ICH BIN JOSEF, EUER BRUDER

400-Jahr-Feier der Geburt des heiligen Josef von Copertino 1603 - 2003 ICH BIN JOSEF, EUER BRUDER Ihr Brüder Franziskaner, von Franziskus geliebte Sö...
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400-Jahr-Feier der Geburt des heiligen Josef von Copertino 1603 - 2003

ICH BIN JOSEF, EUER BRUDER Ihr Brüder Franziskaner, von Franziskus geliebte Söhne, ruft Jesus an zu jeder Stund’, haltet seine Regel ein, singt mit Inbrunst: Es lebe Jesus, unsere Liebe! [hl. Josef von Copertino]

1. Liebe Brüder! Mit großer Freude schreibe ich euch diesen Brief. Ich möchte die Gestalt und die Botschaft unseres Bruders, des HEILIGEN JOSEF VON COPERTINO, in Erinnerung rufen anläßlich der 400-JAHR-FEIER SEINER GEBURT. Am 17. Juni 1603 erblickte er das Licht der Welt in Copertino, einem kleinen Ort im süditalienischen Salento, in einem komplexen kulturellen, sozialen und politischen Umfeld, das sich in einem Übergang befand – also dem unseren von heute sehr ähnlich.

Einige dem Heiligen besonders verbundene Provinzen – als Hüter seines Geburtsortes (Provinz Apulien) oder seiner sterblichen Überreste (Provinz der Marken) - haben besondere Feiern für die Zeit vom 18. September 2002 bis zum 31. Dezember 2003 vorgesehen. Aber der gesamte Orden möchte dem Herrn danken für das Geschenk, das uns und der Kirche gegeben wurde in diesem einfachen und außergewöhnlichen Gottesmann. 2. Die 400-Jahr-Feier ist eine Einladung an uns, auf diesen unseren Bruder zu blicken, den der Herr in seine Nachfolge rief auf dem Weg der Heiligkeit in einem besonders hohen Maß des christlichen Lebens1. Ihm ist eine besondere Aufgabe übertragen in diesem historischen Kontext, in dem wir leben: uns, seinen Brüdern, und jedem Christen wird er zu einem Propheten für das evangelische Leben, für den Vorrang Gottes, für das Gebet, für das kontemplative Leben.

Seine mystische Erfahrung, seine herzliche Verehrung für Jesus, der Fleisch angenommen und gelitten hat, für Maria, die Mutter und Jungfrau, verweisen auf den Weg der einfachen und gläubigen Hingabe an Gott Vater, der vertrauensvollen und unmittelbaren Beziehung zum Sohn, der glühenden Gefügigkeit gegenüber dem Heiligen Geist. Er war ein einfacher Mensch, offen, betend, fröhlich, ein echter Minderbruder. Beim bloßen Gedanken oder beim Anblick eines frommen Bildes, bei der Feier der Eucharistie oder beim Hören des Wortes Gottes wurde er in Ekstase gerissen und schwebte dabei „fliegend“ über die Erde. Als getreuer Nachfolger des heiligen Franz von Assisi lebte er in ständiger Suche nach dem herrlichen Willen des Herrn, der den Leib sättigt und das Herz zufrieden macht, und den er in seinem totalen Gehorsam konkret umsetzte bei der Befolgung jeglicher Anordnung seiner Oberen. Seine spirituelle Erfahrung – für ihn verlief sie als Kreuzweg und ließ ihn so in größerer Gleichförmigkeit mit Jesus Christus leben - wird für uns in dieser 400-Jahr-Feier zu einer gnadenhaften Gelegenheit, über die Bedeutung unseres franziskanischen Charismas im Kontext dieser Zeit vertieft nachzudenken, in einer sich verändernden Welt, welche uns eine klare und eindeutige Identität in Lebens und Zeugnisses abverlangt. 1

Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Novo Millennio Ineunte (NMI), 6. Januar 2001, Nr. 31

JOSEF, UNSER BRUDER

Ich dachte mir, euch als ein biblisches Bild die Geschichte von Josef, dem Sohn Jakobs vorzulegen, wie wir sie im Buch Genesis vorfinden. In diesem Bild können wir die Erfahrung des heiligen Josef von Copertino nachlesen, wie auch die Botschaft dieses unseres heiligen Bruders, die er uns mit der 400-Jahr-Feier seiner Geburt anbietet. 3.

Josef sagte zu seinen Brüdern: «Ich bin Josef! Lebt mein Vater noch?» Dann sagte Josef zu seinen Brüdern: «Kommt doch näher zu mir her!». Als sie näher herangetreten waren, sagte er zu ihnen: «Ich bin Josef, euer Bruder. Gott hat mich vor euch hergeschickt, um euch am Leben zu erhalten. Gott hat mich vor euch hergeschickt, um euch das Überleben im Land zu sichern und durch euch das Leben von vielen Menschen zu retten. Erzählt meinem Vater von der Glorie, die ich innehabe und was alles ihr gesehen habt. Dann küsste er alle Brüder und drückte sie weinend an sich. Darauf unterhielten sich seine Brüder mit ihm. [Gen 45, 3-5.7.13.15]

In dem zitierten Abschnitt ragen einige Verse hervor, auf die ich eure Aufmerksamkeit richten möchte: Ich bin Josef! Wir kennen die Geschichte: Josef war von seinen Brüdern als Sklave verkauft wor-

den und ist jetzt über ganz Ägypten gestellt [vgl. Gen 41, 41]. Er nimmt seine Brüder auf, die dorthin gegangen sind wegen der Hungersnot, unter der das ganze Land Kanaan litt, und bietet ihnen Gastfreundschaft und Hilfe an. Josef gibt sich seinen Brüdern zu erkennen: ich bin Josef! Es ist der Ausdruck einer Identität: der sich uns vorstellt, ist ein Mensch mit einer Geschichte und einem Gesicht, einer Herkunft und einem Ursprung. Wir wollen diesen Ausdruck innerhalb der Lebensgeschichte des Josef von Copertino lesen. Er präsentiert sich uns, seinen Brüdern, nach vierhundert Jahren in einem geschichtlichen Kontext voller Widersprüche, von eindeutigen Stellungnahmen, die weit entfernt sind vom Evangelium und in offensichtlichem Kontrast stehen zur christlichen Tradition2. Und er lädt uns ein zum Nachdenken über unsere Identität als Franziskaner, als Menschen, die dazu berufen sind, dem Herrn Jesus in einem gottgeweihten Leben nachzufolgen. Auch wir haben eine Geschichte, ein Gesicht, einen Namen. Sie prägen unsere Nachfolge Christi; sie machen ihre Identität aus; sie bewirken eine persönliche, innige, bewußte Beziehung zum Vater, zum Sohn und zum Heiligen Geist. Die Berufung, zu der wir erwählt sind, tritt in unser persönliches Leben ein und spricht uns persönlich an. Und wegen dieser Berufung haben wir alles verlassen und sind dem Herrn Jesus nachgefolgt [vgl. Mt 19, 27]. Wenn wir uns das Mysterium der Berufung zur Nachfolge Christi in einem gottgeweihten Leben in Erinnerung rufen, haben wir die Möglichkeit, unsere schwungvolle Antwort zu erneuern und wir werden angespornt zum Sieg über die Bedrohungen der Mittelmäßigkeit im geistlichen Leben, über die wachsende Verspießerung und über das Konsumdenken3. Es geht also darum, die erste Liebe wiederzufinden, den zündenden Funken, der zur Nachfolge entfacht hat4, und uns erneut des Mysteriums der Berufung bewusst zu werden, die jeden von uns zum Ziel einer innigen Beziehung mit Gott macht, wie dies der heilige Josef von Copertino unterstreicht: wenn etwas Gutes in mir ist, stammt alles von der besonderen Gnade Gottes.

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CEI [Italienische Bischofskonferenz], Comunicare il Vangelo in un mondo che cambia [Das Evangelium vermitteln in einer sich wandelnden Welt], 29. Juni 2001, Nr. 40 3 Kongregation für die Institute des gottgeweihten Lebens und die Gesellschaften des Apostolischen Lebens, Instruktion Neubeginn in Christus. Ein neuer Aufbruch des geweihten Lebens im Dritten Jahrtausend, 19. Mai 2002, Nr. 12 4 Ebd., Nr. 22

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4.

Lebt mein Vater noch? Diese an uns gerichtete Frage ist für uns als Söhne des nämlichen

Vaters eine Einladung, die Zeichen unserer gemeinsamen Vaterschaft wiederzuentdecken, dort wo unsere Nachfolge die besonderen Züge unserer charismatischen Identität annimmt: lebt noch in uns, in unseren Kommunitäten, in unserem täglichen Leben unser Vater Franz von Assisi? Der Appell, den unser Bruder Josef von Copertino an uns richtet, sein treuer Jünger und authentischer Franziskaner, besteht darin, in seiner geistlichen Erfahrung die Entscheidung zur Nachfolge Christi auf den Spuren des heiligen Franziskus neu zu lesen und zu erneuern. Die 400-Jahr-Feier seiner Geburt bedeutet dann: immer mehr Christus anzuhangen, der Mitte des gottgeweihten Lebens und der franziskanischen Nachfolge, und wieder kraftvoll einen Weg der Umkehr und der Erneuerung einzuschlagen5. HEILIGER JOSEF VON COPERTINO, JÜNGER DES HEILIGEN FRANZ VON ASSISI

Lenken wir unsere Aufmerksamkeit kurz auf die typisch franziskanischen Aspekte des heili5. gen Josef von Copertino, wie sie sich aus seiner geistlichen Lebensgeschichte ergeben. Der arme Bambinello von Bethlehem, der gekreuzigte Christus, die Eucharistie sind die großen Straßen, auf denen Josef voranschreitet. In seiner rigorosen Aszese schimmern die Züge des geschichtlich-spirituellen Kontextes durch, in dem er lebte: mit Wermut gewürzte Speisen, Geißelung, Verzicht; alles Dinge, die dazu dienen sollen, „durch eine Askese, die die ganze Existenz läutert und verklärt, den inneren Menschen zu bilden, der sich weder von der Geschichte fernhält noch sich auf sich selbst zurückzieht“6. Zu diesem Ziel übernimmt er vom heiligen Franziskus den Brauch, häufige Fastenzeiten zu halten, die seinem geistlichen Weg einen Rhythmus geben. Doch der vielleicht offensichtlichste Zug war seine totale Armut, die er sich erworben hatte, indem er die ganze Mühe der Ablösung von den Dingen und vom Geld übte, wie er selbst betont: der Widerstand, den ich seiner heiligen Berufung entgegensetzte, war um so unwürdiger, weil durch die zu große Liebe verursacht, die ich für einige Dummheiten von keinerlei Bedeutung hegte... Ich machte mir Vorsätze, mich von allem zu entblößen, jedoch dermaßen kalte, dass sie nicht zur Ausführung kamen7. Es ist interessant festzustellen, daß dieser Widerstand, den der Heilige seiner Berufung entgegensetzte, ein spirituelles und konkretes Engagement ausgelöst hat, das umgesetzt wurde in diesen Vorsätzen, sich von allem zu entblößen, die ihn, wenngleich sie zuerst kalt waren und nicht zur Ausführung kamen, dann doch – so sagt es die Biographie – zum Sieg über sich selbst brachten, bis dahin, „alles mit Freude herzuschenken“. Demnach vollzog sich in seinem Herzen ein Umschwung: ich sah die Welt mit anderen Augen: Ich entfernte mich von den Verwandten und vom Gespräch mit anderen, ich räumte die Leinendecken weg, ich legte mich zum Schlafen auf Bretter, ich gab mich der Pönitenz und der Meditation hin8. Und wir wissen, dass sein ganzes folgendes Leben unter der Anleitung höchst authentischer Armut stand, bis zu dem Punkt, keinen Willen zu haben außer den der Oberen. 6. Die große Armut – sie bedeutete eine Herausforderung an die Zeit, in der Josef von Copertino lebte – war eine totale Selbstenteignung, um allein Gott anzugehören durch Vermittlung der Kirche und der Ordensoberen. Die gottgeweihte Armut, zusammen mit dem Gehorsam und der Keuschheit um des Himmelreiches willen, wird zur Prophetie, die zu leben wir berufen sind, heute, als Söhne des heiligen Franz von Assisi; als solche, die sich entschlossen haben, die Radikalität des Evangeliums zum vorrangigen Ziel ihres eigenen Lebens zu machen. Diese Betrachtungsweise muß eine konkrete Entsprechung haben in unserer alltäglichen Erfahrung, dort wo wir ständig auf die Probe gestellt werden durch die vorherrschende Mentalität, und wo wir gezwungen sind zu kämpfen, wollen wir den durch die Ordensprofeß übernommenen Verpflichtungen treu bleiben. Erinnern wir uns, dass ihr erster Sinn darin besteht, Gott als den eigentlichen Reichtum des menschlichen 5

Ebd., Nr. 21 Vgl. Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Vita Consecrata (VC) , 25. März 1996, Nr. 103 7 Vgl. G. Parisciani, San Giuseppe da Copertino, Osimo, 1967, S. 33 8 Ebd., Ss. 36-37 6

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Herzens zu bezeugen, und dass die Antwort des gottgeweihten Lebens im Bekenntnis der evangelischen Armut besteht... begleitet von einem aktiven Einsatz bei der Förderung von Solidarität und Nächstenliebe9. 7. Die Begründung, die Josef von Copertino bei diesem Lebensengagement leitet, ist zu sehen in dem starken Bedürfnis, sein Herz immer auf Gott gerichtet zu haben, auf das Antlitz Jesu Christi. Er betrachtet ihn als Bambinello im Mysterium der Inkarnation, als den, der gelitten hat und ans Kreuz geheftet wurde, der triumphierend aus dem Grab erstanden ist; auch in der Eucharistie, diesem heiligsten Sakrament, wo seine Majestät von Herz zu Herz spricht, von Geist zu Geist10. Wie bei Franz von Assisi bleibt auch sein Blick immer auf das Angesicht des Herrn gerichtet11; er lädt uns sein, dieses Angesicht immer wieder neu zu entdecken als lebendig und wirksam in unserem alltäglichen Leben im ständigen Hören auf Gottes Wort; im häufigen Empfang der Sakramente der Eucharistie und der Versöhnung; in einem Leben intensiven Gebets und geistlichen Einsatzes; in der Prüfung; im brüderlichen Leben der Gemeinschaft; in der Kirche. Durch die Betrachtung des Christusmysteriums lädt Josef von Copertino uns ein, unser Leben als Gottgeweihte zu nähren aus den Quellen einer soliden und tiefen Spiritualität… Das spirituelle Leben, verstanden als Leben in Christus, als Leben nach dem Geist, stellt sich dar als ein Weg wachsender Gläubigkeit, bei der die gottgeweihte Person in vollkommener Einheit der Liebe und des Dienstes in der Kirche steht12.

8. Der Eifer im spirituellen Leben muß das Leben eines jeden Tages prägen, wollen wir glaubwürdige Zeugen sein; wenn unser Dasein Prophetie für die Männer und Frauen von heute sein soll. Daher müssen wir mit großer Aufmerksamkeit den spirituellen Aspekt unseres alltäglichen Lebens pflegen in der immer neuen Liebe zur Kontemplation, zur Betrachtung des Wortes Gottes, ohne Angst zu haben, damit etwas dem Apostolat und der Mission wegzunehmen, die in diesem Sinne größere Kraft und Entschiedenheit gewinnen. Erinnern wir uns daran, dass von Franz von Assisi in den Quellenschriften gesagt wird, wie jeden Tag, ja jeden Augenblick auf seinen Lippen die Erinnerung an Christus aufblühte, und mit welcher Milde und Süßigkeit er zu ihm sprach, mit welch zarter Liebe er über Ihn redete13; Verhaltensweisen, die wir gleichermaßen im Leben des heiligen Josef von Copertino feststellen, der sich bezeichnet als einen Trunkenen, der nicht bei sich ist, und deshalb singt und tanzt, weil er den Herrn von Herzen liebt14.

9. Kehren wir zurück zum biblischen Bild. Da möchte ich weitere Verse unterstreichen, die noch besser die Aspekte der Sache des Josef von Copertino beleuchten, wobei sie auch den typisch franziskanischen Charakter seiner Erfahrung ins Licht rücken. «Kommt doch näher zu mir her!». Als sie näher herangetreten waren, sagte er zu ihnen: «Ich bin Josef, euer Bruder». Alles was wir bis jetzt bedacht haben, erlaubte uns näherzukommen

und im Antlitz des Heiligen von Copertino unseren Bruder wiederzuerkennen als einen Menschen, der sich tief im franziskanischen Leben bewegt und glaubt. Die Brüderlichkeit ist das Lebensumfeld,, in dem sich der Orden entfaltet; sie ist das Geschenk, das der Allerhöchste Franziskus macht am Anfang seiner Erfahrung; es erneuert sich fortwährend auch heute für uns in der Gemeinschaft durch die Brüder und Schwestern, die der gleiche Herr uns gegeben hat15. Josef von Copertino, isoliert infolge seiner außerordentlichen Gotteserfahrung, bemerkt das Fehlen der Brüderlich9

Vgl. VC 89-90 G. Parisciani, I tre diari dell’abate Rosmi, Padova 1991, p. 74 11 NMI 16 12 Vgl. VC 93 13 1 Cel 115, FF 522 14 Vgl. G. Parisciani, I tre diari…, S. 57 15 Vgl. Testament, FF 116 10

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keit. Und nur in den letzten Jahren seines Lebens, in Osimo, genießt er die Anwesenheit der Mitbrüder, die ihn täglich nach dem Abendessen besuchen und mit ihm Gespräche führen über gute Dinge, seine Belehrungen hören, seine Reime singen. Es gehörte zu seinem Stil, immer das Wort carità im Munde zu haben, und er brache es mit Weichheit vor. Seinen Worten entsprechen dann die Fakten. Und als einmal zwischen zwei Brüdern die Eintracht zerbrochen war, ließ er sie rufen und führte sie durch liebevolle Ermahnungen erneut zur früheren Gemeinschaft zurück16. Er war also ein Animator des brüderlichen Lebens, das eine grundlegende Rolle spielt auf dem geistlichen Weg der Personen des gottgeweihten Lebens sowohl für ihre ständige Erneuerung als auch für die vollkommene Erfüllung ihrer Sendung in der Welt17. Sich dem heiligen Josef von Copertino zu nähern, bedeutet also, den Geschmack dafür neu zu entdecken, Brüder zu sein; eine Spiritualität der Gemeinschaft zu leben, welche die Fähigkeit bedeutet, den Bruder und die Schwester im Glauben in der tiefen Einheit des mystischen Leibes zu erkennen, d.h. es geht um einen, der zu mir gehört. Die Konsequenzen, die sich daraus ergeben für das Empfinden und Tun bestehen darin, seine Freuden und Leiden zu teilen, seine Wünsche zu erahnen, mich seiner Bedürfnisse anzunehmen, ihm eine echte, tiefe Freundschaft anzubieten18. Spiritualität der Gemeinschaft ist zudem die Fähigkeit, vor allem das Positive im anderen zu sehen, um es als Gottesgeschenk anzunehmen und zu schätzen. Die Spiritualität der Gemeinschaft ist der wichtigste Weg in eine Zukunft, die Leben und Zeugnis bedeutet. Der Bruder wird zum Sakrament Christi und der Gottesbegegnung19. 10.

Wir müssen diesen Aufruf annehmen, der aus dem Leben unseres heiligen Bruders kommt, der gesagt hat: das wahre und offensichtliche Zeichen, woran man erkennt, ob sich Gott an einem Ort befindet, ist die Einheit. Wir müssen den unersetzlichen Wert des brüderlichen Lebens neu entdecken, daran glauben und es in jeder Kommunität verwirklichen; es dort neu festigen, wo es geschwächt ist; es dort neu aufrichten, wo unsere Schwachheiten, die Egoismen, die Eifersüchte es zu zerreißen drohen; wobei wir uns immer daran erinnern: Noch bevor die Ordensgemeinschaft ein Gebilde der Menschen ist, ist sie eine Gabe des Geistes. Die höchste Berufung des Menschen besteht darin, mit Gott und mit den Mitmenschen, seinen Brüdern und Schwestern, in eine persönliche Beziehung zu treten20. 11. Der heilige Josef von Copertino, ein Mann des Gebetes, des inneren Lebens und der brüderlichen Gemeinschaft, ist auch der Mann des Frohsinns. Das Zeichen der Freude ist das Zeichen der Echtheit des geistlichen Weges, der echten Beziehung zu Gott und den Brüdern. Wenn wir zum Bild des biblischen Textabschnittes zurückkehren – es liefert das Hintergrundmuster dieser unserer Gedanken -, so stellen wir fest, dass die Begegnung mit den Brüdern zur tiefen Freude wird, Ausfluß einer innigen Empfindung, die das Herz aller erfasst. “Erzählt meinem Vater von der Glorie, die ich innehabe und was alles ihr gesehen habt. Dann küsste er alle Brüder und drückte sie weinend an sich. Darauf unterhielten sich seine Brüder mit ihm.” Der heilige Josef von Copertino beeindruckt mit seiner ansteckenden

Heiterkeit, die typisch für ihn ist. Und es bleibt schwierig zu denken, daß der gleiche Sänger von Liebesstrophen der Mann sein kann, der gekreuzigt wird vom Unverstandensein und von falschen Anschuldigungen, die gegen ihn erhoben werden. Wie der Seraphische Vater, so lebte er sein Leben 16

G. Parisciani, San Giuseppe da Copertino, Osimo, 1967, S. 369 VC 45 18 NMI 43 19 Neubeginn in Christus, 19. Mai 2002, Nr. 29 20 Kongregation für die Institute des gottgeweihten Lebens und die Gesellschaften des apostolischen Lebens, Das brüderliche und schwesterliche Leben in Gemeinschaft, 2. Februar 1994, Nrr. 8-9 17

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in der vollkommenen Freude erprobter Geduld, die zur echten Freude führt, deren Wurzeln ausschließlich in der Gemeinschaft mit dem Herrn und mit den Brüdern gründen. Die Botschaft des gottgeweihten Lebens wiederholt unablässig, daß der Vorrang Gottes für die menschliche Existenz Fülle von Bedeutung und Freude ist, weil der Mensch für Gott geschaffen und unruhig ist, bis er in ihm Frieden findet. Zudem sind die Gemeinschaften gottgeweihten Lebens Orte der Hoffnung; Orte, an denen die aus dem Gebet, der Quelle der Gemeinschaft schöpfende Liebe zur Logik des Lebens und Quelle der Freude werden soll21. In der Welt von heute nimmt die Freude oft die Züge eines leeren Krakeelens an und eines oberflächlichen Lebens, größtenteils verbreitet von den Medien und einer allgemeinen Mentalität, die sich auf falsche und illusorische Wahrheiten stützt. Die Welt von heute ist überschwemmt von einer beunruhigenden Traurigkeit, von der Einsamkeit und der Angst; Ergebnis einer Nicht-Verinnerlichung der Werte, der Ereignisse, der Geschichte, in der wir leben. So läuft man Gefahr, den wahren Sinn des Lebens zu verlieren und in der Verwirrung zu leben. Ohne den kontemplativen Blick hat man nicht die wahre Wahrnehmung für die Ereignisse und ihre Bedeutung. Ohne den kontemplativen Blick verliert alles seine Substanz. Die Freude, der Frohsinn, die Heiterkeit, die den Mann und die Frau Gottes auszeichnen, erwachsen aus der Fähigkeit zu staunen und in der Wirklichkeit die Anwesenheit des Schöpfers zu betrachten. Jedes Ding muß aus dem Herzen den Lobpreis entstehen lassen und jede Kreatur ist wie eine Brille. Wie verrückt wäre doch jemand, der sich die Brille aufsetzte, um die Brille zu sehen, und nicht die entfernten Dinge. Die Menschen sagen: welch schöne Dinge bringt doch die Natur hervor! Und sie erheben nicht ihren Sinn, um den Gott der Natur zu betrachten22. Von uns, den Brüdern des Josef von Copertino, wird das Zeugnis von wahrhaft freudvollen Menschen verlangt, weil sie jegliche Hoffnung auf Christus gesetzt haben. Von uns Franziskanern, die wir uns mit ihm unterhalten, ist ein authentisches Leben gefordert, das den Geist zu erheben versteht, um Gott zu betrachten. 12.

GOTT HAT MICH GESCHICKT 13. “Gott hat mich vor euch hergeschickt, um euch das Überleben im Land zu sichern und durch euch das Leben von vielen Menschen zu retten.”

Der Ausdruck “Gott hat mich geschickt” deckt beide Dinge ab: er verweist auf den Primat des Eingreifens Gottes. Es handelt sich um den Auftrag, die Berufung zum Gehen. Gleichzeitig ist es auch eine Spezifizierung: “vor euch her”. Die Wirkung dieser Berufung ist eine dreifache: a) um euch am Leben zu erhalten; b) um euch das Überleben im Land zu sichern; c) um durch euch das Leben vieler Menschen zu retten. Einbezogen in diesen Auftrag sind zwei: “Gott hat mich geschickt”, Gott, und der Mensch, der geschickt wird. Diese Zeilen legen einen weiteren Aspekt nahe, der sich aus der Geschichte des Josef ergibt und der einen Horizont eröffnet, um das Geschenk des heiligen Josef von Copertino für unseren Orden und für die Kirche besser zu verstehen: die Sendung. Es gibt eine Berufung von Seiten Gottes, sie erreicht uns in unserer Existenz. Diese Berufung ist nie exklusiv für den Berufenen selbst bestimmt, sondern sie dient zur Erbauung aller [vgl. 1

14.

21 22

VC 27. 51 G. Parisciani, San Giuseppe da Copertino, Osimo, 2001, S. 57

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Kor 14, 26]. Gott ruft, um zu senden. Wir haben eine Sendung erhalten in dem Augenblick, in dem

wir angesprochen werden. Der heilige Josef von Copertino hatte seine spezifische Sendung in der Kirche und in der Welt: zeitlich vor uns ist er ein wirksames Zeichen des Primates Gottes und seiner wirkenden Gnade im Leben derer, die glauben; jedoch auch Hinweis von Hoffnung für jene, die fern sind von der Gemeinschaft mit Gott und die auf der Suche nach ihm sind. Seine spirituelle Erfahrung, seine Ekstasen, seine „Flüge“ sind Aufrufe, die dazu drängen, den Sinn zu erheben hin zu einer Wirklichkeit, die den Menschen des dritten Jahrtausends transzendiert, der sich bisweilen zurückbeugt auf „virtuelle Paradiese“, die außerhalb der Logik des Evangeliums liegen. Josef von Copertino wurde vor uns geschickt, um eine Bresche zu schlagen in die Mauer der Gleichgültigkeit und eines Glaubens, der Gefahr läuft, sich innerhalb der eigenen Sicherheiten abzuschotten. Die Notzeit, welche die Brüder des hebräischen Josef zwingt, nach Nahrung zu suchen23, wird zur Gelegenheit, die Gott aufgreift, um der Geschichte wieder eine Bedeutung zu verleihen. Auch wir heute leben in einer Art von Notzeit, die uns drängt zu einer Suche nach Authentizität. Und es ist hier, dass Josef von Copertino uns entgegenkommt mit dem Zeugnis seines Lebens: wenn Gott mir nicht geholfen hätte, so weiß Gott allein, was aus mir geworden wäre. Ich bin wie der Fels der Quelle, aus der das Leben der Gnaden entspringt. Der Brunnen gibt das Wasser aus der Ader, ohne etwas von sich selbst dazu zu geben. - Noch ehe sich die Sendung durch äußere Werke kennzeichnet, entfaltet sie sich dadurch, dass sie durch das persönliche Zeugnis für die Welt Christus selbst gegenwärtig macht. Je mehr man Christus gleichförmig wird, umso gegenwärtiger und wirksamer macht man ihn in der Welt zum Heil der Menschen24. FÜR DAS LEBEN

Berufen also zu einer Sendung, die beim gottgeweihten Leben die prophetische Aufgabe hat, sich auf Gottes Plan in Bezug auf die Menschen zu besinnen und ihm zu dienen25, seinen Plan des Lebens, des Heils und der Versöhnung mit Jesus Christus. Josef von Copertino gibt uns einen Verlauf an, den wir im biblischen Text in drei Momenten herausgestellt haben.

15.

Der erste Schritt ist, “euch am Leben zu erhalten”, das heißt, heute lebendig zu sein, auch wenn alles uns bedroht und uns bisweilen eine Art von Schwermut überfällt und uns in trockenen und unfruchtbaren Positionen blockiert. Um uns am Leben zu erhalten, ist es notwendig, in uns die Sehnsucht nach Gott wach zu halten, wieder Vertrauen zu gewinnen in unser Leben als Franziskaner und mit positiver Sicht die Ereignisse und die Personen zu deuten. Die Menschen des Glaubens sind wie große Bäume. Auch wenn sie zurückgestutzt sind, bringen sie doch immer einige Schößlinge hervor. Wer dagegen keinen Glauben hat, ist ein Baum ohne Wurzel: der schwächste Wind haut ihn um. “Euch das Überleben im Land zu sichern”, ist der zweite Schritt auf diesem Weg. Eine tiefe Erfahrung Gottes haben und sich der Herausforderungen unserer Zeit bewusst zu werden, deren theologischen Sinn herauszufinden durch eine Unterscheidung, bewirkt im Heiligen Geist, im Licht des Evangeliums; dies bedeutet Überleben im Land, in dem wir aufgerufen sind, unsere franziskanische Berufung zu leben. Doch all dies bringt eine authentische Verpflichtung des Lebens mit sich in der Gewöhnlichkeit des Alltags und will sagen, einen Neubeginn von Christus aus zu leben, immer vom Höhepunkt seiner Liebe auszugehen, wenn er am Kreuz sein Leben in einer höchsten Hingabe darbringt26. Der heilige Josef von Copertino hat seine Erfahrung gelebt in dieser Fähigkeit, innerhalb der Ereignisse, Fakten und Personen die Anwesenheit des Herrn wahrzunehmen, die den Weg eines jeden Menschen begleitet: die Hilfe und die Rettung kommt von Gott.

16.

23

Vgl. Gen 37-50 VC 72 25 VC 73 26 Neubeginn in Christus, 19. Mai 2002, Nr. 27 24

7

“Um durch euch das Leben vieler Menschen zu retten”: hier also der dritte Schritt dieses Verlaufes, der uns vom Heiligen aus Copertino angezeigt wird. Das Evangelium zu leben als Lebensregel bedeutet für Franz von Assisi die Verpflichtung, die Verkündigung der Guten Nachricht hinauszutragen: geht zu zweit durch die verschiedenen Teile der Welt und verkündet den Menschen den Frieden und die Buße zur Vergebung der Sünden... Geht mit Gott, Brüder, und wie er sich würdigen wird, es euch einzugeben, so predigt allen Buße... Doch alle Brüder sollen durch ihre Werke predigen27. Die besondere Erfahrung des heiligen Josef von Copertino war ein gläubiger Ausdruck dieses Auftrags des heiligen Franziskus an die Minderbrüder: seine Biographie erinnert uns an seine unermüdliche Aufnahme all jener, die aus unterschiedlichen Nationen und sozialen Ständen kommend, zu ihm gingen, um ihn zu hören und Rat zu erhalten: ich bin wie der Fels der Quelle, aus dem das Wasser der Gnaden entspringt.

17.

- “Das Leben bewahren”, das wir erhalten haben mit der Verpflichtung zu einem Leben der Spiritualität, des Gebetes, der Verbindung mit Gott und der Nachfolge Christi; - “das Überleben im Land zu sichern”, indem wir uns des historischen Zeitpunktes bewußt werden, in welchem wir leben, und darin die Zeichen der Hoffnung und des von Jesus Christus gewirkten Heils zu lesen; “durch uns das Leben vieler Menschen zu retten”, durch ein freudiges Zeugnis, indem wir Rechenschaft geben von der Hoffnung, die in uns ist [vgl. 1 Petr 3, 15]; dies sind die Schritte des Verlaufs, den Josef von Copertino uns anzeigt, nachdem er selbst ihn bereits gegangen ist vor uns. Ein Verlauf, den wir zu dem unsrigen machen wollen in dieser 400-Jahr-Feier, bei der wir den Herrn preisen, weil er uns einen Bruder geschenkt hat, der mit wirklichem Eifer auf dem Weg der Heiligkeit vorangeschritten ist und der auch uns einlädt, uns nicht zufrieden zu geben mit einem mittelmäßigen und oberflächlichen Leben28, sondern ein tiefes Erfordernis der Bekehrung zu leben, vor allen anderen Dingen das Reich Gottes zu suchen, in der Selbstaufgabe, um ganz vom Herrn zu leben, damit Gott alles in allen sei29.

18.

Am Ende dieser Betrachtung über unseren Bruder, den heiligen Josef von Copertino, möchte ich, bevor ich schließe, den Blick auf Jene richten, die für den Heiligen eine starke und gute Präsenz war, die Mutter Jesu, für die er eine große Verehrung nährte, voller Zärtlichkeit. Sie begleitet ihn während seines gesamten Lebens, vor allem in den Augenblicken der Prüfung; an sie wendet er sich jedes Mal, wenn er Ermutigung und Frieden braucht; für sie verfasst er liebevolle Verse, die er zu den verschiedenen Festlichkeiten vorträgt, begleitet von Gesten der Inbrunst und der Frömmigkeit. Er konnte es nicht eine Stunde lang ohne sie aushalten und sagte: dies ist unsere Beschützerin, Herrin, Patronin, Mutter, Braut, Helferin, wobei er diese Wärme mit einer Ekstase abschloß. Wie Franz von Assisi empfand er für diese Mutter eine tiefe Dankbarkeit, weil sie den Herrn der Majestät zu unserem Bruder gemacht hat30. Und oft warf er sich mit dem Gesicht zur Erde vor dem Bild der Jungfrau in der Grottella, der verehrten Ikone im Heiligtum von Copertino, das er besonders liebte (eine Kopie dieser Ikone, die man ihm zum Geschenk gemacht hatte, begleitete ihn zum Sacro Convento von Assisi und in den Konvent von Osimo, wo sie noch aufbewahrt wird). Es ist also offensichtlich, wie diese mütterliche Gegenwart Mariens ihn begleitet hat im täglichen Leben und wie er in den liebevollen Armen der Mamma lebte. Eine weitere Einladung an uns, die Rolle der Jungfrau in unserem Leben als Gottgeweihte und als Franziskaner neu zu überdenken, indem wir nach dem Beispiel des Seraphischen Vaters, gemäß dem Wort des Evangeliums, in jener Seligkeit leben, die sie werden ließ zur Mutter, Schwester, Magd, Braut und Tochter, weil sie auf das

19.

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Vgl. 1 Cel 29, FF 366; 1 Cel 33, FF 375; Rnb 17, FF 46 NMI 31 29 VC 35 30 Vgl. 2 Cel 198, FF 786 28

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Wort hörte und es in die Tat umsetzte, indem sie den Willen des Vaters erfüllte, der in den Himmeln ist31. ABSCHLUSS

Im Logo dieser 400-Jahr-Feier der Geburt des heiligen Josef von Copertino lesen wir die 20. Worte, die das Jubiläumsjahr 2000 geleitet haben: Duc in altum! [Fahr hinaus!] Dies ist es, was wir vom heiligen Josef von Copertino erbitten: Führe uns voran, mach’, daß wir “hinausfahren”, hin zum neuen Jahrtausend, das sich uns eröffnet hat. Der du den Willen des Vaters erfüllt hast, immer bereit zum Gehorsam, den Blick gerichtet auf die Armut des Bambinello, in Liebe zum Kreuz, voller Staunen im Licht des Auferstandenen, emporgerissen in Ekstase durch die Eucharistie, demütig und empfänglich wie die Jungfrau Maria, fruchtbar in deiner Sendung als Zeuge der Liebe, aller Bruder, einfach und froh. Hilf uns, unserer Berufung treu zu sein, als Mindere und allen untergeben, als Knechte der Männer und Frauen dieser unserer Zeit, als mutige Zeugen des Lebens und der Wahrheit auf dem Weg, der Christus Jesus ist, der einzigen Rettung und Hoffnung der Welt. Führe uns und leite uns auf dem Weg der Heiligkeit, auf dem Weg der Seligpreisungen, den uns der Sohn gezeigt hat, der lebt und herrscht mit dem Vater und dem Heiligen Geist, vollkommene Dreiheit und einfache Einheit, allmächtiger Gott für alle Ewigkeiten der Ewigkeit. Amen. Rom, 18. September 2002 Fest des heiligen Josef von Copertino

Fra Joachim A. Giermek Generalminister

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Vgl. Mt 12, 50, FF 200. 281

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