzungen von Präpositionen mit bestimmten Artikeln (Typ 4)

(23) / dann

HERZ---

DANN ICH------------------- / [Mundgestik „ah“]

/ ich

Bsp. 23: Sequenzielle Verschiebung zwischen Ablesewort und Gebärde (Typ 5)

(24) PFLAUME Z-pflaume PFLAUME / pflaume--- / Bsp. 24: Vermischung der sequenziellen Verschiebung (Typ 5) (25) ich-SELBST ICH--- NICHT ICH MANCHMAL EINS MANCHMAL ich---------- selber ich---- nicht / einer Bsp. 25: Die Reihenfolgen der Gebärden und Ablesewörter sind nicht identisch

ist es jedoch zeitlich effektiver, KOFFER/mit koffer zu benutzen. Beispiel 22 zeigt Verschmelzungen von Präpositionen und bestimmten Artikeln, die sich vermutlich auf deutsche Phrasen zurückführen lassen. Typ 5 umfasst Vorkommen, bei denen eine sequenzielle Verschiebung zwischen Ablesewort und Gebärde zu beobachten war. Bezogen auf das gesamte Datenmaterial fallen 1,25 % unter diesen Typ. Charakteristisch ist, dass der manuelle und deutsche Anteil einander trotz der zeitlichen Versetzung entsprechen. Typ 5 sind im Einzelnen folgende Vorkommen zugeordnet: l Ablesewort und zeitversetzt dazu die Gebärde; l Gebärde und zeitversetzt das zugehörige Ablesewort; l Vermischung der beiden Varianten;

vertauschtes Auftreten von Ablesewort und Gebärde. Auf eine zeitliche Versetzung wie im ersten Vorkommen weist auch Heßmann (2001) hin. Ebbinghaus (1998b) erläutert dies als eine Form von Kontextverschiebung, bei der zunächst das Ablesewort und zeitlich versetzt die nachfolgende, meist indexikalische oder deiktische Gebärde auftritt. Im hier analysierten Datenkorpus kommt zudem der umgekehrte Fall vor: Erst wird eine Gebärde und anschließend ein Ablesewort ausgeführt. Beide Varianten werden in Beispiel 23 vorgestellt. Das erste Beispiel entspricht der Beschreibung von Ebbinghaus (1998b), das zweite Beispiel zeigt den umgekehrten Fall, jedoch mit der Besonderheit, dass eine Mundgestik aufgrund einer nonmanuell eingeführten Rollenübernahme die Gebärde ICH begleitet. Das Ablesewort ich l

/ manchmal

wird dennoch zeitlich versetzt zur Gebärde stimmlos artikuliert. Eine Vermischung dieser beiden Varianten – erst das Ablesewort, dann die Gebärde bzw. zunächst die Gebärde und anschließend das Ablesewort – wurde ebenfalls gesichtet: In Beispiel 24 dient sie durch eine indexikalische Gebärde der Kontextualisierung sowie der doppelten Bedeutungsabsicherung (vgl. Ebbinghaus 1998b; Langer et al. 2002). Die jeweiligen Reihenfolgen der Gebärden und Ablesewörter entsprechen sich nicht immer, wie in Beispiel 25 gezeigt wird. Ob es sich bei solchen Vorkommen um einen Versprecher handelt, kann weder bestätigt noch ausgeschlossen werden. Bei Typ 6 ergänzen mehrere Gebärden ein Ablesewort. Im gesamten Datenkorpus ist dieser Typ mit 4,98 % vertreten. Der Anteil des MT ist grö-

Beitrag aus: DAS ZEICHEN 97/2014 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)

Lin gui sti k

(26) BESSER SO ELTERN MEIN ELTERN MEIN besser----- eltern--------

Bsp. 26: Ergänzende, nicht notwendige Gebärde (Typ 6 (I))

(27) AUFPASS KINDER AUFPASS aufpassen-----------

ÜB DAKTYL ÜB üben----------

FREITAG FEIERABEND freitag---------------------

Bsp. 27: Gebärde mit zusätzlichem Bedeutungsaspekt (Typ 6 (II))

(28) HASS ICH NEIN+ LASS++ HASS hass------ nein--- lass---

Bsp. 28: Gebärde zur Betonung (Typ 6 (III)) DZ 97 14

ßer als der des Deutschen. Er enthält mehr Informationen, da jede Gebärde über eine eigenständige Bedeutung verfügt und innerhalb der Gebärdenkette eine Funktion übernimmt (vgl. Langer et al. 2002). Typ 6 sind folgende Vorkommen zugeordnet: I) ergänzende, aber nicht notwendige Gebärde; II) (illustrierende) Gebärde mit zusätzlichem Bedeutungsaspekt und III) Gebärde zur Betonung, z. B. durch Wiederholung ein und derselben Gebärde. Bei Typ 6 kommt es oftmals zu Spreading, d. h., das Ablesewort wird über die Dauer mehrerer Gebärden gezogen (vgl. Langer et al. 2002). Für die Zuordnung zu Typ 6 (I), (II) oder (III) spielt der Kontext eine entscheidende Rolle. Eine bereits manuell übermittelte Information kann bei ihrer erneuten Verwendung innerhalb einer Gebärdenkette sowohl dem Typ 6 (I) als auch dem Typ 6 (III) zugeordnet werden. Sofern die hinzukommende Gebärde bereits dem Kontext zu entnehmen ist, erfolgt eine Zuordnung zu

Typ 6 (II). Beispielsweise kann die zusätzliche Gebärde ICH – je nach Kontext – allen drei Typen, also 6 (I), 6 (II), oder 6 (III) zugeordnet werden: Wenn der Sprecher zuvor durch ICH benannt wurde, ist die Gebärde als nicht notwendige Ergänzung anzusehen, fällt somit unter Typ 6 (I). Trat die Gebärde ICH im vorherigen Kontext noch nicht auf, verfügt sie über einen zusätzlichen Bedeutungsaspekt und wird Typ 6 (II) zugerechnet. Wenn eine besondere Hervorhebung ausgedrückt werden soll, wird die Gebärde ICH bewusst mehrfach benutzt, wodurch sie betont wird. In diesem Fall erfolgt eine Zuordnung zu Typ 6 (III). Insbesondere für das Vorkommen von Typ 6 (III) lassen sich zahlreiche Beispiele im Datenkorpus finden. Analog verhält es sich mit Personal- oder Possessivpronomen, darunter MEIN, wie das Beispiel 26 ELTERN MEIN/eltern andeutet, das Typ 6 (I) zugerechnet wird, weil aus dem Kontext bereits deutlich geworden war, dass die Eltern des gebärdenden Probanden gemeint waren. Nachfolgend werden für jeden Typ – 6 (I), (II) und (III) – Vorkommen angeführt (vgl. Bsp. 26–28), bei denen

die betreffenden Gebärden fett markiert sind. Typ 7 beinhaltet Vorkommen mit einem Satz oder Satzteil, der aus mehreren Ablesewörtern und nur einer Gebärde besteht. Bezogen auf das gesamte Datenkorpus umfasst dieser Typ 0,47 %, d. h., er tritt lediglich marginal auf. Der MT ist deutlich kleiner als der Anteil des Deutschen. Im Unterschied zu Typ 1 kommt es zu einer zeitlichen Versetzung: Die Gebärde wird nicht über die Anzahl der Ablesewörter einer Sinneinheit gehalten. Auch Heßmann (2001) beschreibt Fälle, in denen eine Gebärde in der Kombination mit einem Satz, einer Frage oder einer Redewendung auftritt. Die dem Typ 7 zugeordneten Vorkommen können nicht – wie bei allen anderen Typen bisher geschehen – präzise kategorisiert werden, sondern es kann lediglich deren Funktion aufgezeigt werden, so wird bspw. mithilfe der Ablesewörter sequenziell eine Information gegeben, eine Frage während einer Rollenübernahme gestellt oder ein Befehl erteilt, der von

Beitrag aus: DAS ZEICHEN 97/2014 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)

301

l ingu is tik

(29) WAS SO-kamera----------------------- SO(C)------------- WAS was ist mit dir los muss aufpassen was sie sagt muss aufpassen

energischer Mimik begleitet wird, um Nachdruck zu verleihen (vgl. Bsp. 29). Im ersten Fall liegt eine Überschneidung zur ersten Forschungsfrage vor, denn die Frage kennzeichnet ein Code-switching. Es wird nach der Gebärde WAS zu Ablesewörtern ohne manuelle Zeichen gewechselt (vgl. Hauser 2000; Müller et al. 2007). Die anderen beiden Vorkommen verdeutlichen den Befehl.

302

DZ 97 14

Typ 8 macht 1,17 % des Gesamtkorpus aus und umfasst komplexe Kombinationen, die nicht ausschließlich auf lexikalischer, sondern z. T. auch auf syntaktischer Ebene anzusiedeln sind. Hieraus resultiert wie bei Typ 7 eine teilweise Überschneidung mit der ersten Forschungsfrage. Bei den Typ 8 zugeordneten Vorkommen lässt sich aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit keine allgemeingültige Aussage über das Verhältnis des MT zum Anteil des Deutschen treffen. Typ 8 sind folgende Vorkommen zugeordnet: l Gebärden und Ablesewörter treten relativ unabhängig voneinander auf; l vermeintliche Ablesehilfe; l Ablesewort-Klammer; l DH, NDH und Ablesewort agieren unabhängig voneinander, z. B. bei einer Aufzählung; l Gebärde und Ablesewörter ergänzen einander zu einer Teil- bzw. Gesamtbedeutung einer Aussage; l Kontextverschiebung; l Antizipation der folgenden Gebärde mit Ablesewort. Aus Platzgründen werden nur die ersten beiden Vorkommen nachfolgend mit Beispielen versehen. Die Beispiele 30 und 31 zeigen, dass der MT und die Ablesewörter relativ unabhän-



Bsp. 29: Satz oder Satzteil aus Ablesewörtern und einer Gebärde (Typ 7)

(30) SCHULE1 schule---

/ ich

ICH viel-

ERLEB ICH erlebt-------

Bsp. 30: Gebärden treten relativ unabhängig von Ablesewörtern auf (Typ 8)

(31) I C H holt-

VIEL habe

MICH mich--

ich-ABHOL-vater ab-------------------

Bsp. 31: Gebärden treten relativ unabhängig von Ablesewörtern auf (Typ 8)

gig voneinander in Erscheinung treten können. Zudem ergibt sich eine Überschneidung mit der ersten Forschungsfrage, denn das Beispiel zeigt ein Code-switching, in dem die Ablesewörter unter Auslassung von Präposition und bestimmtem Artikel einen deutschen Satz repräsentieren. Das Beispiel 30 kann als marginales Code-switching identifiziert werden, da der Gebärdenfluss für den Bruchteil einer Sekunde unterbrochen wird, um das Ablesewort ich ausschließlich stimmlos zu artikulieren – anschließend wird umgehend weitergebärdet. Wie komplex ein solches sprachliches Verhalten tatsächlich ist, zeigt sich bei dem Versuch, Beispiel 30 in normalem Tempo nachzuahmen. Auch das reflexive Verb abholen, welches in DGS eine Richtungsgebärde darstellt, wurde Typ 8 zugeordnet. Im Datenmaterial wird das Verb wie im Deutschen geteilt (vgl. Bsp. 31). Als vermeintliche Ablesehilfe wurde das Vorkommen DL-OC IN/ gotha16 kategorisiert. Aufgrund der großen Variationsbreite dieser Typ 8 zugeordneten komplexen Kombinationen erscheint es nicht verwunderlich, dass

sie in der bisher vorliegenden Literatur nicht explizit erwähnt werden. Heßmanns (2001, 88) Aussage: „Die eindeutigere Form ermöglicht die Identifikation der uneindeutigeren Form durch einen entsprechenden Hinweis auf deren Bedeutung“ gilt jedoch auch für Typ 8. Fasst man das prozentuale Vorkommen der Typen 0, 2 und 6 zusammen, ergeben sich 68,56 %, also ein hoher Anteil an DGS-Elementen. Demgegenüber umfassen die Typen 1, 4 und 7, die mehr Ablesewörter und damit einen größeren Anteil des Deutschen enthalten, lediglich 9,5 % der Vorkommen insgesamt. Die übrigen 21,94 % ergeben sich aus den Typen 3, 5 und 8, deren Verhältnis von MT zu Deutsch entweder ungleich, gleich, aber zeitlich verzögert oder wie bei den komplexen Kombinationen des Typs 8 per se nicht anzugeben ist.

4. Fazit Die Ergebnisse in Bezug auf die erste Forschungsfrage – Welche Sprachkontaktphänomene sind im Gespräch zwischen älteren Gehörlosen zu be-

16

DL verweist in der Transkriptionskonvention nach Geißler 2006 auf die Verwendung des Fingeralphabets, d. h., in diesem spezifischen Fall wurden die Grapheme O und C daktyliert und sollten die Schreibweise der Stadt Gotha repräsentieren.

Beitrag aus: DAS ZEICHEN 97/2014 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)

Lin gui sti k

obachten? – zeigen einen deutlichen Einfluss der deutschen Lautsprache auf den MT, der entweder unabhängig, aber simultan zu Ablesewörtern in Erscheinung trat oder aber sich in der Gebärdenabfolge an der deutschen Grammatik orientierte. Die Prozentangaben, resultierend aus dem analytischen Vorgehen im Rahmen der zweiten Forschungsfrage – Welchen semantischen Beitrag leisten dabei einerseits die manuelle und andererseits die orale Modalität? –, werfen jedoch ein anderes Licht auf die Gesamtsituation: Der Anteil an DGSElementen fiel mit 68,56 % hoch aus. Bei einer solchen Beurteilung ist aber zu berücksichtigen, dass die Deskriptionen zur Beantwortung der ersten Forschungsfrage primär auf syntaktischer und die zur zweiten vorwiegend auf lexikalischer Ebene vorgenommen wurden.17 Bezüglich beider Forschungsfragen war es nicht Ziel dieser Arbeit, Festschreibungen im Sinne von Allgemeingültigkeit vorzunehmen, sondern lediglich das Vorkommen von Kontaktphänomenen in der Sprache älterer gehörloser Menschen zu beschreiben. Wie durch die Angaben der Probanden deutlich wurde, dürften die in der Unterhaltung identifizierten Vorkommen vor allem aus dem Einfluss oralistischer Erziehung in der Schule und zu Hause resultieren. Das transkribierte Zitat im Titel dieses Artikels – wie auch der dazugehörigen Diplomarbeit – verweist zudem auf einen Zusammenhang zwischen Sozialisation, Spracheinstellung und Sprachverwendung. 17

Als Ergebnis der vorliegenden Untersuchung kann die erste Forschungsfrage wie folgt beantwortet werden: Im zugrunde liegenden Sprachkorpus wurde eine Vielzahl an Sprachkontaktphänomenen – nämlich Vorkommen von Code-switching, Code-mixing und Contact Signing – identifiziert. Der Einfluss der deutschen Lautsprache, resultierend aus der Sozialisation der Probanden, wurde aufgezeigt. Contact Signing umfasste Konjunktionen und Präpositionen, die über Ablesewörter in Erscheinung traten und in der DGS laut Erlenkamp (2012) entweder nicht existieren oder anderen Regeln folgen. Des Weiteren ließen sich über die Ablesewörter deutsche Redewendungen, vollständige deutsche Sätze oder Sätze mit einer fehlenden Konstituente – Subjekt oder Objekt bzw. ohne bestimmten Artikel – beobachten. Dies ging mit Flexionen durch morphologische Änderungen in den Ablesewörtern einher. Der Sprachkontakt zwischen Deutsch und DGS wurde weiterhin sichtbar durch den, wenn auch nur seltenen und teilweise unvollständigen, Einsatz manueller Codes wie z. B. Fingeralphabet oder PMS. Eine Zuordnung zu LBG oder LUG erfolgte nicht, da mit Ausnahme des Flüsterns eines Probanden stimmlos artikuliert wurde. Es wurde festgehalten, dass die Ablesewörter in solchen Fällen der deutschen Grammatik folgten. Um auf die zweite Forschungsfrage adäquat eingehen zu können, wurde eine umfangreiche Analyse-Typologie sowie eine differenzierte Analyse-Kategorisierung vorgenommen. In

Aufgrund dieser unterschiedlichen Vorgehensweisen habe ich bewusst nicht angegeben, welchen der beiden Sprachen während der Unterhaltung der Status der Matrixsprache zukam.

Bezug auf die Gebärden-AblesewortKombinationen aus dem Datenmaterial konnte gezeigt werden, dass unterschiedliche Sprachvorkommen – repräsentiert durch eine Gebärde ohne Ablesewort bzw. ein Ablesewort ohne Gebärde oder durch die flexible Kombination aus Gebärde oder Gebärdenkette mit einem oder mehreren Ablesewörtern – unterschiedliche Verhältnisse zwischen MT und Deutsch bedingen (vgl. Tab. 3 und 4). Hierbei war festzustellen, dass sowohl der MT als auch der Anteil des Deutschen – vertreten durch die Ablesewörter – zur Äußerungsbedeutung beitragen: Während Ablesewörter spezifische, z. T. ergänzende Informationen übermitteln – wie Bedeutungsnuancierungen, Flexionen, Satzteile oder vollständige Sätze – übermittelt der MT räumlich-visuelle und damit oftmals ikonische Informationen. Zudem übernehmen Gebärden betonende oder bedeutungsergänzende Funktionen. Einen wichtigen Aspekt bildet dabei die Einbeziehung des Kontexts. Wie bei Ebbinghaus (1998b) und bei Heßmann (2001) konnte auch im vorliegenden Datenmaterial ein umfangreiches Bedeutungsspektrum der Ablesewörter, ihr flexibler Einsatz und zahlreiche Veränderungsoptionen identifiziert werden. Während Heßmann (2001) jedoch bei seinen Probanden eine geringe Verwendung von Ablesewörtern beobachtet, nutzten die Probanden der vorliegenden Untersuchung viele Ablesewörter. Insgesamt wird die Erkenntnis von Ebbinghaus (2012, 242), dass es sich bei DGS um „ein singuläres semiotisches System [handelt; A. K.], in dem mehrdimensional-anschauliche und eindimensional-abstrakte Zeichen eine funktionale Symbiose

Beitrag aus: DAS ZEICHEN 97/2014 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)

DZ 97 14

303

l ingu is tik

304

DZ 97 14

eingehen“ durch mein Datenmaterial bestätigt. Das heißt, es liegt eine funktionale Beziehung zwischen Gebärden und Ablesewörtern vor, wobei beide voneinander unabhängig auftreten können (vgl. Ebbinghaus 1998a; 2012). Das entscheidende Kriterium der Ähnlichkeit zwischen dem Ablesewort und der lexikalischen Einheit des Deutschen war gegeben (vgl. Ebbinghaus & Heßmann 1995). Die Prinzipien „Anschauung und Benennung“ kamen zwar zur Anwendung, entscheiden aber entgegen der Aussage von Ebbinghaus (1998b, 604) nicht stets über „Anwendung und Vermeidung von Ablesewörtern“. Das Thema „Sprachkontakt“ bietet außerhalb der hier analysierten Daten weitere interessante Forschungsgegenstände für künftige empirische Untersuchungen: l Denkbar wäre bspw. eine vergleichende offene, nicht teilnehmende Beobachtung mit Probanden, die zwar das gleiche Alter wie die Probanden der vorliegenden Untersuchung haben, aber in Westdeutschland zur Schule gegangen sind, oder mit gehörlosen Akademikern, die vermutlich ebenfalls maßgeblich durch die Lautsprache beeinflusst werden (vgl. Napier 2006). Dabei ließe sich überprüfen, ob die entwickelten und hier angewandten Kategorien übertragbar sind bzw. inwiefern sie einer Modifizierung bedürfen. l Ebenfalls möglich wäre eine nicht teilnehmende Beobachtung bilingual unterrichteter Schulabsolventen. Diese könnte einen Zusammenhang von Sprache, Kultur und Identität aufzeigen, den es zu untersuchen gälte. Das gewonnene Datenmaterial könnte eventu-

l

l

ell auch Aspekte des Sprachwandels aufweisen, die ebenfalls weiterer wissenschaftlicher Beschreibungen bedürfen. Nach Lucas und Valli (1992, 115) wäre auch eine Deskription von zwei Gebärdensprachen in Kontakt wünschenswert. Vorstellbar wäre diesbezüglich eine Untersuchung zwischen DGS und Schweizerdeutscher oder Österreichischer Gebärdensprache. Eine Sonderstellung im hier analysierten Datenmaterial nahmen indexikalische Gebärden mit Ablesewörtern ein. Aus solchen Verweisen resultierten mehr oder weniger starke semantische Differenzen zwischen manuellem Zeichen und begleitendem Ablesewort. Dieses Vorkommen sollte sowohl im Hinblick auf an- und abwesende Referenten als auch auf Arbitrarität untersucht werden.

Somit wird deutlich, dass das Thema „Sprachkontakt“ bei Weitem noch nicht erschöpft ist und dieser Bereich auch zukünftig noch zu einem spannenden Feld weiterer Forschungen werden kann.

Literatur Albert, Ruth & Cor J. Koster (2002): Empirie in Linguistik und Sprachlehrforschung – Ein methodologisches Arbeitsbuch. Tübingen: Gunter Narr Verlag Tübingen. Ann, Jean (2001): „Bilingualism and language contact“. In: Ceil Lucas (Hg.): The Sociolinguistics of Sign Languages. Cambridge: Cambridge University Press, 33–60. Auer, Peter (1999): „From codeswitching via language mixing to fused lects: toward a dynamic typology of

bilingual speech“. In: International Journal of Bilingualism 3, 309–332. Bergman, Brita & Lars Wallin (2001): „A prelimary analysis of visual mouth segments in Swedish Sign Language“. In: Penny Boyes Braem & Rachel Sutton-Spence (Hg.): The Hands are the Head of the Mouth – The Mouth as Articulator in Sign Languages. Hamburg: Signum, 51–68. Bishop, Michele & Sherry Hicks (2005): „Orange Eyes – Bimodal Bilingualism in Hearing Adults from Deaf Families“. In: Sign Language Studies 5/2, 188–230. Boyes Braem, Penny (1995): Einführung in die Gebärdensprache und ihre Erforschung. 3. überarbeitete Aufl. Hamburg: Signum (Internationale Arbeiten zur Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser; 11). Brinker, Klaus & Sven F. Sager (2006): Linguistische Gesprächsanalyse – Eine Einführung. 4. Aufl. Berlin: Erich Schmidt Verlag. Clyne, Michael (2003): Dynamics of Language Contact – English and Immigrant Languages. Cambridge: Cambridge University Press. Deppermann, Arnulf (2008): Gespräche analysieren – Eine Einführung. 4. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Ebbinghaus, Horst (1998a): „Warum deutsche Wörter wesentliche Bestandteile der Deutschen Gebärdensprache sind (Teil I)“. In: Das Zeichen 45, 443–451. Ebbinghaus, Horst (1998b): „Warum deutsche Wörter wesentliche Bestandteile der Deutschen Gebärdensprache sind (Teil II)“. In: Das Zeichen 46, 594–611. Ebbinghaus, Horst (2012): „Gebärdensprache und Lautsprache im Kontakt“. In: Hanna Eichmann; Martje

Beitrag aus: DAS ZEICHEN 97/2014 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)

Lin gui sti k

Hansen & Jens Heßmann (Hg.): Handbuch Deutsche Gebärdensprache – Sprachwissenschaftliche und anwendungsbezogene Perspektiven. Seedorf: Signum, 225–244. Ebbinghaus, Horst & Jens Heßmann (1990): „Deutsche Wörter in der Deutschen Gebärdensprache – Theoretische Überlegungen zu einem empirischen Tatbestand: Vortrag, gehalten auf dem 3. Europäischen Gebärdensprachkongreß in Hamburg (Juli 1989)“. In: Das Zeichen 11, 60–69. Ebbinghaus, Horst & Jens Heßmann (1994): „Formen und Funktionen von Ablesewörtern in gebärdensprachlichen Äußerungen (Teil I)“. In: Das Zeichen 30, 480–487. Ebbinghaus, Horst & Jens Heßmann (1995): „Formen und Funktionen von Ablesewörtern in gebärdensprachlichen Äußerungen (Teil II)“. In: Das Zeichen 31, 50–61. Ebbinghaus, Horst & Jens Heßmann (2001): „Sign Language as multidimensional Communication: Why manual signs, mouthing, and mouth gestures are three different things“. In: Penny Boyes Braem & Rachel Sutton-Spence (Hg.): The Hands are the Head of the Mouth – The Mouth as Articulator in Sign Languages. Hamburg: Signum, 133–151. Erlenkamp, Sonja (2012): „Syntax: Aus Gebärden Sätze bilden“. In: Hanna Eichmann; Martje Hansen & Jens Heßmann (Hg.): Handbuch Deutsche Gebärdensprache – Sprachwissenschaftliche und anwendungsbezogene Perspektiven. Seedorf: Signum, 165–198. Fischer, Susan (1978): „Sign languages and creoles“. In: Patricia Siple (Hg.): Understanding language through sign language research. New York: Academic Press, 309–331.

Gardner-Chloros, Penelope (1997): „Code-switching: Language Selection in Three Strasbourg Department Stores“. In: Nikolas Coupland & Adam Jaworski (Hg.): Sociolinguistics: A Reader and Coursebook. New York: Palgrave Macmillan, 361–362. Geißler, Thomas (2006): „Transkription als Seminarunterlage für den Studiengang Deaf Studies“. [Ms., unveröff.]. Glück, Susanne & Roland Pfau (1998): „Sprachtheorie und sprachliche Wirklichkeit – eine Stellungnahme zu dem Beitrag von Horst Ebbinghaus“. In: Das Zeichen 44, 258–260. Göbel, J. (1989): „Hörerziehung in der Schwerhörigen- und Gehörlosenschule“. In: Zentralinstitut für Weiterbildung der Lehrer und Erzieher Ludwigsfelde in Kooperation mit dem Zentrum Weiterbildung für Lehrer Warschau (Hg.): Weiterbildung von Sonderpädagogen / 1. Seminar VR Polen und DDR 14.–17. Juni 1988. o. O., 50–57. Hauser, Peter C. (2000): „An Analysis of Codeswitching: American Sign Language and Cued English“. In: Melanie Metzger (Hg.): Bilingualism & Identity in Deaf Communities. Washington, D.C.: Gallaudet University Press, 43–78. Happ, Daniela & Annette Hohenberger (1998): „Gebärdensprache und Mundbild – eine Entgegnung auf Ebbinghaus“. In: Das Zeichen 44, 262–267. Hentschel, Elke & Harald Weydt (2003): Handbuch der deutschen Grammatik. Berlin: Walter de Gruyter. Heßmann, Jens (2001): Gehörlos so! Grundlagen und Gebärdenverzeichnis. Hamburg: Signum.

Keller, Jörg (1998): „Mundbilder und Sprachkontakt – Prolegomena zu einer Kinematik und Phonologie von Mundbildern in der Deutschen Gebärdensprache“. In: Das Zeichen 45, 424–442. Keller, Jörg (1999): „Mundbilder in europäischen Gebärdensprachen“. In: Das Zeichen 47, 136–143. Keller, Jörg (2001): „Multimodal representations and the linguistic status of mouthings in German Sign Language DGS“. In: Penny Boyes Braem & Rachel Sutton-Spence (Hg.): The Hands are the Head of the Mouth – The Mouth as Articulator in Sign Languages. Hamburg: Signum, 191–230. Kunze, Alexandra (2013): „SCHULE1 VIEL / ICH ERLEB ICH / schule---- habe ich viel- erlebt------- – Eine empirische Untersuchung zu Kontaktphänomenen zwischen Deutsch und DGS in der Sprache älterer gehörloser Menschen“. Westsächsische Hochschule Zwickau [Diplomarbeit; unveröff.]. Langer, Gabriele; Susanne Bentele & Reiner Konrad (2002): „Entdecke die Möglichkeiten – Zum Verhältnis von Mundbild und Gebärde in Bezug auf die Bedeutung in der DGS“. In: Das Zeichen 59, 84–97. Leuninger, Helen (1998): „Strukturalismus, DGS und Lexikon – Zwei Antworten“. In: Das Zeichen 44, 254–257. Leuninger, Helen; Pater Amandus & Karin Wempe (1997): „Interview mit Helen Leuninger und Pater Amandus – Nur wo Abschied genommen wird, gibt es Platz für neues Leben“. In: Das Zeichen 42, 516–526. Liddell, Scott (2003): Grammar, Gesture and Meaning in ASL. Cambridge: Cambridge University Press.

Beitrag aus: DAS ZEICHEN 97/2014 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)

DZ 97 14

305

l ingu is tik

306

DZ 97 14

Liddell, Scott; Marit Vogt-Svendsen & Brita Bergman (2007): „A crosslinguistic comparison of buoys: Evidence from American, Norwegian and Swedish Sign Language“. In: Myriam Vermeerbergen; Lorraine Leeson & Onno Crasborn (Hg.): Simultaneity in Signed Languages – Form and Function. Amsterdam: John Benjamins Publishing Company, 187–215. Lucas, Ceil & Clayton Valli (1992): Language Contact in the American Deaf Community. San Diego: Academic Press, Inc. McDonnell, Patrick & Helena Saunders (1993): „Setzt euch auf die Hände! Strategien gegen das Gebärden“. In: Renate Fischer & Harlan Lane (Hg.): Blick zurück – Ein Reader zur Geschichte von Gehörlosengemeinschaften und ihren Gebärdensprachen. Hamburg: Signum, 303–313. Milroy, Lesley & Pieter Muysken (1997): One Speaker, Two Languages: Cross Disciplinary Perspectives on Code-switching. Cambridge: Cambridge University Press. Muysken, Pieter (2000): Bilingual Speech: A typology of Code- Mixing. Cambridge: Cambridge University Press. Müller, Natascha; Tanja Kupisch; Katrin Schmitz & Katja Cantone (2007): Einführung in die Mehrsprachigkeitsforschung 2. Aufl. Tübingen: Gunter Narr Verlag Tübingen. Nikolajewa, L.W. (1978): „Artikulationsunterricht für gehörlose Schüler“. In: Sprache und Persönlichkeitsentwicklung Hörgeschädigter: Interantionales Symposium, 17. – 21. April 1978. Leipzig, 109–117. Papaspyrou, Chrissostomos; Alexander von Meyenn; Michaela Matthaei & Bettina Herrmann (2008):

Grammatik der Deutschen Gebärdensprache aus der Sicht gehörloser Fachleute. Seedorf: Signum. Prillwitz, Siegmund (1990): „Der lange Weg zur Zweisprachigkeit Gehörloser im deutschen Sprachraum“. In: Das Zeichen 12, 133–140. Riehl, Claudia Maria (2004): Sprachkontaktforschung – Eine Einführung. Tübingen: Gunter Narr Verlag Tübingen. Schermer, Trude (2001): „The role of mouthings in Sign Language of the Netherlands – Some implications for the production of sign language dictionaries“. In: Penny Boyes Braem & Rachel Sutton-Spence (Hg.): The Hands are the Head of the Mouth – The Mouth as Articulator in Sign Languages. Hamburg: Signum, 273–284. Schulte, Klaus (1980): Sprechlehrhilfe PMS: Informationen des Phonembestimmten Manualsystems zur Sprechtherapie und Artikulation bei geistig- lern- und sprachbehinderten, gehörlosen und schwerhörigen Kindern – Texte zur Film- und Video-Dokumentation „Phonembestimmtes Manualsystem (PMS)“. Heidelberg: Julius Groos Verlag. Slesina, N.F. (1981): „Phonetische Übungen in der Gehörlosenschule“. In: Die Sonderschule – Zeitschrift für Theorie und Praxis der Sonderpädagogik 26/1, 38–41. Sofinski, Bruce A. (2002): „So Why Do I Call This English?“. In: Ceil Lucas (Hg.): Turn-Taking, Fingerspelling, and Contact in Signed Languages. Washington, D. C.: Gallaudet University Press, 27–48. Weinreich, Uriel (1968): Languages in contact – Findings and Problems. The Hague: Mouton. Zentella, Ana Celia (1997): Growing up bilingual: Purto Rican children

in New York. Malden, MA: Blackwell Publishing.

i Alexandra Kunze arbeitet seit 2013 als Gebärdensprachdolmetscherin in Berlin. E-Mail: gsd.alexandra.kunze@ gmail.com

Beitrag aus: DAS ZEICHEN 97/2014 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (http://www.idgs.uni-hamburg.de/de/forschung/publikationen/daszeichen.html)