Wer bin ich wirklich?

Anna-Lena Hees Wer bin ich wirklich? Roman LESEPROBE © 2013 AAVAA Verlag Alle Rechte vorbehalten Alle Personen und Namen innerhalb dieses Romans s...
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Anna-Lena Hees

Wer bin ich wirklich? Roman

LESEPROBE

© 2013 AAVAA Verlag Alle Rechte vorbehalten

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

1.Kapitel Es war ein Tag wie jeder andere: aufstehen, waschen, anziehen, frühstücken und auf zur Schule. Aber es war etwas anders, das merkte M arita, als sie am Frühstückstisch saß. Ihre Eltern schienen bedrückt. M arita musterte sie. "Was ist?", fragte Bärbel, ihre Pflegemutter. "Das wäre meine Frage", antwortete das junge M ädchen. "Ihr scheint so betrübt!" "Ach, was. Es ist nichts, nur M üdigkeit. Nun solltest du aber mal dein Frühstück essen, du musst gleich in die Schule. Du hast nicht mehr so viel Zeit!" "Ja, schon gut. Aber M üdigkeit? Da wirkt man doch nicht so betrübt. Ist wirklich nichts?" "Nein! Wirklich nicht! M ach dir bitte keine Sorgen, M arita!" Bärbel stand auf, ging ans Fenster und öffnete es, um frische M orgenluft hineinzulassen. M arita starrte auf ihr Frühstück. Sie hatte plötzlich keinen Appetit mehr. "Was ist los, M arita? Warum isst du nicht?", fragte Pflegevater Heinrich. "Ach, irgendwie hab ich nicht so wirklich Hunger. Ich denke, ich gehe mir die Zähne putzen und dann langsam Richtung Schule. Ist das in Ordnung?", gab M arita zurück. "Kein Frühstück vor der Schule?", fragte Bärbel ungläubig. M arita schüttelte den Kopf. "Okay, wenn du wirklich nichts essen willst...Du kannst gehen!" Bärbel wies mit der Hand zur Tür. M arita verstand sofort und verließ die Küche. "Denkst du, dass es wirklich das Beste ist, wenn wir M arita die Wahrheit sagen?", fragte Bärbel ihren M ann, nachdem M arita die Wohnung verlassen hatte. "So schwer uns das auch fallen mag, M arita hat ein Recht darauf, zu erfahren, woher sie eigentlich stammt. Es ist das Beste, glaub mir! Wir können sie nicht ein Leben lang anlügen, wir sind ihre Pflegeeltern, mehr nicht." Heinrich umfasste Bärbels Hand. "Du hast ja Recht, Heinrich, aber ich liebe M arita wie meine eigene Tochter. Ich möchte sie nicht verlieren! Natürlich sollte sie irgendwann erfahren, wer ihre leiblichen Eltern sind und vor allem den Hintergrund der Geschehnisse dürfen wir ihr nicht vorenthalten. M eine Sorge gilt aber M aritas Reaktion. Ich meine...Wir haben sie ohnehin schon ein ganzes Leben lang angelogen. Was, wenn sie nicht mehr mit uns spricht?" "Doch, das wird sie. Dass du dir Sorgen machst, kann ich verstehen. Ich nehme schon an, dass M arita zunächst geschockt sein wird. Aber glaub mir, Bärbel, wir müssen endlich die Karten auf den Tisch legen. M aritas leibliche M utter hat ebenso ein Recht darauf, zu erfahren, wie es ihrer Tochter geht. Sie hat sie ganze 14 Jahre nicht mehr gesehen. Vor allem spiele ich mit dem Gedanken, dass wir ein Treffen arrangieren sollten..." "Wie, ein Treffen? Reicht es denn nicht, wenn M arita weiß, wer ihre leibliche M utter ist und dass diese in Australien lebt?" "Nein, tut es nicht. M arita wird ihre M utter kennenlernen wollen. Und wenn diese ihre Tochter ebenso sehen möchte, dann dürfen wir uns ihnen nicht in den Weg stellen." "Hmmm, du hast ja Recht. Dann müssen wir wohl ein Treffen arrangieren. Aber warten wir erst einmal M aritas Reaktion ab!" "Ja, das war auch mein Plan. Wenn M arita wieder zu Hause ist, werden wir uns in einer ruhigen M inute zusammensetzen und ihr die Wahrheit sagen. Dann werden einige Tage vergehen, ehe wir Kontakt zu M aritas leiblicher M utter aufnehmen." "Okay, dann machen wir es so. Aber Heinrich, haben wir überhaupt Kontaktmöglichkeiten? Hatte M aritas M utter uns eine Emailadresse hinterlassen, damit wir sie erreichen können, als sie uns M arita anvertraut hat?" Bärbel klang beunruhigt.

"Oh je, das war vor 14 Jahren. Ich weiß es gar nicht. Aber so schwer dürfte das nicht sein, M aritas M utter ausfindig zu machen. Einfach wird das zwar auch nicht, aber ich gebe alles dafür. Den Namen habe ich mir kürzlich aufgeschrieben..." Bevor Bärbel etwas sagen konnte, klingelte das Telefon. Sie eilte in den Flur und nahm den Hörer ab. "Ja, hallo? Bärbel Becker am Apparat!?" "M ama, ich bin‘s, M arita. Ich habe heute Morgen etwas Wichtiges vergessen, und zwar brauchen wir in der Schule unsere Geburtsurkunden, könntest du meine schnell bringen?", ertönte M aritas Stimme am Ende der Leitung. "Wozu braucht ihr die denn?" "Weil wir eine Art Test damit machen. Also, was ist?" "Ja, gut, ich such sie. Papa kommt dann!" "Ja, aber schnell. Danke!" Und klack-schon hatte M arita aufgelegt. Bärbel war blass. "Ist alles in Ordnung?", wollte Heinrich wissen. "Nee, eben nicht! Marita braucht ihre Geburtsurkunde. Ich weiß gar nichts davon!" "Wieso das nicht? Hat M aritas M utter nicht auch die Geburtsurkunde abgegeben?" "Keine Ahnung, du hast dich doch um die Formalitäten gekümmert, als wir M arita aufgenommen haben. Wenn nicht mal du etwas davon weißt, dann muss das ja heißen, dass wir M aritas Geburtsurkunde gar nicht hier haben!!" Da riss Heinrich die Augen auf. "Ich dachte, du hättest sie. Das heißt es ja dann tatsächlich. Wie peinlich! Ich werde direkt versuchen müssen, M aritas leibliche M utter zu kontaktieren." "Nein, lass doch! Das bringt nichts, M arita braucht ihre Urkunde ganz schnell. Ich rufe sie an und..." "...nein!", unterbrach Heinrich seine Frau. "Du rufst niemanden an. Ich werde noch einmal gründlich nachschauen, vielleicht habe ich damals ja was übersehen. Warte mal bitte!" Heinrich lief eilig in sein Arbeitszimmer, wo er seine zahlreichen Akten platziert hatte und suchte den Ordner mit den Formalitäten des Jugendamtes heraus. Er blätterte ihn gründlich durch und war fast am Rande der Verzweiflung, als er etwas Interessantes entdeckte. "Aha! Da ist doch noch was! Bloß...nach einer Geburtsurkunde sieht das nicht aus. Was ist das?" Heinrich nahm das Blatt aus dem Ordner und betrachtete es eine Weile. "Und wenn es doch eine Geburtsurkunde ist? Aber das kann nicht sein, so sehen die nicht aus. Ich muss mal Bärbel fragen. Vielleicht kann sie was damit anfangen!?" M it dem Blatt in der Hand ging er in die Küche und legte es seiner Frau vor die Nase. "Was ist das?", wollte Bärbel wissen. "Das weiß ich auch nicht, ich kann nicht behaupten, dass es wie eine Geburtsurkunde aussieht, aber es könnte eine sein. Schau dir das doch bitte mal genau an!" Bärbel setzte ihre Lesebrille auf und schaute sich das Schreiben an. "Nun, wenn es eine Geburtsurkunde ist, dann aber keine Deutsche. Ich vermute, dass M arita im Ausland geboren wurde. Wer weiß, wo ihre M utter damals lebte..." "Jetzt lebt sie in Australien!" "Ich weiß! Aber damals? Als M arita geboren wurde? In Deutschland sicher nicht!" "Hm... Wir haben Marita knapp zwei Wochen nach ihrer Geburt bekommen. Wo waren wir da?" "Zu Hause waren wir. M aritas leibliche M utter hatte ja Zeit genug, um von M aritas Geburtsort hierher zu reisen. M itsamt Kind!" "Ja, stimmt. Ich vermute fast, dass M arita in Russland geboren wurde. Wenn ich Zeit hätte, würde ich ja im Internet schauen, wie russische Geburtsurkunden aussehen. Dann hätten wir einen Vergleich." Heinrich studierte angestrengt, was auf dem Blatt stand. "Ähm, gib mir mal die Kamera. Ich will ein Bild davon machen." "Okay!" Bärbel griff nach der Digitalkamera, die auf einer der Ablagen lag, und überreichte sie ihrem M ann.

Heinrich hielt die Kamera so über das Schreiben, dass er alles auf dem Display sehen konnte. Dann drückte er ab. "Perfekt!" "Was willst du mit dem Foto machen?" "Na, das dient dazu, dass ich dann einen Vergleich hab, wenn ich nach russischen Geburtsurkunden schaue. Du kannst jetzt getrost zu M arita in die Schule fahren und ihr dieses Blatt geben. Wenn du wieder kommst, bin ich sicher einen Schritt weitergekommen." "Na, gut! Ich bin gespannt." Bärbel nahm das Blatt vom Tisch und faltete es zusammen. "Dann mach ich mich mal auf den Weg, in der Hoffnung, nicht zu spät zu kommen. Bis später!" "Ok, wir sehen uns!" Während Bärbel in ihre Jacke schlüpfte, ging Heinrich zu seinem Computer und schaltete ihn ein. Er schaute immer wieder auf den Display der Digitalkamera und hoffte sehr, irgendetwas herauszufinden. Bärbel Becker hatte das Auto gestartet und raste über die Straßen zu M aritas Schule. Seit M aritas Anruf war eine gute halbe Stunde vergangen. Während Bärbel also durch die Stadt bretterte und sich in ihrer Eile über jede rote Ampel ärgerte, versuchte sie ihre Pflegetochter auf dem Handy zu erreichen. Aber vergebens. M aritas Handy war aus. "So ein M ist!" Bärbel fluchte. "Ich bin anscheinend viel zu spät dran. Was mach ich nun?" Nach zehn M inuten Fahrt kam sie schließlich an der Schule an, stieg aus, knallte die Autotür zu und lief eilig auf das Schulgebäude zu. "Kann ich Ihnen weiterhelfen?" Die Direktorin kam Bärbel über den Weg gelaufen. "Eventuell. Ich wollte zu M arita, meiner Tochter. Wo finde ich sie?" "M arita Becker? Sie hat gerade Unterricht." "Ja, genau. Wo hat sie Unterricht?" "Im Klassenraum. Was wollen Sie denn von ihr?" "M arita hat zu Hause etwas Wichtiges vergessen und mich per Anruf gebeten, damit vorbeizukommen." "Ach so. Na, wissen Sie, wo Sie den Klassenraum finden? Ansonsten würde ich mich anbieten, Sie zu begleiten und M arita für einen kurzen M oment aus dem Unterricht zu holen." Die Direktorin Frau Roth sah sich nach allen Seiten um und schaute dann erwartungsvoll in Bärbel Beckers Augen. "Das wäre freundlich, wenn Sie das machen würden." Bärbel lächelte. "Gerne. Dann folgen Sie mir." Frau Roth ging voraus. Sie führte Bärbel Becker eine Treppe hinauf und einen langen Gang entlang, bis sie schließlich vor einer Tür stehen blieb. "Das ist der Klassenraum", sagte sie und klopfte an. Bärbel nickte nur. Nach ein paar Sekunden war aus der Klasse ein "Herein" zu vernehmen. Direktorin Frau Roth öffnete die Tür einen kleinen Spalt und steckte den Kopf in den Raum. "Ich hätte gerne M arita Becker kurz gesprochen, wenn das möglich ist." "Kein Problem. - Marita, geh bitte kurz raus auf den Gang", sagte der Lehrer. "Ja!" M arita stand auf, zwängte sich an den Tischen vorbei und trat zu Frau Roth. "M arita, deine M utter ist hier. Sie wollte dir noch etwas bringen." „Ach, ja?" M arita ging einen Schritt raus aus der Klasse und sah ihre M utter vor sich stehen. „M arita!" Bärbel kramte den zusammengefalteten Zettel aus der Jackentasche und gab ihn ihrer Tochter. "Hier, da hast du deine Urkunde. Ich geh wieder, bis später!" „Danke", murmelte M arita, aber das hörte Bärbel gar nicht mehr, da sie schon wieder auf dem Weg war. „Das wäre dann wohl auch erledigt. M arita, du kannst jetzt wieder in deine Klasse gehen." Frau Roth hielt die Tür auf, damit M arita wieder in den Klassenraum gehen konnte. Als sie wieder an ihrem Platz saß, faltete sie das Blatt auseinander und riss die Augen erschrocken auf. Was war das denn?

Als Bärbel Becker wieder zu Hause ankam, rief Heinrich bereits vom Computer aus: "Eine Geburtsurkunde aus der Ukraine! Stell dir das vor, unser Kind kam in der Ukraine auf die Welt. Jetzt wissen wir, was diese Hieroglyphen zu bedeuten haben!" „Tatsächlich? Das ist ja interessant", rief Bärbel vom Hausflur aus. Nachdem sie ihre Jacke abgestreift hatte, marschierte sie sofort zu ihrem M ann an den Computer. "Sonst noch irgendwelche Erkenntnisse?" „Na ja, ich habe gerade so den Namen von M aritas leiblicher M utter entziffern können..." „Und? Wie heißt sie denn?" „Arabella M ey. Das hätten wir aber eigentlich wissen sollen, immerhin hatten wir es ja mit ihr zu tun, als es darum ging, M arita als Pflegekind aufzunehmen. Aber es könnte sein, dass Arabella vermutlich in der Zwischenzeit geheiratet hat. 14 Jahre sind eine lange Zeit." „Okay. Dann heißt unser Pflegekind demnach M arita M ey. Vermute ich einfach mal." „M ag sein. Tatsache jedoch ist, dass sie heute die Wahrheit erfahren muss." „Oh ja, stimmt. Ich hab immer noch Angst. Vielleicht bekommt sie es ja auch über die Geburtsurkunde raus. Sie wird es genauso wenig verstehen, wie wir am Anfang, wenn sie sich das Ding anguckt." Bärbel starrte mit einem M al nur noch auf den Boden. „M ach dir keine Sorgen! Früher oder später hätte sie es gewusst. Dann eben so!" Heinrich nahm seine Frau in den Arm. In der Schule saß Marita immer noch wie vom Donner gerührt auf ihrem Platz und starrte das Blatt mit diesen merkwürdigen Lettern an. Der Geschichtsunterricht war zu Ende und als Nächstes war Philosophie an der Reihe, die Stunde, in der M arita ihre Geburtsurkunde brauchte. Aber das da war doch nie im Leben ihre Geburtsurkunde! Oder etwa doch? „Alles gut bei dir?", erkundigte sich Banknachbarin Carola. „Ja, schon, außer...dass ich mich frage, was das hier ist!" Marita legte das Blatt auf den Tisch. „Hmmm. Keine Ahnung, du! Aber woher hast du das?" „M ama hat sie mir gegeben. Sie sagt, das wäre meine Geburtsurkunde. Aber das kann doch gar nicht sein!" „Das könnte schon sein. Wenn du im Ausland auf die Welt kamst..." Carola überlegte. „Nein, nein! Ich bin in Deutschland geboren, das weiß ich! Ich verstehe überhaupt nichts!!", rief M arita aufgebracht. „Frag doch mal Frau Reichert. Die kennt sich in solchen Fällen immer aus. Am Pult steht sie schon!", schlug Carola vor. „Na, gut! Wenn du meinst!" M arita stand auf, schnappte sich das Blatt und ging auf die junge Lehrerin zu. „Na, M arita, was gibt es?" „Sie müssen mir helfen, Frau Reichert!" „Gerne, wobei denn?" „Ich habe von meiner M utter dieses Blatt bekommen, mit der Aussage, dass das meine Geburtsurkunde sei. Dabei kann das gar nicht stimmen, ich bin in Deutschland geboren. Haben Sie eine Idee, was das sein könnte?" „Hmmm..." Die Lehrerin schaute sich das Schreiben genau an. Dabei zog sie eine Augenbraue hoch. "Und ob ich eine Idee habe. Das ist eine Geburtsurkunde, allerdings keine Deutsche. Ich habe nämlich genau dieselbe. Das ist eine Geburtsurkunde aus der Ukraine, da bin ich auch auf die Welt gekommen!" „Sie? In der Ukraine? Aber Sie haben doch einen deutschen Namen, oder nicht?" „Den hab ich, das liegt daran, dass mein Vater Deutscher ist. M eine M utter ist ebenfalls in der Ukraine geboren und dort aufgewachsen. Ich würde mal behaupten, dass du demnach in der Ukraine auf die Welt gekommen sein musst." „Aber...nein! M eine Eltern haben mir immer gesagt, dass ich in Deutschland geboren wurde. Langsam verstehe ich das alles nicht mehr!"

„Es tut mir leid, M arita, aber wir müssen mit dem Unterricht beginnen. Lass uns nachher weiter reden, okay?" Frau Reichert strich dem verzweifelten M ädchen über den Kopf. M arita ging wieder an ihren Platz zurück und setzte sich. „Und? Was meint sie?", fragte Carola. „Eine Geburtsurkunde aus der Ukraine", gab M arita mürrisch zurück. „Wusste ich's doch!!" „Was wusstest du?" „Dass das eine Geburtsurkunde aus dem Ausland ist. Verstehst du?" „Ah, ach so. Ja, jetzt verstehe ich es. Aber warum eine aus der Ukraine, wenn ich in Deutschland geboren wurde? Das ist das einzige, was ich nicht verstehe." „Tja, da solltest du mit deinen Eltern drüber sprechen. Aber ruhig jetzt, Frau Reichert guckt gerade!" Carola wies mit einer knappen Kopfbewegung auf die junge Lehrerin, die am Pult stand und zu M arita und Carola sah. M arita schaute auf und nickte. „Was machen wir nur, wenn M arita nach Hause kommt? Wenn sie weiß, dass wir sie ihr ganzes Leben lang angelogen haben, wird sie kein Wort mehr mit uns reden!" Bärbel klang bestürzt. Lustlos kritzelte sie auf ihrem Notizblock herum. „Ach, Bärbelchen. Ich kann doch auch nichts ändern. M arita war einfach noch zu jung, um die Wahrheit zu hören. Sie hätte es gar nicht verstanden, wenn wir ihr alles bereits vor einigen Jahren anvertraut hätten. Jetzt ist besser! Aber bitte mach dir keinen Kopf, okay? Wir lieben sie über alles, aber sie ist nicht unser Kind! Sie gehört Arabella M ey, das müssen wir im Vordergrund behalten. Wir waren bisher nur eine Übergangsfamilie für M arita. Allerdings wird es jetzt Zeit, dass Arabella und M arita sich kennenlernen. Außerdem wird M arita ja bei uns bleiben, bis sie ihre Schule abgeschlossen hat. M ach dir also überhaupt keine Sorgen!" „Heinrich... Darum geht es doch nicht! Ich habe einfach Angst, dass M arita uns dann nicht mehr mag, wenn sie weiß, wer wirklich ihre M utter ist." „Alles gut! Soweit wird es sicher nicht kommen. Ich bin da ganz zuversichtlich!" „Ja? Wirklich?" Bärbel begann zu schluchzen. Sie konnte sich kaum mehr beruhigen. Heinrich setzte sich neben sie und nahm seine Frau in den Arm.

2.Kapitel "Einpacken, bitte! Die Stunde ist zu Ende!", rief Lehrerin Frau Reichert vom Pult aus. Die Klasse stöhnte erleichtert auf. Das Thema dieser Stunde hatte alle mächtig angestrengt, vor allem M arita, da sie mit ihrer Urkunde gar nichts anfangen konnte. Schweigend packte das M ädchen sein Unterrichtsmaterial in die Schultasche und blieb dann regungslos am Tisch sitzen. "Worauf wartest du denn?", fragte Carola. "Wir haben Pause. Komm mit raus, oder?" "Noch nicht. Frau Reichert wollte sich noch mal mit mir über meine Geburtsurkunde unterhalten", antwortete M arita. "Achso, na dann. Viel Erfolg dabei!" "Danke, wir sehen uns in der nächsten Stunde." "Na, gut. M athe, gell?" "Ja, glaub schon. Bis gleich!" "Bis gleich!" Carola warf ihren Rucksack über die Schulter und ging aus dem Klassenzimmer. Als nur noch M arita in der Klasse war, kam die junge Philosophielehrerin auf sie zu. "Also, dann lass mich nochmal deine Geburtsurkunde anschauen, bitte!" "Ok, gut!" M arita überreichte ihrer Lehrerin die Geburtsurkunde. Frau Reichert schaute sie sich gründlich an. Dann, nach einer Weile, legte sie die Urkunde zurück auf M aritas Tisch und sagte: "Du kannst das zwar nicht lesen, aber ich habe es verstanden. Auf der linken Seite stehen dein Name, dein Geburtsdatum, der Ort, wie groß du an dem Tag gewesen warst und wie viel du gewogen hast. Auf der rechten Seite sind die Namen deiner Eltern eingetragen, ebenfalls mit Ort und Datum." "Aha! Was genau steht denn da?" "Bei dir steht... M arita M ey, geboren am 13. April 1997 in Kalush, Ukraine." "Waaas? Wieso M ey? Ich heiße Becker mit Nachnamen!" "Ich kann dir nur das sagen, was auf deiner Urkunde steht, M arita. Allerdings machen mich die Namen der angegebenen Eltern stutzig." "Warum? Steht da nicht Bärbel und Heinrich Becker?" "Nein, das steht da nicht. Es ist eher gesagt nur der Name deiner M utter angegeben und die soll Arabella M ey heißen. Vater scheint unbekannt!" "Hä? Jetzt verstehe ich überhaupt nichts!" "Das glaub ich dir, du! Wenn das tatsächlich deine Urkunde ist, werden Herr und Frau Becker nicht deine Eltern sein, so leid mir das auch tut!" "Kann man das rauskriegen?" M arita war völlig aufgebracht. "Wohl nur, wenn du mit deiner Familie sprichst. Sie werden es dir sagen müssen. Aber nun solltest du in deinen nächsten Unterricht gehen, die Pause ist schon wieder rum. Sollte es noch irgendetwas geben, kannst du mich gern anrufen, dann sehen wir weiter." "Ja, das muss ich machen. Ich werde Sie auf jeden Fall darüber informieren, wenn ich weiß, was Sache ist." M arita packte die Urkunde in ihre Schultasche, stand auf und hängte sich ihre Tasche um die Schulter. "Ja, ich drücke dir die Daumen. M ach es gut, M arita." "Danke, auf Wiedersehen!" M arita machte sich auf den Weg zum M athematikunterricht. Das Gespräch mit Lehrerin Frau Reichert wollte ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen. Hatten Bärbel und Heinrich sie tatsächlich über all die Jahre angelogen und waren gar nicht ihre leiblichen Eltern? Oder war diese Geburtsurkunde am Ende nicht ihre eigene? Fragen über Fragen schwirrten in M aritas Kopf herum. Sie konnte kaum noch klar denken. Carola merkte sofort, dass etwas nicht stimmte, als sie M arita auf sich zu kommen sah. Sie wollte sie umarmen, aber das M ädchen wandte sich ab. "Was ist denn nur? Weißt du es?"

"Ich weiß überhaupt nicht, was ich wissen soll. Wenn das hier wirklich meine Geburtsurkunde sein soll, dann sind meine Eltern nicht meine Eltern. Ich hab überhaupt keinen klaren Kopf mehr!", gab M arita zurück. "Wie meinst du das?" "Na ja, auf der rechten Seite, wo die Namen der Eltern angegeben sind, steht nur der Name der M utter und der Vater ist als unbekannt eingetragen. Deswegen!" "Wie heißt denn die M utter?" "Arabella M ey. Wenn das wirklich meine Urkunde ist, bin ich nicht M arita Becker, sondern M arita M ey. Dann frag ich mich allerdings, warum ich nicht bei meiner leiblichen M utter aufwachse. Ich verstehe die ganze Sache nicht!" "Hmmm, könnte bedeuten, dass du vielleicht in einer Pflegefamilie bist. Oder du wurdest adoptiert...was weiß ich? Es gibt doch so viele Gründe, weshalb man nicht in der leiblichen Familie aufwächst. Frag mal deine Familie! Dann weißt du es!" "Darauf kannst du wetten, dass ich das tu! Ich will es ja auch gerne wissen. Wenn die mich jetzt die ganze Zeit angelogen haben...ey, ich weiß nicht, ob ich ihnen das jemals verzeihen kann." "Du wirst es ja sehen." In dem M oment kam der M athelehrer in den Raum und alles Gemurmel verstummte. Bei Familie Becker wurde immer noch beratschlagt, wie man M arita am schonendsten die Wahrheit sagen konnte. Bärbel war mittlerweile mit ihrem Latein am Ende. Sie hatte zu große Angst, was passieren könnte. Was, wenn sich ihre Befürchtungen bestätigten und ihr Pflegekind nichts mehr mit beiden zu tun haben wollte? "Du machst dir zu viele Sorgen, Bärbel! Denk einfach nicht dran. Noch ist M arita nicht zu Hause, ok? Überleg lieber, was wir zu M ittag essen wollen. Worauf hättest du Lust?" Heinrich streichelte Bärbels Hand. "Hmmm...Gute Frage. Entweder Suppe oder Salat." Bärbel zuckte die Schultern. "Suppe ist vollkommen okay. Welche darf es denn sein?" "Linsen-oder Nudelsuppe mit Gemüse. Ich mach dazu Feldsalat mit Tomate." "Klingt vernünftig. Ich würde Nudelsuppe bevorzugen, M arita wahrscheinlich auch. Kann ich dir beim Kochen behilflich sein?" "Ja, schon. Ich werde gegen zwölf Uhr mit Kochen anfangen, M arita kommt ja so gegen eins. Dann sag ich dir, was du machen kannst." "Ist gut! Ich muss mal eben ein paar Telefonate erledigen. Ist das okay für dich, wenn ich dich allein lasse?" "Ja, mach ruhig dein Ding. Ich gehe zur Nachbarin rüber, ihr mit dem Hund helfen. Bin dann in einer guten Stunde zurück." "Kein Problem, meine Dame. Bis später dann!" "Bis später!" Bärbel ging hinaus in den Flur, zog ihre Jacke über und verließ das Haus. Heinrich seufzte. Dann ging er in sein Arbeitszimmer, griff nach dem Telefon und begann seine Telefonate abzuhaken. Als er das letzte Telefonat hinter sich hatte, war es bereits halb zwölf. "Wie die Zeit doch vergeht. M al schauen, wann mein Bärbelchen nach Hause kommt..." M it diesen Worten schlenderte er ans Fenster und schaute hinaus. Es regnete. Ein Wetter fürs Sofa und ein Buch. Während Heinrich in Gedanken versunken am Fenster stand, wurde der Schlüssel in der Haustür herumgedreht. Bärbel kam zurück. "Schatz? Bin zurück!" "Schön! Ich bin auch eben erst mit den Telefonaten fertig geworden. Was hast du jetzt vor?" "Essen! Aber erst brauch ich einen Kaffee." Bärbel marschierte in die Küche und schaltete den Kaffeekocher an. Heinrich kam hinterher. "Und weißt du was? M ir geht nach wie vor die Sache mit M arita nachher nicht aus dem Kopf. Hab mit der Nachbarin drüber geredet. Sie meinte, dass wir uns wohl darauf einstellen müssen, dass un-

ser M ädchen eine Zeit nichts von uns wissen will. Jetzt hab ich noch mehr Angst als vorher." Bärbel schaute ihrem M ann in die Augen. "M ach dir doch keinen Kopf!!!" "Doch!" Bärbel griff nach einer Tasse und schenkte sich etwas Kaffee ein, den sie dann genüsslich schlürfte. "Ach Quatsch. Was soll das denn bringen? Warten wir doch erst mal M aritas Reaktion ab. Ok?" "Ja, ok! Aber meine Angst kann ich nicht von jetzt auf gleich abstellen." "Das sag ich ja auch nicht. Du sollst dir halt nicht zu viele Sorgen machen. Das ist nicht gut! Glaub mir das. Ich weiß, wovon ich spreche. Klar?" "Ja!" "Dann gut! Soll ich essenstechnisch schon was vorbereiten?" "Ja, du kannst den Suppentopf aus dem Schrank holen. Und das Gemüse natürlich putzen und schneiden. Ich mach den Rest." "Ok, wird gemacht, Chefin!" Heinrich öffnete die Schranktür und holte den großen Suppentopf runter. "Was für Gemüse willst du denn in der Suppe haben?" "M öhren, Kartoffeln, Bohnen und etwas Lauch. Die Tomaten für den Salat kannst du auch schon schneiden." "Ok, mach ich!" Heinrich holte das Gemüse aus der Kammer und drehte den Wasserhahn auf. "Ach, und kannst du, wenn du schon mal dabei bist, den Topf mit Wasser füllen? Ich kann den Herd ja schon anmachen", sagte Bärbel, als sie den Kaffee ausgetrunken hatte. "Natürlich!" Heinrich nahm den Topf und hielt ihn unter den Wasserstrahl, während seine Frau den Herd anmachte. Als genug Wasser drin war, stellte er den Topf zurück auf den Herd und begann das Gemüse zu putzen. Bärbel holte währenddessen den Salat aus dem Kühlschrank und wusch ihn gründlich. "Was mach ich eigentlich, wenn ich das Gemüse fertig geschnitten habe?", fragte Heinrich nach einer Weile. "Wenn du magst, kannst du die Brühe ins Wasser geben. Wenn es kocht. Aber erst schnippel mal das Gemüse in Ruhe weiter, ist ja nicht mehr viel. Den Rest werd ich machen, du könntest später höchstens noch den Tisch decken." "Ok, werde ich machen." Heinrich lachte. M arita und Carola schlurften den Gang entlang zur letzten Unterrichtsstunde. Englisch. "Ich bin so froh, wenn wir endlich Schulschluss haben und ich meine Eltern zur Rede stellen kann, wenn ich zu Hause ankomme. Wenn das die Wahrheit ist und ich mein Leben lang nur belogen wurde...wie soll ich das noch bei denen aushalten?" M arita schnaubte. "Hmmm, ich kann dich echt verstehen. Das ist echt keine schöne Sache. Ich hoffe für dich, dass das vielleicht doch alles nur ein Irrtum war und du einfach eine falsche Urkunde bekommen hast." "Ja, aber woher sollen meine Eltern denn eine Geburtsurkunde aus der Ukraine haben? Das geht doch irgendwie nicht, oder?" "Ich weiß es nicht. Könnte ja gefälscht sein. Gibt es doch alles!" "M einst du? Na, ich weiß nicht. Das würden die doch nie machen. Für mich klingt das logischer, wenn ich doch nur in einer Pflegefamilie aufwachse. Aber warum? Und wo ist meine leibliche M utter?" "Das wirst du alles schon noch erfahren. Du musst noch etwas geduldig sein, jetzt haben wir ja erst noch Englisch. Aber dann ist Schluss!" "Zum Glück! Ich kann mich den ganzen M orgen schon nicht konzentrieren. Ich bin überhaupt nicht bei der Sache. Wirklich nicht!" Im Englischraum ließ M arita sich sofort auf ihren Platz fallen. Carola setzte sich eine Bank hinter sie. "Hast du eigentlich Lust, dass wir uns später treffen, wenn du weißt, was Sache ist? Ich bin ja nicht neugierig, ich würde aber trotzdem gerne wissen, was los ist!"

"Hm, mal sehen. M uss ja noch Schulaufgaben nach dem Essen machen. Vielleicht danach, je nach dem..." "Du kannst auch bei mir Aufgaben machen, wenn du dich zu Hause nicht konzentrieren kannst. Das ist überhaupt kein Problem und meine Eltern freuen sich auch immer, wenn mal jemand zu Besuch kommt. Wir haben einfach so selten Besuch." "Ja, ich ruf dich einfach an, ok? M al schauen, wie es mir heute Nachmittag geht, wenn meine Eltern die Karten auf den Tisch gelegt haben." "Ist schon ok! Konzentrieren wir uns jetzt lieber auf den Unterricht." Carola zwinkerte M arita zu und kramte ihre Bücher und Hefte heraus. Die Englischlehrerin bat wie gewohnt sofort um Ruhe, als sie den Raum betrat, um dann direkt mit dem Unterricht zu beginnen. "Today we start our lesson six with grammar. Get your homework, please!" Lautes Stöhnen im Raum. Die Hausaufgaben waren für die meisten ein Horrortrip durch das Grammatikbuch. Derzeit beschäftigte sich die Klasse mit dem Unterschied zwischen simple past und past progressive. Das Thema war noch relativ neu und bereitete daher einigen Schülern massive Schwierigkeiten. M arita kam zwar mit dem Thema gut klar, aber in dieser Stunde quälte sie sich mit dem Gedanken, was los wäre, wenn ihre Eltern nicht ihre leiblichen Eltern wären. Leider fiel das auch der Lehrerin auf, als sie das M ädchen drannahm. "M arita, what's wrong? Pay attention, please! You shouldn't dream in my lesson, understood? Okay, read it, please!" "Yes, M a'am, I will read..." M arita las die Hausaufgaben vor. Alles richtig gemacht. "Very well done! It goes on...Linda, it's you! Can you continue with that?" Englischlehrerin Frau Gabler heftete ihren Blick an die schüchterne Linda, die ihre Hausaufgaben nur langsam vorlesen konnte, da es sie alle M ühe kostete, fremdsprachige Wörter überhaupt auszusprechen. Daher brauchte Frau Gabler jede M enge Geduld mit ihr. "You should better learn instead of watching TV or doing something else. What do I know? I would advise you also to take tuition." Sie seufzte. Linda starrte nur gebannt in ihr Buch. Lernen! Das war überhaupt nicht ihr Ding, aber sie würde es tun müssen. Wie immer, wenn Linda mit Vorlesen fertig war, wurde in der Klasse getuschelt, sodass Frau Gabler mit dem Zeigestock auf das Pult schlagen musste. Nur so kehrte wieder Ruhe ein und der Unterricht konnte fortgesetzt werden. Froh darüber, dass die Schulglocke zum Stundenende schellte, packte M arita ihre Sachen ein und beeilte sich, eine der ersten zu sein, die den Englischraum verließen. "Du bist wirklich sehr gut im Umgang mit simple past und past progressive", sagte Frau Gabler im Gehen zu ihr. "Einige sollten sich ein Beispiel nehmen. M ach weiter so!" "Danke, aber das ist doch nun wirklich nicht schwer. M ein Vater hilft mir bei den Hausaufgaben ja immer, der erklärt das immer so gut. Und es tut mir leid, dass ich nicht so ganz bei der Sache war, aber mich beschäftigt gerade ein dummer Gedanke." "Schwer ist das in der Tat nicht...wenn man fit darin ist. Aber einige wollen es anscheinend einfach nicht in ihre Köpfe kriegen. Es ist schön, dass du jemanden in der Familie hast, der dir hilft. Bei einigen Sachen hapert es bei dir auch noch ganz schön, aber das ist wirklich nicht sehr viel. Und zu deinem dummen Gedanken kann ich nur sagen, dass ich hoffe, dass er schnell wieder verschwindet. Es ist nämlich nicht gut, wenn man nicht aufpasst!" "Ich weiß. Es ist was familiäres, was ich heute in Philosophie herausbekommen habe. Hoffe selber, dass es sich schnell wieder legt." "Hm, dann möchte ich nicht weiter nachhaken. Schönen Nachmittag und bis morgen, M arita!" Frau Gabler eilte davon. M arita war froh, die etwas strenge Lehrerin los zu sein und marschierte über den Gang in die Pausenhalle. Auf dem Pausenhof wurde sie von Carola und Linda eingeholt. "Hey, warte mal!", rief Carola.

M arita drehte sich um. "Ja, was?" "Wir können doch ein bisschen zusammen gehen, oder? Fährst du Bus?" "Ja, ich fahre mit dem Bus und du?" "Auch, aber wahrscheinlich nicht mit dem, den du nimmst. Ich muss ja ganz woanders hin." "Achso, ja, dann lass uns zusammen hingehen." "Gut, und die Linda wollte dir auch noch irgendwas sagen, glaub ich. Oder, Linda?" Linda nickte. "Ja, wollte ich. Also, du, M arita... Ich bin ja nicht so gut in Englisch und wollte fragen, ob du mir ein wenig helfen kannst, wenn du Zeit hast?" "Ähm?" M arita hielt inne. "Da muss ich mal sehen, bei mir klemmt es auch noch ein bisschen. Worin brauchst du denn Hilfe?" "Eigentlich alles..." "Ja gut, das mit simple past und past progressive kann ich dir erklären und will-future auch soweit. Aber ich bin nicht in allem gut." "M acht ja nichts, Hauptsache ein bisschen. Ich habe überall Schwierigkeiten." "Das merkt man, wenn du die Hausaufgaben vorlesen musst. In der Aussprache kann ich dir auch ein wenig behilflich sein. Das wäre auch ganz gut!" "Ja, das wäre es, das wäre lieb, wenn du das machst. M eine Eltern sind nie daheim, die können mir nicht helfen, obwohl sie gut wären." "Wo sind deine Eltern denn immer?" M arita klang überrascht. "Na ja, weg halt. Arbeiten sehr viel. Aber danke nochmal, ich muss dann weg. Tschüs!" Linda verschwand um die nächste Ecke und war weg. "Was war das denn? Das war ihr wohl sehr peinlich..." Carola druckste. "Wieso? Kann doch sein, dass Lindas Eltern so viel arbeiten müssen..." "Na ja, eigentlich wäre das ja Lindas Sache, aber... Sie lebt in einem betreuten Wohnheim und da hat sie eigentlich niemanden, der für sie das ist...und so." "Oh, echt? Die Arme. Weißt du, wieso?" "Ich hab es mal am Rande mitbekommen... Die Eltern sind entweder gewalttätig oder ausgewandert und haben Linda in Deutschland gelassen. Irgendwie so etwas!" "Das ist hart. Arme Linda! Sie ist so still, sie redet mit niemandem. Das beschäftigt mich echt..." "Na, wie würdest du denn drauf sein, wenn du von heute auf morgen in ein Wohnheim abgeschoben wirst und keiner für dich da ist?" "Du hast Recht, nicht anders. Aber...ich habe ja auch ein Problem, du weißt ja Bescheid..." M arita und Carola standen inzwischen an der Bushaltestelle. "Ja, ich weiß. Du, ich glaub, der Bus kommt. Ist das deiner oder meiner?" Carola kniff die Augen zusammen, um das Fahrtziel erkennen zu können. "Die Linie 5 ist meiner. Also, wie gesagt, ich ruf nach dem M ittagessen bei dir an. Wann bist du erreichbar?" M arita holte die Busfahrkarte aus der Jackentasche. "Gegen 2?" "Ja, passt! Bis später!" "Okay, wir hören uns!" Carola winkte M arita hinterher, während die in den Bus stieg. Bärbel Becker hatte gerade den dampfenden Suppentopf auf den Tisch gestellt, als M arita durch die Haustür platzte und ein lautes "Hallo, ich bin zurück!" rief. "Hallo, da bist du ja! Wie gerufen! Habe gerade das Essen auf den Tisch gestellt." Bärbel kam auf den Flur und drückte M arita fest an sich. "Was ist denn nun los? Das machst du doch sonst nicht!" "Tut mir leid, Marita. Hat mich einfach überkommen." "Na ja, auch egal. Kann ich dann jetzt Schuhe und Jacke ausziehen?" "Ja, natürlich kannst du. Und dann komm bitte essen!" Bärbel entließ M arita aus der Umklammerung und ging in die Küche zurück.

M arita nutzte die Gelegenheit und kramte die Geburtsurkunde aus ihrer Schultasche. Jetzt gab es für beide Elternteile kein Entkommen. Sie wollte endlich wissen, was es mit der Urkunde auf sich hatte. "So, was gibt es denn?", fragte sie, als sie schließlich am Tisch saß, um erst mal nicht aufzufallen. "Nudelsuppe und Feldsalat. Ist das ok?" Bärbel nahm den Deckel vom Topf. "M uss echt viel sein, wenn schon der Topf so groß ist..." M arita guckte in den Suppentopf. "Dafür sieht es sehr lecker aus!" "Na, das will ich aber hoffen, dass die Suppe lecker ist. Papa hat mir sogar geholfen, kannst du das glauben?" "Hmmm, vielleicht." "Die Suppe packen wir aber, oder?" Heinrich ließ sich nieder und fing an, sich drei Kellen Suppe in den Teller zu füllen. Bärbel grinste. "Sicher! Lasst es euch schmecken! Und vergesst den Salat nicht!" Während alle am essen waren, rückte M arita mit der Sprache heraus. "Also, heute M orgen war die Stimmung ja sehr drückend... Seit ihr jetzt wacher?" "Hmmm? Ja, schon. Worauf willst du hinaus?", wollte Bärbel wissen. "Es ist vielleicht kein Thema fürs Essen, aber während ich in der Schule saß, bekam ich das Gefühl nicht los, dass ihr mir irgendwas sagen wollt. Ist denn was?" "Ach, Kind! Das Thema hatten wir doch heute M orgen schon. Es ist wirklich nichts, alles gut!" "Sicher?" "Ja, sehr sicher!" Doch M arita ließ nicht locker. "Ich seh's doch deinen Augen an, dass was nicht in Ordnung ist. Und wisst ihr was? Ich glaube, ich hab eine gewisse Ahnung. Wir hatten ja heute Philosophie und da hatten wir ja den Test mit den Geburtsurkunden gemacht..." "Und?" Heinrich und Bärbel rissen die Augen auf. "Na ja, ihr habt mir ja immer erzählt, dass ich in Deutschland auf die Welt gekommen bin und als ich dieses Ding hier gesehen habe", M arita hielt die Geburtsurkunde hoch, "als ich das gesehen habe, konnte ich zunächst nichts damit anfangen, aber meine Lehrerin, die Frau Reichert hat herausgefunden, dass das eine Geburtsurkunde ist und sie dieselbe hat. Sie ist in der Ukraine geboren. Sie hat mir vorgelesen, was darauf steht! Jetzt möchte ich von euch wissen, woher ihr die habt!?" Heinrich suchte verzweifelt nach den richtigen Worten. "Ja, es ist wirklich gerade kein günstiger Zeitpunkt, um es dir zu erklären und wir wollten es dir auch schon viel früher sagen, aber du warst einfach zu jung gewesen und hättest es nicht verstanden." "Was denn jetzt?", wollte M arita wissen. "M ach es doch nicht so schwer!" "M arita..." Heinrich überlegte und sah seine Frau an. "Ja, es ist deine Geburtsurkunde. Es ist deine!" "Was? Wirklich? M oment, das heißt, ihr habt mich wirklich angelogen? Und ich heiße nicht M arita Becker, sondern Marita M ey? Und ich wurde in der Ukraine geboren? Ist das so?" "Ja, lass es dir doch in Ruhe erklären." Froh, dass es jetzt raus war, sagte Bärbel nun: "Iss doch aber wenigstens die Suppe auf, M arita!" "Ich weiß nicht, ob ich überhaupt noch Appetit hab", gab M arita trotzig zurück. Dabei starrte sie in ihren noch halb vollen Suppenteller, in dem die Nudeln in der Brühe schwammen. "Das hab ich befürchtet!" Bärbel stöhnte laut auf. "Bärbel, du kannst nichts dafür", versuchte Heinrich mit einem Blick auf M arita seine Frau zu beruhigen. "Was soll das denn heißen, sie kann nichts dafür?", wollte M arita wissen. "Wenn ich aus heiterem Himmel erfahre, dass ich nicht eure Tochter bin, ist es doch klar, dass ich so reagiere. M eint ihr nicht?" "Ja, du hast ja Recht", gab Heinrich zurück. "Aber dafür gibt es eine Erklärung. Bei Gelegenheit setzen wir uns zusammen und dann erfährst du alles!" "Bei Gelegenheit?" M arita schnaubte. "Wieso nicht jetzt? Ich möchte das wissen! Für wen hältst du mich eigentlich?"

"M arita, wir sind am essen! Später! Und bitte nicht in diesem Ton mit mir!" "Boa, wisst ihr was? Ihr könnt mich mal!" M arita ließ den Löffel so in die Suppe fallen, dass es spritzte. Sie stand auf und rannte in ihr Zimmer, wo sie sich ins Bett warf und weinte. "Genau das meinte ich!", warf Bärbel ihrem M ann vor. "Wir hätten ihr nie die Wahrheit sagen sollen. Du hast ja gesehen, was passiert ist. Sie hasst uns!" "Ach, Quatsch! Natürlich ist sie jetzt sauer, aber uns deswegen gleich zu hassen? Das Beste ist, wenn wir unsere Suppe jetzt aufessen und ich dann mal zu M arita rübergehe und versuche, ihr alles zu erklären." "Wenn du meinst, dass es was bringt..." Lustlos schlürfte Bärbel ihre Suppe hinunter.

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