„Gewahrsein entwickeln“ Gruppenretreat

mit

Lama Tilmann (Lhündrup)

Seminarhaus Remetschwiel, 23. – 31. August 2014 Das Retreat fand mit Ausnahme der Gespräche im Rahmen der Unterweisungen im Schweigen statt

„Gewahrsein entwickeln“

Lama Tilmann, Remetschwiel, August 2014

Inhaltsverzeichnis Meditation..............................................................................................................................................3 Erklärungen zur Gehmeditation..............................................................................................................6 Meditation..............................................................................................................................................7 Die drei Aspekte der Wirklichkeit................................................................................................................8 Fragen...................................................................................................................................................10 Morgenmeditation................................................................................................................................12

Ozean des Wahren Sinnes................................................................................................................14 Herzensqualitäten......................................................................................................................................14 Aufklärung über Erscheinungen................................................................................................................16 Meditation – Ist die Welt Geist?...........................................................................................................20 Meditation............................................................................................................................................21 Meditations-Erfahrungen – Blockaden......................................................................................................22 Morgenmeditation................................................................................................................................27 Meditation............................................................................................................................................31 Denken......................................................................................................................................................31 Umgang mit Gefühlen...............................................................................................................................36 Meditation............................................................................................................................................40 Erklärungen zur Gehmeditation............................................................................................................40 Morgenmeditation................................................................................................................................41 Die 'Haupt-Praxis' in den Pausen..........................................................................................................42

Wie Tönpa Shakyaguna in der Magengrotte zu Nyanang zum Schüler wurde..........................42 Morgenmeditation................................................................................................................................57 Meditation............................................................................................................................................62 Erklärungen zum Zufluchtsritual...............................................................................................................64 Neun Ratschläge zur Zufluchtnahme....................................................................................................66 Inspiration für eine Meditations-Sitzung..............................................................................................67 Morgenmeditation – Heilmeditation.....................................................................................................74 Fragen...................................................................................................................................................77 Meditation............................................................................................................................................80 Morgenmeditation................................................................................................................................85

Bodhicitta..........................................................................................................................................86 Der zweifache Nutzen................................................................................................................................87 Fragen...................................................................................................................................................91 Übung mit inneren Bildern...................................................................................................................95 Die Vier Arten des Kultivierens von Gewahrsein......................................................................................96 Morgenmeditation: Lass den Buddha in dir meditieren........................................................................98 Entspannt verweilen und gestalten........................................................................................................99

Mahamudra: Sicht, Meditation und Aktivität.............................................................................100 Mitfühlen.................................................................................................................................................105 Morgenmeditation: Gewahrsein ruht in sich selbst.............................................................................109 Neuorientierung.......................................................................................................................................110 Meditation...........................................................................................................................................111 Unterweisung zur radikalen Pause...........................................................................................................111 Fragen.................................................................................................................................................114 Abschluss.................................................................................................................................................115 Widmung............................................................................................................................................118

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Meditation Rezitation: Zufluchtnahme, Vier grenzenlose Kontemplationen, Guru-Yoga Mit dem ersten Einatem nach den Gebeten sammeln wir bereits wieder unsere Achtsamkeit, … spüren den Körper. Wir werden jetzt für eine Weile mit den Körperempfindungen praktizieren, das lässt, wie die Indianer sagen, unserer Seele die Möglichkeit nachzukommen. – Spürt den Kontakt mit dem Gesäß, die aufliegenden Beine, Füße. Wie genau fühlt sich das an, Kontakt mit der Sitzfläche zu haben? … Spürt ihr vielleicht einen Unterschied zwischen rechtem Bein und linkem Bein, … dem rechten und dem linken Sitzknochen? … Wie fühlt es sich genau an? – Spürt das Ein- und Ausfließen des Atems. … Wo genau und wie genau spürt ihr die Atembewegungen? Jetzt gerade, wie fühlt es sich an zu atmen? – Wo überall kann ich den Atem spüren? … Versucht ihn nach oben zu verfolgen; wie weit nach oben im Körper ihr ihn spüren könnt, und wie weit nach unten ihr ihn spüren könnt. … Vielleicht könnt ihr dem Atem auch erlauben, ganz frei zu fließen, oder vielleicht könnt ihr gerade so atmen, wie es besonders wohltuend ist. – Während wir den Atem weiterhin frei fließen lassen, lasst uns den ganzen Körper spüren; von den Zehen spitzen aufwärts, jeden Bereich des Körpers, jeden Bereich der Körperempfindungen, … bis zum Scheitel. – Spürt jetzt besonders in die Bereiche hinein, wo fast nichts zu spüren ist; in die Bereiche, die wir oft aus lassen. … Dabei kümmern wir uns nicht nur um die äußere Haut, sondern wir spüren den Körper von innen, ohne dabei zu unterscheiden zwischen angenehmen und unangenehmen Empfindungen. Wir üben uns darin, einfach wahrzunehmen. … Wir geben den starken Empfindungen dieselbe Aufmerksamkeit wie den schwächeren Empfindungen; frei von Bevorzugung. … Denkt auch an die feineren Bereiche im Gesicht und im Kopfraum, z.B. an das Innere des Mundes, den Rachen, die Bereiche um die Zähne herum, die Kiefer, die Lippen. Die Nase innen und außen, die Ohren innen und außen, der ganze Bereich um die Augen herum, Stirn und Hinterkopf. – Dann könnt ihr vom Scheitel nochmals die Aufmerksamkeit, die Bewusstheit durch den ganzen Körper fließen lassen… vom Scheitel bis zu den Fußsohlen und bis in die Handflächen. Zum Abschluss dieser kleinen Meditation lasst uns noch einmal richtig ins Becken gehen und unseren Sitz einnehmen, auf dem Kissen, auf dem Stuhl. – So spüren wir ziemlich gut unseren Körper, unsere Präsenz. Ich lade euch ein, die Augen zu öffnen und diese Präsenz weiter zu spüren während ihr schaut, wahrnehmt, die anderen wahrnehmt. Die Übung dabei ist, ganz gut auch bei sich zu bleiben, ganz gut verankert zu bleiben, während wir uns ein bisschen umschauen und sich vielleicht die Blicke kreuzen mit dem einen oder anderen. Dabei bleiben wir so entspannt und so verankert, wie jetzt gerade in der Meditation. – Das ist eigentlich nur eine Ausdehnung unserer Meditationsübung; es ist auch Kontakt; Kontakt durch Sehen, aber eben auch mit unserem Herzen, denn es ist nicht so leicht, Menschen anzuschauen, ohne dabei etwas zu empfinden. Wir spüren etwas, wir spüren Unterschiedliches, wenn wir in verschiedene Gesichter schauen, das ist ein bisschen anders. Spürt einmal, wie sich das anfühlt. Achtet nicht so sehr auf die Gedanken, son dern darauf, wie es sich anfühlt. – Ich glaube, wir sind alle ein bisschen scheu zu schauen. Aber das ist Teil der Praxis; hier zu bleiben, hier zu spüren und zu schauen, und den anderen wahrzunehmen, die Person vor uns auch wahrzunehmen und uns darin nicht zu verlieren; zu spüren und uns zu öffnen für den anderen, und dabei bei sich selbst zu bleiben und zu spüren. *** Herzlich willkommen im Gewahrseins-Kurs. Wir werden acht volle Tage miteinander teilen in einem Maha mudra-Retreat. Wir werden Gewahrsein üben, dafür sind wir zusammen gekommen. Ich möchte diesmal mit euch wieder tief meditieren und euch immer wieder Hilfestellungen geben, sodass ihr – wie vorhin beim Schauen – üben könnt, in die Aktivität zu tragen, was ihr in der Meditation an Weite, Offenheit, Entspannung, Frische erlebt habt. Auf diese Weise können wir unsere Meditation in scheinbar alltägliche Formen des Erlebens hinübertragen und integrieren. Wir haben acht Tage Zeit dafür. Wir können

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in die Tiefe gehen, haben aber auch viele Möglichkeiten, in der Aktivität zu praktizieren – beim Gehen, Essen, Schauen, bei der Arbeitsmeditation, wenn wir uns gegenseitig helfen. Unser Thema ist also eigentlich Gewahrsein rund um die Uhr. Es geht ja auch nicht darum, sein ganzes Leben lang irgendwie zu meditieren, sondern es geht darum, in der Meditation so tief in das natürliche Sein einzutauchen, dass dieses natürliche Sein dann in all unsere Hand lungen hineinfließen kann. Und irgendwann – für mich ist es noch nicht der Fall – erübrigt sich dann die Meditation. Sie ist dann nicht mehr notwendig, da ist dann nur noch dieses erwachte, dieses gewahre Sein, in dem gehandelt wird. Damit möchte ich mich in diesem Kurs um einen Bereich kümmerrn, der mir sehr am Herzen liegt: um diese Integration in den Alltag, um die Übergänge aus dem meditierenden Erleben in ein gewahres Sein und Handeln. Genau da fehlt es auch; es geht darum, Brücken zu schlagen und in der Aktivität etwas offener, präsent zu sein. Um das zu ermöglichen, braucht es aber einen Rahmen, und dieser Rahmen besteht aus unserem Tagesablauf und unserem Schweigen. Es ist ganz wichtig, dass wir uns an das Schweigen halten. Es ist aber ein bisschen anders als in Vipassana-Kursen, denn das Schweigen gilt nur im Hörradius um das Haus herum und im Haus – totales Schweigen im Haus und in Hörentfernung vom Haus. Wer sprechen möchte, kann Spaziergänge machen, sich mit jemandem dabei unterhalten und die Gewahrseinspraxis im Sprechen fortsetzen. Wäre schön, wenn wir das hinkriegen könnten, auch dort das Gewahrsein reinfließen zu lassen. Es ist also strikt, was das Haus angeht, und ich werde es immer wieder auch ansprechen, wenn ich merke, dass es entgleist, entflutscht, so wie das bei Mahamudra-Kursen manchmal passiert. Aber ich hoffe, dass wir auch so eine Disziplin entwickeln können wie auf den Vipassana-Kursen. Das ist etwas ganz ganz Wunderbares, dass wir dort diesen stillen Rahmen haben. Hier ist es aber ein wenig anderes, denn es ist in der Mahamudra-Praxis auch ganz wichtig, sich nicht unter Druck zu setzen. Dazu gibt es als Ventil den Spaziergang, wo man sich unterhalten kann. Aber sprecht bitte nicht innerhalb des Hauses, auch nicht in den Zimmern, so dass sich niemand unwohl fühlen muss, wenn er in eine Unterhaltung reinkommt und da getuschelt wird. Das geht gar nicht. Wir sollten uns also einen ganz ruhigen, stillen Rahmen schaffen. Auch diejenigen, die außerhalb unterge bracht sind, können sich dort in der Stille üben, wenn sie das wünschen. Die Stille macht alles viel klarer, was in unserem Geist vor sich geht. Kaum sind wir im Sprechen, kriegen wir unsere Impulse nicht mehr so genau mit; wir bemerken nicht so ganz, was innerlich im Körper und im Gemüt los ist. Das ist schade; wir sind zu sehr im Außen, zu sehr im Austausch. Da gehen wir einen mittleren Weg; wir gehen den mittleren Weg, dass das Haus und der Garten, der gesamte Parkplatz Schweigezone ist. Wer dranbleiben möchte, kann ganz im Schweigen sein, und wer mal rausgehen möchte, kann sich auch mit jemandem unterhalten. Ich würde euch aber sehr empfehlen, alles, was ihr noch an Anrufen zu erledigen habt, heute vor dem Abendbrot zu erledigen und das Handy möglichst nicht zu benutzen während ihr hier seid; möglichst keine Außenkontakte zu pflegen, wirklich hier zu sein und nicht woanders. Geschichten, die ihr über ein Telefonat, über SMS oder What's-App-Nachrichten und dergleichen erfährt, sind virtueller Natur. Ihr beschäftigt euch dann hier im Retreat ständig damit, habt aber keine Möglichkeit das Ganze im direkten Kontakt zu erleben, es ist ziemlich indirekt. Versucht also bitte, auch da eine gewisse Abstinenz zu leben. Innerhalb des Hauses sind die Handies ohnehin ausgestellt. Dazu möchte ich euch sehr ermutigen. Die Tibeter quatschen ja gerne, und in den Dharma-Zentren der tibetischen Traditionen wird auch immer viel gesprochen. Wenn die Tibeter meditieren wollten, dann gingen sie in die Natur, in die Höhlen. Dann war richtig Stille, und darin haben sie sich geübt. Wir haben hier nicht diese Bedingungen, dass wir einzeln oder mit ein paar Yogis in Höhlen verschwinden können, aber wir können uns diese Bedingungen hier auf dem Gelände schaffen. Das Wunderbare ist, dass wir ja die anderen mitkriegen, die neben uns sitzen und an uns vorbeilaufen und das ist auch ganz spannend. Wir brauchen sie nicht auszublenden, wir können sehr liebevoll miteinander umgehen, auch wenn wir schweigen. Wir können einander die Teller abwaschen, wir können einander bedienen, wir können jemandem den Arm um die Schulter legen. Oder wenn wir merken, dass

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jemand eine etwas schwerere Phase hat, können wir ein Zeichen geben, dass wir's mitkriegen, vom Herzen her. Das ist wunderbar, und wir schweigen. Das Herz braucht nicht geschlossen zu sein, nur weil wir schweigen. Es kann sogar noch weiter aufgehen, weil gerade nicht von uns verlangt wird, es in Worten auszudrücken. Aber wir merken auch den Impuls, zu schauen was der andere macht. Wir kriegen alles mit, weil wir im Schweigen sind. Wir bemerken, wo unsere Achtsamkeit hin will und was das mit uns macht. Und diese inneren Schwankungen sind das Material, mit dem wir arbeiten. Mit dem Schweigen beginnen wir nach dem Abendessen. Wir haben jetzt noch Zeit, unsere Zimmermit bewohner kennen zu lernen und dieses und jenes zu regeln. Wir beginnen jetzt schon, ins Schweigen zu finden, aber das echte Schweigen beginnt erst dann, wenn wir heute das Abendessen beendet haben. Ich werde morgens die geführte Meditation machen, am Anfang vom Vormittag und am Anfang vom Nachmittag unterrichten, und Heiko wird den Abendteil wieder übernehmen und auch Gruppen anbieten und Einzelgespräche, was immer ihr euch von ihm wünscht. Ab morgen wird es auch Einzelgespräche mit mir geben. Den größten Teil der Gespräche will ich auf fünf Minuten beschränken – über die Erfahrungen, die ihr in eurer Praxis macht. Wenn wir in den Gesprächen sehen, dass ein längeres Gespräch notwendig ist, dann bin ich auch mal bereit, ein längeres Gespräch einzuräumen; das machen wir dann separat aus. Aber ihr könnt mehrere solche Gespräche haben, ihr könnt jeden zweiten Tag kommen, wenn ihr wollt; oder auch jeden Tag, wenn es gerade notwendig ist. Aber es geht um die Praxis. Wir tauschen uns also direkt über all das aus, was es bedeutet, Gewahrsein zu entwickeln. Ihr könnt euch ja vorstellen, dass es auch ein logistisches Problem ist: Wie kann ich mit so vielen Menschen in direktem Kontakt sein und jedem die Möglichkeit geben, auch im Prozess begleitet zu werden und nicht nur einmal ein längeres Gespräch zu haben? Deswegen diese 5-Minuten-Gespräche. Das hat sich in Croizet jetzt gerade bei dem großen Kurs in Frankreich sehr bewährt. Dort waren wir über 70 Leute, ich habe jeden Nachmittag 30 Interviews gegeben. Dadurch war es denjenigen, die es wollten, wirklich möglich, mich zum Teil dreimal, viermal zu sehen, und einen Prozess zu durchlaufen, in dem sie geführt wurden. Schauen wir mal, wie wir das hier hinkriegen. Meditation Lasst den Geist ganz weit werden und die Augen offen wenn's geht, für diese paar Minuten. – Ganz weit, lasst euch von dem Licht, das von oben kommt, inspirieren. – Nun verbinden wir diese Geistesweite mit dem feinen Spüren des gesamten Körpers. ... Den Körper spüren, sehen, hören … und erleben, wie weit der Geist dabei sein kann. Riechen tun wir dabei auch, vielleicht schmecken wir sogar etwas. – *** Mahamudra – das große Siegel. Mudra bedeutet hier Siegel, so wie ein Siegel dafür, dass etwas echt ist, und maha bedeutet groß. Gemeint ist, dass unser gesamtes Erleben – jetzt gerade –, dass all unsere Erfahrungen das Siegel der Leerheit tragen. Das ist ihre innenwohnende Qualität; diese nicht fassbare Qualität des Seins wohnt allem Sein inne. Das nennen wir Leerheit; diese nicht-fassbare Qualität jetzt zu hören ... und obwohl wir so deutlich hören und sehen, den Körper spüren und auch Gedanken haben: nichts von all dem bleibt, nichts von all dem ist fassbar, alles löst sich gleich wieder auf. Diese Qualität, nicht fassbar zu sein, keinen Wesenskern zu haben, nennt man leer; leer von einem Wesenskern, ohne Wesenskern. Groß ist das Siegel deswegen, weil es unser ganzes Erleben, all unsere Erfahrungen umfasst. Alle Erfahrungen von allen Lebewesen in allen Universen haben dieses Merkmal. Überall wo Erleben stattfindet, ist diese Qualität mit dabei. Mahamudra zu praktizieren bedeutet, sich bei allem, was man tut, gleichzeitig des Handelns bewusst zu sein und auch der flüchtigen Natur dessen, was man tut. Dass ich mir, wenn ich mich z.B. an der Stirn kratze,

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nicht nur des Kratzens bewusst bin sondern zugleich auch seiner flüchtigen Natur; zu spüren, wie klar und spürbar es ist und zugleich wie es nicht fassbar ist. Wenn wir mit der nicht fassbaren Qualität des Erlebens verbunden sind, hat das ganz natürlich zur Folge, dass wir nicht greifen. Direkt und unmittelbar zu erleben, wie das Erleben nicht greifbar, nicht fassbar ist, hat zur Folge, dass wir aufhören zu greifen, festhalten zu wollen. – Es lässt sich ja nicht festhalten. Wenn sich etwas nicht festhalten lässt, dann hören wir einfach mit der Zeit auf, es festhalten zu wollen. Das nennt man Befreiung. Wenn das Greifen nach dem, was nicht fassbar ist, aufhört, dann sind wir nicht mehr im Konflikt mit der Wirklichkeit; wir versuchen nicht mehr das Unmögliche. Wir versuchen nicht mehr, angenehme Erfahrungen festzuhalten – was noch nie jemandem gelungen ist –, und wir kämpfen nicht mehr, wie Don Quichotte gegen die Windmühlenflügel, gegen nicht fassbare Erfahrungen an, die keinen Wesenskern haben. Wir brauchen nicht zu kämpfen, wir brauchen sie nur zu lassen. Wenn wir nicht mehr greifen, dann löst sich auch das Unangenehme; das Erleben fließt weiter. Dieses Wissen um die vergängliche, flüchtige, sich wandelnde, nicht fassbare Natur des Seins ist schon immer – schon seit Buddhas Zeiten – der Dreh- und Angelpunkt der Befreiung, weil genau dieses Erkennen der Natur des Seins dazu führt, dass das Greifen nach dem Nichtgreifbaren, dem Nichtfassbaren, aufhört. Das hat ganz viele Auswirkungen, in jedem Sinnesbereich – in der Körpererfahrung, im Sehen, im Hören, im Riechen, im Schmecken, und in der inneren Wahrnehmung des Denkens und der Gefühlszustände bis hin zu den Vorstellungen. All das wird als nicht greifbar erfahren, was dazu führt, dass es in all diesen Bereichen nicht mehr zu diesem Fixieren-Wollen kommt, zu diesem Festhalten, zu diesem Sich-Verspannen. Man gibt auf, es irgendwie doch schaffen zu wollen, dass die Dinge so sind wie man sie haben möchte und auch so bleiben. – Das geht nicht, aber wir versuchen es trotzdem. Dieser Kampf mit dem, wie die Dinge sind, hört dann auf, und weil wir verstehen, wie die Wirklichkeit ist, sind wir in der Lage, viel besser mit dem Strom des Erlebens umzugehen. Wir können dann unsere Energien viel geschickter einsetzen und entscheiden, wohin wir dieses Spiel der Kräfte lenken, wie wir Kräfte einsetzen können, sodass es sich insgesamt eher in die gewünschte Richtung entwickelt. Aber festhalten können wir nichts, wir können nur mit Kräften arbeiten, und das können wir lernen. Das nennt man Meisterschaft des Karma. Wenn man Karma – das Wirken – wirklich versteht, dann kann man in diese fließende Wechselwirkung, wo alles mit allem in Wechselwirkung steht, geschickt hineinwirken. Da können unsere Geisteskräfte – Mitge fühl, Weisheit usw. – hineinwirken und etwas ganz Heilsames bewirken; im Rahmen des Möglichen, denn da sind immer noch andere Kräfte. Daher kommt der Name „Karmapa“. Karmapa ist der Meister des Wirkens. Und jetzt gehen wir Wirken hinein, ins Handeln. Ich lade euch ein, dass wir alle gemeinsam jetzt Gehmeditation praktizieren. Erklärungen zur Gehmeditation Dabei geht es darum, das, was wir in der Sitzmeditation praktizieren, ins Gehen zu übertragen – nicht mehr und nicht weniger. Was wir im Sitzen praktizieren, praktizieren wir auch im Gehen; immer. Wir spüren also unseren ganzen Körper, von der Fußsohle bis zum Scheitel, alles. Zu spüren, wie sich die Gehbewegung anfühlt, ist unser erster Anker, so wie beim stillen Sitzen uns die Atembewegung oft als Anker dient. Wir können dann aber beim Gehen auch das Atmen hinzunehmen, das Sehen, das Hören, das Riechen und Schmecken. Und wir können darauf achten, wie der Geist ist, und mit diesem weiten Geist – den wir viel leicht gerade ein bisschen gespürt haben – gehen. Wir gehen hin und her. Das Wichtigste ist, nicht irgendwo hin zu gehen, keinen Spaziergang zu machen, es geht darum, ein völlig sinnloses Gehen auszuführen. – Spazieren zu gehen ist erst einmal keine Gehmedita tion, bei einem Spaziergang ist der Geist schnell mal woanders. – Wir gehen richtig sinnlos immer hin und her. Es muss sinnlos sein, damit wir nicht mit dem Gehen an sich beschäftigt sind sondern dabei ins Erleben des Gehens kommen, dass wir beim Gehen nicht zielgerichtet sind. Wir gehen einfach nur hin und her. – Die Tibeter gehen im Kreis um einen Stupa herum. Eigentlich ist das Gehmeditation. Man geht nirgendswo hin. –

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Das Schöne beim Hin- und Hergehen ist, dass es diese Momente der Umkehr gibt. Das sind Momente, wo wir stehenbleiben und merken, wie es so abläuft. Da ist der Impuls, umzudrehen. Dabei stehen wir erst ein mal wieder und machen ein bisschen Stehmeditation. Und woher kommt der Impuls, wieder zu gehen? Was passiert mit diesen Impulsen des Gehens während wir gehen? Was ist da im Geist los, und was bewirkt, dass wir wieder anhalten? So schauen wir immer hin, was in unserem Geist los ist, was wir im Körper spüren, während wir gehen. Wir können dabei genau so tief praktizieren wie auf dem Sitzkissen; da besteht überhaupt kein Unterschied. Wir können alles erleben, was wir auch auf dem Sitzkissen erleben. Für manche ist die Gehmeditation gerade das Eingangstor in tiefe Meditation, weil wir unseren Körper eigentlich doch auch vergessen können. Da schmerzt nichts, wir sind in Bewegung und wenn wir es lang genug machen, kommen wir in große Tiefe. Rezitation: Widmung Meditation Und wieder spüren wir unseren gesamten Körper, … wir spüren den Atem. – Aber es gibt gar keinen Atem, es gibt nur Empfindungen, sich ständig wandelnde Empfindungen. Wenn ich sage „wir spüren den Körper“, dann stimmt auch das nicht. Es gibt gar keinen Körper. Was spüren wir denn eigentlich, wenn wir den Körper spüren? – Körper und Atem sind Vorstellungen. Wie ist das direkte Erleben? – Wenn es um das Erleben geht, sind alle Bezeichnungen Vorstellungen. Arme, Beine, das alles sind nur Vorstellungen. Wie fühlt es sich an? Wie sind die Empfindungen in dem Bereich, den wir Arme nennen; in dem Bereich, den wir Beine nennen, Becken, Bauch, Rücken? – Und lasst uns direkt noch weiter gehen. Wenn ich sage „ich bin hier“, so sind das nur Vorstellungen. „Ich“ ist eine Vorstellung, „bin“, „sein“ sind Vorstellungen, „hier“ ist eine Vorstellung. Wie ist es? … Wie ist es als ganzer Mensch, als ganzes Wesen, als ganze Person in diesem Feld zu sein? Jetzt gerade… und jetzt… und jetzt… – Wie ist es zu sein und gar keiner Vorstellung nachzuhängen? – Versucht nicht zu meditieren, sondern seid einfach interessiert, wie es ist. … Wie fühlt es sich an, eine soge nannte Verspannung zu spüren? Wie ist es genau? Wie ist das sogenannte Fließen zu erleben? … Fließt es irgendwo? – GONG – Wie ist es zu hören? – *** Ich empfehle euch, während des Retreats immer wieder zu beherzigen, was ich in der Meditation gesagt habe, immer wieder. Wenn ihr euch traurig fühlt und innerlich sagt „ich bin traurig“, oder „ich bin genervt“, oder „ich bin müde“, dann lasst es zu einem Reflex werden, indem ihr sagt: „Wie ist es, müde zu sein?“, „Wie ist es, traurig zu sein?“, „Wie ist es, genervt zu sein?“, „Wie ist es, freudig zu sein?“ Wie genau ist es? Wahrscheinlich habt ihr etwas gespürt, dann kommt der innere Kommentar „ah, der Geist ist ganz weit“. Bleibt dabei: „Wie ist es?“, „Wie ist es jetzt?“, „Wie ist es, die Pause zu erleben?“, „Wie ist es, die Worte zu erleben?“ Bleibt ganz direkt dabei, ganz direkt im Erleben. Manchmal – und das ist ein bisschen irreführend – wird dieses Erleben Kontakt genannt, im Kontakt bleiben. Aber Kontakt ist auch nur eine Vorstellung, und in dieser Vorstellung von Kontakt schwingt mit, dass etwas mit etwas anderem in Kontakt ist. Im Erleben gibt es keinen Kontakt. Forscht einmal nach. Kontakt ist, als ob sich zwei Dinge berühren würden. Aber wo ist denn derjenige, der in Kontakt ist? Wo gibt es im Sehen Kontakt? Wo gibt es im Hören Kontakt? Das wirkliche Im-Kontakt-Sein ist, im Erleben zu sein, aber im Erleben ist auch nicht jemand, der im Erleben ist, schlussendlich ist nur noch Erleben, nur noch Leben, Sein, nicht jemand. Schaut genau hin, denn soviel uns diese Worte, diese Begriffe auch helfen, können sie uns auch in die Irre führen. Geht immer in die direkte Erfahrung des Seins. Am liebsten würde ich unsere gemeinsame Woche hier gar nicht mehr Meditationskurs nennen. Es gibt keinen Meditationskurs. Das ist nur eine Vorstellung, es gibt nur das Sein. Teilnehmer: Ich habe ein Problem mit den Begriffen: erleben, erfahren, empfinden, wahrnehmen. Ich sehe

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den Unterschied nicht und ich sehe auch nicht so etwas wie ein direktes Erleben. Ja, dann schau noch einmal hin. Die Begriffe kannst du in die Mülltüte tun. Was bleibt, wenn jenseits der Begriffe erfahren wird, wahrgenommen, erlebt wird? Die Worte kannst du austauschen. Nichts! Ja, dann frage ich mich, was du hier machst. Weiß ich auch nicht! Dieses „Nichts!“ ist die erste Reaktion, weil das Begriffliche weggefallen ist. Und wenn das Begriffliche wegfällt, scheint erst einmal nichts zu sein, und dann ist da ganz viel. Ja, „nichts“ im Sinne von: das ist doch alles gefärbt und gefiltert und ich kann spielen damit… Ja, schau hin! Und dann schau hinter die Filter! Da, wo ungefiltertes Sein ist, wie ist es da? Wie soll das sein? Tja, dieses Sein, genau dieses nicht gefilterte Sein, dieses unmittelbare Sein, das ist das Sein, von dem der Buddha spricht. – Schauen wir einmal; dafür sind wir ja da. Worte – ich werde ja Worte benutzen – sind nur Brücken. Manche Brücken sind für einige nicht gangbar, sie sind keine guten Brücken. Für dich ist vielleicht das Wort „erleben“ keine bessere Brücke als „Kontakt“, das kann sein. Für manche andere ist das eine gute Brücke. Aber es sind nur Brücken, und sie führen wohin. Sie sind wie Fingerzeige, sie zeigen wohin, aber sie sind nicht die Erfahrung. Man nennt es auch das unaus sprechliche Sein – aber das ist nur ein Wort – das mittelpunktslose Sein, das Zeitlose – Worte. Aber die Worte sind Fingerzeige. Es ist erstaunlich, dass es doch hilft, wenn wir ein bisschen mit diesen Fingerzeigen spielen. Es ist doch enorm, dass die Sprache doch sehr hilfreich ist, um auch das nicht Benennbare erahnen zu lassen. Ich möchte uns allen nahelegen, dass wir im Spüren so unmittelbar wie möglich sind, dass wir dran bleiben. Natürlich tauchen Begriffe auf, und dann die Frage: Wie ist es, in Begriffen zu denken? Wie ist es zu benen nen, wie ist es zu fixieren? Das Erleben hört dann nicht auf, das ist ja auch Erleben; Sprache ist wunderbar. Aber wie ist es zu versprachlichen, was für Unterschied macht das? Die meisten von uns üben ihren Beruf mit Sprache aus, und alle leben wir unsere Beziehungen sprechend. Ich erinnere euch an diese wunderbare Unterweisung über die drei Aspekte der Wirklichkeit, die der dritte Karmapa zusammengefasst hat. Einige von euch werden sich erinnern können:

Die drei Aspekte der Wirklichkeit   

imaginäre Wirklichkeit bedingte Wirklichkeit letztendliche, nicht fassbare Wirklichkeit

Jetzt, unser jetziges Sein hier im Raum, wir alle zusammen – da sind eine Menge Vorstellungen mit im Spiel. Da sind die Gedanken über die Situation; Erwartungen, Hoffnungen; vielleicht Ideen, die ihr über mich habt, die ich über euch habe, die wir übereinander haben, die wir über diesen Raum haben, … viele Vorstellungen. Das nennt man imaginäres Erleben der Wirklichkeit; es ist sehr kraftvoll und hat unglaubliche Auswirkungen. Wenn wir die Brille des Imaginären ablegen, verschwindet die Wirklichkeit nicht. Da findet trotzdem fühlen, sehen, riechen, schmecken statt; das alles ist da. Das nennen wir den bedingten Aspekt des Seins, durch unterschiedliche Kräfte in Wechselwirkung entstanden. – Licht, Luft, Boden, sein mit anderen, Berührung, alles, dieses ganze Zusammenspiel; Klänge, Sprache, was wir gelernt haben, dass wir alle Deutsch sprechen, dass wir uns verstehen können. – Bedingungen, und das wirkt. Wir sind in diesem Wechselspiel der Bedingungen; unleugbar.

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Auch wenn wir weiter keine Vorstellungen darüber entwickeln, so sind wir doch in diesem Feld der Bedingungen. Und da werden ganz von selbst Vorstellungen auftauchen. Das Imaginäre hilft uns auch, dieses Erle ben zu strukturieren. Wir haben eine Vorstellung von Zeit. Wir haben eine strukturierende Vorstellung, dass es in einer Viertelstunde zur Gehmeditation gehen wird, dass wir dann Abendessen kriegen, dass wir irgendwann ins Bett gehen werden – Vorstellungen. Das ist nicht das direkte Erleben, aber es ist Teil des Seins. Die Vorstellung von „ich, Tilmann, der ich jetzt unterrichte“, ist eine Vorstellung. Im Erleben sieht es noch einmal anders aus – wie es sich in diesem bedingten Sein mit euch jetzt hier im Raum ganz konkret anfühlt. Und dann gibt es in diesem doppelten Erleben – imaginär und bedingt – diese nicht fassbare Qualität. Wo man sagen könnte: „Ja, das alles ist leer, es ist nicht fassbar. Da ist letzten Endes niemand, der unterrichtet, und niemand, der zuhört.“ Das ist genauso wahr wie das Bedingte. Und im Bedingten, in jedem einzelnen Element von dem, was wir bedingt erleben – ob wir bedingt Hunger erleben oder bedingt Sättigung erleben, ob wir bedingt Schlaf erleben, ob wir bedingt Frische erleben –, in all dem ist dieses Nicht-Fassbare, was wir shunyata nennen, dieses Nicht-Greifbare; da ist kein Wesenskern und es wird doch erlebt. Vielleicht wird es gerade deswegen erlebt, weil es nichts Festes ist. Und die Vorstellungen sind bedingte Vorstellungen, sie sind auch bedingt und auch nicht fassbar; sie sind gar keine Ausnahme. Das ist nicht etwas, das wir nicht haben dürfen. – „Weg damit, weil das stört. Ich will nur das unmittelbare Erleben ohne Vorstellung.“ Das ist ein Irrtum. Es ist ein Irrtum, etwas abstreifen zu wollen, gegen das man gar nicht anzugehen braucht. Es ist auch bedingt, es ist auch nicht fassbar, es ist auch leer. Die Vorstellungen haben auch nicht mehr Kraft als wir ihnen geben. Mal sind sie sinnvoll. Ich benutze jetzt Sprache, ich benutze sie bewusst, ich habe das Gefühl, es ist sinnvoll darüber zu sprechen, weil dadurch etwas vielleicht verständlicher wird. Gleichzeitig könnte man auch versuchen, es mit anderen Worten zu sagen. Wir sollten also nicht an den Begriffen festhalten, andere Begriffe könnten hilfreicher sein. Dieses Nicht-Festhalten an den Vorstellungen ist sehr, sehr wichtig. Nicht, dass wir keine Vorstellungen haben sollten, Vorstellungen sind auch Teil des Erlebens, sie sind Teil des Seins, damit gibt es kein Problem. Die Vorstellung „ich, Tilmann“ ist kein Problem. Nur, wenn ich daran festhalte und daraus etwas Fixes mache – etwas, das sich nicht verändern soll, etwas Besonders sein soll und so –, dann kriege ich Schwierigkeiten mit meiner wandelbaren Natur. Diese drei Aspekte des Seins, die sich ständig durchdringen, sind ein wunderbarer Schlüssel, um immer wieder in tiefe Einsichtsmeditation einzutreten. Was auch immer mir gerade durch den Kopf geht, wird ange schaut: Was ist denn das eigentliche Erleben, das bedingte Erleben hinter der Vorstellung? Was ist das, was tatsächlich gerade da ist? Manches von dem Imaginären fällt dann auch weg – so manches Problem, an das wir jetzt gut denken können, weil wir es tatsächlich real irgendwo im Leben haben, fällt weg. Aber wenn wir versuchen, es jetzt zu finden, das ist dann Einbildung. Wir haben uns ein Bild gemacht, das haben wir mitgenommen, daran denken wir. Und solange wir daran denken, haben wir das Problem. Eigentlich ist es jetzt gerade nicht da, es wird uns aber wieder einholen, wenn wir woanders sind. Wenn wir an den Ort unseres Problems zurückkehren, kann es sein, dass es uns einholt – muss aber nicht sein. So können wir das üben: Wir untersuchen immer wieder einmal die Vorstellung, das Gedachte, das Benannte daraufhin, was es denn im Erleben – so unmittelbar wie möglich –, in dieser bedingten Ebene tatsächlich ist, wie es sich anfühlt. Und in dem, wie es sich anfühlt, erfahren, erspüren, erahnen wir auch diese Qualität des Nicht-Fassbaren. Das hat Auswirkungen – ihr werdet es merken –, und darin ist eigentlich schon die gesamte Praxis zusam mengefasst. Es geht im Grunde darum, nicht zu vergegenständlichen. Der Rest geschieht dann eigentlich von selbst. Es zeigen sich neue Bewusstseinsräume, Erfahrungen, andere Arten des Seins, des Erlebens. Die zeigen sich sukzessive, einfach weil weniger Greifen da ist – man nennt sie Meditations-Erfahrungen. Aber es ist alles nur das, dieses nachlassende Greifen führt zu diesen Erfahrungen. Dann kommt anderes zum Vorschein, dann fließen die Energien im Körper anders, der Geist erlebt anders. Lasst uns das miteinander in den nächsten Tagen in allen Situationen praktizieren.

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Lama Tilmann, Remetschwiel, August 2014

Fragen Teilnehmer: Kannst du diesen Begriff „Vergegenständlichen“ oder „Nicht-Vergegenständlichen“ noch ein bisschen beschreiben oder ein Beispiel geben? Vergegenständlichen ist ein Begriff dafür, wenn wir aus etwas, das eigentlich Prozess ist, ein Ding machen. Wenn ich z.B. sage „du bist“ – „du … bist“ – oder feiner: „meine Liebe zu dir“, wird aus dem Lieben, was eine sich ständig wandelnde Erfahrung ist, „meine Liebe“ und „diese Liebe“. – „Du glaubst nicht an sie“ oder „hier ist mein Geschenk“, und es wird vergegenständlicht. Das ist eine Vorstellung, die aus etwas, das Prozess ist, ein Ding macht. Viel von unseren Anspannungen hat mit diesem Vergegenständlichen zu tun. Es reicht ja schon, traurig zu sein, aber wenn es dann noch „meine Trauer“ und „meine Depression“ ist, und ich es immer stärker verge genständliche, dann entsteht eine Dynamik, wo das Benennen und Vergegenständlichen dazu führt, dass ein Glaube entsteht, dass es so ist und so bleibt. Und das verhindert, dass die Dinge in ihrer natürlichen Bewe gung bleiben können. Es führt dazu, dass immer wieder Kräfte wirken, die dasselbe zu erzeugen versuchen. Das ist schade, es bringt viel Leid mit sich. Die am weitesten verbreitete Vergegenständlichung, über die der Buddha viel gesprochen hat, ist die Vorstellung eines Ich, Atman; ein Ich, ein Selbst, abgegrenzt, individuell, das bleibt. Diese Vorstellung ist irrig. Teilnehmer: Ist der Geist nicht auch eine Vergegenständlichung? Ja, das Wort „Geist“ ist auch eine Vergegenständlichung. Es wird oft so gesprochen, als wäre das ein Ding. Ja, ja, da hast du recht. Im Prinzip ist es ja eine Funktion. Ja, so kann man es sagen. Es ist eigentlich Funktion, ein Prozess des Wahrnehmens, des Erlebens. Man kann ihn eigentlich nur an seinen Auswirkungen sehen, aber der Geist selbst? Teilnehmer: Du hast gerade gesagt, dass das Wort Kontakt ungünstig ist, weil man da immer zwei Dinge vor Augen hat, die dann zusammen kommen. Das ist ja die Übersetzung des Wortes „phassa“. Ist „Erleben“ tat sächlich eine bessere Übersetzung dafür? Vielleicht. Als ich das Wort Kontakt ein bisschen kritisiert habe, habe ich mich auf eine alte AbidhamaUnterweisung bezogen über den Kontakt zwischen Sinnesbewusstsein, Sinnesorgan und Sinnesobjekt. Kontakt ist das Zusammenkommen dieser drei. Aber eigentlich ist ein Sinnesorgan gar kein Sinnesorgan, wenn keine Sinneswahrnehmung stattfindet. Ein Sinnesorgan ist auch kein Sinnesorgan, wenn kein Sinnesbewusstsein da ist. Das eine setzt das andere voraus, die drei sind immer nur gleichzeitig da. Im Mahamudra geht es um diese Gleichzeitigkeit. – Eigentlich geht es in jeder Praxis darum, die Nicht-Trennbarkeit der intellektuell auseinander zu dividierenden Aspekte zu erleben; zu zeigen, dass sie eigentlich nicht trennbar sind. Ein Auge ist nur dann ein Auge, wenn es sieht, also zusammen mit dem Augenbewusstsein. Das Auge selbst ist nur ein Ding; man kann drauf drücken, aber es ist an sich kein Auge, das sieht. Der Intellekt nimmt die Dinge auseinander und beschreibt, dass die Erfahrung des Sehens nur dann entsteht, wenn die Augen mit dem Sinnesbewusstsein aktiviert sind und es noch etwas zu sehen gibt. Eigentlich soll das mit dem Wort Kontakt beschrieben werden. Aber diese Art des Denkens verselbständigt sich und Kontakt wird wie etwas, über das wir unser Erleben definieren, aber eigentlich braucht es das nicht. Da ist noch eine Trennung spürbar in dem Wort, etwas, das zusammenkommt. Teilnehmer: Was ist das für eine Energie, die hinter der Vergegenständlichung steckt? Warum vergegenständlichen wir? Kann es sein, dass es Angst ist? Ja, ich glaube auch. Wir wollen da etwas Festes haben. Ja genau, du hast es jetzt gerade als Bedürfnis ausgedrückt. Wir wollen etwas Festes haben. Wir wollen

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Lama Tilmann, Remetschwiel, August 2014

Sicherheit. Wir haben das Bedürfnis nach Orientierung, das Bedürfnis nach Verlässlichkeit, Stabilität, und es ist schon auch wichtig, diesem Bedürfnis Rechnung zu tragen. Es sind immer Ängste und Bedürfnisse im Hintergrund. Es ist die Angst, uns zu verlieren, die Angst vor dem Nichts und Niemand und das Bedürfnis nach Struktur, nach Klarheit, nach etwas Verlässlichem. Das heißt, die Voraussetzung, dass wir nicht vergegenständlichen, ist, auch keine Angst zu haben; nicht mehr so etwas wie Liebe festhalten zu müssen. Das wird Vertrauen genannt. Vertrauen ist das, was uns ermöglicht, weniger zu vergegenständlichen, weil wir Vertrauen haben, dass das Sein selbst, das So-Sein – das ist auch wieder nur ein Wort – trägt, dass es verlässlich ist. Und wir entdecken im Sein eine ganz verlässliche Qualität, etwas ganz Verlässliches. Es geht darum, diese verlässliche Qualität des Seins zu entdecken; das, was immer ist. Dieses Vertrauen kann man doch eigentlich nur durch die Erfahrung machen, dass es dieses Sein gibt… und mit dem in Kontakt zu gehen. Ja, und wir gehen schrittchenweise vor, bringen ein bisschen Mut auf, z.B. in das zu vertrauen, was der Lehrer, die Lehrerin sagt, und tasten uns heran an das Vertrauen, dass nichts Schlimmes passiert. Aufgrund unserer wachsenden Vertrautheit mit dem, dass nichts Schlimmes passiert, lassen wir weiter ein bisschen los und gewöhnen uns an dieses weniger vergegenständlichende, weniger fixierende Sein. So weitet sich allmählich unsere Möglichkeit und das Vertrauen wächst aufgrund der Erfahrung, die durch unser Vertrauen in die Lehre stimuliert wird, oder weil wir die Lehrer so erleben, dass sie uns Vertrauen einflössen, das auszupro bieren, was wir vorher nicht ausprobiert haben. Teilnehmer: Der Hintergrund, weshalb ich das gesagt habe, war der Besuch meiner Tochter. Mir ist aufgefallen, wie stark sie vergegenständlicht. Sie definiert alles – das ist so und das ist so – und arbeitet mit Dingen und Begriffen und ich weiß nicht was. Sie hat ganz stark das Bedürfnis, Sachen festzumachen oder zu benennen – ich bin so und ich bin so und ich mach das immer so, ja und ich hab die Unvollkommenheit, aber das kann ich ganz gut –, ist also dauernd am Definieren von sich. Das hat mir im Grunde wehgetan, weil ich mich hilflos gefühlt hab. Zu sagen „das nützt nichts, das ist nicht gut“ nützt nicht viel, oder? Ja, das nützt nicht viel. Du hast jetzt eigentlich dein ganzes Leben lang viel mit dir selbst in diese Richtung gearbeitet und siehst jetzt, dass deine Tochter gerade all das macht und es sich bei ihr vollzieht und ihr eine gewisse Sicherheit gibt. Aber du siehst sie quasi wie auf die Mauer zurennen; du siehst, was das für Leid mit sich bringen wird, denn sie wird mit ihrem Vergegenständlichen natürlich in Widerspruch zum Sein geraten, das ist vorprogrammiert, klar. Und da kann man als Vater so gar nichts machen. Teilnehmer: Als Vater oder Mutter denke ich – das habe ich auch erlebt – kann man einfach nur an dem eigenen Sosein bleiben, und das kann sich, wenn da eine Offenheit ist, übertragen. Das ist die einzige Möglichkeit. Ja, genau. Ohne Worte, dass das ausstrahlt und dann ergriffen wird oder erlebt wird, ohne dass man es sagen muss. Denn alles, was gesagt wird, wird auch abgelehnt, weil es ja auch eine Gängelung bedeutet, ja? Ja. Teilnehmer: Deswegen sitze ich ja hier! Und mein Wunsch war, mein Anhaften war, dass es so viel bringt, dass es eben wirkt, dass sie solche Sachen nicht mehr macht. Ja, ja, wir wünschen uns wirklich, dass es ein bisschen schneller rüber kommt. Teilnehmer: Ich wollte zum Vertrauen noch etwas ergänzen. Es schwang eigentlich schon mit; für mich sind Vertrauen und Weisheit ein Paar, auch von den fünf Kräften her. Es ist jetzt in eurem Gespräch so deutlich geworden, dass dieses Vertrauen durch die Lehrer und durch die Praxis eine weitere Einsicht jenseits von diesen Ich-Vorstellungen ermöglicht, und das beflügelt wieder das Vertrauen, und so hält sich das gegenseitig am Weiterfließen – Vertrauen und Weisheit. Ja, ja, ja, eindeutig. Danke.

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Das geht so weit, dass die Einsicht, die entsteht, zu einer Gewissheit führt und es gar kein Vertrauen mehr braucht. Aber zunächst nährt sie das Vertrauen und schließlich wird Vertrauen zu einem Wissen, zu einer Gewissheit. Und dann ist das, was wir Vertrauen genannt haben – Vertrauen hat ja manchmal einen Ge schmack von Risikobereitschaft – ganz weg, weil man weiß; es ist klar. Morgenmeditation Kontemplation der vier grundlegenden Gedanken Zu Beginn einer jeden Meditation nehmen wir uns Zeit, die Motivation zu klären. Ihr kennt bereits zum größten Teil die traditionellen Schritte: Der erste Schritt ist, mich daran zu erinnern, wofür ich heute, an diesem Morgen, alles dankbar sein kann. Es fängt bei den ganz einfachen Dingen an. Schaut doch, was euch alles einfällt, wofür ihr heute dankbar sein könnt. Es kann so einfach sein wie: „Ich bin dankbar, überhaupt die Augen aufbekommen zu haben,“ oder „... immer noch zu leben, zu atmen.“ – Lasst uns jetzt in der Stille einmal schauen, wofür wir alles dankbar sein können, wofür wir Dankbarkeit empfinden. – Natürlich gehört dazu auch, dass wir die Bedingungen finden, um praktizieren zu können, unser Leben be wusst anzugehen, dabei Unterstützung zu haben; dass wir den Dharma studieren und erklärt bekommen mit allem, was dazu gehört. Wir können tief dankbar sein, wenn all diese Bedingungen zusammenkommen. Wir nennen das die Kontemplation der kostbaren menschlichen Existenz. – Dieses kostbare Menschenleben geht schnell vorbei, sehr schnell, und es ist völlig ungewiss, wie lange wir leben werden. Ich weiss nicht, ob ich nächstes Jahr noch in diesem Körper lebe. Und wenn ich sterbe, worauf kommt es denn dann an? Wie möchte ich mein Leben gelebt haben? Was wird mich über denTod dieses Körpers hinaus weiter begleiten? Welche Qualitäten möchte ich in diesem Leben, das so kostbar und doch so vergänglich ist, leben? Worauf kommt es mir wirklich an? Woraus möchte ich mich befreien und was möchte ich entstehen lassen, was möchte ich hervorbringen? – Ein freies, liebevolles Herz? Einen offenen Geist? Wie genau stelle ich mir das vor? Aus dieser Kontemplation heraus lasse ich ein Bild oder eine Vorstellung der Zuflucht entstehen. Das bedeutet, dass ich mir ein Bild von den Qualitäten mache, auf die ich mich ausrichte. Traditionell wird dabei der Buddha visualisiert. Aber es kann auch jede andere Form, die uns inspiriert, in diesem Moment im Geist auftauchen. Wenn es der Buddha ist – eine weibliche oder männliche Buddhagestalt – dann stelle ich mir auch vor, in welcher Umgebung sich diese erwachte Person oder Lichtgestalt befindet. Ich lasse diesen inneren Eindruck so stark werden, dass ich das Gefühl bekomme: „Ja, so möchte ich werden.“ – Es kann sein, dass wir diese erwachte Gestalt handeln oder sprechen sehen oder dass sie ganz still verweilt. Dies ist Ausdruck der Qualitäten, die uns jetzt gerade ganz besonders inspirieren. – Mit dieser Vorstellung nehmen wir Zuflucht zu den erwachten Qualitäten: zum Buddha, zum Dharma – der Wirklichkeit selbst, dem Erkennen der Natur der Dinge – und zur Sangha, zu all den Unterstützern auf dem Weg. Rezitation: Zuflucht und Vier Grenzenlose Kontemplationen Wir lassen diese Vorstellung sich ganz in Licht auflösen, wie einen Regenbogen. Dieses Licht verschmilzt in uns und wir lassen den Buddha in uns meditieren. – Wir können den Atem, die Atemempfindungen als Anker für unsere Bewusstheit nehmen. Wir spüren den Körper, die Körperempfindungen, dieses Sein heute Morgen, ganz so, wie ein Buddha es spüren würde – ganz wach und lebhaft, ohne Identifikation; ein Wahrnehmen von dem, was ist. Wie ist es? – Wir spüren, hören, sehen, riechen, schmecken und sind gewahr … und dies alles, ohne zu fixieren. – Erinnert euch immer wieder daran, so aufrecht, frisch und frei wahrzunehmen, als würde wirklich der Buddha in euch meditieren. – Jetzt grade ist alles Vergangene ohne Bedeutung –, ob es der Gedanke von grade eben ist oder die weit zurückliegende Vergangenheit. Wir brauchen jetzt nicht darüber nachzudenken. –

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Auch die Zukunft ist im Moment irrelevant. Wir brauchen nicht über den nächsten Atemzug nachzudenken, brauchen nicht den nächsten Gedanken einzuladen oder uns Gedanken darüber zu machen, was morgen, übermorgen oder in ferner Zukunft sein wird. – Das gegenwärtige Erleben brauchen wir nicht zu beschreiben, es wird ja schon erlebt. Wir können es einfach erleben und zulassen, immer wieder zulassen. – Alles darf sein. Es geht jetzt nur darum, es wahrzunehmen – wahrzunehmen, was gerade ist, und dabei auch tiefer zu gehen und herauszufinden, wie die Gefühle, das Erleben, die Stimmungen genau sind. Wie entsteht etwas und wie löst es sich wieder auf? – Besonders spannend und von besonderem Interesse sind immer die Bereiche, die ich ausgrenze, die ich eigentlich nicht erleben möchte. Diese Anspannung des Nicht-Erleben-Wollens, des Vermeidendes, verdient unsere ganz besondere Aufmerksamkeit, unser liebevolles Hineinspüren und das Zulassen von all dem, was darin spürbar wird. Es ist gar nicht so wichtig, ob ich z.B. Müdigkeit erlebe oder eine traurige Stimmung. Viel interessanter ist es zu schauen, warum ich es nicht erleben möchte. Wie geht es mir damit? Genau in diese Bereiche des angespannten Erlebens lassen wir unsere liebevolle Aufmerksamkeit fließen. – Und ohne die Praxis zu unterbrechen, machen wir jetzt eine kleine, achtsame Pause, um den Körper etwas zu entlasten. GONG Wenn wir als Erwachte praktizieren und da sind, dann bedeutet das, dass in uns keine Strategien mehr aktiv sind: keine Strategien des Vermeidens oder des Vermeiden-Wollens und keine Strategien des Erlangen- und des Erzeugen-Wollens – also kein Vermeiden von Unangenehmem und kein Erlangen-Wollen von Angenehmem. – In unserer Gewahrseinspraxis werden wir dieser Strategien gewahr. Wir nehmen sie an und wir schauen hin, was sie eigentlich bewirken, ob sie Erfolg haben, was ihre Nebenwirkungen sind. Wenn ich den Geist absolut ruhig haben möchte, keine Gedanken haben möchte: Hilft das? Wie findet dieser Geistesstrom den wirklichen Frieden mit sich selbst? – *** Die Praxis geht weiter. Wenn wir den Meditationsraum verlassen, dann ist das keine Pause für unsere Gewahrseinspraxis, es ist eine Pause für den Körper. Wir verlassen den Raum, weil wir essen müssen und weil es etwas Mithilfe im Haushalt braucht, damit hier alles gut läuft. Aber die Praxis geht weiter. Lasst uns also jede einzelne Handlung dafür nutzen, ganz bewusst zu erleben, ganz bewusst mitzubekommen, was gerade ist. Die Strategien, von denen ich gesprochen habe, nennt man Anhaften und Ablehnen, also das Ha ben-Wollen von Angenehmem und das Nicht-haben-Wollen, das Ablehnen, von Unangenehmem. Diese Strategien gehen ständig weiter. Es ist ganz spannend zu schauen, wie die anspringen, wenn wir zum Beispiel in der Reihe stehen, um uns etwas Tee einzuschenken. Und das geht ständig weiter. Lasst uns immer im Gewahrsein bleiben und lasst uns wirklich dieses frische, wache, offene Sein zulassen. Wir können jetzt als Erwachte frühstücken gehen. Wir können in dieser offenen, fließenden Haltung des Erwachens putzen. Jetzt geht es eigentlich erst so richtig zur Sache, denn was wir bis jetzt gemacht haben, war eigentlich nur die Vorbereitung dazu. Jetzt geht die Praxis so richtig in die Vollen, denn abgesehen vom Sprechen ist ja alles da, was sonst auch da ist. Und das Sprechen ist nun einmal eine unserer ganz großen Vermeidungsstrategien. Da ist der Impuls zum Sprechen und wir gehen in den Kontakt. Wir halten diese Strategie zurück, damit wir besser mitbekommen, was in uns drin alles los ist, was in uns passiert, wenn wir still mit anderen am Tisch sitzen; wenn wir still mit anderen zusammenarbeiten. So kriegen wir viel mehr mit, was innerlich los ist. Und das nehmen wir liebevoll wahr. Das geschieht nicht mit dem erhobenen Zeigefinger: „Du – und schon wieder – du willst dich vordrängeln usw.! ...“Wir machen es uns mit all den Bewertungen nicht schwer, sondern nehmen unsere Strategien mit einem Schmunzeln wahr. Es reicht, wenn wir über unsere kleinen Strategien, die Gedanken, Projektionen, Vorstellungen schmunzeln können. Wir brauchen nichts zu machen, wir brauchen nicht anders zu sein. Es reicht, das wahrzunehmen, was abläuft. Der Rest passiert dann auf eine ganz wunderbare Art und Weise von selbst. Wo das Gewahrsein hingeht, da tut sich so viel, und es tut sich von selbst. Da brauchen wir nichts zu machen. Es reicht, bewusst zu werden.

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Ozean des Wahren Sinnes Herzensqualitäten Der 9. Karmapa Wangtschuk Dorje schreibt im Mahamudra-Manual „Ozean des Wahren Sinnes“ (S 227): Der Unterschied zwischen Buddhas und gewöhnlichen Lebewesen ist nicht etwa, dass die einen gut und die anderen schlecht wären, sondern lediglich, dass die Ersteren den Geist verstanden haben und die Letzteren nicht. Darum geht es uns in diesem Retreat. Vielleicht geht es euch aber in eurem Leben darum, den Geist so zu verstehen, dass es zu einem wirklich freien, wachen Sein kommt; aus diesem Gut-sein-Wollen herauszu kommen. Es ist zwar sehr schön, dass wir uns alle bemühen, gut zu sein. Das macht das Zusammenleben leichter. Aber es ist noch nicht die Befreiung, es ist noch gefangen in diesem Wollen und Nichtwollen. Dann fährt Karmapa in Lektion 63 fort: Den letztendlichen Sinn, die Natur des Geistes wirst du verstehen: durch die Kraft der Meditation, indem du das individuelle, selbstgewahre ursprüngliche Bewusstsein – das zeitlose Gewahrsein – zum Mittelpunkt deiner Praxis machst; ... Im Tibetischen steht für 'individuell' so sor rang rigpai yeshe – das individuelle, selbstgewahre zeitlose Gewahrsein. So so bedeutet eigentlich 'im Einzelnen'. Es entspricht nicht unserem Gebrauch des Wortes 'individuell', also auf das Individuum, auf die Person bezogen, sondern es bedeutet im Einzelnen, in jedem einzelnen Detail. Und Karmapa empfiehlt uns hier, dieses im Einzelnen, in jedem Detail gewahre zeitlose Gewahrsein zum Mittelpunkt der Praxis zu machen. Das ist somit auch der Mittelpunkt unserer Praxis hier und für alle Retreats, die hier stattfinden. Es ist der Mittelpunkt meines Lebens. Darin ist auch die Definition von Meditation enthalten. Deswegen hört die Meditation auch nicht auf, wenn wir vom Sitz aufstehen; dieses zeitlose Gewahrsein, das im Einzelnen, im Detail ganz fein gewahr ist, geht ja weiter. Es braucht es um so mehr, je mehr wir in die Aktivität eintreten. Je mehr wir in die Aktivität eintreten, desto mehr brauchen wir dieses frei fließende, im Detail gewahre Bewusstsein ohne Identifikation, das zugleich weit wie der Himmel ist. … durch die Kraft der Übung, indem du die Kernunterweisungen – die zum Beispiel in diesem Buch zu finden sind – mit dem Segen wirklicher Lehrer praktizierst; ... Ein authentischer Lehrer ist ein verwirklichter Lehrer, von dem Segen kommt, wenn die Natur des Geistes erklärt wird, sodass wir in diesen Segen, in dieses gelöste Sein, in diese Inspiration eintreten können und uns üben. Das wichtigste Wort hier ist üben. Wir sollten uns immer wieder üben, in diesen Segen einzutreten, in das Verständnis dieser Schlüssel- oder Kernunterweisungen. .... durch die Kraft des Altruismus, ... Das ist eine problematische Übersetzung. Im Tibetischen steht lhagsam, das bedeutet außergewöhnliche Motivation. Sam (sampa) steht hier für Bodhicitta und lhagpai sampa ist die außergewöhnlich edle Einstellung des Bodhicitta. Da ist Altruismus natürlich ein wesentlicher Teil, aber Bodhicitta lässt sich nicht auf Altruismus reduzieren. Altruismus ist immer noch ein Gut-sein-Wollen. Es ist eine Gegenbewegung zum Egoismus und definiert sich im Grunde genommen im Unterschied zum Egoismus. Bodhicitta definiert sich aber nicht aus einer Gegenbewegung heraus, sondern ist eine Geistes haltung, die alles mit einbezieht; sich selbst genauso wie jeden anderen, dem wir begegnen, alle Elemente unseres Seins, und ist die natürliche Einheit von Mitgefühl und Weisheit – die natürliche Einheit. Es ist also kein mitfühlender Altruismus, den man eventuell noch unterscheiden könnte gegen eine Weisheit oder ein Verstehen, sondern es ist diese Einheit. Es ist dieses Mitgefühl, das aus dem Verstehen erwächst, es ist das Verstehen, das aus dem Mitgefühl erwächst; sie sind untrennbar. Und diese Einheit des mitfühlenden, verstehenden Seins, wo alles eingeschlossen ist, ist eine Haltung, wo keine Grenzen gesetzt werden: in der Zeit – z.B. nur für dieses Leben –; zwischen Ich und Du; zwischen mir und anderen; zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, zwischen rein und unrein. All diese Grenzen sind aufgelöst in diesem verstehend mitfühlenden Sein, das ich auch oft das liebevolle Gewahrsein nenne.

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Lama Tilmann, Remetschwiel, August 2014

Das ist Bodhicitta und das ist hier mit diesem Ausdruck lhagpai sampa eigentlich gemeint. In der Beschreibung von Bodhicitta ist lhagpai sampa eine Entwicklung im Verständnis oder im Erleben des Bodhicitta, das über das nur Wollen schon längst hinausgeht. Da kommt bereits das Verstehen hinein. Was braucht es noch? Es braucht diese Haltung des liebevollen Gewahrseins. Diese Haltung ist Teil des Retreats, wir werden es üben – uns selbst gegenüber an allererster Stelle. Wenn wir uns selbst gegenüber dieses liebevolle, annehmende Gewahrsein haben, dann werden wir es auch anderen gegenüber haben. Das ist die natürliche Folge davon. ... ausgestattet mit Ausdauer und vertrauensvoller Hingabe. Ausdauer ist das vierte Paramita, das wir auch freudige Ausdauer oder Energie nennen; mit freudiger Energie dranbleiben; immer wieder die freudige Ausdauer wach rufen, weil wir merken, wie gut es tut und wie tief heilsam es ist, so gewahr zu sein, den Geist zu öffnen, das Herz zu öffnen. Das gibt uns die Ausdauer. Die Ausdauer kommt aus der Freude am Heilsamen, dem Erleben, und nicht aus der Überzeugung oder dem Wollen. Wir haben keine Mühe, in etwas ausdauernd zu sein, wenn wir mit dem wirklich wohltuenden Aspekt von etwas verbunden sind. Wir müssen ja in vielen Dingen ausdauernd sein. Wie ausdauernd müssen Eltern sein, um ihre Kinder großzuziehen. Aber weil sie sie lieben, brauchen sie normalerweise gar nicht über die Ausdauer nachzudenken. Die kommt aus der Liebe, die kommt aus dem Gefühl des Heilsamen. Oder wie ausdauernd muss man sein, um einen Garten zu bestellen und ihn ein Jahr über zu pflegen. Aber weil wir mit dem Heilsamen, das daraus entsteht, mit dem Wunderbaren, das dabei zu erleben ist, in Verbindung sind, fällt uns das nicht schwer. Nicht nur die Ernte und der Genuss der Früchte, sondern der ganze Prozess von A bis Z ist einfach heilsam. Und so ist es auch mit der Meditation oder besser gesagt mit der Gewahrseinspraxis. Die Ausdauer in der Gewahrseinspraxis kommt daher, weil wir merken, wie gut sie tut. Das hilft uns, die momentan auftauchenden Schwierigkeiten immer wieder zu durchwandern, uns ihnen immer wieder zu stellen, sie anzunehmen und mit der Gewahrseinspraxis weiter zu machen. Für vertrauensvolle Hingabe steht im Tibetischen mögü: Vertrauen und Hingabe, Respekt und Hingabe. Die erste Silbe – möpa – übersetzen wir als 'inspiriertes Streben', es ist eine tiefe Öffnung. Dabei geht es um das, was wir heute Morgen in der Meditation gemacht haben, da hat uns das Beispiel der Erwachten inspiriert. Wenn wir uns den Buddha – männlich oder weiblich –vorstellen, das inspiriert uns unglaublich. Es entsteht eine Sehnsucht, ein Streben und eine Bereitschaft in uns. Die Bereitschaft führt zu einer inneren Öffnung und wir betreten einen Bereich, wo wir auch sagen könnten: „Das ist uns heilig.“ – in einem ganz schönen Sinn. Wir begegnen dem Heiligen in uns und den anderen und sind inspiriert davon. Das ist ganz kostbar. Das, was wir so wertschätzend erleben, löst in uns eine Öffnung aus, die wir in unserer deutschen Sprache als 'Hingabe' übersetzen. Es gibt dieses Wort Hingabe im Tibetischen oder im Sanskrit nicht so. Es ist nicht so, dass jemand sich gibt, sondern es ist diese inspirierte Öffnung, die von Dankbarkeit, Respekt und Inspiration getragen ist. Das ist hier mit 'vertrauensvolle Hingabe' gemeint. Das ist schon sehr gut übersetzt. Es hat etwas mit Vertrauen zu tun, sich dem Strom des Seins, der Inspiration und den Unterweisungen anvertrauen zu können. Das war Karmapas Beschreibung, wie wir ins Erwachen finden.     

durch die Kraft der Meditation – Übung – immer wieder in das selbstgewahre, zeitlose Gewahrsein eintreten durch das Praktizieren der Kernunterweisungen mit dem Segen durch lhag-sam – umfassendes Bodhicitta durch freudige Ausdauer durch inspirierte Öffnung, die wir auch vertrauensvolle Hingabe nennen können.

Das sind die Herzensqualitäten, um die es geht, um ins Erwachen zu finden. Obwohl das sehr typische Formulierungen der Mahamudra-Tradition sind, ist es nach meiner Kenntnis in anderen Traditionen genau so. Dort wirken dieselben Kräfte. Sie werden nicht unbedingt so benannt, aber es geht genau um das. Dagegen kannst du diesen Sinn nicht verstehen, indem du ein guter Lehrer und Intellektueller wirst und lediglich die Dharmalehre hörst und darüber nachdenkst, sie analysierst und mit großer Klugheit

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talentvoll erklärst. – Das sagt er jetzt wohl für mich. So geht es also nicht. Alles Lernen und Lehren hilft nicht die Bohne, wie wir so sagen. Es braucht die Herzensqualitäten. Wie wir dieses Gewahrsein praktizieren können, beschreibt Karmapa auf Seite 194:

Aufklärung über Erscheinungen Da wird der Viererschritt beschrieben, um den es beim Erkennen geht. Was ist eigentlich Vipassana? Was ist intuitive Einsicht? Worum geht es genau, wenn wir von Einsicht sprechen? Was heißt, den Geist zu ver stehen? Dies sind die Aufklärungen darüber, dass Erscheinungen Geist sind, dass der Geist leer ist, dass die Leerheit spontanes Vorhandensein ist und dass spontanes Vorhandensein selbstbefreiend ist. Das wird in den folgenden vier Kapiteln beschrieben. – Diese Retreats hier sind weniger für den strukturier ten Unterricht gedacht, als dafür, dass wir die Unterweisungen, die wir bereits erhalten haben, anwenden. Ich fasse die Unterweisungen nochmals zusammen und gebe euch jeden Tag ein paar Anregungen für die Praxis. 1. Erscheinungen sind Geist. – Alles ist Geist Im ersten Schritt geht es darum zu verstehen, ob und dass tatsächlich alles Erleben – was wir Geist, Bewusstheit nennen – diese Gewahrseinsqualität hat. Ganz knapp ausgedrückt, sagt man: „Die Welt ist Geist. Alles ist Geist.“ Solche Sätze kann man in der Literatur finden. Wir landen dabei allerdings sofort in der Unterscheidung von Materie und Geist. Für uns ist die Welt materiell und der Geist ist immateriell. Da schauen wir doch genauer hin: Meine Welt, eine Welt, deine Welt …, in was für einer Welt sind wir denn? Wir sind in der Welt der sechs Sinneserfahrungen. Unsere Welt besteht ja daraus, was wir über die Körper sinne berühren und fühlen können, was wir sehen, hören, riechen und schmecken können und was wir alles fühlen, denken und wahrnehmen können. Das ist die Welt. Wenn also gesagt wird: „Die Welt ist Geist“, dann ist das die erlebte Welt und nicht die gedachte Welt. Es ist keine gedachte Materie, sondern es ist die Erfahrung der Welt. Und darin findet ja das Erwachen statt. Wir brauchen uns ja nicht aus irgendwelchen Konzepten zu befreien, sondern wir befreien uns aus einem engen, leidvollen Erleben in ein weites Sein hinein. Da geht es um die subjektiv erlebte Welt. Es geht nicht um eine objektive Welt, die vom eigenen Erleben abstrahiert wird. Deren Existenz wird auch nicht bestritten, sie ist bloß irrelevant. Es ist für unsereins ganz schwer zu verdauen, dass die sogenannte objektive Welt irrelevant ist. Sie wird ja von niemandem erlebt. Nur die erlebte Welt ist relevant. Da spielt es eine Rolle, was ich denke, was ich fühle, wie ich meine visuelle Wahrnehmung und meine Hörwahrnehmung interpretiere, wie ich mit meinen Körperempfindungen, mit Gerüchen und Geschmäckern umgehe. Das ist relevant. Es interessiert doch niemanden, wie viel Ausdehnung etwas in der objektiven Welt im Raum hat, wie die Temperatur, die Schwerkraft objektiv ist. Das sind zwar Kräfte, die auf uns wirken, aber nur insofern wir sie erleben, sind sie für uns relevant. Nicht die Tatsache, wie weit der Weg von hier bis nach Hause ist, ist relevant für uns, sondern was wir erleben und was wir alles auf uns nehmen müssen, um von hier bis nach Hause zu gelangen. Merkt ihr den Unterschied? Die Naturwissenschaften versuchen, eine objektive Welt zu beschreiben, was die Schnittmenge unserer Wahrnehmung 'da draußen' ist. Aber da draußen findet nicht die Befreiung statt. Relevant für uns ist deshalb, ob wir den Weg nach Hause oder in umgekehrter Richtung entspannt und mit offenem Geist hinter uns bringen können, oder ob wir ihn voller Anspannung, Leid und mit vielen Fixierungen durchstehen müssen. Das ist relevant, es geht um diese Welt. Wenn es heißt „Die Welt ist Geist“, dann ist die erlebte Welt, die subjektive Welt gemeint. Es geht nicht um eine vermeintliche Objektivität. Die Objektivität lässt sich nur in der Abstraktion finden. Wir müssen abstrahieren. Wir müssen alles rausnehmen, was an subjektiver Wahrnehmung drin ist und uns in den Bereich vordenken, wo die Welt nicht mehr von unserer subjektiven Brille abhängig ist. Dort gibt es Maße, Einheiten, Krafteinheiten, Ausdehnung, Zeiten usw. Aber das ist nicht das, was wir erleben. Drum geht es auf dem Weg der Befreiung; um das Erlebte und nicht um die abstrahierte, gedachte, erforschte

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äußere Welt unabhängig vom Menschen. Es geht um die menschlich erlebte Welt. Insofern kann man sagen, die buddhistische Lehre ist eine Geisteswissenschaft, eine Wissenschaft des Geistes. – Wie erleben Menschen? Was macht sie frei? Was macht sie unfrei? Wir können den Satz also umformulieren und sagen: „Alles ist Erleben.“ Wenn mir jemand sagt, dass der Lichtpunkt, der da oben über den Himmel zieht, die Raumstation Sowieso ist, die mit 40 000 km/h in 400 km Entfernung die Erde in 5 Stunden umkreist, so sind das Fakten, die mir über einen Lichtpunkt am Himmel mitgeteilt werden. Aber was macht das mit mir? Die Befreiung ist nicht in den Fakten zu suchen, die mir über etwas mitgeteilt werden – etwa die Entfernung zum Mars oder was in der kleinsten Zelle meines Organismus passiert –, sondern wie ich es erlebe. Findet da ein Fixieren statt? Öffnet das den Geist? Was passiert eigentlich? – Meine Welt ist dann nicht das Faktum, das mir beschrieben wurde, ein neues Wissensdetail, das zu meinem Erleben dazukommt, sondern wie ich dieses Wissen erlebe, was ich daraus mache; ob ich stolz darauf bin oder ob ich verzweifelt bin, da ich nie kapieren werde, wie so etwas möglich ist. Was damit entsteht, das ist das, wo dann Glück und Leid oder Freiheit und Bindung die Folge sind. Mit „Alles ist Erleben“ ist also gemeint, dass, was immer ich von dieser Welt, die mich jetzt gerade umgibt, wahrnehme, zu Erleben wird. Ich schaue euch an, ihr schaut alle anderen an; und die Welt, in der wir leben, ist genau die Welt unserer Wahrnehmung. Was jetzt in uns stattfindet, ist unsere Welt. Ob wir darin frei oder unfrei sind, hängt nicht von der Farbe dieses Raumes ab oder wie die Menschen mit uns umgehen, sondern wie wir mit dem umgehen, was wir erleben. Um diese inneren Prozesse, um das, was da stattfindet, geht es. Und wir können unglaublich unfrei sein und uns als Opfer fühlen – von Farben, von Gerüchen, von Raum wahrnehmungen und von Körperwahrnehmungen; davon, ob wir angelächelt, ausdruckslos angeschaut oder kritisiert werden; oder davon wie laut Töne oder Geräusche sind. Davon können wir unglaublich abhängig sein – wie das Wetter ist, die Tageszeit, die Nahrung; wie sich der Körper anfühlt –, oder wir können hier Freiheitsräume auftun. Das ist der nächste Schritt. Mit diesem Schritt tut sich der Freiheitsraum auf. 2. Der Geist ist leer. Der Freiheitsraum tut sich auf, wenn wir bemerken, dass die Erfahrungen aus sich heraus keine Substanz haben, dass sie keine wirkliche Existenz haben – wirklich im Sinne von zwingend. Ein Lächeln oder ein ärgerlicher Gesichtsausdruck uns gegenüber zwingt uns zu nichts. Wir sind nicht verpflichtet, irgendwie zu reagieren. Wir können die Farbe rot mögen oder nicht mögen. Wir befinden uns hier in einem Raum, in dem viel von der Farbe rot zu sehen ist. Wir brauchen nicht einzusteigen und daraus ein Problem zu machen oder es für besonders toll zu halten. Es ist nicht besonders dharmisch und es ist auch nicht undharmisch – wir brauchen nicht in Reaktionen einzusteigen. Das ist gemeint. Zwischen Wahrnehmung und Reaktion ist Platz. Und dieser Raum entsteht, wenn ich merke, dass die Wahrnehmungen in sich nicht schon die Reaktion beinhalten; dass sie sich – wenn nicht darauf reagiert wird – wieder auflösen. Wenn nicht ergriffen wird, dann erkennen wir, dass sie aus sich heraus keinen Bestand haben. Ein Klang, den wir nicht ergreifen, ist schon wieder vorbei. Ein Klang, auf den wir uns fixieren und dem wir Bedeutung geben, wirkt nach und wird uns stärker beschäftigen und vermutlich reagieren wir. Das muss aber nicht sein. Freiheit ist bereits in diesem zweiten Schritt zu finden, und deswegen schauen wir immer wieder hinein, wie die Natur des Erlebens ist. Ich erlebe vielleicht gerade jetzt im Körper einige unangenehme Empfindungen. Ihr seid es vermutlich nicht so sehr wie ich gewohnt, auf dem Boden zu sitzen. Es kann sein, dass euch das schon etwas unangenehm wird. Da ist aber immer noch die Frage, was ihr mit diesen unangenehmen Empfindungen macht. Es kann sein, dass jemand von euch mit Kopfschmerzen hier im Raum sitzt. Zwingen uns diese Empfindungen zu irgend etwas? Wo ist der Freiheitsraum? Es sind große Entdeckungen, die wir da machen können. Wir können bemerken: „Oh, da habe ich einen Entscheidungsspielraum.“ – Ich kann stärker drauf eingehen, ich kann mich damit befassen, ich kann es bewerten, ich brauche es nicht zu bewerten. All das ist nicht in der Sinneswahrnehmung enthalten. Sie ist, wie sie ist. Sie entsteht, Neues entsteht, und wieder Neues entsteht; zum Teil ähnlich, zum Teil anders. Das ist mit der Aussage gemeint: Alles ist Geist. Alles ist Erleben, alles wird durch Bewusstheit zu unserer Welt. Das ist es, was unsere Welt erschafft. Aber in dieser Welt entdecken wir, dass dieses Erleben leer ist, nicht fassbar ist, keine Substanz hat. Das ist unglaublich wichtig, denn wir denken ja: „Wenn ich Begierde habe, wenn ich ärgerlich bin – anders

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ausgedrückt: wenn da Ärger ist, wenn da Begierde ist –, dann muss ich etwas tun.“ Das ist doch so, oder? Wir haben doch dieses verpflichtende Gefühl, etwas tun zu müssen, weil das Gefühl ja da ist. Das genau ist mit Leerheit gemeint: dass es nicht verpflichtend ist. Es verpflichtet mich zu gar nichts. Darin liegt eine unglaubliche Freiheit. Es ist die Freiheit zu agieren, statt zu reagieren; die Freiheit zu schauen: Was macht denn jetzt Sinn? Das geht aber nur, wenn ich das, was ich erlebe, nicht so vergegenständliche. Das ist wieder der Begriff von gestern – wenn ich daraus kein Ding mache, das Macht über mich hat. Ich fühle mich sonst ja den Erfahrungen, den Sinneserfahrungen, den Gefühlen und den Gedanken so ausgeliefert. Es ist dann so, als hätten die Gedanken eine Macht. Da kann ich manchmal sogar nicht einschlafen, weil ich das Gefühl habe, dass die Gedanken so eine Macht haben oder dass meine Sorgen so eine Macht haben. Zu erkennen, dass der Geist leer ist, bedeutet, dass Sorgen leer sind, dass Ärger leer ist, dass Liebe leer ist, dass Freude leer ist, dass Raum- und Weitegefühle leer sind, dass Schmerzgefühle leer sind – dass alle, alle, alle diese nicht-fassbare Qualität haben. Dadurch sind sie nicht minder lebendig. Sie sind sogar noch viel lebendiger als vorher, weil wir nicht mehr fixieren. Fixieren nimmt dem Erleben die Lebendigkeit. Durch das Erkennen der nicht-fassbaren Natur des Erlebens tritt eine ungeheure Lebendigkeit des Geistes zutage. Und das ist der dritte Schritt, das Verstehen des Geistes. Henrik nennt es hier spontanes Vorhandensein. 3. Leerheit ist spontanes Vorhandensein Mit spontanem Vorhandensein, spontaner Verwirklichung – lhündrup, mein früherer Name – ist gemeint, dass die Leerheit Fülle ist. Im Erkennen der nicht-fassbaren Natur des Seins kommt die ganze spontane Kreativität und Lebendigkeit des Geistes zum Vorschein. Das ist eigentlich mit dem dritten Schritt gemeint. Wir entdecken, dass Erleben ununterbrochene Lebendigkeit ist – ständig. Es gibt keinen Tod, es gibt keinen Stillstand im Erleben. Geist ist ja nur ein Begriff. Gestern sagte jemand: „Geist ist doch nur so ein totes Wort.“ Es gibt keinen Geist. Es gibt nur dieses vibrierende, kribbelnde, ständige Erleben, das nie aufhört. Jack Kornfeld macht dazu mit seinen Schülern eine einfache Übung. Die können wir jetzt auch machen: Versucht doch einmal, das Erleben zu stoppen. Versucht es einfach nur für einen Moment. Für einen Moment, nicht für zwei. Nichts sehen, nichts hören ... Ihr merkt: Das geht nicht, wir können den Atem so lange anhalten wie wir wollen. Solange da Leben ist, ist auch Erleben da, und diese Bewusstheit ist dynamisch. Das ist eine Fülle. Der dritte Satz von den vier Erkenntnissen lautet, dass die Leere Fülle ist, dass die Leere spontanes Vorhandensein von einer unendlichen Vielfalt von Sinneswahrnehmungen, Stimmungen, Gefühlen ist, von all dem, was unser Leben ausmacht. Alles ist Geist – Geist ist leer – Leerheit ist spontanes Vorhandensein, Fülle, Kreativität, Lebendigkeit. 4. Spontanes Vorhandensein ist selbstbefreiend Da ist kein Problem mit dieser Lebendigkeit, sie befreit sich von selbst. Spontanes Vorhandensein ist selbstbefreiend bedeutet, dass die Kreativität, die Lebendigkeit, sich von selbst befreit; sie geht von sich aus immerzu zum Nächsten. Es braucht nichts getan zu werden, um dazu beizutragen, dass sich etwas auflöst. Seit unserer Kindheit, seit dem Embryonalstadium, hat sich alles, was wir erlebt haben, aufgelöst, ohne dass wir je irgend ein Wort von Dharma gehört hätten, oder irgendetwas dafür hätten tun müssen, dass es sich auflöst. – Wenn etwas einmal länger gedauert hat, dann mussten wir irgendwie aus dem Greifen heraus finden; wir mussten irgendwie abgelenkt werden, sodass wir nicht mehr so im Fixieren waren. Aber es löst sich alles auf, und zwar umso schneller, um so erlebbarer, je schneller das Greifen nachlässt. Aber auch während wir greifen, löst sich alles auf. Das, was wir greifen, ist nämlich gar kein stabiles Erleben. Wenn wir z.B. ganz lange dieses Buch in meiner Hand anschauen, dann denken wir, wir würden ein Buch sehen. Tatsächlich ist das ein Prozess des Sehens, in dem diese blau-weiße Form immer wieder, in einem ständigen Strom, gesehen wird. Das könnt ihr daran bemerken, dass sich meine Atem- und Sprechbewegungen durch den Arm auf das Buch übertragen, was zu kleinen Bewegungen führt. Ihr seht also nicht ein Buch, sondern eine sich bewegende Form in einem Strom des Sehens. Wir haben uns nun auf dieses Buch fixiert, dabei aber gleichzeitig einen Strom des Erlebens erlebt. Das ist eine Sehwahrnehmung. – Sehen, Hören, auch Fixiertsein auf einen Gedanken; das sind gar keine einmaligen Dinge. Eine Wahr-

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nehmung ist nicht etwas, das dann wie ein Block da wäre und von dem wir meinen, wir müssten etwas tun, damit sich etwas weiter entwickelt. In Wahrheit ist selbst das Fixieren in sich dynamisch. Es ist ein konti nuierliches Greifen – nicht ein Mal gegriffen und festgehalten –, ein Greifen nach etwas immer wieder Ähnlichem. Wir haben nie auch nur für einen Moment dasselbe Buch gesehen. Es war immer wieder ein neues Sehen von einem etwas anderen sogenannten Buch. Selbst das leidvolle Erleben, in dem oft so viel Fixierung steckt, ist selbstbefreiend. Es ist selbstbefreiend, während wir noch fixieren. Wenn wir uns dessen bewusst werden, hört der Kampf auf. Wir brauchen nur noch wahrzunehmen, wie es sich befreit, wie es sich löst, wie es im Strom ist. Darin löst sich diese Ver krampfung, die das Greifen ausmacht. Das Erleben braucht sich nicht zu verändern, nur das Greifen ändert sich. Teilnehmer: Wenn ich das Buch sehe, dann sehe ich auch eine Schrift, da steht was drauf; oder da ist ein Bild und da steht auch was drauf. Das Sehen, das reine Sehen, das gibt es doch gar nicht. Ich kann doch eigentlich gar nicht nur sehen. Ja, das stimmt. Du nimmst auf diese zusätzlichen Schleifen Bezug, dass wir nicht nur einfach sehen, sondern dass wir ein Buch sehen; dass wir versuchen, die Schrift zu lesen und dass wir uns Gedanken machen, wie es ist, dieses Buch hochzuhalten. All diese zusätzlichen Prozesse finden ebenfalls statt. Wir denken, wir würden immer noch auf das Buch fixiert sein, dabei denken wir schon längst über das Fixieren des Buches nach. Da laufen so viele Prozesse dynamisch ab. Und du beschreibst die Dynamik eines recht komplexen Geistes. Aber all diese Dynamik ist selbstbefreiend. Sie geht ihren Weg, sie ist im Fluss. Wenn wir uns dieser grund legend strömenden, fließenden Natur des Seins zuwenden, dann merken wir, dass wir gar nicht so zu kämpfen brauchen. Wir brauchen gar nichts dagegen zu tun, sondern einfach nur lassen. Das ist dann ja schon Meditation, wenn ich mir bewusst bin, dass es eben noch das Halten vom Arm war, dann der Druckfehler, den ich sehe, dann die Farbe und dann wieder etwas anderes, das nicht stimmt. Genau. Gegen all das brauchen wir nicht anzugehen. Wir sind sofort in der Meditation, das heißt in dem Gewahrsein dessen, wie es ist. Wir nehmen wahr, wie viele verschiedene Prozesse da ablaufen. Teilnehmer: Wenn ich sehe, dann entstehen immer eine Menge Konzepte und Begriffe und meine Frage wäre jetzt, ob es so ist, dass die Lebensdauer oder die Halbwertzeit dieser Konzepte und Begriffe davon abhängen, wie viel Ich-bezogene Bedeutung oder Identifikation ich dem beimesse. Und wenn es mir gelänge, das zu reduzieren, dann würden ständig Millionen von Konzepten entstehen, aber auch sofort wieder vergehen. Und darin würde dann überhaupt kein Problem bestehen. Wenn ich deine Sichtweise aufgreife, könnten wir sagen, dass für einen Meditierenden die Halbwertzeit immer kleiner wird, dass also der Verfallsprozess der eigenen geistigen Kreationen immer schneller wird. In dieser Sprache könnten wir das so beschreiben. Die Bindekräfte, die stabilisierenden und fixierenden Kräfte lassen nach, und dadurch beginnt sich das zu beschleunigen. Es gibt aber auch weniger Extraschlaufen, weil die unnötig werden. – Da sind auch Bindekräfte, die ständig solche Extraschlaufen brauchen. – Es wird also einfacher und es wird auch beweglicher. In dem, was du sagst, steckt aber eine kleine Hypothese, die ich noch in Frage stellen würde, und zwar, ob ein Erleben überhaupt eine Zeitdauer hat, ob man einem Erleben eine Zeitdauer zuordnen kann; ob es so etwas wie einen Moment des Erlebens gibt und man deshalb von einer Halbwertzeit sprechen kann. Was ich vorher mit dem Strom des Erlebens sagen wollte, ist, dass wir nur merken können, dass sich alles ständig wandelt und dass es das einzelne, abgegrenzte Sehmoment gar nicht gibt. Aber da kommt ihr dann drauf, wenn sich die Halbwertzeit deutlich verringert hat. Ihr werdet dann sehen, dass es bei der Frage, wie flink, wie schnell der Geist sein kann, kein Ende gibt. Das ist dann der Endpunkt dieses vierten Schrittes, wo wir die Selbstbefreiung allen Erlebens bemerken. Da kommen wir in einen Bereich, wo es auf Tibetisch shar-dröl heißt – befreit im Entstehen. Das ist nicht mehr rang-dröl, dass sich alles von selbst befreit, sondern es gibt kein Entstehen und Vergehen mehr. Dieser duale Prozess des Entstehens, Verweilens und Vergehens, den wir sonst immer voraussetzen und annehmen, ist nicht auffindbar. Wir finden in Wirklichkeit auch kein Entstehen. Wir bemerken nur ein Sein, dem keine Dauer zugeordnet ist. Das ist shar-dröl, Befreiung im Entstehen. Das ist dann tatsächlich das volle Erwachen: rund um die Uhr in diesem Gewahr-

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sein von shar-dröl zu sein. Teilnehmer: Könnte man sagen, dass das vermeintlich Erlebte nicht im Sein der Dinge besteht, sondern in meiner Beharrlichkeit, fortwährend nach Ähnlichem zu greifen? Ja genau, so kannst du es sagen. Teilnehmer: Ich erforsche gerade ein bisschen dieses Greifen und Fixieren im Zusammenhang mit dem Hintergrund. Im Theater wäre das die Bühne. Und jetzt merke ich, dass man irgendwie auch nach der Bühne greift, und nicht nur nach dem, was auf der Bühne so passiert. Das finde ich wichtig und ich kenne es aus eigener Erfahrung. Das sind manchmal auch ältere Sachen, die teilweise noch unbewusst sind. Da ist aber Bühne und es gibt ein Greifen nach Bühne und es hat etwas mit Vertrautem und mit Wiederholung zu tun. Ich habe aber noch nicht richtig verstanden, wie man damit geschickt und heilsam umgehen kann. Ich könnte dir da einen Tipp geben: Untersuche diese Bühne, die du erlebst, aus einem anderen Blickwinkel und schau, welche Hintergrundkräfte da aktiv sind. Es geht nicht so sehr um die Gestalt und die Objekte, die eine Bühne ausmachen, sondern um die wirkenden Kräfte, die Bewusstseinskräfte, wie z.B. Panik. Panik ist keine stabile Bühne mehr, sondern ein dynamisches Setting. Innerhalb dieser Hintergrundkräfte findet stän dig die Interpretation des Erlebten statt. Ich möchte dich mit meinen Worten einladen, aus der statischen Beschreibung der Bühne in eine dynamische Beschreibung hinüberzuwechseln, und du wirst sehr viel leichter verstehen, was eigentlich die Bühne ist. Das sind Kräfte, Gewohnheiten und Muster. Es ist ein energetisches Phänomen, wo es bestimmte Kräfte sehr viel leichter haben, sich zu manifestieren – z.B. angstvolle Wahrnehmungen haben es viel leichter, sich auf einem solchen Hintergrund zu manifestieren als vertrauens volle Kräfte. Über die verschiedenen Ebenen, auf denen solche Kräfte wirken, können wir später nochmals sprechen. Diese grundlegenden, gestaltenden Kräfte – Existenz ergreifende und Existenz abwehrende Kräfte, Hoffnungen, erwartende, strebende Kräfte, abwehrende, sich weigernde und zurückweisende Kräfte – machen die Bühne aus. Aber die Bühne ist unglaublich dynamisch. Zum Glück, denn wenn es eine stabile Bühne wäre, müssten wir ja Bühnenumbau betreiben. Da es aber eine dynamische Bühne ist, können wir durch gutes Umgehen mit diesen Kräften gestalten; wir können sie sich öffnen lassen; sie können integriert werden. Da gibt es ganz viele Möglichkeiten. Jetzt geht es um die Anwendung. Meditation – Ist die Welt Geist? Das Erste habt ihr schon selbständig gemacht: Ihr habt euch gesammelt und seid wieder im entspannten Wahrnehmen angekommen … im Wahrnehmen des Körpers ... im Sehen, Hören. – Wendet die Aufmerksamkeit ruhig auch auf die Stimmungslage: Wie fühle ich mich gerade? – Der erste Schritt der Einsichtsmeditation würde darin bestehen zu schauen: Ist es tatsächlich so, dass diese Welt, die ich jetzt erlebe, Wahrnehmung ist, dass sie Geist ist? Ist das tatsächlich so? Alle Sinne sind offen, alle Kanäle sind offen. – Gibt es irgend etwas in diesem Erleben, das nicht Geist wäre? – *** Wir gehen jetzt mit der selben Praxis in die Gehmeditation über und kommen danach wieder zurück in die Sitzmeditation. Wir nehmen diesen einen Satz mit: Alles ist Geist; dieser Satz ist wie ein Koan in der ZenTradition. Nehmt ihn quasi auf die Zunge, lasst ihn zergehen, um den ganzen Geschmack zu erfahren. Wir tun das bei allem, was wir tun. Wir untersuchen, ob der Baum, der Grashalm, den wir sehen, der Klang, den wir hören, usw., ob wirklich alles Geist ist. Wenn wir merken, dass wir gerade intellektuell denken, dann lassen wir das immer wieder los und gehen ins Spüren, ins Erleben. Das ist eine unmittelbarere Erfahrung der Bewusstheit. Wir widmen uns in diesem ersten Teil des Tages ganz dem ersten Schritt. Wir untersuchen, inwieweit wirklich alles Erleben ist: Bewusstheit, Geist, Gewahrsein. ... ***

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Wenn wir jetzt in unsere Hauptpraxis gehen, dann achten wir weiterhin darauf, wie alles Geist ist. Die Nahrung ist Geist, insofern als wir sie sehen; das Sehen der Nahrung ist Geist; das Schmecken der Nahrung ist Geist; das Riechen der Nahrung ist Geist. Was wir aus der Nahrung in unseren Vorstellungen machen, ist Geist. All das ist Erleben. Über Nahrung, die wir nicht erleben, können wir gar nichts sagen. Wir können nur über die Nahrung etwas aussagen, die wir erleben durch Sehen, Hören – manchmal schon – Riechen, Schme cken, Fühlen und wie wir sie fühlend, auch denkend erleben. Und so geht es mit allem. Wie wir erleben aufzustehen und hinaus zu gehen; ein anderer Raum. Es ist tatsächlich ein anderes Erleben, einen Raum zu wechseln. Gewahr sein bedeutet, mit all diesen vielen Wechseln im Erleben vertrauter zu werden und zu spüren, wie wir darin fließend bleiben können, immer offen für das nächste Erleben. Ich möchte euch erneut auf einen Satz von heute Morgen hinweisen. Karmapa schreibt: „Das Erwachen lässt sich nicht verwirklichen durch Entspannen – weder durch Anstrengung noch durch Entspannen.“ Dass wir es durch Anstrengung nicht verwirklichen, haben wir schon verstanden, weil wir schon viele Male gegen diese Wand gelaufen sind, wo wir mit unserer Anstrengung nicht weiter kommen. Dann meinen wir, es würde durch Entspannung gehen. Das ist auf eine gewisse Art auch wahr. Wir können uns an das Zitat von Saraha erinnern: „Dieser Geist, von Geschäftigkeit gefesselt, ist befreit sobald du entspannst – kein Zwiefel.“ Ein wichtiges Zitat – das Wollen, diese Geschäftigkeit, diese Ablenkung entspannen, aber es geht dabei nicht um ein lasches Sein. Wir können uns nicht irgendwie aus dem Erleben raus-entspannen und dann irgendwo das Erwachen finden. Es geht darum, sich ins Erleben hinein zu entspannen. Das ist eine andere innere Haltung. Ich lade euch also ein, voll zu schmecken, voll zu riechen, voll zu erleben und damit ins Fließen zu kommen. Und das bei allem, was wir während dieser zweieinhalb Stunden Hauptpraxis tun. – Dann kommen wir zum Ausruhen wieder hierher. *** Lasst uns kurz zurückschauen, ob wir in den letzten zweieinhalb Stunden tatsächlich irgendwo einen Unterschied gemerkt haben, ob wir irgendwie anders präsent waren, ob das Gewahrsein ein wenig mehr da war und ob das vielleicht hin und wieder einen kleinen Unterschied gemacht hat. Es kommt nur auf diesen kleinen Unterschied an. Wir können von uns nicht erwarten, dass wir so präsent und so gewahr sind, wie uns das gelegentlich in der Meditation möglich ist, weil wir ja gehandelt haben, weil wir aktiv gewesen sind. Aber hie und da nehmen wir einen kleinen Unterschied wahr. Es kommt uns ins Be wusstsein und wir erleben die Situation ein wenig anders und verhalten uns ein wenig anders. Und genau dieser kleine Unterschied macht es aus. Meditation Wir spüren hinein wie es ist, zu sein. – Ich lade euch ein, die Aufmerksamkeit darauf zu richten, wie sich das Erleben ständig wandelt, von Moment zu Moment. – Geht innerlich doch einmal die Sinne durch, um zu spüren, wie sich das Erleben gerade jetzt in jedem dieser Bereiche vollzieht: Spüren, Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, innere Wahrnehmung. – Das ist so, als ob wir den Puls spüren würden, das pulsierende Leben wirklich mitbekommen; drin sein, es erleben. – Auch ohne irgendetwas zu tun, vollzieht sich unglaublich viel, allein schon bei den Körperempfindungen. Vielleicht spürt ihr ja auch das Pulsieren des eigenen Herzens, ... das feine Vibrieren in jedem Bereich des Körpers, ... die kleinen Bewegungsempfindungen des Atems. ... Was allein schon in der Wirbelsäule spürbar wird oder in den Augen, oder im Mund, oder im Bauch. ...Vielleicht spürt ihr, wie lebendig die eigenen Hände sind. – Falls ihr irgendwo ein Spannungsgefühl habt, geht doch mal in diese Spannung hinein und entdeckt, wie es sich darin anfühlt. ... Spürt auch die feinen Empfindungen der Nase beim Ein- und Ausstreichen des Atems. – Und jetzt nehmen wir das Hören hinzu. ... Wir sind uns der sich ständig wandelnden Geräuschkulisse ganz gewahr. Einige Geräusche kommen von uns selber – Verdauungsgeräusche, Geräusche vom Schlucken, vielleicht hören wir uns auch selber atmen. ... Da, wo weniger zu hören ist, hören wir Stille, lebendige Stille. Es

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ist ein lebendiges Hören. – Und jetzt öffnen wir uns dem Strom der Sehwahrnehmungen. ... Wir sehen einen ständigen Prozess und be merken die feinsten Bewegungen im Gesichtsfeld, sowie die kleinen Veränderungen in unserem eigenen Blick. Weil die Augen mehr oder weniger fokussieren, bewegt sich unser Blick ein wenig. – Düfte, Gerüche erreichen uns. – Und innerlich ist eine Menge los, … Gedanken, Gefühle. ... Da schauen wir ganz besonders gut hin und erle ben vielleicht, dass da verschiedene Gefühle sind, verschiedene Aspekte unseres Erlebens, teils sogar widerstreitende Gefühle. – Und jetzt lasst uns dieses Gesamtbild aller sechs Sinne nehmen, natürlich auch des Geschmackssinns, den wir nicht erwähnt haben. All diese sechs Sinne, alle Bereiche des Erlebens zusammen sind unser Gesamterleben. GONG Verflixt nochmal, dieses Erleben ist ja so anstrengend! So eine geballte Ladung Leben!

Meditations-Erfahrungen – Blockaden Vielleicht haben einige von euch gemerkt, dass dieses bewusste Erleben – wenn wir die verschiedenen Bereiche durchgehen und stimulieren – ganz schön intensiv werden kann, obwohl wir gar nichts getan haben. Wir haben bloß wahrgenommen, was ist, angefangen beim Körper. Wir haben uns aber etwas feiner interessiert als sonst; wir sind etwas näher dran gewesen, etwas mehr rein gegangen. Wenn wir das über längere Zeit tun, kommen wir in Bereiche, die auch schmerzhaft sein können. Wir stimulieren so stark und es ist, als ob die Bewussheit, die wir richten, Energie zuführt – z.B. in Bereiche des Körpers oder in Bereiche des Erlebens – und stimulierend wirkt. Das kann sehr, sehr intensiv werden. Wenn wir lange in den Körperempfindungen bleiben, kann es sich so intensiv anfühlen, als ob wir verbrennen würden. Manchmal können wir auch ganz kalt werden. Es können Schmerzen auftauchen, von denen wir nicht wissen, woher sie kommen; sie tauchen einfach auf. Es können so viele Empfindungen auftauchen. Im visuellen Bereich können es Lichthöfe sein, es kann ein Pulsieren in der visuellen Wahrnehmung stattfinden, es können sich Lichthöfe um Gegenstände bilden. Es kann so vieles passieren. Wir können Instrumente hören, die überhaupt nicht spielen oder ganz feine Geräusche können ganz intensiv wahrgenommen werden. Manchmal ist das Hören auch wie weg. In jedem dieser Sinne kann unglaublich was abgehen, allein dadurch, dass wir mit dem Gewahrsein drin bleiben. Wir nennen das Blockaden, die stimuliert worden sind. All diese vermeintlichen Meditations-Erfahrungen, sind eigentlich energetische Blockaden. Da sind in unserem Lebensfluss früher einmal Momente gewesen, wo durch ein Greifen das Fließen nicht ungehindert weiter gehen konnte. Diese Blockaden beginnen wir, ohne es zu merken, mit dem Meditieren zu stimulieren. Und plötzlich wird es unglaublich schmerzhaft. Wir wissen nicht, warum wir nicht fünf Minuten still sitzen können und warum es so unangenehm im Körper wird. Wir wissen nicht, was mit unserem Sehen los ist, warum wir plötzlich nicht mehr klar sehen oder einfach nur ruhig sein können. Wir können nicht einmal mehr eine Minute die Augen offen halten, ohne dass es schmerzt und wir müde werden. Ganz zu schweigen vom denkenden Geist! Da ist es manchmal richtig wild, Stürme rauschen durch uns durch, begleitet von entsprechenden Gefühlen. All diese verschiedenen Phänomene, von denen sich einige richtig toll anfühlen und uns das Gefühl geben, dass wir eine tolle Meditations-Erfahrung durchleben – alles ist so hell, so strahlend hell, oder alles ist in Regenbogenlicht getaucht, oder wir erleben eine prickelnde Dusche, die entlang des sogenannten Zentralkanals den Rücken runter läuft –, sind alles nur Blockaden. Das alles ist das Berühren und Auflösen von Blockaden. Wenn die Blockade durch ist, dann sind auch diese Erfahrungen vorbei. Allmählich stellt sich ein harmonischeres Körpergefühl ein, ein einfaches Sehen, ein einfaches Hören, ein Denken, wenn gedacht werden möchte und ein Nichtdenken, wenn nicht gedacht zu werden braucht. Alle Sinne entspannen sich und kommen in ein fließenderes Sein. Aber der Weg bis dahin ist gepflastert mit ganz vielen Herausforderungen. Habt ihr vielleicht ein bisschen davon bemerkt?

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Teilnehmer: Da habe ich auch Angst vor. In unserem Haus lebt eine Frau, die deswegen öfter in der Psychatrie ist. Wenn man nicht instruiert ist und so etwas auftaucht, findet ein angstvolles Greifen statt, weil man den Umgang damit nicht gelernt hat. Weil das im Geist so schnell abgeht, findet ein ganz starkes und schnelles Grei fen statt, und das bringt die Psychose. Es ist das Greifen von Moment zu Moment, statt das Loslassen von Moment zu Moment. Wir lernen in der Meditation – und da sollten wir auch dosieren – in Bereiche reinzugehen und uns in diese Bereiche hinein zu öffnen, ohne angstvoll zu ergreifen. Wir wissen, dass wir in schwierige Bereiche hineingehen, aber wir lassen Raum und steigen aus dem Bewerten aus. Wir könnten natürlich auch greifen. Aber das führt dazu, dass man sich dem Zustrom der Gedanken und den vielen Dingen, die passieren, hoffnungslos ausgeliefert fühlt. Man möchte seinen eigenen Körperempfindungen wie davonlaufen. Es gibt Menschen, die das Gefühl haben, dass in ihrem Körper Spinnen herum kriechen; oder dass innen drin Tiere sind, die einen auffressen. Es gibt unglaublich starke Empfindungen, die da auftauchen können. Sie können einen verrückt machen, wenn man nicht weiß, wie man so eine Erfahrung entspannen kann. Wie kann ich dosieren? Wie stark lenke ich mich ab? Wie weit gehe ich hinein? Was wir intuitiv machen ist, dass wir uns bewegen, mit jemandem sprechen und ganz viel denken. Möglichst viel denken ist deshalb hilfreich, weil im Denken nicht so viel direktes Erleben ist. Aber selbst das Denken wird dann schmerzhaft. Das Denken kommt uns dann wie ein Gefängnis vor und das macht uns richtiggehend verrückt. Wir klettern in diesem Gefängnis innerlich hoch, weil wir das Gefühl haben, dass wir da ir gendwie raus müssen. Wir wissen nicht wie; es ist übermächtig, weil es die ganze Zeit durch dieses Fixieren, Greifen und Sich-Identifizieren genährt wird. Das sind Durchgangsphänomene. Es kann manchmal Jahre so gehen, bis wir die in unserem System angehäuften Blockaden durchgearbeitet haben. Wir wissen auch gar nicht, wie lange die Blockaden schon zu uns gehören und woher sie alle kommen. Die buddhistischen Lehrer sagen, dass das nicht alles aus diesem Leben kommen muss, sondern durchaus auch aus früheren Leben kommen kann. Aber was wissen wir schon! Die gute Nachricht ist: Es gibt einen Weg da durch und den müssen wir möglichst entspannt gehen, sodass wir uns nicht in diese Bewusstlosigkeit oder in die Ablenkung flüchten, in eine Gedanken- und Vorstellungswelt, die uns ein bisschen vor der direkten Erfahrung schützt, aber keinen wirklichen Schutz gibt, weil sie mit Identifikationen gepflastert ist. Wir sollten also aufpassen, dass wir nicht all zu sehr abhauen und dass wir – wenn wir dran bleiben – so dran bleiben, dass die Dosis von dem, was wir da wach rufen, auszuhalten und gut zu integrieren ist. Wenn wir jetzt schon alles mitkriegen würden, was in unserem Geist los ist, dann wäre das eine maßlose Überforderung für uns, weil wir es noch nicht gewohnt sind. Wenn solche Erfahrungen in den dreijährigen Retreats auftauchen, ist man zunächst sehr beschämt über sich, oder man ist erschrocken. Man will nicht wahr haben, was da alles zum Vorschein kommt. In der buddhis tischen Sprache sagen wir, alle sechs Daseinsbereiche sind in uns – der Höllenbereich, die Bereiche der Hungergeister, Tiere, Menschen, Halbgötter und Götter. Das ist eine Riesenspanne von Erfahrung. Wir hätten es so gerne, dass nur die drei letzten Bereiche in uns sind. Aber wir haben leider auch den Höllenbereich mit Panik, unglaublicher Aggression, Hass und Verzweiflung in uns. Wir haben die ganze Gier und die Angst, nicht genug zu bekommen und die unglaublich starke Angst und das Sich-bedroht-Fühlen der Hungergeister in uns, was auch für den Tierbereich kennzeichnend ist; die große Unsicherheit und vieles, vieles mehr. Ihr werdet das mit der Zeit selber wahrnehmen. Es ist gut, sich bewusst zu sein, dass wir mit der Meditation nicht einfach nur so ein bisschen spielen. Ernsthaftes Meditieren ist so, wie wir es in den vergangenen 25 Minuten gemacht haben; wir waren achtsam und haben alle sechs Bereiche ein bisschen stimuliert. Wenn man damit weiter macht, dann wird es immer inten siver. Die Intensität nimmt zu, hat aber auch ihre Bögen, weil sich auch wieder etwas löst. Es braucht nicht jedes Mal eine Krise, damit sich etwas löst. Aber die inneren Erfahrungen werden stärker und wenn wir mit dem Gewahrsein dran bleiben, dann kommen sie ins Fließen und gehen in Lösungen. Es ist erst einmal wichtig, das zu wissen und dann ist es wichtig, es zu dosieren. Ich war vor einiger Zeit zu einer kleinen zweitägigen Tagung zum Thema 'Spirituelle Krisen' in Freiburg eingeladen. Da waren viele erfahrene Forscher, auch Meditationslehrer, wissenschaftliche Forscher und Ärzte dabei, unter anderen der Lei ter von Heiligenfeld, Galuschka. Wir sagten so zueinander: „Eigentlich müsste man bei jedem Medita-

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tionskurs ein Schild anbringen, auf dem geschrieben steht: Achtung, Meditation wirkt bewusstseinsverändernd!“ Man müsste eine gewisse Warnung aussprechen, da es immer wieder Menschen gibt, die da so reinschlittern und dann ganz überrascht sind, was Meditation so alles auslöst. Es gibt Selbstschutz-Mechanismen, wo wir einfach innerlich abhauen. Da kann der Lehrer vorne anleiten, was immer er will, wir gehen auf unsere eigenen inneren Reisen und schützen uns so davor, in all zu heikle Bereiche zu gehen. Aber ich habe schon Menschen erlebt, die durch den Kontakt mit der Unterweisung und die Praxis der Vergänglichkeit völlig dekompensiert waren. Dieser Kontakt kann zu monatelanger Verzweiflung führen. Es ist mir ein Anliegen, das nochmals so deutlich zu sagen. Was uns dabei hilft, ist die Betonung auf lassen, durchlässig werden und Raum schaffen für das Erlebte; sich dem nicht entgegenstemmen und es auch nicht haben wollen. Diese nicht wertende, nicht haftende, nicht kämpfende innere Grundhaltung ist das A und O des Meditierens. Sie bewirkt, dass wir auch überraschende Erkenntnisse über uns selbst anneh men und aufnehmen können. Es kann sein, dass plötzlich so ein Aggressionsimpuls durch uns schießt – vielleicht kennen das einige schon. Es gibt Impulse, die wir anderen am liebsten gar nicht mitteilen wollen, wo wir im Grunde genommen die ganze Welt umbringen oder zumindest die ganze Einrichtung zusammen schlagen könnten. Ich sehe einige von euch nicken, aber manche werden hier sitzen und sagen: „Nein, das kenne ich nicht“. Das glaube ich gerne. Ich habe es auch jahrelang nicht gekannt – bis ich es dann kannte. Davor dachte ich, ich wäre anders. Das war ich aber nicht; ich bin nicht anders. Ein integrierter Mensch zu werden bedeutet nicht, all das nicht zu haben. Wenn wir versuchen, all dieses Unangenehme, dieses Schwierige nicht zu ha ben, dann sind wir immer weniger Mensch. Wir grenzen dann nämlich große Bereiche unserer Vitalität aus. In diesen Blockaden und Mustern steckt unglaublich viel Lebenskraft. Je mehr wir davon ausgrenzen, desto weniger sind wir lebendig. Wir können nur noch mit dem leben und nur noch das zulassen, was erlaubt ist. Das Unerlaubte, was unser Unbewusstes nicht haben möchte, darf dann nicht sein. Und so kann man fest stellen, dass manche Praktizierende im Laufe ihres spirituellen Weges immer weniger leben, immer weniger authentisch werden, immer weniger da sind, weil sie eigentlich auf einem Gutmenschen-Weg sind. Sie wollen gute Menschen sein, anderen möglichst nicht schaden und sich selbst nicht schaden, und grenzen immer mehr von den vermeintlich bösen Impulsen aus. – Irgendwann haben wir mitgekriegt, dass bestimmte Impul se nicht gut sind. Dazu gehört die Sexualität, dazu gehören die aggressiven Muster, dazu gehören auch die Ängste, die nicht sein sollen, die Bedürfnisse, die nicht sein sollen und die von anderen stets abgelehnt wur den. Wenn wir die Bedürfnisse, die Ängste, die Fähigkeit, sich zu wehren, ausgrenzen und alle Wünsche und Impulse unterdrücken, was bleibt dann überhaupt noch übrig von uns? Dann sind wir nur noch so etwas wie eine spirituelle Konserve. Da kann man irgendwo auf einen Knopf drücken und bei uns Dharma-Belehrungen abrufen, aber so richtig lebendig ist das nicht. Nun geht es aber auch nicht darum, das alles auszuleben. Aber das Ausleben kann ein Zwischenschritt sein, um es zu erleben und zu merken, was da für ein Saft drin steckt. Es geht darum, wieder „ja“ zu sagen zu die sen Bereichen und sie dadurch zu ermutigen, wieder ins Fließen zu kommen. Dann integrieren sie sich wie der auf ganz neue und überraschende Weise. Das verändert uns. Das verändert unsere Ausstrahlung, unsere Stimme, unsere Lebenskräfte, wir werden viel gesünder. Es hat viele, viele Auswirkungen. Wir sind wieder als ganzer Mensch da und merken auch – und das ist eine ganz tolle Auswirkung –, dass unsere Akzeptanz von uns selbst aber auch von anderen enorm steigt. Wir sind mit den Höllenbereichen in anderen, mit den Hungergeisterbereichen in anderen und auch den Götterbereichen in anderen in Frieden, wir können sie an nehmen. Wir können uns dafür öffnen und die anderen durch schwierige Prozesse begleiten, weil wir uns selbst begleitet haben. Heute Morgen waren drei Menschen in den Einzelgesprächen, für die es hilfreich erschien, eine Form der Tonglen-Praxis auszuüben. Tongleng ist eine Praxis des Annehmens und Unterstützens. Es wird oft auch Geben und Nehmen genannt. Aber es ist eher ein Annehmen, ein Spüren und dann ein Unterstützen, ein mitfühlendes und liebevolles in Austausch-Treten. Da gibt es eine Form der Tonglen, über die ich ein wenig sprechen möchte, damit ihr sie auch für euch verwenden könnt. Wir machen dabei Tonglen mit einer Vorstellung von uns selber, und zwar immer gerade mit dem, was im Moment Thema bei uns ist – mit dem aggressiven

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Anteil, dem bedürftigen, ängstlichen, giftigen, unzufriedenen Anteil ..., was auch immer wir gerade als The ma in uns spüren. Diesen Anteil setzen wir vor uns hin, genau so, wie wir selber auch gerade sitzen, und fra gen den nach außen visualisierten Anteil von uns selbst: „Wie geht es dir? Was brauchst du? Was erlebst du?“ Diesen Austausch führen wir so lange fort, bis wir verstehen, was da für Bedürfnisse und Ängste dahinter sind und geben dann Unterstützung und lassen es fließen. Ich wollte das kurz erwähnen und kann bei Bedarf gerne noch mehr darüber erzählen, weil das eine unglaub lich wichtige Praxis ist, die wir nicht immer nur so formell zu machen brauchen. Intrapsychisch, also in un serem eigenen Erleben, muss das ständig stattfinden, und zwar immer dann, wenn etwas Unangenehmes auf taucht, etwas, wo wir nicht hinschauen, nicht hinfühlen möchten. Genau da geht es lang! Genau da, wo es unangenehm, wo es heikel ist, geht die Meditation lang. Nicht auf Wolke Nummer sieben, nicht mit der rosa Brille, sondern da, wo es unangenehm wird, gehen wir mit dem Gewahrsein hin und spüren liebevoll hinein, was da ist, was da zumVorschein kommen möchte. So wird der Prozess ganz leicht. Es sind die alten Energien, die Muster, das Verdrängte, Verstaute, Weggepackte, was sich da zeigt. Wenn wir das ganz frühzeitig machen, immer schon bereit sind das zu spüren, können wir sich das befreien lassen. Wir können ihm quasi dabei zuschauen, ohne dass es dramatisch wird. Es ist wirklich ein leichter Prozess, wenn wir wenig Widerstände haben. Wenn wir mit großen Widerständen dran sind, dann braucht es natürlich lange, bis wir ge zwungenermaßen endlich doch hinschauen, weil wir nicht mehr ausweichen können. Dann ist es etwas schmerzhafter. Teilnehmer: Du hast zwischen Ausleben und Erleben unterschieden. Könntest du das genauer beschreiben? Gendün Rimpoche sagte uns ganz klar: „Wenn ihr nur die Wahl habt, die Wut zu schlucken oder die Wut auszudrücken, dann drückt sie lieber aus, denn geschluckte Wut vergiftet euch und macht euch unehrlich. Lebt sie aus. Aber das ist nicht das Ende des Weges! Sucht nach besseren Wegen, sie auszudrücken, bis es gar nicht mehr notwendig ist, sie auszudrücken!“ Das ist nicht mehr notwendig, weil gar kein Druck mehr entsteht, weil wir die Wut innerlich befreien können. Und so ist es für so manches. Das Verdrängen geht ins Unbewusste, ins Nicht-Bewusste und wirkt. Wir denken, wir hätten das irgendwie gemeistert, aber unterschwellig vergiftet es all unsere Beziehungen und unser ganzes Leben. Da ist es besser, ruhig einmal einen Wutausbruch zu riskieren; zu riskieren, dass wir das Gesicht verlieren, um dann damit zu arbeiten. Sicherlich geschieht das nicht mit dem Wunsch, jemandem zu schaden. Aber da lernen wir auch die guten Möglichkeiten, das auszudrücken. Teilnehmer: Was meinst du dazu, dass wir all diese unterdrückten Gefühle in Filmen anschauen, sie visuali sieren? Die Videotheken, dieses Gruselkabinette, das sind wir; das ist Anschauungsmaterial. Die Filme werden ja gemacht, damit man sich erneut identifiziert; zum Teil mit dem Guten, aber auch mit dem Schlechten. Da ist so ein Reiz, eine Faszination, aber es findet keine Arbeit des Auflösens statt. Wir könnten solche Filme mit der Grundhaltung betrachten, dass alles, was in solchen Videotheken steht, ein Spiegel für das ist, was auch in uns ist. Es ist die Grundhypothese in meinem Leben, mit der ich mich inzwischen angefreundet habe: Was immer ihr mir zum Beispiel an Erleben bringt – egal, wem ich begegne, egal, wie gruslig oder wie schlimm es ist – es ist auch ein Potential in mir. Ich habe solche Dinge in mir schon erlebt und kontaktiert. Man braucht nicht viel davon zu haben, aber es ist in uns. Wenn da mehr und mehr Energie reingegeben werden würde, könnte sich das auch entsprechend gestalten. Teilnehmer: Sollte man denn solche Filme gucken, um sie aufzulösen? Nein, das brauchst du nicht – überhaupt nicht. Du brauchst lediglich deinem eigenen Geist zuzuschauen. Träume sind auch sehr aufschlussreich. Einige meiner Entdeckungen habe ich Träumen und der Traumwelt zu verdanken. In einem meiner Träume habe ich wirklich ein Maschinengewehr genommen und damit alle niedergemäht. Auf dieser Traumreise war ich wirklich bereit, alle umzubringen statt selber zu sterben. Solche Szenarien können sich in uns abspielen und in uns erlebbar werden. Man braucht sie nur ein Mal zu erleben und man hat es gesehen. Dann geht es darum, das anzunehmen; das ist potentiell möglich. Wenn ich es träu men kann, dann ist es auch nicht so weit außerhalb der Möglichkeit, dass ich es tun kann. Ich glaube nicht, dass es hilfreich ist, diese Filme zu sehen. Aber wenn wir schon solchen Dingen begegnen, dann sollten wir

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das Geschehen nicht abspalten. Wenn wir z.B. Berichte über Kriege sehen und uns dabei bewusst wird, welche Gräuel in den Kriegen auf dieser Welt geschehen, dann müssen wir ganz klar sehen, dass das auch wir sind; dass das auch in uns drin ist; dass es uns auch so gehen könnte; dass wir potentiell auch so handeln könnten. Die Extremisten werden zur Zeit als das Übel schlechthin angeprangert. Aber die Mechanismen, die dahinter stecken, die sind auch in uns. Jeder von uns könnte ganz leicht ein Putin sein; ganz leicht, dazu fehlt nicht so viel. Ich habe Putin nur erwähnt, weil er gerade ständig durch die Presse geht, er ist gar nicht so ein schlechtes Beispiel. Es graust einem, wenn man sieht, wozu die eigene Psyche in der Lage ist! – Und dann geht es darum, mit dem liebevollen Gewahrsein da rein zu gehen und genau das zu entspannen, Lösung zu ermöglichen. Dadurch entfernt sich unser Inneres immer weiter von der Möglichkeit, nochmals in diesen Sackgassen zu landen, weil wir neue Möglichkeiten kennen, mit diesen Energien umzugehen. Wir lernen immer bessere Möglichkeiten kennen, bis zu dem Punkt, wo Erwachte sagen können: „Ja, das haben wir befreit, da werden wir uns nicht mehr drin verwickeln.“ Selbst wenn Erwachte gefoltert werden, gehen sie nicht mehr in den Hass hinein, obwohl das Schlimmste mit ihnen gemacht wird. Es ist ein unglaublicher Weg, der da zurückgelegt worden ist. Aber auch dieses Potential tragen wir in uns und genau dieses Potential wird durch den Dharma gefördert. Teilnehmer: Was du vorhin erklärt hast, das habe ich heute mit meinem Thema Angst erlebt. Und zwei Dinge haben mir geholfen: einmal das weite Gewahrsein und dann das Wissen und das Erinnern, dass es eigentlich keine Substanz hat. Das bewirkt dann eine Entspannung. Dann habe ich auch das Gefühl selber beobachtet und habe die Veränderungen innerhalb des Gefühls gemerkt. Es war für mich sehr schön, dass du das nochmals gesagt hast, weil dadurch alles nochmals zusammengekommen ist. Ich erlebe das als so heilsam und drum wollte ich das teilen. Damit hast du mir auch schon das abschließende Wort quasi in den Mund gelegt: Was wirklich hilft, ist, den Blick darauf zu richten, wie viel Substanz etwas hat und zu erkennen, dass es eben keine Substanz, dass es keinen Wesenskern hat; den Film zu durchschauen und zu sehen, dass es tatsächlich geistiges Erleben ist und dass dieses Erleben sich wandelt und schon im nächsten Moment ein anderes Erleben da sein kann. Es geht darum, zuzulassen, dass auch ein anderes Erleben da sein wird, indem wir das, was uns gerade beschäftigt, nicht immer wieder ranholen, uns nicht immer wieder damit beschäftigen – damit aktualisieren wir es erneut, erneut, erneut... Lassen, nicht loslassen oder wegschicken, sondern es einfach so lassen, wie es ist – die Wei te des Geistes, von der du gesprochen hast –, das ist der Schlüssel. Darin lösen sich die Dinge in einer un glaublichen Geschwindigkeit auf; in einer solchen Geschwindigkeit, dass man gar nicht zuschauen kann. Teilnehmer: Was du jetzt gerade besprochen hast, gilt auch ganz stark für politische Themen. Jedes Mal, wenn ich in die Zeitung schaue, werden die gleichen Themen immer wieder angestoßen und kommen in mir hoch. Was ist da dein Rat? Ich bin mir bewusst, dass ich da identifiziert bin, aber es zieht mich trotzdem im mer wieder rein. Du könntest die Zeitung anschauen und dich dann fragen, was du da ablehnst und was das mit dir zu tun hat. „Was ist das bei mir, was ich im Außen – in der Politik, im Verhalten der Politiker usw. – ablehne?“, „Wo mangelt es mir an Mitgefühl mit meinen eigenen Mustern, meinen eigenen Tendenzen?“, „Da ist etwas, das in mir ausgegrenzt ist.“ Diesen Weg würde ich dir empfehlen: was im Außen abgelehnt wird, im Inneren zu suchen. Das ist nicht so simpel, es ist nicht eins zu eins. Was ich dort ablehne, ist nicht identisch mit dem, was in mir ist. Aber da besteht ein Bedeutungs-Zusammenhang; mit der Zeit wird der ganz offenkundig. Teilnehmer: Du hast vorhin gesagt, dass die Dinge, die in uns aufsteigen, nicht die Substanz haben, die wir dort vermuten. Kann es sein, dass wir den Dingen oft auf den Leim gehen und denken, sie hätten wohl Sub stanz, weil sie viel Energie haben? Kannst du etwas dazu sagen, warum etwas, das mit viel Energie daherkommt, nicht notwendigerweise viel Substanz hat? Richtig! Die Elektrizität ist ein Beispiel dafür, sie strömt; da ist viel Energie, aber keine Substanz – wie bei Wut. Genau da ist der Zusammenhang. Je mehr Energie ein Erleben hat, für umso substanzhafter halten wir es. Da ist der Irrtum. Das hast du toll benannt. Und was hilft bei diesem Irrtum?

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Dabei bleiben. Wir nennen das 'die Erfahrung im Gewahrsein halten können'. Es geht darum, mit der Erfah rung im Gewahrsein zu bleiben, dann merken wir, wie dynamisch sie ist und wie sie sich weiter entwickelt. Dadurch bekommen wir die Gewissheit, dass nichts von all unseren Dramen Substanz hat. Aber wir müssen dabei bleiben! Wenn wir wegrennen, dann ist das so, als würden wir denken: „Oh, da ist eine Wand“, und uns wegdrehen, weil da eben diese Wand ist. Aber wenn wir dabei bleiben, wenn unser Gewahrsein bei dieser vermeintlichen Wand bleibt – bei dieser soliden Begierde, dieser soliden Wut, dieser soliden Angst – dann merken wir plötzlich, dass die Wand nachgibt. Sie bewegt sich, sie ist gar nicht so statisch, wie wir dachten. Wir merken, wie das pulsiert, wie es sich öffnet, wie es abnimmt. Das ist das Dabeibleiben statt zurück zuschrecken oder es zu umgehen oder etwas damit zu machen. Also im Erleben bleiben, dann werden wir merken, wie lebendig das vermeintlich Feste ist. Teilnehmer: Da kommt wohl auch diese Gewohnheit, Ähnliches für gleich zu halten mit ins Spiel. Diese Gewohnheit wird da wahrscheinlich eine entscheidende Rolle spielen, wenn sich etwas zwar verändert, aber nicht so offensichtlich, und ich gleichzeitig nicht so genau hinschaue und damit die Veränderung nicht mitkriege. Dann halte ich es auch für ein Ding. Ähnliches nicht für gleich zu halten, könnte wahrscheinlich hilfreich sein. Ja, das haben wir auch schon mit dem Atem gemacht. Wir sagen einfach „Spür deinen Atem“, aber es gibt keinen einzigen Atemzug, der mit anderen Atemzügen identisch ist. Es gibt aber viele ähnliche. Auch wenn es sich schon weiterentwickelt hat, man selbst aber nicht mitgekriegt hat, dass es sich schon ge wandelt hat, dann denkt man, dass es immer noch der gleiche Klotz ist – was es aber nicht ist. Genau! Ich denke, dass ich immer noch der gleiche Mensch bin wie der, der ich früher war oder dass die anderen immer noch die Gleichen wie früher sind. Also gilt es hin zu führen, dabei zu bleiben, wirklich im Er leben drin sein, damit wir spüren können, wie es wirklich ist. Damit möchte ich jetzt eigentlich abschließen und euch zu dieser Entdeckungsreise entlassen, bei vollem Gewahrsein zu erleben: gehen – sitzen; gehen und sitzen im Wechsel; essen, einander in die Augen schauen, spüren, immer wieder die neuen Gefühlszustände spüren. Und bitte denkt nicht, es wäre bei euch etwas ver kehrt, wenn ihr kein Drama erlebt. Das fließende normale Leben ist gut genug. Teilnehmer: Wo ordnest du den Tinnitus da ein? Gibt es da einen Zusammenhang? Ja, dazu gäbe es schon einiges zu sagen. Es gibt Zusammenhänge, aber es gibt auch den organisch bedingten Tinnitus. Es gibt unglaubliche Modulationen im Tinnitus-Erleben und die haben mit unserem energetischen Fluss zu tun. Aber man kann einen Tinnitus nicht weg meditieren. Allerdings können wir völlig anders damit leben und derselbe Tinnitus, der zu Anfang eine katastrophale emotionale Reaktion ausgelöst hat, kann im eigenen Erleben verschwindend gering werden. Diejenigen, die Tinnitus haben, werden alles ausprobieren, was sie können. Irgendwann finden sie vielleicht die Art des Umgangs damit, die für sie wirklich hilfreich ist. Es ist nicht immer hilfreich, Gewahrsein reinzugeben. Manchmal schon, aber es gibt so viele Wege und Bedingungen. Jetzt gehen wir zusammen noch einmal einen Moment in die Stille. Und gerade so fließen wir jetzt in unserer Entdeckungsreise weiter – immer etwas feiner dessen, was ist und wie es ist, gewahr. Morgenmeditation Und wieder erlauben wir dem Gewahrsein, alle Bereiche unseres Seins wahrzunehmen und zu erforschen. Wir richten es uns so ein, dass wir eine Weile, etwa 25 Minuten, unbeweglich sitzen können. – In der Mahamudra Tradition heißt es: Der Körper ist unbeweglich wie ein Berg. Die Rede ist wie eine Flöte, die beiseite gelegt wurde. – also still – Der Geist ist so weit, offen und ruhig, wie die spiegelnde Meeresoberfläche bei völliger Windstille. – Alle Unruhe, die wir vielleicht noch spüren mögen, lassen wir abfließen, indem wir uns in unser Becken hin einsinken lassen, mit dem Atem in die Tiefe unseres Bauchraums gehen. –

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Wenn Gedanken auftauchen, betrachten wir ihre wahre Natur. Statt uns mit den Inhalten zu verwickeln, bemerken wir, wie substanzlos sie sind; wie sie auftauchen und schon wieder vergangen sind in dem Moment, wo wir sie bemerken. – Wahrnehmungen sind wie die stets wechselnden Bilder in einem Spiegel. – Wir lassen die geistigen Bewegungen sich selbst befreien. Wir lassen sie, wie sie sind, und das ist möglich, wenn wir sie nicht speziell festhalten und etwas aus ihnen machen. … Und wenn wir denken möchten und etwas festhalten möchten, dann ist es hilfreich, die nicht fassbare Natur genau dieses Denkens zu betrachten. Auch ein festgehaltener Gedanke ist nicht fassbar. Eigentlich können wir ihn gar nicht festhalten, sondern immer wieder nur neu einen ähnlichen Gedanken hervorbringen. – GONG Während der folgenden Viertelstunde lasst uns mal die Aufmerksamkeit darauf richten, worüber wir so alles nachdenken. Ich nehme an, die meisten von uns denken ein wenig hier und da. Schaut mal, ob die Gedanken, die auftauchen, eigentlich relevant sind, ob sie notwendig sind. Und ganz einfach: die, die irrelevant sind, lassen wir sein und die, die relevant sind, denken wir. Wir können sie ruhig ein bisschen ausformulieren und dabei bleiben, bis wir das, was relevant ist, zu Ende gedacht haben. Alles, was gerade keinen Sinn macht, was nicht relevant ist oder uns nutzlos erscheint, lassen wir sich wieder auflösen in seiner Grundnatur. Wir üben uns in der Freiheit zu denken und in der Freiheit nicht zu denken. Lasst uns das mal versuchen. – Wenn es irgendetwas gibt, über das ihr nachdenken möchtet, dann tut es im vollen Gewahrsein. Und wenn ihr bemerkt, dass sich Denken einstellt, das gerade irrelevant ist, dann ist es in dem Moment, wo wir das be merken, auch schon unterbrochen und wir brauchen es dann auch nicht mehr aufzugreifen. – Durch unser Denken gestalten wir die erlebte Welt. Lasst uns diese Welt bewusst gestalten durch bewusstes Denken. Denken ist die wichtigste Form des Handelns. Das Sprechen folgt dem Denken. Und auch das körperliche Handeln folgt dem Denken. Lasst uns deswegen bewusst denken: das, was uns sinnvoll erscheint und uns Freude macht, was klärend wirkt. Und wenn es da gerade gar nichts zu tun gibt, gar nichts zu denken gibt, weil sich die Welt von selbst gestaltet, sich von selbst befreit, dann ist auch das gut, dann brauchen wir auch gar nicht zu denken. *** Wenn wir zum Frühstück gehen, dann beim Hausputz und vielleicht beim Vorbereiten des Mittagessens, können wir immer wieder in dieses Grundgewahrsein gehen. Ihr habt vielleicht gemerkt, dass es ein grundlegendes Sein gibt, verbunden mit Gewahrsein, das ist einfach so. Da sind die Sinneserfahrungen, und die brauchen eigentlich gar keinen Kommentar. Das ist einfach so. Das Leben findet statt: wir schmecken, wir hören, wir sitzen – ich nehme jetzt mal Bezug auf das Essen –, wir nehmen wahr und unser Geist kann eigentlich total entspannt sein dabei. Es ist frische, vielfältige Wahrnehmung. Und dann springt zusätzlich oft dieses Kommentieren an. Das ist der kleine Reporter in uns, der meint, uns selber noch erzählen zu müssen, was ge rade stattfindet. Das ist manchmal ganz nett, wie wenn wir so in unserer eigenen Tageszeitung lesen würden. Selbst geschrieben, ein paar Kommentare mit Bewertungen dabei: „Finde ich gut. – Finde ich nicht so gut.“ Das macht das Leben ein bisschen schmackhafter vielleicht. Aber oft ist man auch genervt, weil der Journalist immer ungefähr dasselbe schreibt. Dann entspannen wir wieder und gehen wieder in dieses Grundgewahrsein, denn das reicht auch aus. Man kommt auch ganz gut ohne Zeitung aus. Das Leben geht ganz gut so auch. Das Frühstück schmeckt auch einfach so, wie es ist. Und dann gibt es Momente, in denen wir tatsächlich begrifflich denken wollen, Freude daran haben und über etwas nachdenken. Z.B. jedes Mal, wenn wir vor einer Problemlösung stehen, „Wie mache ich denn das?“, müssen wir ja denken, und das ist gut. Da denke ich so lange nach, bis ich z.B. den Eimer gefunden habe, den ich zum Putzen brauche. Ich frage dann auch jemanden. Das ist Problemlösung, eine der sinnvollen Arten des Denkens. Oder ich merke, da schaut eine Person am Tisch herum und ich frage mich: „Was braucht diese Person?“ Das ist auch eine Form des Denkens, mitfühlendes Denken. Und ich versuche mich einzustimmen und biete der Person vielleicht die Butter an. Das ist ja auch eine ganz sinnvolle Art des Denkens. So gibt es viele sinnvolle, nützliche Formen des Denkens, auch welche, die Freude machen. Oder ich stelle mir irgendetwas vor, um mich zu erheitern, z.B. dass, während wir da am Frühstückstisch sitzen, bei jedem

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der kleine Affe im Hintergrund sitzt und seinen Kommentar abgibt, oder dass ein Buddha auf dem Kopf sitzt. Es gibt so viele Möglichkeiten, mit Vorstellungen zu arbeiten, die auch amüsant wirken und das Leben auf heitern. Das ist auch wunderbar und brauche ich nicht zu unterlassen, aber bewusst! Dann geht es aber auch darum, sich zu erinnern, dass es dieses Grundgewahrsein gibt, das eigentlich keinen Kommentar braucht. Auch wenn ich einen Raum fege oder die Treppe putze: es braucht nicht jede Stufe einen Kommentar. Es geht noch ein Stück einfacher. In dieses einfache Grundgewahrsein zu gehen, setzt zusätzliche Kräfte, zu sätzliche Energie frei. Wir werden etwas frischer dabei, denn einen Teil dieses kommentierenden Denkens könnten wir auch parasitäres Denken nennen. Es raubt uns Kraft, es ist sehr stark mit emotionalem Gelabere verbunden, was Kraft raubt, und das brauchen wir nicht. Wir können da in etwas Unmittelbareres, Einfache res gehen. Aber manchmal können wir auch Spaß daran haben, dann gibt es auch Energie. Es gibt eine Mög lichkeit, sich mit seinen Vorstellungen, mit seinen Gedanken so mit dem Leben befassen, dass es Energie gibt. Und genau das gilt es herauszufinden: möchte ich jetzt lieber in diesem Grundgewahrsein sein, oder möchte ich meinen Geist einsetzen auf die eine oder andere Art. – Weil ich es genieße, weil ich es möchte, weil ich es für sinnvoll halte. Und das ist dann die Freiheit des Denkens und eben auch die Freiheit des nichtbegrifflichen Denkens. Viel Spaß bei der Hauptpraxis. Teilnehmer: Du sagtest gestern „alles ist Geist“, weil wir nur geistig wahrnehmen. Gibt es dann überhaupt Materie, den Boden auf dem ich sitze? Das weiß ich auch nicht. Ich gehe schon davon aus, dass es den Boden und die Erdkugel und so weiter gibt, aber das Dilemma ist, dass alles, was ich darüber aussage, hergeleitet ist aus übereinstimmenden Berichten von verschiedenen Leuten. Wenn ich z.B. dem Heiko die Klangschale in die Hand drücke, dann sind wir uns ungefähr einig über das Gewicht usw. Aber das ist hergeleitet. Ich frage, weil ich von der Nur-Geist-Schule gehört habe. Die Erklärung gestern war plausibel, aber wenn es heißt, dass alles nur Geist ist, dann ist das für mich schwierig zu verstehen. Die Nur-Geist-Schule wird auch oft missverstanden, was diese Punkte angeht; als ob es eine Verleugnung von Materie wäre. Ich glaube, wir können es so einfach und nah an der Erfahrung lassen, wie ich es gestern erklärt habe. Ich habe diese verschiedenen Schulen studiert, und versuche euch das Destillat von dem, was Sinn macht und hilfreich für die Praxis ist, nahezubringen. Hilfreich ist im Dharma immer, sich auf die eigene, direkte Erfahrung zu beziehen und klar zu sagen, wenn etwas dem hypothetischen Denken entspringt. Es ist ja deswegen nicht falsch, aber auf Ableitungen beruhend. Wir leiten aus Messgeräten ab, wie weit die Planeten voneinander entfernt sind, wir leiten dieses und jenes ab. Das ist keine direkte Erfahrung und nicht wichtig, um Befreiung zu erlangen. Denn wenn wir von Befreiung sprechen, dann sprechen wir ja von Befreiung aus engen Geisteszuständen. Wir entdecken eine neue innere Freiheit im Vergleich zu engeren Zuständen. Und die entsteht nicht durch ir gendwelche materiellen Fakten, sondern dadurch, wie wir unsere Welt sehen, wie wir mit ihr umgehen, was für Muster bei uns anspringen, was für Kräfte bei uns aktiv sind. Es findet also alles in der subjektiven Welt statt. Deswegen reicht es für den Weg der Befreiung, sich auf diese Welt zu beziehen, die wir eben direkt erleben können. Das andere brauchen wir deswegen überhaupt nicht leugnen, sondern wir können sagen: „Ja ok, aber das Sonnensystem ist jetzt erst einmal keine direkte Erfahrung. Nur insofern, als ich die Wärme spü re und die Kälte.“ Es macht ja einen Unterschied, ob ich sage, dass der Boden, über den ich gehe, Geist ist oder ob ich ihn füh le... Genau. Das Eine ist ein intellektuelles Benennen, wo wir künstlich sagen: Was ich früher für Materie gehal ten habe, nenne ich jetzt Geist. Wenn ich aber ins Erleben gehe und merke, wie die Erde im Erleben trägt, wie sie sich anfühlt, wie sie riecht, dann merke ich: Ja, das Erleben von Erde ist geistig – was ich über den Boden denke, was er alles für Qualitäten hat, wie seine chemische Zusammensetzung ist, was der Gartenboden vielleicht noch an Dünger braucht. Das ist denkendes Erleben, das ist also auch Geist von dem, was ich für Boden halte. Aber was ich über meine Sinne, über Denken und Fühlen mit dem Boden verbinde, das ist immer im Geist.

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Und dann kann man tatsächlich noch eine Stufe weiter gehen. Es gibt da eine tolle Brücke. Was wir geistiges Erleben nennen, sind eigentlich Kräfte, die wirken. Das sind Bewusstseinskräfte, z.B. Angst, Liebe, Dank barkeit. Das sind Kräfte, die auf unsere Wahrnehmung, auf unser Erleben gestaltend wirken. Wo eine Kraft wirkt, ist Energie zu spüren. – Gestern haben wir in der Meditation das Gewahrsein an einer Stelle gehalten und dabei gemerkt, dass da Energie rein kommt. Die Bewusstheit führt zu einer energetischen Verdichtung. Wir können das leicht machen, wenn wir uns jetzt z.B. auf die Handfläche konzentrieren. Kaum mache ich das, schon merke ich, wie da alles lebendig wird und sehr intensiv. Dieses Phänomen ist die Kraft der inneren Ausrichtung – hier in Bezug auf den Körper –, und sie bewirkt, dass diese Lebensenergie – prana – deutlicher spürbar wird. Wir können diese Lebensenergie, die wir in liebevoller Aufmerksamkeit auf die Hände richten, zum Heilen benutzen. Das können andere auch spüren. Wenn wir so merken, dass das, was wir Geist nennen, eigentlich Kräfte sind und mit Energie zu tun hat, dann haben wir eine Brücke zu dem, was wir Materie nennen. Wenn wir Materie untersuchen, dann merken wir, dass die sogenannte Materie eigentlich Kräfte sind, die wirken und, dass Materie zusammengehalten wird durch Energie. – Anziehungs- und Abstoßungskräfte, die innerhalb der Atome, der Moleküle und Molekular strukturen wirken. So merken wir, dass das, was wir normalerweise für etwas Substantielles, Festes halten, eigentlich Raum in Bewegung ist, wo nicht festlegbare Teilchen in Bewegung sind, wo Kräfte in Bewegung sind. Die Brücke ist deswegen so wichtig, weil wir dadurch auch bei der Materie in einem energetischen Verständnis landen – sowohl Materie als auch Geist sind eigentlich Kräfte und Energien. Und es scheint Möglichkeiten zu geben, wie geistige Kräfte, geistige Energien interagieren mit den Energien in dieser Welt. Das ist die wichtige Brücke. Da löst sich der vermeintliche Widerspruch zwischen Materie und Geist ansatzweise auf, weil wir schon erahnen, dass es Kräfte und Energien sind, und dass es unter Umständen Überschneidungen zwischen diesen Bereichen gibt, wo geistige Kräfte in die anderen Bereiche dieses Universums hineinwirken können. Man kann noch erforschen, wie das möglich ist. Z.B. merken wir das in unserem Körper: Unser Körper ist ja le bendig, lebendige Materie. Und überall wo etwas Lebendiges ist, ist es ganz leicht, mit dem Geist hineinzu wirken. Die Untersuchungen über das Hineinwirken des menschlichen Geistes in Pflanzen sind ja schon be kannt, bei Tieren ist auch klar, dass die reagieren; überall da, wo Leben ist. Aber bei der anorganischen Mate rie ist es etwas schwieriger. Aber auch da gibt es viele, viele Berichte, wie Geisteskräfte auch anorganische Materie beeinflussen können, weil es sich eben dort auch um Energie handelt, nur ist das deutlich schwieri ger. Das sind etwas weiter entfernte Zustandsformen von Energie. Ich bin zwar kein Atomphysiker, aber wenn man die Moleküle noch zerteilt und wieder zerteilt, bleibt nur noch Energie, dann gibt’s noch Quarks, dann schießen sie das noch durch den Teilchenbeschleuniger und zum Schluss haben sie gar nichts mehr... Und jetzt noch spannender. So wie ich das Buch weitergeben kann an Heiko und er zu einer ähnlichen Einschätzung und dem Erlebnis dieses Buches kommt, so ist es möglich, Erfahrungsinhalte weiterzugeben. Es ist auch möglich, durch geschickte Art geistige Erfahrungen zu vermitteln und zu ganz ähnlichen Erfahrungen zu kommen. Und das ist genau das, was wir im Dharma machen. Dharma ist für uns genauso verlässlich, genauso wissenschaftlich wie das, wo andere sich mit Materie befassen. Jemand, der Erfahrung mit dem eigenen Geist hat, weiß genau, was es ausmacht, wenn ein bisschen mehr Mitgefühl in eine Situation hinein kommt, wenn der Geist etwas anders ausgerichtet wird während der Meditation. Wenn ich das mit euch ma che, dann entsteht in vielen von euch eine korrespondierende Erfahrung. Ich weiß genau, welche Erfahrung dadurch entsteht, weil es ein Wissen ist und davon auch eine Wissenschaft. Ich weiß genau, was in meinem Geist passiert, wenn ich meinen Körper aufrichte. Ich weiß, was für Prozesse angestoßen werden, wenn ich die Meditation zu Mitgefühl auf eine bestimmte Art anleite. Auch das lässt sich übertragen, es handelt sich auch um ein Erleben von Kräften und Energien, aber eben im geistigen Bereich. Diese Energien werden geistig erfahren und wahrgenommen, auch da können wir durch Interaktionen etwas weitergeben und bei ande ren auch geistig etwas bewirken. Und deswegen auch dieser scheinbar krasse Unterschied zwischen Einigkeit, was die physische, materielle Welt angeht, und dem, was die geistige Welt betrifft. Genauso einig, was die physische Welt, z.B. was den

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Raum hier angeht, können wir auch eine Einigkeit über die geistige Welt erlangen. Wir brauchen nur ein ebenso feines, differenziertes Umgehen damit. Wir müssen die inneren Augen soweit auftun, wie wir die äußeren Augen auftun, und den inneren Spürsinn soweit verfeinern, wie wir es gelernt haben, mit der materiellen Welt umzugehen. Und dann ist es tatsächlich so, dass Menschen sich total verstehen, wenn sie über die inneren Räume, die Geistesräume sprechen, obwohl sie sich vorher gar nie getroffen haben Das ist dann ein tiefes simultanes Verstehen sogar jenseits von Sprachbarrieren, weil diese inneren Räume so gut vertraut sind. So wie es manche gibt, die sich in äußeren Räumen mehr auskennen, gibt es manche, die sich in inne ren Räumen mehr auskennen. Auch da verfließt dieser Unterschied zwischen Materie und Geist. Meditation Wenn ich sage, wir machen jetzt eine Meditation, dann bedeutet das, dass wir wieder einmal etwas bewusster gewahr sind. – Wir können wieder einmal eine Vorstellung zu Hilfe nehmen. Diesmal die Vorstellung des weiten Raumes, des Himmels. Wir stellen uns vor, dass das Dach über uns verschwindet. Die Wände verschwinden und wir lassen unseren Geist so weit werden wie der unendliche Himmelsraum. – Diesen weiten Raum fixieren wir nicht sondern lassen ihn ganz beweglich. Er darf sich auch gerne unter uns fortsetzen, … in uns, … sodass wir in ein weiträumiges Gewahrsein eintreten. In diesem Raum können die Sinneserfahrungen auftreten wie ein Feuerwerk oder wie Regenbögen. – In diesem weiträumigen Gewahrsein brauchen wir überhaupt keine Angst haben, irgend etwas falsch zu machen. Diese Möglichkeit gibt es gar nicht. … Denken ist genauso willkommen wie Nicht-Denken. – Es mag sein, dass – wenn wir den Geist ganz weit werden lassen – wir nicht einmal mehr einen Mittelpunkt spüren. So wie beim Himmel, wo es keinen Mittelpunkt gibt. … Oder auch in einem bewegten Ozean oder einem Fluss, wo es im Fließen und in den bewegten Tiefen des Ozeans keinen Mittelpunkt gibt. – Wir bemerken vielleicht Strömungen oder wir mögen Winde bemerken ... Kräfte, die wirken ... Energien, die fließen. Aber all das braucht nicht unser Zutun, wir brauchen gar nicht zu reagieren. – ***

Denken Erinnert ihr euch noch, wie wir eingestiegen sind in die Meditation? – Mit unserer Vorstellung von Raum. Um die Vorstellung von Raum zu unterstützen, habe ich euch eingeladen euch vorzustellen, dass die Decke wegfällt, dass die Wände wegfallen. Das können wir in unserer Vorstellung machen. Vermutlich haben viele von euch erlebt, dass diese Vorstellung hilft, um in ein weites Gewahrsein eintreten zu können. Was haben wir gemacht? – Wir haben Gedanken benutzt, um uns anders einzustimmen. Diese Vorstellungen sind doch Gedanken, da sind wir uns einig, nicht? Das sind Worte, ihr habt die Worte verstanden, das sind schon einmal Gedanken. Und dann haben diese verstandenen Worte etwas ausgelöst – eine Bereitschaft, es ruhig einmal zu versuchen –, und ihr habt es spontan umgesetzt. Es ist passiert, und bei den meisten entsteht dadurch eine größere Geistesweite. Jedes der Worte – ob ich Feuerwerk gesagt habe oder Regenbogen, Ozean, Strömung und Wind – hat Symbolcharakter. Worte sind ohnehin immer symbolisch, aber die haben einen starken Symbolcharakter, einen Bildcharakter, und man kann sie nutzen, um assoziativ Erfahrungen herbeizurufen. – Wir nutzen etwas, was wir schon erlebt haben und was in dem Moment gerade hilfreich ist, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Denken, Vorstellungen, Worte, Begriffe bewirken etwas – immer. Das sind Kräfte, sie setzen im Bewusstsein Kräfte frei, sie setzen etwas in Bewegung. Wir setzen diese Vorstellungen, Gedanken, Bilder bewusst ein und rufen damit Geistesbewegungen hervor, bzw. ich habe sie bewusst erzeugt und sie sind dann bei euch auf Re sonanz getroffen und zugelassen worden. – Ihr könntet sie ja auch selber erzeugen, das wäre dann kein großer Unterschied. Das wäre die eigene Arbeit. Wir machen das so mit den Visualisationen, Gebeten und Texten; die rufen in uns Wirkungen hervor. Das heißt: denken, sich was vorstellen, Bilder benutzen, das ist das bewusste Einsetzen von Kräften, das Ausrichten unserer Aufmerksamkeit mit Hilfe dieser Brücken, dieser Symbole, um innere Erfahrungsräume zu erschließen, um Zugänge zu machen. Und das geht Ruck Zuck.

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Lama Tilmann, Remetschwiel, August 2014

Wir brauchen nur ganz kurz ein Bild zu haben und schon ist eine andere Erfahrungsqualität da. Diesen Prozess, den wir jetzt bewusst genutzt haben, um ein weites Gewahrsein zu erleichtern, benutzt unser Geist auch, um uns in enges Gewahrsein zu führen. Eine emotional belastende Vorstellung hat sofort, mit derselben Geschwindigkeit, zur Folge, dass wir uns unwohl fühlen oder besorgt sind. [Baustellenlärm vom Nachbarhaus zu hören] Jetzt können wir uns freuen, dass der Nachbar seine Scheune verschönert und richtig was Gutes macht. Oder wir können ärgerlich sein, dass er es unbedingt gerade jetzt macht, wenn wir meditieren wollen. – Vorstellun gen … unglaublich, die Kraft, und die Auswirkungen. Das ist, was ich heute Morgen meinte mit das Denken einsetzen. Ja, wir können denken, wie wir Lust haben, so wie wir es für sinnvoll halten – und wir können es lassen. Der größte Teil des Meditationsunterrichts dreht sich um das Lassen; immer geht es darum, das Denken zu lassen. Dabei ist, sobald wir aufstehen, das Einzige, was uns hilft, das Denken. Wir brauchen es ganz notwendig – um irgendwo hinzukommen, um uns ein Brot zu schmieren, … wir müssen ja irgendwie die Sachen zusammenbringen und denken dabei. Das Denken ist hier also kein Problem. Im „Ozean des wahren Sinnes“ wird das Denken sogar aufs Höchste gepriesen. „Denken und Gedanken sind segensreich“, „Gedanken sind der Dharmakaya“, „Gedanken sind deine spirituellen Freunde“. usw. Ihr kennt diese Zitate, ich habe sie häufig unterrichtet. Aber wir kriegen dabei das Gefühl, dass Gedanken nur deshalb segensreich sind, weil sie uns die Natur des Geistes zeigen und dass sie ansonsten vielleicht ziemlich nutzlos sind. Das sind sie aber nicht, und sind sie im Dhar ma auch nie gewesen. Ihr wisst vielleicht, dass seit den ersten Anfängen des Dharma-Unterrichts von Buddha Shakyamuni, von drei grundlegenden Praktiken gesprochen wird. Die erste heißt Hören, wird oft auch mit Studieren übersetzt, also das Sich-Vertrautmachen mit der Unterweisungen. Das Kontemplieren der Unterweisungen, das heißt das tiefe Bedenken und auf uns selber Anwenden der Unterweisung. Und dann das Meditieren. Hören, Kontemplieren und Meditieren sind die drei Klassiker. Wenn man Dharmapraxis beschreiben möchte, sind es diese drei. Man darf nicht nur vom Meditieren sprechen. Die ersten beiden sind Denken. Das ist geschicktes, heilsames, hilfreiches Denken. Beim Meditieren lernen wir, aus dem begrifflichen Denken auszusteigen und in den nicht begrifflichen, intuitiv spürenden Bereich einzusteigen. Und Dharmapraxis darf nicht darauf reduziert werden. Es gibt dann auch den umgekehrten Weg: aus der Erfahrung des Nichtbegrifflichen einzusteigen in ein Denken, wo wir dann so, wie Mark Epstein sein Buch genannt hat, die Erfahrung machen, dass es Denken ohne Denker gibt. Gedanken ohne Denker. Das ist spannend: Denken braucht gar keinen Denker. Ich bitte euch, das heute ganz genau zu untersuchen. Das ist die Tagesaufgabe. – Gestern war die Tagesaufgabe, mal zu schauen, ob wirklich alles geistiges Erleben ist, und heute geht es ein Stück weiter. Das hat etwas damit zu tun, dass Gedanken nicht fassbar sind. Das ist der zweite Schritt in dieser Einsichtsmeditation. Und dazu gehört auch herauszufinden, ob denn das Denken auch einen Denker braucht. Genauso wie die Frage, ob das Sehen einen Sehenden braucht … ob das Hören einen Hörenden braucht … ob das Gehen einen Gehenden braucht…ob das Schmecken einen Schmeckenden braucht. Spürt da mal hinein. Das wäre ziemlich revolutionär, wenn wir entdecken würden, dass das Denken keinen Denker braucht. Wir könnten vielleicht feststellen, dass wir umso besser denken, je weniger Denker es hat. Je weniger Ich-Gefühl, je weni ger Schwere es im Denken hat, je leichter das Denken fließt, desto besser funktioniert es, desto schneller geht es, desto effektiver ist es. Gibt es eine Möglichkeit, beim Denken gewahr zu sein, ohne einen Denker zu erzeugen? Wie denkt ein Buddha? Ein Buddha denkt doch auch in Begriffen, oder? Es ist ihm doch möglich, Unterweisungen zu geben und dazu braucht er Begriffe. Offenkundig geht dem Gesprochenen etwas voraus, was diese Worte dann zum Ausdruck bringt. Diesen Prozess können wir auch bei uns entdecken. Wir können sprechen – das ist schon mehr als denken, nämlich die ausgedrückten Gedanken –, ohne in einem Mittelpunkts- oder Ich-Gefühl zu landen. Ich spreche euch davon, ohne mir groß Gedanken um das Ich zu machen. Aber es ist tatsächlich möglich und es ist total befreiend. Was ist der Unterscheid zwischen freiem Denken und unfreiem Denken? Das ist ein ganz, ganz wichtiger Punkt. Wahrscheinlich ist dort der größte Batzen an Freiheit zu finden – im freien Denken und im freien Nicht-Denken. Was macht mein Denken unfrei? Erst einmal merke ich, dass da zwanghafte Tendenzen sind.

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Lama Tilmann, Remetschwiel, August 2014

Zwanghaftes Denken ist unfrei. Ich denke, wenn ich gar nicht denken will und kann die Denkmaschine nicht abstellen. Wie kommt es zu diesem zwanghaften Denken? Man spricht auch vom Durst zu denken, vom Ver langen zu denken, um nicht in eine Risikozone zu kommen, in der man nicht denkt. Dahinter steht ganz klar die Frage: „Wer bin ich, wenn ich nicht denke?“, die Angst davor, was zum Vorschein kommt, wenn wir nicht ständig unser Erleben durch das begriffliche Denken noch nachträglich strukturieren, um uns zu vergewissern, das alles ok ist. Was passiert, wenn wir uns nicht mehr durch das begriffliche Denken ablenken, von dem was eigentlich ist? Das sind Grundmuster, die hinter dem zwanghaften Denken stecken. Dann gibt es eine Art des Denkens, die uns durchaus freiwilliger zu sein scheint, was aber ein sehr stark emotional geprägtes Denken ist, wo wir wie besessen versuchen, Lösungen zu finden für Probleme, für Beziehungskisten, für was auch immer. Wir möchten darüber nachdenken, aber die Art des Nachdenkens ist nicht besonders effektiv. Wir drehen uns im Kreis. Wir konstatieren nach einer Weile, dass wir diese Gedanken schon einmal gehabt haben. Woran liegt das? Teilnehmer: Das nicht auszuhalten. Ich kenne das von Konflikten, von diesem Schmerz. Der Raum ist nicht groß genug, um den Schmerz zu halten und deswegen werde ich eng. Ich versuche dann, durch dieses Den ken eine Lösung zu finden, aber dieser Raum geht verloren, und das Halten geht verloren und dann versinke ich irgendwie. Das ist eigentlich sehr schmerzhaft und leidvoll. Teilnehmer: Ich habe auch das Gefühl, es gibt eine Idee, dass es eine Lösung gibt und dass man es dann ein für alle Mal gefunden hat. Das Problem ist fest und auch die Lösung ist fest. Du hast das Gefühl, es gibt ein Problem und es sollte doch eine Lösung geben. Ja, und wenn ich die habe, dann ist alles gelöst. Teilnehmer: Ich kreise und wiederhole Gedanken am häufigsten, wenn mich jemand gekränkt hat, also wenn jemand mein Ego angepiekst hat, oder so was. Da kriege ich die häufigsten Drehungen in mir. Teilnehmer: Ich drehe mich oft im Kreis über Dinge, die noch in der Zukunft liegen, weil es schwer auszu halten ist, etwas im Schwebezustand zu lassen. Ja genau. Schwer etwas im Schwebezustand zu lassen ist eine sehr schöne Beschreibung. Das trifft auf ganz viele Bereiche unseres Erlebens zu. Wir haben ständig das Bedürfnis zu strukturieren, vorgreifen oder selbst im Nachhinein noch etwas regeln zu wollen, was eigentlich schon verpatzt ist. Es ist schon gelaufen, aber wir möchten es uns gutreden. Teilnehmer: Wahrscheinlich auch, weil ich irgendwie – ohne mir das klar gemacht zu haben – das Bedürfnis habe, irgendwas Verdinglichtes zu haben, woran ich mich festhalten kann. Und dann bin ich wie einer, der ein Haus auf Treibsand zu bauen versucht, obwohl das Wesen eines Hauses dem Wesen des Treibsandes widerspricht. Und solange ich versuche, irgendetwas stabil zu halten auf einem Strom von Prozesshaftigkeit, werde ich Anstrengung haben. Ja genau, das ist ein sehr schönes Bild, etwas Stabiles zu erzeugen in einer an sich fließenden Umgebung wie Treibsand. Wenn man stattdessen zu einem Delphin werden würde, hätte man kein Problem mehr. Man könnte einfach mitschwimmen. Oder wenn man zur Welle werden würde, oder entdeckt, dass man immer schon die Welle war, oder das Wasser. Der Lösungsansatz, der uns vorgeschlagen wird, ist revolutionär radikal. Das Problem trägt die Lösung bereits in sich. Jedes Problem löst sich aus sich heraus, die Lösung ist gar nicht woanders zu suchen. Die grundlegende Lösung liegt bereits in der Natur des Geistes, in der Natur der Erfahrung. Das, was das Herz eng macht, ist das Festhalten an etwas, das – wenn wir es nur lassen würden – sich sofort lösen würde. Das ist die grundlegende Lösung, die immer da ist. Das ist im Grunde genommen eine Ohrfeige, denn es heißt mit anderen Worten: eingebildetes Problem – es gibt gar kein Problem. Wenn uns also der Spiegel des Dhar ma wirklich vorgehalten wird, bedeutet das: „Immer wenn du ein Problem hast, machst du dir einen Film.“

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Schaut doch einmal jetzt gerade. Wir hier mit unseren 50 gesammelten Problemhäufchen: wieviel von unseren Problemen ist denn jetzt da? … Ja nix, gar nix! Wo sollten die denn sein? Im Geist! Ja, das löst sich doch immer auf, wo also ist denn da ein Problem? Es heißt, wenn wir in der Lage wären, so durchlässig zu werden im Geist, wie das angedeutet wird, dann würden wir hier sorglos, problemlos alle im Saal sitzen können. Das sind viele Wenn's, aber diese Wenn's beziehen sich darauf, wie wir grundsätzlich eigentlich sind. Der Buddha hat nie gesagt, dass die Probleme durch Denken entstehen, das findet ihr nirgendwo. Die Aussage ist: sie entstehen durchs Greifen, durchs Festhalten. Es gibt ein greifendes, festhaltendes Denken und ein fließendes Denken. Genau darauf möchte ich heute hinaus. Es gibt ein Denken, das ein ganz natürlicher Ausdruck unseres Seins ist, ein kreativer Ausdruck, der genauso fließend ist, wie alle anderen Wahrnehmungen. In diesem Denken sind die Begriffe ein wunderbarer spielerischer Ausdruck unseres Seins, hervorragend geeignet, um Dinge klarer zu benennen, um sie zu kommunizieren, um sie innerlich auch besser zu strukturieren. Und es gibt graduell unterschiedlich, graduell wach send, ein immer stärker greifendes Denken mit immer stärkeren Fixierungen, wo man sich bei voll ausgeprägten Fixierungen wegen Worten, wegen Begriffen, wegen Meinungen, wegen unterschiedlichen Anschauungen die Köpfe einhaut. So stark kann das werden. Ich lade euch jetzt zum Ende der Unterweisung ein, diese Unterschiede zwischen dem stärker fixierenden Denken und dem freier fließenden Denken wahrzunehmen. Und dann kommen manchmal zwischendurch auch diese Pausen des frei fließenden Nicht-Denkens, wo kein begriffliches Denken aktiv ist, aber eine Men ge anderes ist los, die Wahrnehmungen gehen ja weiter. Aber es finden keine Kommentare statt, es findet kein Denken über etwas statt, kein Denken über Vergangenheit, Zukunft, Gegenwart. Es ist ein Sein, wir brauchen dieses Sein aber nicht zu verherrlichen. Es ist das grundlegende Sein, und es kann mit diesen Sin neswahrnehmungen, mit Denken sein. Die Frage ist, wieviel Greifen, wieviel unnötige Fixierung da ist, die die Enge des Herzens und des Geistes auslöst. Und auch da: man braucht nicht die Fixierung zu verteufeln. Es ist gut Dinge festzuhalten; es ist gut, bei etwas bleiben zu können, aber eben nicht mit der Illusion, es er greifen zu können. Versteht ihr den Unterschied? Ein Beispiel dafür, bei etwas bleiben zu können, ist, dass ich den Faden meiner Ausführungen nicht verliere. Dieses Dabeibleiben ist total sinnvoll. Ohne das wäre es völlig strukturloses Sprechen. Ich würde am Ende des Satzes nicht mehr wissen, wie ich den Satz angefangen habe. Ich muss wenigstens so viel dabeibleiben können. Diese Art des Greifens erzeugt aber keine Enge im Geist, keine Enge im Herzen. Man kann sogar sagen, sie ist aus Mitgefühl und Weisheit geboren. Mitgefühl und Weisheit bewirken, dass man ordentliche Sätze spricht. Da braucht es doch keine Ich-Bezogenheit dazu! Merkt ihr, was ich sagen möchte? Sprechen, Begriffe benutzen braucht keine Ich-Bezogenheit. Das können die Weisheits- und Mitgefühlskräfte sein, die in uns bewirken, dass wir kommunizieren. Das kann anstrengungslos geschehen, ohne sich selbst dabei für wichtig zu nehmen. Man kann die Kommunikation für wichtig neh men. Man kann einfach das für wichtig finden, was kommuniziert werden möchte. Da braucht man nicht so sehr ins Ich und Du zu gehen. Das waren ein paar Vorschläge als Anregung für eure Untersuchung: die engeren Formen des Denkens, die zwanghaften Formen des Denkens, die freieren, fließenderen Formen des Denkens und zwischendurch die Pausen im begrifflichen Denken. Teilnehmer: Mein Problem hat mit dem Greifen zu tun. Wir haben alle unsere Probleme, aber ein paar haben vielleicht richtige Probleme. Wenn es etwas Existenzielles ist – klar hat es mit Greifen nach der Existenz zu tun – aber es macht doch auch Sinn, die Existenz zu sichern oder wenn Angehörige von Krankheit bedroht sind oder ähnliches. Es geht doch schon auch mal eine Stufe härter. Ja, jetzt gehen wir doch mal mehr ins Konkrete. Es ist gut möglich, dass hier im Raum jemand sitzt mit einer Krebsdiagnose. Das haben einige von euch auch schon durchgemacht, das weiß ich, irgendwann war es so. Aber wir alle sitzen hier im Raum mit der Todesdiagnose. Wir werden sterben, es ist existenziell so. Es ist die Frage: Ist das ein Problem? Du sagst, es ist ein wirkliches Problem, und du beziehst dich da auf etwas,

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was es wirklich gibt und um das wir uns kümmern sollen. Wir sollten uns drum kümmern, wie wir sterben und was danach kommt und wir sollten uns drum kümmern, wie wir leben und wie wir einen Krebs überleben können, oder mit einer Herzerkrankung, oder, oder… Aber inwieweit macht das das Herz eng oder den Geist eng? Wir benutzen das Wort Problem gerade etwas unterschiedlich. Wenn jemand kein Geld mehr hat, ist das auch ein Problem, aber macht das das Herz eng, den Geist eng, oder halt nicht? Und jetzt gerade ist es tatsächlich so – egal, ob jemand einen Krebs hat oder kein Geld in der Tasche –, wir haben alle gegessen, wir sitzen alle hier, wir atmen. Wo ist das Problem? Wenn es unser Herz eng macht, dann bedeutet das, dass wir jetzt eine Thematik, mit der wir Schwierigkeiten haben, herbeiholen und uns auf eine solche Art und Weise damit beschäftigen, dass es uns eng macht. Wir könnten es auch auf solch eine Art und Weise angehen, dass es uns weit macht. Die Möglichkeit haben wir auch, z.B. mit dem Tod oder einer Krebserkrankung oder einer Herzerkrankung so umzugehen, dass unser Herz sogar aufgeht dabei. Dann erleben wir das als Segen. Es ist tatsächlich möglich. Und genau das meine ich. Da geht es um die Art des Umgangs mit dem, was man tatsächlich Herausforderung nennt. Ich glaube, Herausforderung ist ein gutes Wort dafür. Einer Herausforderung kann man entweder so oder so begegnen. Und dann wird sie entweder zu einem echten Problem oder zu einem Segen. Aber erst einmal ist es eine Herausforderung. Wie gehen wir mit unseren Herausforderungen um? Mir ist es heute ein spezielles Anliegen, dass wir das konstruktive Denken mit hineinnehmen in unsere Praxis, dass wir konstruktiv und frei denken und dass wir lernen, das nicht-konstruktive bzw. nicht-nützliche Denken auch zu lassen, weil es nicht zu einer Problem lösung beiträgt; und dass wir sehen, dass ein großer Teil des sogenannten Problems schon gelöst ist dadurch, dass die Natur der Dinge, die Natur des Geistes einfach so ist, dass Lösungen – nicht des Problems, aber der Enge des Geistes und des Herzens – jederzeit möglich sind. Dadurch habe ich nicht mehr Geld in der Hosentasche, aber es ist möglich gelöst zu sein. Wir können gelöst sterben, wir können gelöst eine schwere Erkran kung haben. Darum geht es im Dharma. Der Dharma verspricht nicht das Ende von Alter, Krankheit und Tod. Mit Hilfe des Dharma lernen wir, wie wir gelöst altern und krank sein zu können; wir lernen gelöst zu sterben und gelöst weiter zu fließen. Und das ist möglich, das nennt man Befreiung. Mit Leid ist dieses zusätzliche, unnötige Verspanntsein gemeint. Das ist dukkha. Teilnehmer: Eine Herausforderung hat wahrscheinlich zwei Ebenen. Einmal: es ist wie es ist. Die andere ist: da ist irgendwas daran so, wie ich es nicht gerne hätte. Dazu fällt mir eine polynesische Lebensweisheit ein. „Wenn die Dinge nicht so laufen, wie du es dir vorstellst, dann stell dir etwas anderes vor“. Das ist polynesischer Dharma. Was ich vorher noch eigentlich sagen wollte: Du hast uns eingeladen die Art, mit dem Gedanken zu sein, dabei zu sein zu vergleichen mit der Art, ihn zu ergreifen. Wenn ich versuche, das mir andersherum vorzustel len, dann wird es mir plötzlich sehr eindrücklich. Wenn du einfühlsam bei mir bist, dann fühlt sich das ganz anders an, als wenn du mich ergreifst. Der Unterschied ist deutlich spürbar, ob jemand bei mir ist oder jemand mich ergreift und jemand mich überschwemmt mit etwas. Das gibt mir jetzt so einen Hinweis, worum es in dieser Vorstellung gehen könnte. Ja, sehr schön. Dann hört das Kämpfen mit den eigenen Gedanken auf. Teilnehmer Eine praktische Frage: Was mache ich, wenn ich erkannt habe, dass es dieses greifende Denken ist? Hilft da die Frage: Wie ist es, greifend zu denken oder genauer Hinzuspüren? Ja, bei dieser Art, wie wir gerade praktizieren, hilft es hinzuspüren: „Wie fühlt es sich an, im Greifen zu sein?“ Dadurch löst du dich aus den Inhalten, du gehst auf die Erfahrungsebene und dann passiert es, dass es dir zu viel wird. Du hast dann dieses Greifen durchdrungen, du spürst es richtig und merkst dadurch auch den Unterschied zu einem nicht-greifenden Denken. Und wahrscheinlich hat es sich dann gleich einmal erschöpft. Aber du brauchst nicht den Geist woanders hinzulenken, sondern du gehst in die Erfahrung hinein und spürst, wie es sich anfühlt. Wir sind ja in einer Art Forschungsprozess. Wir beobachten, wie sich die verschiedenen Geistesbewegungen anfühlen. Ist mit der Frage nach dem Wie auch gleich der zweite Aspekt – Leerheit – zu erspüren? Wenn ich es erlebe, erlebe ich Unfassbarkeit.

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Genau, das hat dann das zur Folge, dass du dieses Nicht-Fassbare direkt darauf erfährst. Teilnehmer Ich bin jetzt ein bisschen verwirrt. Die ursprüngliche Aufgabe war ja, zu erforschen, ob es Ge danken ohne Denker oder einen Denker von den Gedanken gibt. Und ich hatte das ursprünglich verstanden. – Nicht aber mit dem Ergreifen. Es geht heute um die begrifflichen Gedanken, dann gibt es sozusagen einen Teil, der diese begrifflichen Gedanken sieht oder hört. Aber das ist ja nicht der, der die Gedanken hervorruft. Keine Ahnung. Ich meine, das hat ja mit Ergreifen gar nichts zu tun, aber das hat auch nichts mit dem Erzeugen von Gedanken zu tun. Ich weiß jetzt nicht, wo dieses Ergreifen herkommt. Das müsstest du dir einmal anschauen, und das kannst du immer dann besonders gut untersuchen, wenn dich etwas beschäftigt. Wenn dich den Tag über etwas beschäftigt, dann schau einmal hin, ob da ein Greifen wahrnehmbar wird, ob da eine Denkende wahrnehmbar wird; wie es sich damit verhält; und ob es andere Formen des begrifflichen Denkens gibt, in denen es nicht im selben Ausmaß zu spüren ist. – Ich sage gar nicht, dass es weg ist, sondern dass es nicht im selben Ausmaß zu spüren ist. Das wäre die Brücke zwischen diesen scheinbar unterschiedlichen Aufgaben. Also dieses Ergreifen ist eigentlich das Zwanghafte? Ich denke, dass wir damit mal anfangen. Immer da, wo etwas zwanghaft ist, können wir sicher sein, dass Er greifen eine Rolle spielt. Dann schauen wir einmal, wo die Grenzen des Zwanghaften sind und wo das Freie beginnt. Da ist, glaube ich, Forschungsbedarf, wie frei wir dann tatsächlich sind. Ich glaube, da tun sich für uns Türchen auf – Räume des immer freieren Denkens. Ich habe den Eindruck, dass das Zwanghafte weniger wird und die Freiheit zunimmt. Und dann gibt es tatsächlich auch ganz freies Sein, ganz freies Denken. Meditation Falls euch eine Vorstellung helfen könnte, um jetzt in eine größere Gelöstheit und Entspannung zu finden, dann nutzt diese Vorstellung. – *** Immer wenn wir unsicher sind, wie wir mit uns selbst sein können und meditieren können, dann kehren wir in dieses grundlegende Gewahrsein ein, in dieses grundlegende 'einfach so sein', was die meisten von euch gerade erlebt haben; einfach sein mit den Sinneswahrnehmungen – in der Gehmeditation, beim Sitzen. Das ist die Basis, zu der wir immer zurückkehren können, unser ganzes Leben lang – das zu spüren was gerade ist, ohne Extraschleife. Auf diesem Hintergrund bemerken wir die gedankliche Aktivität, diese zusätzliche Aktivität des Geistes, die über die unmittelbare Wahrnehmung hinausgeht. Wenn wir das bemerken, dann können wir ja spüren, inwieweit das frei ist oder zwanghaft, ob wir da mehr Energie reingeben wollen, oder weniger Energie. Das können wir selbst dann entscheiden. Immer wenn wir uns nicht im Klaren sind, was uns gut tut, ist meine Empfehlung, einfach zurückzukehren zu dem einfachen Spüren von dem, was ist: Kör per spüren, sehen, hören, riechen, schmecken und wahrnehmen, was die Gemütsstimmung ist, wie es mir in nerlich geht. Das ist immer die Basis. Und den Rest, mit dem wir unsere Welt so gestalten, den erforschen wir, wenn wir frisch sind und Lust dazu haben.

Umgang mit Gefühlen Ich möchte ein Thema aufgreifen, das in den Einzelgesprächen sehr häufig angesprochen worden war, den Umgang mit Gefühlen, auch mit starken Gefühlen. Wir haben schon viel über Gedanken gesprochen und einige von euch wissen sicherlich, dass die tibetischen Lehrer kaum einen Unterschied machen in der Art und Weise, wie Gedanken und Gefühle betrachtet werden. Das Meiste, was wir über Gedanken gehört haben, gilt eigentlich genauso für Gefühle. Es taucht aber die Frage auf, ob ich nicht in Gefahr komme, Gefühle zu unterdrücken oder weg zu meditieren, wenn ich auf Gefühle anwende, was ich auch bei Gedanken mache, nämlich hineinzuschauen und immer wieder die Erfahrung zu machen, dass sie sich dann auflösen; dass ich also

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im Erkennen ihrer nicht fassbaren Natur vielleicht einen Ausweg suche, um sie nicht voll zu erleben. Diese Frage ist durchaus berechtigt. Wir haben uns diese Frage auch schon immer wieder gestellt. Ich möchte euch das noch ein bisschen genauer erklären, weil es mit den ersten beiden Schritten von Lhagthong/Vipassana zusammenhängt. Der erste Schritt ist zu erkennen, dass alle Erfahrungen, alle Erscheinungen, Geist sind und im Geist stattfinden. Der zweite Schritt ist zu erkennen, dass das, was wir erleben, keine Substanz hat, leer ist. Und genau an dieser Stelle kann sich der Fehler einschleichen. Es ist möglich, dass wir die beginnende Erfahrung gemacht haben, dass unsere Gefühle leer sind, nicht fassbar, und sich in dem Moment auflösen. Der Fehler ist, dass wir diese frühere Erkenntnis benutzen, um, wenn wieder ein schwieriges Ge fühl, ein schwieriger Gedanke auftaucht, hinzuschauen und dann zu meinen, wir würden die nicht fassbare Natur dieses Gefühls oder dieses Gedankens sehen. In Wirklichkeit erzeugen wir aber ein Abbild des NichtFassbaren aufgrund früherer Erfahrung. Wir erleben es nicht wirklich und machen im gleichen Moment, wo wir meinen, diese leere, nicht fassbare Natur unseres Gefühls zu erleben, eine innere Abwendung und lassen das los, was wir meinen zu betrachten, damit es verschwindet, und haben in dem Moment das Gefühl, in einen weiteren Raum einzutreten. Wenn wir aber ehrlich sind, fühlt sich dieser weite Raum nicht völlig frei an. Er ist weit, aber wir sind nicht voll beweglich. Zum Beispiel können wir nicht über unsere Wut lachen. Wir sind zwar weit, wir können wieder so tun, als ob wir entspannt wären, wir können den Menschen vielleicht anlächeln, mit dem wir ein Problem haben, aber wir sind innerlich nicht wirklich weich und raus aus der Identifikation. Sie ist wie wegge schoben worden, und zwar durch die Kombination von einem Hinschauen, das aber nur ein sehr flüchtiges ist, mit der Erinnerung an ein früheres tatsächliches Erkennen der leeren oder nicht fassbaren Natur des Gefühls, und einem gleichzeitigen, vielleicht uneingestandenen, Nicht-Habenwollen des Gefühls. Wir nennen das in der Fachsprache: die Leerheit als Keule oder als Waffe einsetzen, das ist der Terminus technicus. Wenn man das ganz grob macht, dann wäre das so, wie jeden Gedanken, jedes Gefühl als leer zu betrachten, um es sozusagen abzuservieren. Aber was ich beschrieben habe, ist viel näher an dem, was wir Praktizierende tat sächlich machen: Wir meinen aufrichtig hinzuschauen, entdecken auch einen weiteren Raum als vorher, aber es ist ein Raum, der durch eine Erinnerung, die als Brücke dient, erzeugt worden ist, während im gleichen Moment der Gedanke losgelassen wird. Ihr werdet den Unterschied sofort merken, wenn ich euch den authentischen Prozess beschreibe, bei dem wir zugleich die Leerheit erkennen und nichts verdrängen; wo sich der zweite und der dritte Schritt von Lhagthong/Vipassana miteinander verbinden. Wenn wir ein schwieriges Gefühl haben – egal welches –, gehen wir mit unserer ganzen aufmerksamen Offenheit in dieses Gefühl hinein und entdecken tatsächlich, dass es beweglich ist, dass es lebendig ist und in seiner Natur nicht fassbar. Wenn das nicht mit einem Verdrängungswunsch verbunden ist, dann können wir dadurch das Gefühl noch voller erfahren; wir gehen aus der Leerheit in die Fülle. Wir gehen dann nämlich in den dritten Schritt, wir gehen aus dem Erfahren der nicht fassbaren Natur in das Erfahren der Lebendigkeit der gegenwärtigen Erfahrung; ganz im Unterschied zum Verdrän gungsmechanismus von vorher, wo wir zwar in eine Weite gehen, die aber einen etwas faden Geschmack hat. Sie hat etwas Unlebendiges – nicht tot, aber da sind Lebenskräfte nicht integriert worden, und das merkt man. Das fühlt sich in uns abgehoben anoder nicht ganz in Kontakt mit uns selbst und mit den anderen. Da können auch noch subtile Gefühle von Stolz spürbar werden. Wenn wir den Weg anders gehen und wirklich das Gefühl annehmen und im Erfahren des Gefühls merken, dass es keine Substanz hat, dann löst sich in dem Moment jegliche Angst vor dem Gefühl auf. Wir brauchen nichts mehr zu verdrängen, weil wir ja sehen, dass es gar nichts zu verdrängen gibt. Es gibt nichts, was nicht sein müsste, weil es hat nicht die Substanz, es hat nichts, was uns irgendeinen Schaden oder Leid zufügen könnte. Diese Qualität hat es gar nicht. Und weil es das nicht mehr hat, öffnet sich uns eine ungeahnte Dimension des voll lebendigen Erlebens, in dem es kein Problem mehr gibt, und wir finden unsere volle innere Flexibilität wieder; wir sind wirklich entspannt. In dem Moment können wir dann wirklich über uns selbst lachen und sind innerlich so beweglich, dass wir, wenn andere über uns einen Scherz machen, mitlachen können. Wir sind nicht mehr gefangen in unserer Emotion. Da sind wir von dem Erfahren der nicht fassbaren, leeren Natur des Gefühls in eine noch größere Erfahrung der Lebendigkeit gelangt. In dieser Lebendigkeit hat alles, was wir erfahren, diese substanzlose Qualität, und wir sind im Gewahrsein der substanzlosen Qua lität. Und da schließt sich auch sofort das nächste Verständnis an, dass all das sich ständig unaufhörlich auf-

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löst und selbst befreit. Teilnehmer Meine Erfahrung ist, dass man wirklich den Mut haben muss, voll und ganz ins Fühlen hineinzu gehen. Wenn man sich nicht traut, wenn man wie so ein Pferd vor der Hürde scheut, ist die Gefahr da, dass man komplett vor dem Gefühl zurückscheut. Man muss wirklich den Mut aufbringen und komplett durch das Gefühl hindurch. Ansonsten sind das so kleine Nadelspitzen, die irgendwann wieder auftauchen. Genauso ist es. Und ich wurde auch im Einzelgespräch gefragt, woran man denn merken kann, dass man ver drängt. Das merkt man durch ein Wegzucken, wie ein Pferd vor der Hürde, durch eine Unsicherheit. Da ver lässt einen der Mut, man will es nicht ganz erleben, und das können wir innerlich als eine Unbehaglichkeit spüren. Die führt dazu, dass wir uns nicht ganz einlassen auf das Erleben, nicht wirklich springen. Teilnehmer Wenn ich jetzt Trauer nehme und mir das anschaue – ich möchte das Wort „annehmen“ nicht benutzen, weil sich diese Trauer umgewandelt hat in Dankbarkeit –, ist das Verdrängen oder ist das was anderes? Nein, das ist ein tatsächliches Annehmen der Trauer. Wenn Trauer zu Dankbarkeit wird – die meisten von uns kennen diesen allmählichen Transformationsprozess von Trauer zu Dankbarkeit –, würden wir sagen, auf der Ebene der Geistespraxis ist das etwas, was durch eine wohlwollende Geistesruhe passiert. Wenn wir uns wohlwollend verbinden mit all dem, was in der Trauer los ist, kommt dadurch das Gefühl von Dankbarkeit. – Das passiert nicht durch das Lhagthong-Erkennen, sondern es ist ein sich allmähliches Enthüllen all der näh renden Aspekte, die mit der Trauer verbunden sind, wodurch Dankbarkeit entsteht. Teilnehmer Nachdem wir das gestern besprochen hatten, habe ich versucht, es in meine Erfahrungen umzusetzen. Das sind Begriffe, die sich für mich so wie Kisten, wie Schablonen anfühlen und ich konnte das überhaupt nicht mit meinem eigenen Erleben zusammen bringen. Aber bei dem, was du jetzt sagtest – mich voll und ganz in dieses Erleben zu begeben und diese Lebendigkeit zu spüren – meine ich, verstanden zu haben, dass das der Prozess ist, aber der ist viel mehr an der Erfahrung. Das spricht zu dir. Das sind Worte, die viel direkter zu dir sprechen. Wir suchen nach diesen Worten. Bilder sind oft hilfreich, das Bild mit dem Pferd vor der Hürde ist auch hilfreich. Es gibt so vieles. Das Bild, wie vor einem Abgrund zu sein und zu stürzen und sich wirklich fallen zu lassen, trifft hier auch zu. Es gibt viele Möglichkeiten, diese Angstschwelle zu beschreiben. Manchmal ist aber auch gar keine Angstschwelle zu spüren. Es ist ein Schauen in dem Moment, wo es auftaucht, und ein überraschendes Erkennen. Da war gar kein Zögern vorher. Es ist ein inneres Schauen in das Erleben hinein, ohne dass eine Hürde da war, und es entpuppt sich in seiner nicht fassbaren Natur. Die Wege sind unterschiedlich, aber es geht darum, ganz und gar im Zentrum des Erlebens seine Zentrumslosigkeit zu erfahren. – richtig rein ins Erleben und darin zu erfahren, dass es keine Mitte hat und keinen Wesenskern. Welche Worte auch immer für euch hilfreich sind, nehmt sie als eure Wegweiser. Ich versuche, es auf ganz viele verschiedene Arten und Weisen zu sagen; ir gendetwas kommt hoffentlich durch. Teilnehmer: Ich habe beim Gefühl gemerkt, dass es etwas sehr Abstraktes ist, nicht fassbar. Aber wenn das ein sehr starkes Gefühl ist, habe ich plötzlich im Körper eine Manifestation des Gefühls; einen Schmerz, einen Druck, eine Enge. Körperlich habe ich fixiert, im Geist hat es sich aufgelöst, da war es leichter. Viel leichter. Über den Intellekt kommen wir nicht richtig ran. Das beste Eingangstor ist tatsächlich die körperliche Erfahrung oder die Gesamterfahrung – Gefühl inklusive Körper –, in das ganze Erleben hineinzuge hen; eindeutig. Heute und gestern waren einige von euch in intensiven, emotionalen Prozessen, und ihr seid da auch sehr mutig rein gegangen. Deswegen war es mir ein Anliegen, den Unterschied zwischen Verdrängen und befrei endem Umgang mit Emotionen noch einmal klar anzusprechen. Ich habe auch jahrelang Fehler gemacht, weil ich die befreiende Art, mit Emotionen umzugehen, nicht so klar bekommen habe. Diese weiten Räume, die sich da auftun, sind täuschend ähnlich dem, was den Geschmack der Befreiung hat. Wir würden sie gerne dafür halten, aber wenn wir ganz ehrlich sind mit uns selbst, merken wir, dass sie nicht diese Lebendigkeit haben. Das ist das Merkmal, anhand dessen wir unterscheiden können. Was eine wirkliche Befreiung ist, hat immer eine unglaubliche Lebendigkeit zur Folge.

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Lama Tilmann, Remetschwiel, August 2014

Teilnehmer: Ich möchte noch was in dem Zusammenhang fragen. Du hast heute Morgen gesagt, dass man im Umgang mit schwierigen Situationen z.B. auch mit Tara arbeiten kann. Gehört das hier dazu? Ja, danke. Das war auch Thema in mehreren Einzelgesprächen. Ich hatte euch ja gestern Nachmittag aufge fordert, in die ein bisschen schwierigeren Gefühle und Bereiche hinein zu spüren. Das haben einige von euch so gründlich gemacht, dass es ordentlich Erfolg gehabt hat. Ich möchte noch ein bisschen mehr dazu sagen, wie man das auf die allerbeste Art machen kann – aus meiner Erfahrung und auch so, wie es der tibetische Buddhismus anbietet. Wir können uns z.B. Tschenresi oder Tara ins Herz setzen. Wir nennen das in der Psychotherapie das Verankern in den Ressourcen. Wir brauchen eine ganz stabile Verankerung im Heilsamen, um dann das Schwierige einzuladen. Wir machen das ständig in unserer Praxis, indem wir Zuflucht nehmen. Das tiefe Zufluchtneh men, sich auf die Buddhas, die Erwachten auszurichten, den Segen einzuladen und diesen Segen in welcher Form auch immer zu spüren, ist die eigentliche Verankerung im Heilsamen. Diejenigen, die sich mit der Vi sualisationspraxis ein bisschen auskennen, wissen, dass wir uns beim Anrufen der Zuflucht die Zuflucht vor stellen und die Zuflucht jeweils mit uns verschmilzt und in uns verweilt. Wir spüren in dem Moment, wo wir den Buddha – Tara, Tschenresi – in uns spüren, dass wir einen weiteren Geist bekommen, dass wir in ein fließenderes Gewahrsein kommen, dass die Sorgen abfallen und wir eine Sicht der Welt bekommen, in der erst einmal alles grundlegend in Ordnung ist. Man könnte sagen, so als ob wir als Buddha unterm Bodhibaum sitzen würden, wenn wir es voll und ganz zulassen können. Wir können uns selber dabei auch in Licht gestalt visualisieren. Wir können selber zum Yidam werden, zu einem solchen Buddha-Aspekt, und selber Tschenresi sein, selber Tara sein – die Manifestation, die uns am meisten inspiriert. Und in dieser Visualisation der Präsenz dieser Buddhanatur heißt die Instruktion in der Tschenresi-Sadhana: Alle Formen, die erscheinen, sind die Manifestation der Gottheit, alle Klänge die erscheinen, sind das Mantra der Gottheit und alle Gedanken, die erscheinen, sind das zeitlose Gewahrsein der Meditationsgottheit, des Yidam. Was ist damit gemeint? Wir sind in dieser Yidam-Präsenz in unserer Buddhanatur und natürlich kommen uns dabei nicht die Gedanken von Buddha Shakyamuni oder Tschenresi in den Sinn, sondern es kommen uns un sere Gedanken in den Sinn. Es kommen die Gedanken, die mit unserem Leben zu tun haben, nicht irgendwelche anderen. Die Klänge, die wir hören, sind die Klänge unserer Umgebung, und die Formen, die wir se hen, sind die Menschen, Pflanzen und Räume usw., die uns umgeben – das ist unsere Welt. Sie werden aber aus einer anderen Sicht wahrgenommen. Wir sind zutiefst verankert in dieser freieren, offeneren Sicht – dabei hilft uns das Mantra –, und dann kommt unser Schrott hoch, unsere Herausforderungen; das, womit wir immer Schwierigkeiten haben. Und es enthüllt sich uns gar nicht mehr als schwierig, sondern es beginnt sich zu lösen und es wird integriert. Es findet Integration statt von dem, was schwierig war – oft kommen die abgespaltenen Anteile hoch in diesem heilsamen Kontext, in deisem heilsamen Bewusstsein, und sie erfahren dadurch Integration. Wir sind hier in einem liebevollen Gewahrsein. Nichts besser als das, um in dieses liebevolle Gewahrsein das Schwierige einzuladen, damit Frieden zu schließen und zu merken: da ist gar nichts Schwieriges dabei. Das ist der eigentliche Prozess, mit dem im Vajrayana in diesen Yidam-Praktiken oder im Guru-Yoga gearbeitet wird. Das benutzen wir im Vajrayana; wir begeben uns in diesen heilsamen Bezugsrahmen, in Bezug zu den Bud dha-Qualitäten, verankern uns darin und arbeiten dann mit allem, was hochkommt. Und da gibt’s keine Zensur, alles darf kommen. Da brauchen wir nicht speziell darauf zu achten, dass reine Gedanken auftauchen. Die Gedanken sind dann rein, weil nicht mehr dieses übliche Haften stattfindet. Durch diese Gleichzeitigkeit des offenen Geisteszustandes des Yidam- oder Buddha-Bewusstseins und den auftauchenden samsarischen Inhalten, in die wir normalerweise verstrickt sind, kommt es zum Durchdringen der problematischen Geistesinhalte mit diesem offenen Gewahrsein. Und damit wir nicht rausfallen aus diesem offenen Gewahrsein, haben wir das Mantra und die Visualisationen, mit denen wir unseren Geist stabilisieren. Teilnehmer: Die Frage zu Tonglen mit sich selbst hat sich jetzt praktisch schon beantwortet – mit sich selbst als Tara und Tschenresi. Verbindet man sich dann mit diesem Aspekt, der vor einem sitzt und bedürftig ist oder gehässig oder was weiß ich, hast du das so gemeint?

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Ja genau. Bei denjenigen von euch, denen ich das Tonglen mit sich selbst empfohlen habe, da ist es dann auch so, dass die stabilste und sicherste Form, um Tonglen mit sich selbst zu machen, ist, wieder die Zuflucht in sich selbst einzuladen, sodass wir hier eine Lichtsphäre haben, in der ein Buddha sitzt oder zumindest die se Lichtsphäre die Buddha-Präsenz ausdrückt. Und dann stellen wir uns vor uns den bedürftigen Teil von uns selbst vor, den Anteil von uns, der gerade Schwierigkeiten hat. Und unser Buddha-Sein, unser erwachsenes Sein atmet in der Präsenz des Anteils, der leidet und Schwierigkeiten hat, und fragt und spürt: „ Wie geht’s dir, was brauchst du?“ So öffnen wir uns für diesen schwierigen Aspekt in uns und spüren, was es braucht und lassen es hinfließen. Das ist möglich, weil wir hier in Kontakt sind mit den Buddhaqualitäten. Wir kön nen tatsächlich etwas fließen lassen, wo wir sonst Schwierigkeiten haben, uns selbst anzunehmen. Die Therapeuten unter euch werden sofort die Innere-Kind-Arbeit wiedererkennen, die es auch im Tonglen als Metho de gibt – nicht als Kind, sondern einfach als der andere Teil von uns, der uns genauso gegenübersitzt wie wir selbst. Wir sind der handelnde, der aktive Teil und der andere von uns wird gespürt, genährt, bis sich alles gelöst hat. Dann lassen wir die Visualisation sich auflösen und bleiben einfach bei uns und atmen weiter im ganz normalen Rhythmus. Meditation Wir brauchen nicht immer emotionale Schwerarbeiter zu sein. Meditieren darf zwischendurch auch einfach dieses Verweilen im Grundgewahrsein sein. Wir brauchen nicht ständig zu suchen nach neuen Herausforderungen. Wir können es uns auch einfach gut gehen lassen im So-Sein. Das Leben beschert schon genug Herausforderungen. – Die Grundhaltung ist immer dieselbe, die Haltung des Sich-Öffnens; auf allen Kanälen spüren, hören, sehen. Das gesamte Erleben zulassen, ohne in diesem Erleben einen Mittelpunkt zu suchen, ... weit offenes Sein. – Vielleicht spürt ihr, wie jede Zelle lebendig ist, wie jeder Bereich unseres Körpers lebt und vibriert, voller Empfindungen ist. – Vielleicht möchtet ihr ja mal damit experimentieren, euch vorzustellen dieser Körper wäre ein Lichtkörper, ein Energiekörper. – *** Erklärungen zur Gehmeditation Wir haben am ersten Tag bereits über die Gehmeditation gesprochen. Als wir draußen waren, haben wir be gonnen mit den Fußsohlen, die Füße zu spüren und die Knöchel zu spüren, die Waden, die Knie, die Ober schenkel, die Hüften und das Becken. Ich nehme an, ihr habt weiter gemacht und seid allmählich, was den Körper angeht, in eine Gehmeditation hineingekommen, wo ihr den ganzen Körper beim Gehen spürt. Der ganze Körper geht. Es gehen ja nicht nur der Unterkörper und die Beine. Der ganze Körper ist ständig dabei, Gewichtsverlagerungen zu machen. Jetzt lade ich euch ein, im Gehen diese Ganzkörper-Achtsamkeit zu verbinden mit dem Sehen, dem Hören, dem Riechen, Schmecken und der ganzen Präsenz unseres Seins; dass wir mit unserem Herzen gehen; dass wir während dem Gehen genauso mit dem Herzen präsent sind, also mit unserer Intuition, mit unserem Spü ren, mit unserer Sanftheit, diesem liebevollen Gewahrsein. So wie wir das auch auf dem Kissen sind, lassen wir uns mit dieser offenen gelösten Präsenz vom Herzen her gehen; das Gehen zulassen, nicht so sehr gehen wollen, vom Herzen her gehen und vom Herzen her spüren, wie es ist zu gehen. Wie es ist, da so unterwegs zu sein. Dabei bekommen wir unsere Gefühle und Gedanken mit. Der Körper ist spürbar, unsere Umgebung ist spürbar, wir sind nicht getrennt. Wir gehen in der Einheit mit allem um uns herum, ohne irgendeinen Aspekt von uns oder unserer Umgebung auszuklammern. Das Gehen mit dem Herzen ist Symbolsprache. Das Herz steht Intuition. Wir können auch die Bauchsprache benützen und sagen mit dem Bauch gehen, oder mit dem Becken gehen. – Wie ihr das für euch, in eurer inneren Sprache, am sinnvollsten erlebt, mit dem ganzen Wesen unterwegs zu sein. Es ist aber nicht gemeint, zu sehr denkend zu gehen. Wenn ihr denkend geht, so ist das auch ganz nett, aber dann seid euch bewusst, dass ihr denkend geht. Dann macht es wirklich zu eurer Freude und geht denkend. Denkt voller Freude über das, was ihr denken wollt, aber seid bewusst, dass ihr denkt. Nehmt es einfach wahr. Denken ist auch Erleben.

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Dann gehen wir im denkenden Erleben. Es ist wunderschön denkend zu gehen, da kann man wundervoll denken – aber dabei gewahr sein! Sonst denkt es uns. Wir gestalten. Und wir gestalten, solange wir gewahr sind, sonst werden wir gestaltet, das nennt man dann Karma. Wenn es uns gestaltet, dann gestalten unsere automatischen Muster und das Wirken von früher unser Leben, Denken und Fühlen, das sind die Auswirkungen von Karma. Wenn wir uns jetzt bewusst sind und gewahr, dann gestalten wir neu, dann gestalten wir an ders, viel heilsamer. Wir setzen dann ganz viele heilsame Kräfte frei.

Morgenmeditation Kontemplation Ihr kennt diese grundlegenden Gedanken, mit denen wir uns einstimmen, bereits. Ich möchte euch einladen, den Weg durch diese Kontemplation fast selber zu finden; euch einzustimmen und auf die Meditation vorzu bereiten. Diese Kontemplation dient dafür, die Motivation zu sammeln, sodass wir dann nachher gar nicht solche Schwierigkeiten mit Ablenkungen haben, weil wir genau wissen, warum wir da sind und was wir jetzt beabsichtigen. – Zunächst einmal das Bedenken, wie kostbar jetzt gerade diese Gelegenheit ist ... und wofür ich alles dankbar sein kann … ein Mensch zu sein, in dessen Leben so viele gute Bedingungen zusammen kommen. – Und dann denke ich daran, wie schnell diese Gelegenheit sich auch wieder auflösen kann; wie unwägbar die ses Leben ist, keine Ahnung wie lange ich leben werde; und worum es mir in der Tiefe geht, in diesem Leben; woraus ich mich befreien möchte und was ich entwickeln möchte. – Und ganz konkret jetzt gerade: Worum geht es mir in dieser Meditationssitzung? – Damit richte ich mich auf das Erwachen aus, was wir traditionell „Zuflucht nehmen“ nennen: Rezitation: Zuflucht, Vier Unermessliche und Gebet an den Lama Damit lasse ich die Zuflucht in mich verschmelzen, und werde zu der Yogini, die im Bewusstsein der eigenen Buddha-Natur meditiert. Reinigungsatem Lasst uns zur Klärung des Geistes diesen neunfachen Reinigungsatem ausführen, um größere geistige Klar heit zu ermöglichen – speziell jetzt am Morgen. Lasst uns diese Übung im selben Rhythmus ausführen, und wir achten dabei stets darauf, dass wir den Ausatem ganz, ganz weit fließen lassen. Auch dann, wenn nichts mehr hörbar ist, fließt der Atem weiter aus, sodass die ganze alte, verbrauchte Luft auch noch ausgeatmet wird; so weit wie es geht. – Ich erinnere euch noch einmal: zu Anfang lang und kräftig, dann in der Mitte kurz und kräftig und der dritte ist jeweils lang und etwas sanfter. – Wer will, kann im Anschluss die Vasen-Atmung praktizieren. – Geleitete Meditation In einem Geist mit geringem Haften entsteht ein Gefühl von Weite – so wie der Himmel, der weite Raum. In dieser Weite ist es möglich, ganz fein wahrzunehmen. Die geistigen Bewegungen, die Sinneswahrnehmungen erscheinen uns wie Zeichnungen im Wasser. Nichts bleibt, aber alles zeigt sich … so flüchtig, wie es ist ... in aller Deutlichkeit. – Falls ihr mit Müdigkeit zu tun habt, könnt ihr eine Weile im Stehen meditieren, das gehört einfach mit dazu. Es kann übrigens auch bei aufgewühltem Geist sehr hilfreich sein, sich hinzustellen. – Denkt immer wieder daran, in dieses Grund-Gewahrsein hinein zu entspannen; ein Gewahrsein, in dem wir einfach sind; darin vielleicht die Atembewegungen bemerken, ohne uns mit irgend etwas zu beschäftigen. – In diesem grundlegenden Gewahrsein bemerken wir, wie begriffliches Denken entsteht und sofort wieder aufhört, sich sofort wieder legt oder auflöst in dem Moment, wo wir ihm keine Aufmerksamkeit mehr schenken, wir es nicht mehr nähren. Manchmal merken wir, dass wir in der Mitte eines Satzes, der sich gerade for muliert im Geist, es einfach lassen können. Und schon ist es vorbei, ohne Übergang. – So ein begriffliches Denken leuchtet auf, zeigt sich, und vergeht schneller als eine Sternschnuppe. – Wenn ihr möchtet, könnt ihr gerne mal extra Gedanken erzeugen, begriffliches Denken und den Prozess ganz bewusst beobachten:

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Wie ist es zu denken? Wie sind die Pausen zwischen den Gedanken? Was ist da los in den Pausen? Wie fühlt sich das an zu sein, ohne im begrifflichen Denken zu sein? Was macht es für einen Unterschied bewusst zu denken und ohne es zu bemerken auf Gedanken reisen zu sein? Interessiert euch für diese feinen Unterschiede und wählt das, was euch am meisten entspricht. – Schaut doch auch mal, ob ihr die nicht-begriffliche Geistesbewegung mitbekommt, die dem begrifflichen Denken vorausgeht; den Impuls oder das Verstehen; das, was kommt, bevor sich die Worte bilden in unserem Geist. Schaut, ob ihr das mitbekommt. – Ihr könnt es auch bewusst ausprobieren, indem ihr euch sagt: „Dieses und jenes denke ich jetzt!“ Und achtet auf die allererste Bewegung, die diesen Gedanken, dieses begriffliche Denken vorausnimmt. – Schaut einmal, ob ihr an etwas denken könnt, ohne Worte zu benutzen, ohne Begriffe zu benutzen. – Rezitation: Widmung Die 'Haupt-Praxis' in den Pausen Wenn wir jetzt in unsere Haupt-Praxis eintreten, lasst uns ganz besonders darauf achten, dass wir die Stille wahren. Wir werden vielleicht einen Tag mit viel Regen haben, und da wäre es schön, wenn wir gerade dann besonders im Haus völlige Stille haben. Nach Möglichkeit auch keine zugeflüsterten Bemerkungen, sondern wirklich Stille und Kommunikation nur durch kleine Augenbewegungen, kleine Zeichen, dass es ganz angenehm für uns ist, mit so vielen Menschen das Haus zu teilen; dass wir diese Praxis auch weitermachen können – wenn wir so eine kleine Pause beim Frühstück haben, oder irgendwo in der Stille sitzen; dass wir beobachten können, wie vorbegriffliches Denken entsteht, wie begriffliches Denken entsteht, wie wir wieder in dieses Grund-Gewahrsein uns zurückfallen lassen können, in dieses einfache Sein, wo wir mit gar nichts speziell beschäftigt sind, wo wir einfach nur sind, wahrnehmen… so, dass wir diese Fluktuation in unserem Gewahrsein mitbekommen können; auch wenn wir in der Aktivität sind; gerade dort, wo sonst unsere emotionalen Reaktionen so schnell anspringen, weil wir in Kontakt sind, auch mit anderen, in Situationen. *** Ich möchte heute mit euch eine kleine Reise nach Tibet beginnen, ins zwölfte Jahrhundert zu dem Yogi Milarepa und seine Worte sprechen lassen. Das folgende Vajra-Lied beginnt auf Seite 125 im ersten Band von Milarepas gesammelten Vajraliedern.

Wie Tönpa Shakyaguna in der Magengrotte zu Nyanang zum Schüler wurde Ein Tönpa ist ein Lehrer; jemand, der selber schon unterrichtet, also ein Dharmalehrer, der hier auch den Namen Shakyaguna hat – Qualitäten der Shakyas – und einen Mönchsnamen trägt. Ihr müsst euch vorstellen, diese Lieder sind etwas später niedergeschrieben worden. Sie wurden auswendig gelernt und von Schüler generation zu Schülergeneration weiter gegeben. Sie dienten zur Inspiration der Yogis. Sie sangen sich diese Lieder vor, sie sangen sie gemeinsam und erinnerten sich damit an wesentliche Aspekte des Dharma. Ich glaube, über Milarepa brauche ich nichts zu sagen. Milarepa ist ziemlich bekannt als einer der größten Yogis in Tibet, der Zeit seines Lebens nur mit einem Baumwolltuch bekleidet – und das auch nur aus Schick und Anstand – in den Höhlen Tibets in 4000, 5000 Metern Höhe lebte und Sommer wie Winter kein Dach über dem Kopf akzeptierte. Er wanderte mit seinen Schülern, die von ihm lernen wollten, durchs ganze Land. Sie sammelten sich dann auch jeweils in Höhlen in seiner Nähe. Ich hatte das Glück, mit Wolfgang und Thomas aus Freiburg und anderen, an einen solchen Ort reisen zu können, nach Lapchi. Da sind in einem Berg an die 20 oder mehr solcher Höhlen. Das ist der Ort, an dem Milarepa die meisten seiner Winter verbracht hat. Heute sind die Grotten aus lauter Verehrung und Respekt

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hergerichtet. Einige haben ein kleines Mäuerchen davor mit einem Fenster, damit das so eine geschützte Behausung gibt, ein Häuschen. Aber damals waren die Höhlen einfach so, wie die Natur sie hinterlassen hat. Namo Guru. Als der Jetsün – Jetsun ist der Name für Milarepa, denn Jetsun heißt „edler Meister“ – von Kyidrong in Mang-yul nach Nyanang zurückkam, waren seine früheren Gönner überglücklich und baten ihn, für immer bei ihnen zu bleiben. – Was er nicht akzeptierte. Aber immerhin lässt er sich für eine Weile in einer Höhle in ihrer Nähe nieder. Während er in einer Grotte lebte, die zwischen Ober- und Unter-Tsang unter einem magenförmigen Felsen lag – und deswegen Magengrotte genannt wurde –, besuchte ihn Tönpa Shakyaguna und die Dharma-Schüler von Nyanang. Sie erkundigten sich, welche Fortschritte der Jetsün in der Praxis gemacht und welche Gewissheiten er erlangt habe, während er in den Einsiedeleien anderer Landesteile lebte. Er antwortete mit diesem Lied: Ich verbeuge mich vor Marpa, dem Übersetzer. Während ich in den anderen Bergeinsiedeleien meditierte, Erlangte ich Gewissheit über die ungeborene Wirklichkeit. Das ist das Erleben, das nirgendswo verweilt, keinen Geburt, keinen Tod hat. Wir müssen noch herausfinden, was genau er damit gemeint hat. Das dualistische Haften an der Vorstellung Von vorherigen und zukünftigen Leben hat sich aufgelöst. Die Erscheinungen der sechs Daseinsformen Sind als Täuschung entlarvt. Und die Illusion von Geburt und Tod ist beendet. Es geht um das Thema Geburt und Tod. Wenn wir die Natur des Geistes erfahren, ist offenkundig, dass die Natur des Geistes nie geboren wurde, deswegen auch nie sterben wird und nirgendswo verweilt, nicht etwas ist. Und im Erfahren der Natur des Geistes enthüllt sich die Vorstellung von einem Tod, als Täuschung. Im Tod des Körpers stirbt niemand, das Bewusstsein stirbt nicht. Diese grundlegende Qualität des Gewahrseins als Prozess, als Gewahren, geht weiter. Es gibt kein Geboren-Werden und Sterben. Die vermeintliche Reihenfolge von Geburt, Alter und dann Tod und wieder neue Geburt entpuppt sich als eine Täuschung. Es sind einfach immer wieder neue Filme, andere Filme, die auftauchen. Das nennen wir dann andere Existenzen. Von daher gibt es kein vorheriges oder zukünftiges Leben, weil es dazwischen gar keinen Tod gibt. Es ist fortgesetztes Erleben, fortgesetztes Spiel dieses grundlegenden Gewahrseins, was immer dieselben Qualitä ten hat. Mit Erscheinungen der sechs Daseinsformen meint Milarepa die sechs Daseinsbereiche, angefangen bei den Höllenbereichen bis zu den Götterbereichen, die ganze Spanne der Erfahrungen. Sie sind als Täuschung entlarvt bedeutet, dass sie als Filme, als Feuerwerk dieses dynamischen Gewahrseins verstanden werden. Und damit ist die Illusion von Geburt und Tod beendet. Ein zentrales Zeichen dafür, dass jemand wirklich die Natur des Geistes verstanden hat, ist, dass keinerlei Glauben, keinerlei Angst mehr besteht in Hinblick auf Geburt und Tod. Die Angst vor dem Tod hat sich total, vollständig, restlos aufgelöst. Das geht einher mit einem Verstehen der Natur des Geistes; wer die Natur des Geistes verwirklicht hat, ist auch frei von dieser Angst. Das war der erste Vers. Milarepa fängt ganz schön intensiv an. Es ist das Wiedersehenslied mit seinen Freunden und Gönnern. Ich erlangte Gewissheit über die Gleichheit aller Dinge. Das dualistische Haften an der Vorstellung Von Glück und Unglück hat sich aufgelöst. Gefühlserfahrungen wurden als Täuschung entlarvt Und ich hege keine Vorurteile mehr, Sodass ich nichts ablehne oder anstrebe.“

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Gewissheit über die Gleichheit aller Dinge. Wir haben hier Mühe mit der Übersetzung. Mit Gleichheit, Gleichwertigkeit ist gemeint, dass in allen Erfahrungen, die auftauchen – ob angenehm oder unangenehm, glücklich oder unglücklich – immer die leere Natur des Erlebens, die nicht fassbare Natur bewusst ist, ge genwärtig ist, erfahren wird. In dieser grundlegenden Natur, dieser grundlegenden Qualität des Erlebens ist kein Unterschied zu finden zwischen einem Schmerz und einer angenehmen Erfahrung. Sie sind nicht gleich in ihrer äußeren Erschei nung – so wie blau nicht gelb ist –, aber in ihrer Natur, in ihrer Qualität, nicht fassbares Erleben zu sein, ein Erleben zu sein, gegen das man nicht zu kämpfen braucht, darin sind sie gleich. Das ist die grundlegende Gleichheit oder Gleichwertigkeit aller Erfahrungen. Damit sind die emotionalen Reaktionen von „Mag ich. – Mag ich nicht.“ als Täuschung entlarvt; als das Spiel, das emotionale Drama, das sich immer wieder aufbaut, weil es unterscheidet und nicht der WesensGleichheit, der grundlegenden Gleichheit des Erlebens bewusst ist. Wir können das ansatzweise erleben, wenn wir überrascht sind, dass es möglich ist, beim Meditieren einen Schmerz wahrzunehmen ohne ihn abzulehnen. Wenn uns das möglich ist, dann entdecken wir, dass das, was vorher eindeutig Schmerz und unangenehm war, als bloße Intensität erfahren wird, als ein intensives Gefühl. Aber es hat nicht mehr den Charakter von angenehm oder unangenehm. Es ist sehr intensiv, sehr lebendig, aber wird nicht mehr mit Kategorien der Vorlieben und Abneigungen belegt. Solche Erfahrungen habt ihr vielleicht schon gemacht, und die sind Richtung-weisend für das, was Milarepa hier anspricht. Das dualistische Haften an der Vorstellung von Glück und Unglück, hat sich aufgelöst. Das ist unglaublich, wie glücklich und unglücklich wir immer wieder sind! Ich lese uns diesen Text jetzt auch nur deswegen vor, damit er als Inspiration wirkt; um zu zeigen, dass es einen Weg gibt, wo wir weder Glück festzuhalten brauchen, noch Unglück abzuwehren brauchen sondern in die Natur des Erlebens hineingehen können; und darin genau entsteht eine neue innere Freiheit. Der Fehler, den wir machen, ist, dass wir z.B. beim Satz „Ich hege keine Vorurteile mehr, sodass ich nichts ablehne oder anstrebe.“ denken: „Okay, das kriege ich doch hin; nichts ablehnen, nichts anstreben!“ Wir geben alle Meinungen auf, alle Vorlieben, alle Abneigungen, und sind dann dieser geschmeidige Buddhist, der nicht mehr weiß, was er gerne trinkt, wenn er danach gefragt wird. Er kann nicht sagen: „Ich hätte gerne einen Kakao.“ Er sagt: „Ach, ist mir eigentlich egal.“ Oder auf die Frage „Willst du den Film sehen oder lieber den Film? Willst du lieber spazieren gehen oder lieber still sitzen?“, sagt er „Och, ist mir egal.“ Das ist eine völlig künstliche Haltung, die ich selber auch lange Zeit praktiziert habe. Ich weiß, wovon ich spreche. Als ich mit meiner Frau zusammen kam, die mir solche Fragen stellte, war meine Antwort allzu oft: „weiß nicht“ oder „ist mir egal“ oder wie auch immer. Ich hatte mir das auch so angewöhnt, denn es gehört doch zum guten Stil eines Dharma-Praktizierenden, keine Vorlieben zu haben; auch keine Meinungen. Politische Meinungen zu haben, ist ja schwierig, weil man doch weiß, auf was für einem wackeligen Grund man sich da bewegt. – Ich musste verstehen und weiß es heute: So geht’s nicht. Wir dürfen ganz genau spüren, wie ein Getränk auf uns wirkt; wie ein Spaziergang auf uns wirkt; wie das stille Meditieren auf uns wirkt; wie ein Gespräch wirkt; wie ein Film wirkt oder halt nicht wirkt; und wir sagen: „Doch, das täte jetzt gut. Das ist es, was jetzt gut tun würde.“ Aber es ist möglich, darin zu erfahren, dass es in der Tiefe irrelevant ist. In der Tiefe, im Geschmack der eigentlichen Erfahrung ist es irrelevant, aber trotzdem müssen wir Entscheidungen treffen. Milarepa hat es auch vorgezogen, in Höhlen zu leben, und er wusste warum. Er wusste, warum er nicht bei seinen Gönnern unterm Dach lebte, wo diese ständige Geschäftigkeit tobte. War doch klar! Das war aber aus einer Haltung völliger innerer Entspannung und immer durch das Sehen der eigentlichen Natur der Phänomene. Ich sage z.B.: „Ja, ich hätte gerne einen Kaffee.“ Dann kommt der Kaffee und die Gastgeberin hat ihn aus Versehen schon gezuckert. – Das ist die Gelegenheit, den gleichwertigen Geschmack aller Erfahrungen zu praktizieren und zu sagen: „Das nächste Mal aber bitte ohne Zucker.“ – Wir können also unterscheiden und geben eine Richtung. Und es ist völlig klar, dass gewisse politische Positionen aus meiner Sicht unhaltbar sind, sie dienen nicht dem Wohl von allen; ganz klar! Man man ganz klare Standpunkte einnehmen. Aber man braucht sich mit den Standpunkten nicht zu identifizieren. – Darum geht es. Das ist ganz fein.

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Es ist vergleichbar damit, was ich gestern zu diesem Loslassen von geistigen Eindrücken, von innerem Erleben erklärt habe. Dieses Keine-Vorlieben-Haben und der pflegeleichte Buddhist zu sein, ist ein Vermeiden, genau hinzuspüren. Es geht darum, aufgrund des einen Geschmackes aller Erfahrungen mühelos auf etwas, das uns gerade richtig gut tun würde, verzichten zu können, wenn gerade etwas anderes kommt. Das heißt aber nicht, dass man es lässt, in diese Richtung zu gehen. Nur, es findet kein Kämpfen statt. Es ist eine Ausrichtung; eine innere Ausrichtung, ohne zu kämpfen. Das herauszufinden, ist etwas ganz Spannendes. – Als mir hier dieser Grüntee mit Vanillegeschmack serviert wurde, habe ich sofort gemerkt, dass mit meinem Grüntee was nicht stimmt. Trotzdem kann ich ihn trinken. Zum nächsten Vers. Milarepa singt. – Ihr müsst euch vorstellen, dass er wirklich melodisch singt; das waren tibetische Raps. Es war eine einfache Melodie, in der Nähe eines Sprechgesanges, wo die Worte ganz gut zu verstehen waren. Aber es war so einprägsam, dass die Zuhörer mit Leichtigkeit behalten konnten, was Milarepa gesungen hat. Und er hatte einen Schüler – Rechungpa –, der ein absolutes Gedächtnis hatte und nichts vergaß, was einmal gesagt wurde. Das war natürlich eine unglaubliche Hilfe für die Überlieferung dieser Gesänge an die nächste Generation. Teilnehmer: Sind die Melodien überliefert? Ja, aber um sie singen zu können, müsste ich das Tibetische haben. Ich weiß nicht, ob ich noch reinfinden würde, aber wir haben es gelernt. Diese Melodien sind dieselben wie in der Milarepa Guru Yoga. Ich erlangte Gewissheit über die Untrennbarkeit. Das dualistische Haften an der Vorstellung Von Samsara und Nirvana hat sich aufgelöst. Das Erklimmen spiritueller Stufen und Wege ist als Täuschung entlarvt, Und Hoffnung und Furcht verblenden mich nicht mehr. Die Untrennbarkeit von Samsara und Nirvana. Ihr wisst ja, Buddhisten wollen ins Nirvana und raus aus Samsara. Mit dem Erkennen der Untrennbarkeit ist genau das gemeint, was Milarepa in der zweiten Strophe angesprochen hat: in der sogenannten schmerzhaften Erfahrung ist die Natur des Geistes erfahrbar. Genau so ist es auch mit der Verstrickung. Samsara bedeutet Verstricktsein; eine verstrickte geistige Haltung, ein Erleben, in dem wir unfrei sind. Nirvana bedeutet Frieden, bedeutet Freisein. Wenn wir verstrickt sind, dann ist das normalerweise eine von unseren Lieblingsemotionen; eine, die wir gut kennen. Wir haben da so unsere Paletten, mit denen wir unterwegs sind. Jede einzelne unserer emotionalen Verstrickungen birgt in sich die Möglichkeit, dass wir im Moment ihres Erlebens die Geistesnatur erfahren. Und dann enthüllt sich innerhalb der Erfahrung des Verstricktseins Nirvana, die Natur des Geistes; völlig freies Sein. Das bedeutet, dass wir Nirvana nirgendwo anders zu suchen brauchen als in unserem jetzigen Erleben. Jetzt! Das Erleben immer von jetzt ist aufgrund seiner Natur potentiell die Erfahrung von Nirvana; potentiell in dem Sinne, dass dieses Potential immer da ist. Deswegen kann man Samsara und Nirvana untrennbar nennen. Jede samsarische Erfahrung ist ein geistiges Erleben und hat die Natur des Geistes. Darum birgt jede Erfahrung die Möglichkeit – was auch immer wir in unserem dualistischen Geist erleben, was auch immer an Verstrickungen da ist –, in diesem Moment die Erfahrung von Frieden, von Freiheit, von Offenheit zu machen. Und natürlich: wenn wir das erkennen und das Teil unseres tiefen, inneren Verstehens wird, dann hört alles Weglaufen und alles Streben auf; das Hinlaufen, irgendwo anders zu suchen; nach besseren Bedingungen zu suchen, nach einem besseren Geist; dass ich ein besserer Tilmann zu werden habe usw. Diese Bestrebungen, Hoffnung und Furcht, hören dann auf. – Sie sind als Täuschung entlarvt. Stufen und Wege, gibt es da spirituelle Stufen? Nein, es gibt nur das unmittelbare Erkennen von dem, was ist. Es gibt nichts anderes. Entweder es wird erkannt oder es wird nicht erkannt. Da gibt es keine Bhumis, keine Bodhisattva-Stufen oder Stromeintritt usw. Entweder es ist in diesem Moment das Erwachen, oder es ist es nicht. Die Stufen beschreibt man aus der Distanz, wenn man einen Praktizierenden beobachtet, wie sich sein Erwachen, sein Gewahrsein immer kontinuierlicher manifestiert, in immer mehr Situationen manifes tiert. Dann kann man von einer Zunahme sprechen, einer Ausweitung des Erwachens. Aber im Erleben gibt

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es keine solche Zunahme oder Ausweitung zu erfahren. Entweder es ist dieses non-duale, erwachte Gewahr sein, oder es ist es nicht. Entweder ist es rigpa oder es ist ma-rigpa. Das Tibetische rigpa ist Gewahrsein und ma-rigpa ist nicht gewahr sein, mangelndes Gewahrsein; entweder das eine, oder das andere. Teilnehmer: In der vorletzten Strophe war eine Zeile über die illusionäre Sicht von Erfahrung und Erlebnissen, da war ich gespannt, was du dazu sagst. Gefühlserfahrungen wurden als Täuschung entlarvt. Das war die Stelle, wo ich über die Emotionen sprach. Gefühlserfahrungen sind all das, was wir als dualistische Erfahrungen mit Gefühlsbetonung machen. Also im Sinn von angenehm oder unangenehm? Nicht in dem Sinne, wo wir die letzten Tage dran waren, wo es um Trauer und Schmerz ging? Auch das; das gehört alles mit rein. Alles, nichts wird ausgenommen. Und warum soll man auf die schauen? Damit man sie als Täuschung entlarvt. Wenn wir nicht drauf schauen, werden wir sie nie als Täuschung entlarven, dann werden wir nie drauf kommen, dass es ein Film ist. Wenn ich glaube, „Das ist meine Wirk lichkeit, und ich muss mich wirklich drum kümmern. Es geht mir richtig schlecht, wenn ich nichts mache.“, das ist es, was die Täuschung ist. Diese Sätze, die ich gerade gesagt habe, das ist die Täuschung. „Wenn ich mich nicht um meine Emotion kümmere, dann macht die mit mir, was sie will und mir geht’s richtig schlecht, es entsteht ganz viel Schlimmes…“. Aber die Tatsache ist: Je weniger ich mich darum kümmere, desto schneller löst sie sich auf und zeigt sich in ihrer grundlegenden Qualität, als Natur des Geistes. Und das zu erkennen, darum geht es; um unsere heiligen Emotionen, unsere heiligen Gefühle. Teilnehmer: In dem marigpa findet bei mir alles statt: ganz viel verstrickt oder nur ein bisschen verstrickt. Zum rigpa ist es wohl noch eine ganze Ecke… Genau, es gibt kein rigpa im normalen Erleben. Völlig richtig, ja. Der Weg geht dann ja weiter, obwohl ich mich ständig in marigpa bewege … Genau. Was wir machen, ist, dass wir versuchen, uns erst einmal in marigpa, in mangelndem Gewahrsein etwas weniger zu verstricken. Aber aus der Sicht des Erwachens ist da eine Trennlinie: solange wir noch mit diesem Ich-Gefühl unterwegs sind, ist alles noch der Bereich mangelndes Gewahrsein oder von Unwissen heit – avidya. Du bist da völlig realistisch und sagst: „Ja, meine Praxis findet im Bereich des mangelnden Gewahrseins statt. Und da gibt es mehr oder weniger Gewahrsein.“ Und da ermutige ich euch ja auch dazu. Weil da, wo es quasi kippt, wo es hinübergeht in ein non-duales Sein, in ein Sein ohne Greifen, ohne sich als Mittelpunkt zu postulieren, passiert es dann einfach irgend wann; das kann man nicht machen. Ich kann euch nur an diese Schwelle heranführen, und dann bewirkt irgendetwas, dass wir uns vergessen, dass da Vertrauen ist, dass Segen erfahren wird, oder dass uns die Kraft der Liebe über die Schwelle trägt. Was auch immer es ist, das passiert dann einfach. Es ist in der Natur der Dinge, dass es dann einfach irgendwann passiert. Teilnehmer Ich kann nicht ganz nachvollziehen, dass angenehm/unangenehm auch eine Täuschung ist. Ich kenne die Unterscheidung, dass angenehm/unangenehm karmisch neutral ist, weil es eine Folge von vergangenem Handeln ist. Ist es insofern eine Täuschung, weil es wieder die Grundlage ist für Anhaftung und Ablehnung oder weil es…? Schau dir doch einmal denselben Reiz an; denselben Reiz zu verschiedenen Zeiten. Manchmal lässt du dich z.B. gerne berühren, andere Male ist dir diese selbe Berührung unangenehm. Dann merkst du, dass ange nehm/unangenehm ganz willkürliche Einstufungen sind. Das ist nichts Inhärentes im Erleben, das ist einfach schon der Beginn des Filmes, unseres persönlichen Filmes. Wir brauchen z.B. nur unsere Lieblingsmusik um 10, 20, 30 Dezibel lauter einzustellen, und schon ist sie nicht mehr angenehm. Es ist ein ganz enger Bereich, in dem etwas von uns als angenehm eingestuft wird. Wenn wir dann noch die Perspektive einnehmen, uns

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mit anderen Lebewesen zu vergleichen, dann ist z.B. der Unterschied zwischen meinem Duftempfinden und dem einer Mistfliege eklatant. Was wir als angenehm/unangenehm bezeichnen, ist gar nicht unmittelbar im Erleben, in den Sinneswahrnehmungen drinnen, sondern bereits eine Einstufung, die wir in Hinblick auf frühere Erfahrungen, Vorlieben und Abneigungen, vornehmen. Aber z.B. eine Schmerzempfindung, wenn ich mich verbrenne? Wir brauchen sie nicht angenehm zu nennen, es ist einfach eine sehr intensive Erfahrung. Ich habe mir er zählen lassen, was unser Koch Yeunten mit Karmapa erlebt hat. Yeunten hatte gerade auf einem Ceran-Feld gekocht. Karmapa kommt in die Küche, spricht mit Yeunten und lehnt sich mit der flachen Hand auf das heiße Kochfeld. Yönten konnte zuschauen, wie Karmapa natürlich sehr schnell die Hand zurückzieht, aber es war im Gesicht nichts an Emotion der Ablehnung oder des Schreckens zu bemerken. Da war einfach nur die notwendige Reaktion, um die Hand zu schützen, aber nicht dieser Film von dem, was wir alles gemacht hätten. Diese innere Ruhe wurde dadurch nicht berührt. Darum geht es also. Angenehm und unangenehm sind für uns quasi die wesentlichsten Orientierungshilfen, um durchs Leben zu gehen. Unser ganzer innerer Kompass ist darauf ausgerichtet, zum Angenehmen zu gehen und das Unangenehme zu vermeiden. Das Neutrale – solange es sich nicht weiter rührt – wird nicht beachtet. Aber wenn sich von etwas, was wir jetzt noch als neutral erleben, die Intensitäten ändern, dann kann es sehr schnell unangenehm werden, oder es kann auch mal angenehm werden. Es ist also in der Erfah rung selbst nichts Inhärentes, wonach sie immer eine bestimmte Qualität von angenehm hätte – weder für mich als einzelne Person, noch für andere Personen, noch innerhalb verschiedener Lebewesen. Darauf nimmt der Buddha Bezug, wenn er sagt, dass dieses Unterscheiden in angenehm und unangenehm Karma ist. Es sind Einschätzungen aufgrund früherer Erfahrungen. Es sind Muster erzeugt worden, und wir erleben wieder das, wo wir z.B. früher schon einmal Abneigung gelebt haben und Ärger entwickelt haben; das wird uns wieder ärgern. Diese Art von Erfahrung wird uns wieder ärgern, sie wird fast zwangsläufig wieder auftauchen. Teilnehmer Ich meinte eher so, der Karmapa hat es zwar gespürt, dass es zu heiß ist, aber er hat nichts daraus gemacht. Ich kenne es mehr, wenn es unangenehm ist, dieses Spüren eben „es ist unangenehm“, und nichts daraus zu machen. Ja, das ist der zweite Schritt. An diesem Punkt können die meisten Praktizierenden ansetzen. Wir schaffen es normalerweise nicht, den Fuß schon da in die Tür zu kriegen, wo die Unterscheidung in angenehm und unangenehm entsteht. Aber wir kriegen ihn einen Schritt später rein, wo aus dieser Unterscheidung die wei teren emotionalen Reaktionen werden. Aber bereits dieses erste Unterscheiden basiert auf Vorlieben und Abneigungen und ist erfahrungsbasiert. Wenn unsere Praxis im Gewahrsein feiner wird, dann kommt die Entspannung auch in diese Bereiche hinein. Wir merken dann, dass wir viel häufiger z.B. bei körperlichen Schmerzen in einem Bereich bleiben, wo nicht direkt diese Unterscheidung in angenehm und unangenehm anspringt. Das merkt ihr. Ihr merkt, dass mit der Praxis dieses gelöste Sein hineinkommt, auch in dieser ersten Unterscheidung. Teilnehmer Ich glaube dieses ganze Thema entspricht dieser einen Zeile in den Mahamudra Wünschen, wonach wir immer dort wieder geboren werden, wo wir nicht einmal die Worte Missetaten und Leiden hören werden. Ich würde das einfach anders übersetzen. Einfach, dass diese Unterscheidung zwischen leidbringenden Handlungen und den entsprechenden Erfahrungen nicht da ist. Du kannst es dir ja gerne so übersetzen. Was die Übersetzung angeht, muss es so stehen, wie es im Tibe tischen steht. Du kannst es dir aber so nahebringen, dass du es so verstehst. Mit diesem Wunsch im Maha mudra-Gebet ist gemeint, dass wir aufgrund von heilsamem Karma in Bereiche hinein geboren werden, wo wir nicht ständig mit solchem Leid konfrontiert werden, wo diese dualistischen Unterscheidungen nicht aktiviert werden. Das meinte ich ja. Es geht um diese Unterscheidung, das Vorhandensein sozusagen. Es wird da eigentlich über den Bereich Dewachen gesprochen. Was da im Hintergrund mitschwingt, ist, dass wir wenigstens in Dewachen geboren werden.

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Oder in einem gut funktionierenden Dharma-Zentrum. Nein, nein! Gut funktionierende Dharma Zentren sind voller Bewertungen. Teilnehmer Rigpa ist ja der erwachte Zustand oder? Ja, rigpa ist das erwachte Gewahrsein. Kann man schon, wenn man in marigpa ist, den erwachten Zustand ansatzweise erfahren? Erahnen. Wenn man erwacht ist, dann kann man ja auch zurückfallen, oder ist das gar nicht möglich? Ja, diese Momente von rigpa sind auch einfach nur Phasen, Momente des Erlebens, und es kann sich wieder ein ich-bezogenes Erleben einstellen. Es ist also nicht von Anfang an stabil. In unserem jetzigen Zustand haben wir aber eine Ahnung uns, dass es dieses freie, offene Sein gibt, weil wir tatsächlich manchmal, ohne es zu merken, in dieses freie offene Sein eintreten. Deswegen sitzen wir eigentlich hier, weil wir es in uns ahnen, dass es das gibt. Nur nehmen wir es nicht bewusst wahr. Genau. Und der Unterschied ist der, dass wir jetzt – weil wir darauf hingewiesen werden – vielleicht auch mehr und mehr die Antennen entwickeln, es auch wahrzunehmen. Diese unscheinbare Erfahrung macht sich durch nichts bemerkbar; sie ist nicht so wie andere Erfahrungen, dass sie sich durch einen Enthusiasmus oder durch dieses und jenes, durch eine Riesenfreude bemerkbar macht. Sondern sie ist so unscheinbar, weil sie nicht Mittelpunkt-bezogen ist. Und da braucht es schon die Hinweise von Lehrern, von Generationen von Lehrern und Lehrerinnen, die uns helfen, doch einmal aufmerksam zu bleiben für die fast unbemerkten Aussetzer, die Pausen in diesem ich-bezogenen Bewusstsein. Da ist der Schlüssel der Befreiung zu finden. Teilnehmer: Man nimmt also sein Ich etwas raus aus den Erfahrungen. Aber für das Schöne gilt das ja auch, für das, was ich als Glück, als erstrebenswert, als erfüllend empfinde. Können wir nicht von dem anderen schon was spüren, ist das nicht enorm mit dem alten Glücksgefühl verbandelt? Du gibst mir jetzt eine super Vorlage. Es geht nicht darum, uns ein bisschen heraus zu ziehen aus der Erfahrung von Glück und von Leid, sondern voll rein zu gehen. Und auch in das Ich-Gefühl kannst du voll rein gehen. Im vermuteten Zentrum des Ichgefühls wirst du genau die Qualitäten des Erwachens erleben. Du wirst im Zentrum kein Zentrum finden. Du brauchst nicht Glück zu vermeiden, du brauchst nicht Unglück zu vermeiden, du brauchst nicht anders zu fühlen, sondern nur die Qualität des Erlebens erfahren. Was du jetzt beschrieben hast, das leiten wir uns eben her. Wir hören da über Karmapa, der einfach seine Hand wegzieht und denken dann: „So cool möchte ich auch sein. Das nächste Mal, wenn mich jemand piekst, dann bleibe ich ganz ruhig.“ Aber ich bin nicht in der Natur des Erlebens; ich habe mir etwas stoischen Gleichmut angewöhnt, und wieder einmal ein Stück Lebenskraft abgeschnitten. Genau das ist es also nicht! Wir können ins Zentrum des Ich-Gefühls gehen. Das ist es ja, was gemeint ist, wenn es heißt, Samsara und Nirvana sind untrennbar. Samsara ist ja nun mal wirklich dieses Ich-Gefühl; oder auch, wenn ihr wollt noch abwertender: Egoismus. Es ist völlig egal, was das Gefühl ist. Es geht genau um die Qualität dieses Gefühls. Wir brauchen also nichts zu ändern am Erleben, wir brauchen kein anderer Mensch zu werden, sondern nur mit unserem Gewahrsein in die Qualität des Erlebens einzutreten. Es wird uns eher den Weg erschweren, wenn wir versuchen, uns so einen Gleichmut überzustülpen, jemand anders zu sein und irgendwie anders zu erleben, reiner zu sein. Das alles wird uns den Weg erschweren, weil wir an der falschen Stelle suchen. Wir versuchen, ein guter Buddhist zu sein. So kriegen wir das nicht hin. Das ist der Weg des Leidens. Wir programmieren spirituelles Leid, wenn wir eine Vorstellung davon haben, wie wir zu sein haben, und dieser Vorstellung im Grunde genommen nie gerecht werden können. Ich lade euch also wirklich ein – zusammen mit mir selbst, der ich auf diesem Weg bin – immer mehr wir selber zu werden, natürlicher, und nicht zu versuchen, jemand anderer zu sein. Wir können das den Blick nach innen nennen, oder das Kultivieren des Blicks in die Qualität der Erfahrung. Und es geht darum, darin

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frei zu werden. Teilnehmer: Für mich ist auch ein ganz entscheidender Aspekt der Aspekt von Liebe, Mitfreude, Mitgefühl. Wenn ich mich darauf nicht ausrichte, dann lösen sich gefühlsmäßige Manifestation von Trauer oder Verletzlichkeit auch nicht auf. Diesen Raum dazwischen betrachten zu können, geht bei mir nur, wenn ich zumindest noch eine Ahnung davon habe, in diesem Mitgefühl zu sein. Ich glaube, du sprichst vielen aus dem Herzen. Was du ansprichst ist, dass wir natürlich ein schrittweises Vorgehen brauchen. Wenn ich merke, dass ich in Ablehnung verfangen bin, dann nehme ich das erst einmal voll an, aber dann entscheide ich mich in aller Freiheit, den Geist auf etwas anderes zu richten; z.B. aufLiebe und Mitgefühl, und dadurch Freiräume aufzutun. Es kann mir doch egal sein, ob das jetzt das letztendliche Erwachen ist oder einfach die Freiheit zu entscheiden: „Und ich geh jetzt aber in die Liebe. Ich suche das Verstehen.“ Das kann ich ja machen, aber in aller Freiheit; ohne das andere ablehnen zu müssen, ohne das andere für so wirklich zu halten oder zu meinen, ich hätte mit einem wirklichen Dämonen zu kämpfen. Den schrittweisen Weg des Sich-Lösens aus Emotionen habe ich ja auch schon oft unterrichtet und ich bin gerne bereit, dazu noch ein bisschen zu sagen. Aber Mahamudra ist genau das, worüber wir bis jetzt gesprochen haben, nur braucht ihr eben den Weg dahin, und der besteht aus dem Anwenden dieser vielen Methoden, Praktiken, die wir zur Hilfe nehmen. Wir entwickeln Geistesruhe, finden einen gewissen Abstand zu den eigenen Emotionen, um dann etwas freier hinschauen zu können. All das ist natürlich wichtig im Vorfeld. Aber wir sollten wissen, dass das noch nicht das Erwachen ist. Genau in diesem schrittweisen Vorgehen liegt auch die Gefahr, dass wir doch noch irgendwie versuchen, uns zurecht zu biegen; dass wir die Methoden nutzen, um Gutmenschen zu werden. Deswegen haben manche Schulen gesagt: „Diese Methoden des schrittweisen Weges lösen so viel Hoffen und Streben aus, dass wir sie am besten einfach sein lassen und nur diesen letztendlichen Ansatz lehren.“ Andere Schulen, Traditionen, Lehrer, haben gesagt: „Dieser letztendliche Ansatz, immer direkt auf die Natur des Erlebens zu schauen, in die Qualitäten des Geistes hineinzugehen, ist zu schwierig. Wir lehren den schrittweisen Ansatz – Stückchen für Stückchen für Stückchen. Und aus dieser Perspektive ist das Erwachen in soundso vielen Leben erreichbar.“ Die anderen sagen immer: „Jetzt! Jetzt ist das Erwachen! Jetzt!“ Unsere Praxis findet in diesem Feld zwischen den Methoden statt – zwischen allmählicher Entwicklung und der Betonung auf das „Jetzt“. Das hier ist vorwiegend ein Mahamudra Kurs, wo ich tatsächlich den letztendlichen Ansatz und stärker die Einsichts-Meditation betone. Während die fünf Schritte des Umgehens mit Emotionen oder die vielen Übungen zum Geistestraining, zum Lodjong, der schrittweise Weg sind. J – Ich gehe ja auch schrittweise, ich schaffe es auch nicht, jedes Mal in die Natur der Emotionen zu schauen. Ich wäre ja schon erwacht, wenn ich das hinkriegen würde. Immer wenn ich merke, „Ach, geht nicht…löst sich jetzt nicht gerade so“, dann nehme ich die erstbeste Methode, die mir einfällt und lenke meinen Geist ins Heilsame; auf das, was im Moment gerade gut tut; ohne aber in eine Verdrängung zu gehen von dem, was gerade schmerzt oder Leid verursacht bei mir und bei anderen. Das wird akzeptiert, gesehen…und dann lenke ich den Geist auf das andere, und weiß, dass ich in dem Moment, wo ich den Geist auf das Heilsame lenke, sowieso das andere zum Erliegen kommt. Da brauche ich mich gar nicht darum zu kümmern. Vielleicht habe ich dir damit ein bisschen geholfen, das einzuordnen. Ja, bei mir ist es so mit dem Leid. Ich brauche sozusagen die Weite des Mitgefühls... Mitgefühl ist ja auch eine natürliche Qualität unseres Geistes, das steht uns jederzeit zur Verfügung. Es ist die Fähigkeit zu fühlen; die Fähigkeit tief zu fühlen, was wir selber und andere erleben; und dafür offen zu sein; offen zu sein für all den Schmerz, der da spürbar ist; für all das Glück, die Freuden, die spürbar werden. Mit dieser Fähigkeit Kontakt aufzunehmen, wenn wir irgendwo feststecken, ist das allerbeste, was wir machen können. Da kommen wir wieder ins Fühlen, raus aus dem Bewerten. Teilnehmer: Würdest du bitte erklären, was „edles Schweigen“ bedeutet. Es gibt im Dharma kein edles Schweigen; es gibt nur das edle Reden. Das edle Schweigen ist eine Erfindung von denen, die Schweigekurse machen. Schweigen ist kein Weg zum Erwachen, zur Erleuchtung. Durch

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Schweigen ist noch nie jemand erwacht worden. Aber Schweigen ist für uns dennoch etwas Edles insofern, als es ein Geschenk ist, das wir uns gegenseitig machen; ein Geschenk um idealere, bessere, einfachere Bedingungen für die Praxis zu haben. Es ist ein wirkliches Geschenk, und zwar der Respekt vor der Praxis der anderen. Und dazu gehört, dass wir respektieren, dass jemand unabgelenkt von äußeren Eindrücken sein möchte, um innerlich besser spüren zu können. Wir wissen nicht, wo die anderen gerade mit ihrer Praxis sind, ob sie nicht gerade dabei sind, diese Stille innerlich zu genießen und zu spüren, was bei der informellen Meditation vor sich geht; oder auch in einer formellen Meditation. Denn auch während andere draußen in der Pause sind oder spazieren gehen, sitzen hier zum Teil Leute oder machen andere draußen ihre Gehmeditation. Da empfiehlt es sich, wenn wir miteinander oben in den Maisfeldern gehen und uns jemand begegnet, der nicht im Gespräch ist, für die Zeit, in der wir aneinander vorbei gehen, unser Gespräch zu unterbrechen und dem anderen respektvoll die Stille zu schenken. Wenn wir aus dem Maisfeld herauskommen und hier herunter kommen, kann man uns bereits hören. Wir kommen nicht mit unserem Gespräch bis ans Haus, sondern hören wirklich dort auf, wo man beginnt, uns im Haus zu hören. Wir bleiben lieber oben noch stehen, um unser Gespräch zu beenden und kommen dann still ins Haus. Das ist eine Grundhaltung des Respektes, die nötig ist, um mit so vielen Menschen an einem Ort sein zu können. Ansonsten müssten wir uns vereinzeln, um diese Bedingungen der Praxis zu haben, in Stille sein zu können. Der Rest unseres Lebens ist ja in ständigen Gesprächen, Austausch, Geräuschen usw. Und hier schaffen wir eine besondere Atmosphäre. Das Schweigen soll hier nicht in den Himmel gelobt werden als edles Schweigen, das zum Erwachen führt, sondern es ist nur eine Rahmenbedingung des Retreats – aber die ist wichtig. Genauso wie auch die Kurszeiten wichtig sind. Ich versuche auch, mich genau an die Zeiten zu halten, also rechtzeitig aufzuhören, sodass der Stundenplan nicht durcheinander kommt. Und nun die Gehmeditation. Bleibt so weit wie möglich im Herzen, im Geist, und setzt dabei immer gerade das um, was wir auch in der Sitzmeditation geübt haben – angepasst an die Bewegung des Gehens. *** Nach dem ersten Lied von Milarepa, seiner ersten Antwort, wollten seine Schüler wissen welche anderen meditativen Erfahrungen er gemacht habe. „Mir fiel eine für euch Dharma-Praktizierende gut geeignete Praxis ein“, erwiderte er und sang dieses Lied: Er antwortet also nicht direkt über seine Erfahrung, sondern sagt: „Ja, jetzt hört mal noch ein bisschen mehr zu, das ist mehr auf eure Bedürfnisse zugeschnitten. Vorher habe ich gesagt, was ich verstandent habe und jetzt geht es darum, was ihr als Praxis nehmen könnt.“ Als äußere Umstände erscheinen Vater und Mutter, Innerlich erscheint das eigene Allgrundbewusstsein, Und dazwischen erlangt man einen reinen Menschenkörper. Auf diese Weise wird man nicht in den drei niederen Daseinsformen wiedergeboren. Dafür muss man die tibetische Sprache ein bisschen kennen, was mit äußerlich, innerlich und dazwischen gemeint ist. Der äußere Umstand, der zu unserer Geburt beigetragen hat, war, dass Vater und Mutter in unserem Bewusstsein erschienen sind und wir uns angezogen gefühlt haben. Der innere Umstand, dass wir überhaupt geboren werden können, ist, dass wir alle einen Geist haben und dass in diesem grundlegenden Bewusstsein – Alaya Vijnana genannt, All-Grundbewusstsein – schon dualistische Tendenzen mitschwingen. Diese Tendenzen haben diesen All-Grund, den Grund unseres Seins, durchwebt mit Ich-bezogenen Vor stellungen, und daraus erhebt sich dann der Impuls: „Ich möchte dahin.“, „Ich möchte da wiedergeboren werden.“ Das ist keine bewusste Entscheidung sondern ein Impuls, ein Hineingezogen-Werden. Das Zusammentreffen von diesem dualistisch durchwirkten All-Grundbewusstsein mit der äußeren Möglichkeit, bei Eltern Geburt anzunehmen, führt dann dazu, dass man eine menschliche Geburt annimmt. Man nennt es hier einen reinen Menschenkörper, weil wir als Menschen Bedingungen vorfinden, in denen wir den Dharma treffen können und in denen wir Buddhaschaft verwirklichen können. Es geht also hier nicht um unsere Konzepte von rein und unrein sondern um die Möglichkeit, den reinen Dharma praktizieren zu können. In Tibet wird ein

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menschliches Dasein, in dem man den Dharma praktiziert, oft so genannt. Auf diese Weise wird man nicht in den drei niederen Daseinsformen geboren bedeutet, dass da schon einmal das Tor zu ist. Wir sind nicht in den Höllenbereichen, in den Bereichen der Hungergeister und im Tierbereich geboren, sondern wir sind im Menschenbereich. Das ist unsere Praxisgrundlage. Wir haben äußere Bedingungen mit Vater und Mutter, innere Bedingungen mit einem funktionierenden Geist – dem AllGrundbewusstsein – und wir haben den Dharma kennengelernt. Das möchte Milarepa in dieser Strophe ausdrücken. – Und so sitzen wir hier, das trifft auf uns alle zu. Wir haben diese Bedingungen erhalten. Außen erscheint die Wahrnehmung von Geburt und Tod, Innerlich entstehen Vertrauen und die Abkehr vom Daseinskreislauf, Und dazwischen erinnert man sich an die Lehre des Buddha. Auf diese Weise werden Heimat und Freunde nicht zum Verhängnis.“ Äußerlich erscheinen die Wahrnehmung von Geburt und Tod. Wir werden geboren und wir wissen, dass wir irgendwann sterben werden. Das umgibt uns, das ist die grund-menschliche Erfahrung, die noch viel stärker ist, wenn man wirklich in der Natur lebt. In der Natur, wenn man mit Tieren zusammenlebt, sind Geburt und Tod allgegenwärtig. Das ist viel stärker noch als bei uns, wo die meisten in Städten lebt. Angesichts von Geburt und Tod – mit dem Dharma in der Hand – entsteht Vertrauen, und zwar Vertrauen in den Dharma, dass dieses Allgrund-Bewusstsein sich befreien kann. Es entsteht ein klares Gefühl dafür, dass Leben und Tod, dass diese ständigen Kreisläufe Leid bedeuten, wenn man unfrei darin verstrickt ist. Auf grund des Vertrauens in den Dharma entsteht das starke Bedürfnis, sich aus aller Verstrickung zu befreien. Das nennt man Abkehr; Abkehr vom Daseinskreislauf. – Ihr merkt, ich muss Übersetzungsschritte machen. Es ist eine alte Sprache, eine alte Form sich auszudrücken, 12. Jahrhundert. Was bedeutet das? Wir begegnen dem Dharma, haben schon genug Lebenserfahrung mit Leben und Tod – Alter, Krankheit inbegriffen – hören den Dharma und sagen: „Das macht Sinn. Ich möchte tatsächlich frei werden. Ich habe Vertrauen, dass es möglich ist, ich habe die Nase voll von leidvoller Verstrickung.“ Das nennt man Abkehr. Das ist eine innere Umkehr in unserer Haltung. – „Ich möchte mich nicht weiter ver stricken. Es macht mir auch keinen Spaß mehr, mich selbst in Fehler zu verwickeln und mir vorzugaukeln, alles würde gutgehen. Ich weiß, ich muss mich um etwas ganz Wesentliches kümmern, und das möchte ich jetzt tun.“ Deswegen, in diesem Spannungsfeld: dazwischen erinnert man sich an die Lehre des Buddha. Da wir uns an die Unterweisungen erinnern, werden Heimat und Freunde nicht zum Verhängnis. Da braucht es eine gewisse kulturelle Erklärung. Wir sind heute so frei und wenig gebunden an Heimat und Freunde, wie es das in der Geschichte des Planeten noch nie gab. Heimatliche Bindung und die Bindungen an Freunde und den Clan waren unglaublich stark und prägend. Und es ist gar nicht so einfach, einen Weg der Befreiung zu gehen. – Und das wissen wir auch. Die Familie kennt uns so, wie wir halt waren, bis wir den Entschluss gefasst haben uns zu ändern, das Leben etwas anders anzugehen. Und sie würden uns gerne weiter in den altbekannten Schienen funktionieren sehen. Und ihr wisst auch – und das war früher auch schon so –, dass die stärksten Emotionen innerhalb der Familien ablaufen und innerhalb der Paarbeziehung, der engen Beziehung. Damit Familie, Freunde, enge Beziehungen nicht zu Bremsen oder gar zu Blockaden auf dem Weg werden, braucht es ein feines Gespür dafür, wie wir diese Beziehungen mit Mitgefühl und Weisheit leben können; wie wir mitfühlend und weise mit unseren Eltern umgehen, mit unseren Kindern, unseren Brüdern und Schwestern, und mit unserem Partner. Und das war – und ist auch heute noch – Aufgabe des Dharma, die Lehre des Buddha. Der Dharma hilft uns, das richtige Maß zu finden, die richtige Umgangsweise, die nicht zu weiterer Verstrickung führt; die nicht einfach dazu führt, dass wir genau so weiter funktionieren, in denselben Mustern wie unsere Eltern. Es gibt eine Möglichkeit, einen Ausstieg, eine neue Art zu leben. Das ist sehr schön formuliert hier. Viele andere Texte sagen, dass man der Heimat den Rücken kehren soll, dass man die Heimat verlassen soll, um überhaupt die Möglichkeit zu einem Neuanfang zu haben, weil es innerhalb der alten Strukturen nicht oder kaum möglich ist. Heutzutage müssen wir die Lehre etwas anders darstellen. Es herrscht so eine Wurzellosigkeit, es wird soviel umgezogen. Die Entfernungen zwischen

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Familienmitgliedern sind so groß, dass wir das Band zur Familie eigentlich stärken müssen. Es ist ohnehin bei uns meistens nicht so stark; kaum jemand wohnt mit seinen Eltern zusammen. Das war aber in Tibet gang und gäbe. Man wohnte im Clan zusammen, im Dorf, das gemeinsam mit den Yaks in die Höhe zog und wieder zurück und gemeinsam die Felder bestellte. Das war eine große Sippe. Es war sehr schwer, sich daraus zu entfernen. Uns fehlt so eine Sippe, deswegen ist die Betonung etwas anders. Aber wir brauchen trotzdem die Bedingungen, dass uns Heimat, Familie, Freunde nicht zum Verhängnis werden. Der Vater-Lama erscheint als äußerer Umstand, Innerlich entwickelt man sein eigenes Erkenntnisvermögen, Und dazwischen entsteht Verständnis aufgrund von Vertrauen. Auf diese Weise haben wir keine Zweifel über den Dharma. Jetzt kommen wir schon näher ran an unsere Praxis, merkt ihr? In der letzten Strophe waren wir bei unserem Entschluss, den Dharma wirklich zu praktizieren. Es ist ein grundlegendes Vertrauen entstanden, und wir schaffen uns eine gute Situation zum Praktizieren. Und jetzt schauen wir, was wir in dieser guten Situation brauchen. Wir brauchen Lehrer bzw. Lehrerinnen als äußeren Umstand. Das waren in der patriarchalischen Gesellschaft in Tibet meistens Männer. Es gab auch Frauen-Lamas, aber meistens waren das Männer, fast immer. Es reicht aber nicht, einen Lehrer zu haben: Innerlich entwickeln wir unser eigenes Erkenntnisvermögen. Und das tun wir ständig hier miteinander. Ich spreche eigentlich nur, um bei jedem von uns – mich ein geschlossen – das Erkenntnisvermögen zu stimulieren – „Schaut hin? Wie ist es?“ – und uns auf die richtigen Fährten zu setzen um den Geist zu erforschen, um hinzuschauen. Das ist die Aufgabe des äußeren Lamas, er stärkt den inneren Lama. Das war traditionell immer schon so. Die Aufgabe des äußeren Lamas war getan, wenn der innere Lama so stark geworden ist, dass durch das eigene Erkennen aufgrund der Wechselwirkung dieser beiden innerlich Verständnis entsteht aufgrund von dem Vertrauen in die Unterweisungen. Dieses Vertrauen führt dazu, dass wir auf eine Art forschen, die zu einem Verstehen führt. Und das ist genau das, was unser Kontakt bewirken soll, sodass ihr unabhängig werdet; dass der innere Lama, der innere Buddha so stark wird, dass ihr euch ganz von eurem Erkennen, Verstehen führen lassen könnt. Dann kann der äußere Lama abtreten. Man kann dann sagen: „Und jetzt unterrichte den Dharma an andere. Praktiziere ihn weiter, befreie dich weiter und gebe zugleich den Dharma weiter. Der innere Guru, der innere Lama ist voll und ganz erwacht.“ Wo aufgrund von Vertrauen und Hingabe Verständnis entsteht, haben wir keine Zweifel über den Dharma. Wir beseitigen mit der Zeit unsere Zweifel, unsere Fragen bezüglich der Kernaussagen des Dharma. Die Kernaussagen sind die vier edlen Wahrheiten. Die erste Wahrheit ist, dass es Leid, Anspannung, Verstrickung gibt. Als zweite Wahrheit die Ursache von Leid: dieses Greifen, diese Ich-Bezogenheit, all die karmischen Muster, die dadurch in Gang gekommen sind; all das, was immer wieder dazu führt, dass wir erneut, erneut, erneut greifen und uns in Leid wiederfinden. Der dritte Punkt ist, dass es tatsächlich eine Befreiung gibt. Darüber müssen wir auch unsere Zweifel beseitigen. Und der vierte Punkt beschreibt den Weg dahin, den Weg in dieses Erwachen; wie wir von Leid frei werden können und wie wir hineinfinden in dieses bodhi, in die freie Herz-Geist-Dimension. Im Grunde genommen sind darin alle Aspekte des Dharma inbegriffen: Leid und seine Ursachen, Befreiung und seine Ursachen. So kann man die zvier edlen Wahrheiten zusammenfassen. Wir klären also unsere Zweifel, unsere Fragen durch diese Wechselwirkung zwischen den Unterweisungen, die wir von außen erhalten, und unserem Forschen, dem vertrauensvollen inneren Anwenden der Methoden, um tiefer und tiefer zu verstehen.

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Außen erscheinen die Wesen der sechs Daseinsformen, Innen entsteht allseitiges Mitgefühl, Und dazwischen erinnert man sich daran, Seine meditativen Erfahrungen lebendig zu erhalten. Auf diese Weise verkümmert Mitgefühl nicht zu abstraktem Wunschdenken. Außen erscheinen in unserem Geist die Lebewesen der verschiedenen Daseinsbereiche. Wir machen Erfahrungen, die innerlich bewirken, dass wir Mitgefühl erleben. Wir bemerken, dass jede Person, der wir begegnen, dass jedes Lebewesen dieses Mitgefühl verdient. Wir beginnen mitzuschwingen. Es ist ein allseitiges, umfassendes, nicht begrenztes Mitgefühl; frei von Vorurteilen. Und dieses mitschwingende Mitgefühl könnte uns zu einem vorschnellen Handeln bringen, wo wir uns aufgrund des Mitgefühls in einem mitfühlenden Aktivismus engagieren. – „Das soll nicht sein… das möchte ich ändern… da engagiere ich mich…“ Nicht, dass das schlecht ist, aber es braucht noch zusätzlich etwas, die Weisheit. Mitfühlendes Handeln muss von Weisheit begleitet sein. In diesem Spannungsfeld von äußerlich – Lebewesen, die Hilfe brauchen – und innerlich – Mitgefühl – erinnern wir uns daran, die eigenen meditativen Erfahrungen lebendig zu halten. Das bedeutet, dass wir uns nicht von der Quelle des Verstehens, der Weisheit trennen; dass wir die eigene Praxis immer schön warm halten – wie dieser berühmte heiße Felsblock, auf dem sich kein Schnee ansammeln kann. Es geht darum, unsere eigene Praxis so lebendig und wach zu halten, dass der Elan unseres Mitgefühls, das Handeln aus Mitgefühl heraus immer von einer frischen Weisheit, von einem frischen Verstehen begleitet ist; dass wir unsere meditative Erfahrung nicht verkümmern lassen, während wir uns engagieren für andere. Auf diese Weise verkümmert Mitgefühl nicht zu abstraktem Wunschdenken. Mit anderen Worten: auf diese Weise wird unser Mitgefühl effektiv sein. Wir werden wirklich helfen können, weil wir aus einer gelebten meditativen Erfahrung, einer gelebten Erfahrung tiefen Gewahrseins heraus helfen und anderen helfen können, in dieses befreiende Gewahrsein hinein zu finden. Alles andere ist nur Verschieben von Gewichten in Samsara; Trostpflästerchen. Und immer, wenn wir wieder hinschauen, merken wir: „Oh, es hat sich grund legend gar nichts getan.“ Da ist ein Trostpflästerchen gewesen, aber schon wieder entsteht dieselbe Ver strickung im Geistesstrom der Lebewesen; vor allen Dingen der Menschen, um die wir uns gekümmert haben. Wir müssen ihnen so helfen, dass es echtes Mitgefühl ist. Echtes Mitgefühl ist, so zu helfen, dass es wirklich einen Unterschied macht. Sonst ist unser mitfühlendes Denken, unser soziales Engagement ein Wunschdenken, weil wir nicht wirklich hilfreich sind. Hier gibt es eine Art Pyramide des Helfens. Es ist absolut notwendig, erst einmal die gesellschaftlichen, wirt schaftlichen, materiellen Rahmenbedingungen zu schaffen, sodass Menschen überhaupt ein bisschen Raum haben, sich mit ihrem Geist zu beschäftigen. Es braucht die emotionalen, familiären Rahmenbedingungen. Es braucht Gesundheit, es braucht Sicherheit und Schutz des Lebens, um innerhalb der guten gesellschaftlichen Bedingungen atmen zu können. Wenn all das, was wir den sozialen Rahmen nennen, gesichert ist, dann braucht es da drin Gewahrseins-Schulung. Es braucht ein Einführen in die Arbeit mit dem eigenen Geist, damit wir nicht erleben müssen, dass sich Menschen trotz idealer äußerer Bedingungen in tiefste Depressionen verstricken, dass sie sich das Leben nehmen müssen, weil sie keinen Ausweg sehen; dass sie in Stolz und Narzissmus verstrickt sind, in unglaublich viel Ärger, Aggression, Wut, Ablehnung, Kälte … all das, was wir innerhalb von Gesellschaften sehen, in denen es eigentlich alles gibt, was es zum Leben braucht. Das Leid nimmt mit der zunehmenden sozialen Absicherung gar nicht ab. Es nimmt nur ab, wenn gleichzeitig auch die innere Arbeit mit dem Geist getan wird, und echtes Mitgefühl kümmert sich um all diese Bedingungen. Und dann ist es nicht nur ein Mitgefühl, das handelt, um dann erleichtert zurückkehren zu können, sondern es hat die Augen offen und sieht, wo die wahren Wurzeln des Leides sind. Es hilft auf all diesen Ebenen und vergisst nicht, eben auch die tiefe Hilfe zu geben, mit dem eigenen Geist zu arbeiten. Menschen in armen Gesellschaften können genauso frei und glücklich sein wie Menschen in reichen Gesellschaften. Worauf es ankommt, ist, dass das Minimum gesichert ist: Sicherheit, Nahrung, Schutz, stabile Verhältnisse, in denen eine solche Entwicklung möglich ist.

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Im Äußeren erfährt man die Selbstbefreiung der drei Welten, Innerlich erfährt man das selbst-existierende Urbewusstsein, Und dazwischen hat man die Gewissheit der Erkenntnis. Auf diese Weise ist man ohne Furcht vor dem Bösen. Das muss ich euch jetzt ein bisschen entschlüsseln. Mit den letzten Versen sind wir schon bis zur Erkenntnis vorgedrungen. Ein Yogi, der erkennt, der versteht, erfährt im sogenannten Äußeren – was wir als unsere Welt betrachten; das, was wir jetzt meditiert haben die Tage, alles, was unsere Welt ausmacht –, dass sich dieses Erleben von selbst befreit. Das Äußere ist die Selbstbefreiung der drei Welten – die Welt der Begierde, der Form und der Formlosigkeit. Das sind Welten des Vergegenständlichens. Im ersten Fall aufgrund von Begierde, das sind die ersten fünf Daseinsbereiche plus ein Teil der Götterbereiche. Dann gibt es den Bereich der Form, in dem das Ver gegenständlichen von Formen stattfindet; das sind Wesen mit Lichtgestalt. Und dann gibt es den Bereich der Nicht-Form, wo ein Anhaften an nicht-strukturierten Geistesräumen stattfindet. Das sind die drei Welten des Anhaftens. Aber sie alle befreien sich von selbst. Sie alle sind Erleben. So wird das außen erfahren. Das sogenannte Außen ist das Spiel des Geistes, in dem sich alles selbst befreit. Das sogenannte Innere wird hier das selbst-existierende Urbewusstsein genannt. Das ist yeshe lhundrup auf Tibetisch. In dieser spontanen Vielfalt ist eine unendliche Fülle. In diesem spontan vorhandenen, spontan existierenden, perfekten zeitlosen Gewahrsein, taucht eine Fülle an Erscheinungen auf, die alle leer sind, die keinerlei Substanz haben. Das ist das sogenannte Innere. Wir sind hier also bereits in einem tiefen Verstehen, dass Außen und Innen eigentlich gar nicht verschieden sind. Denn dazwischen – in diesem Wechselspiel von Innen und Außen, in diesem vielgestaltigen zeitlosen Gewahrsein, das die Fülle der sich selbst befreienden Erscheinungsformen der drei Daseinsformen hervorbringt – hat man die Gewissheit der Erkenntnis. Es entsteht völlige Gewissheit über die Befreiung, was Erwachen tatsächlich ist. Und dann hat man keine Furcht mehr vor Mara. Mara wird manchmal als Teufel übersetzt, ich übersetze es in meinen Texten oft als „die Gegenkräfte des Erwachens“, „die Gegenkräfte der Erleuchtung“. Man kann es auch einfach als „das Böse“ übersetzen. Das ist eine ganz archaische Übersetzung. Es geht immer um den Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen; das ist klassische, alte Literatur. Wo die Gewissheit der Erkenntnis entstanden ist, gibt es keine Angst mehr vor dem sogenannten Bösen, weil es als dieses Spiel des Geistes erkannt wird. Das ist auf den Thangkas zu sehen, wo der Buddha im Moment der Erleuchtung dargestellt wird und die Pfeile Maras an ihm abprallen. Sie werden zu Blumen, die tanzenden, verführerischen Gottheiten werden zu alten, verrunzelten Weibern, usw. Alles, was uns irgendwie aus der Ruhe bringen könnte, oder ins Greifen bringen könnte, wird durchschaut. Darum geht es, es wird durchschaut. Und deswegen gibt es keine Angst mehr vor Mara. Mit Mara ist die ganze Welt der Identifikation gemeint; all das, wonach wir greifen. All das, was wir im normalen dualistischen Bewusstsein als Versuchung erleben, löst sich auf. Man hat keine Angst mehr, es braucht nicht anders zu sein; es wird durchschaut als das, was es ist. Das ist eine ganz schön herausfordernde Unterweisung. Wir machen jetzt zehn Minuten Meditation zwischendurch. Meditation Wir stellen uns dem Mara. – Lasst das Spiel von selbst ablaufen … die Selbstbefreiung der drei Welten. ***

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Wir können uns die Unterweisung von Milarepa übersetzen, ein bisschen umformulieren; die letzte Strophe z.B.: „Ihr braucht keine Angst zu haben vor dem, was ihr für das Böse haltet; vor all dem, dem ihr aus weichen wollt. Ihr braucht keine Angst zu haben! Schaut hin! Es befreit sich von selbst in diesem Geist, den wir „das zeitlose Gewahrsein“ nennen. Es ist nicht wirklich ein Problem, schaut hin. Außen erscheinen die fünf begehrenswerten Sinnesobjekte, Innen die Weisheit, frei von Haften, Und dazwischen praktiziert man den gleichen Geschmack der Erfahrungen. Auf diese Weise gibt es kein dualistisches Haften an Glück und Leid. Das sind direkte Praxis-Instruktionen. In der äußeren Welt erscheinen die Erfahrungen des Spürens, des Sehens, Hörens, Riechens und Schmeckens, die normalerweise ein Haften, ein Greifen oder Ablehnen bewirken – die emotionalen Reaktionen. Aber innen ist die Weisheit, das Verständnis von uns, den Praktizierenden. Wir sehen, dass diese Erfahrungen, die normalerweise ein Greifen auslösen, keine Substanz haben; dass es von uns abhängt, ob wir greifen oder nicht, ob wir die Erfahrung zu einem Drama aufbauschen oder nicht. Wir sehen, was für Filme wir dranhängen. Und diese Weisheit ist frei von Haften. Frei von Haften bedeutet, dass wir uns nicht identifizieren. Wir neh men z.B. die laufende Zement-Mischmaschine von draußen nicht als persönlichen Angriff oder als Angriff auf unsere Gruppe. – Das könnte doch sein, oder? Wie auch immer jetzt das Mittagessen ist, oder dass der Grüntee tatsächlich wieder in der Kaffee-Thermoskanne gelandet ist, ist kein persönlicher Angriff. Das sind die Sinneserfahrungen. Und wenn die Weisheit diese Sinneserfahrungen durchtränkt, dann sind sie einfach da und lösen sich wieder auf. Aber sie könnten auch einen ganz schönen Film auslösen – das wäre ohne Weisheit. So kann man sich das Leben schwer machen. Teilnehmer: Aber nicht nur auslösen, sondern von vorne herein auch schon ganz stark und unterschwellig gefärbt sein. Von vornherein, ja. Da ist diese unterschwellige Bereitschaft, alles persönlich zu nehmen. Ja, genau. Wenn aber schon Weisheit Einzug gefunden hat, dann lösen sich die Sinneserfahrungen auf und werden leicht. Wir werden durchlässig. Und dies nennt man dann den gleichen Geschmack der Erfahrungen zu praktizieren. Damit ist nicht gemeint, dass Grüntee oder Grüntee mit Kaffee dabei einen anderen Geschmack auf der Zunge gibt. In seiner nicht-fassbaren Natur, in dieser Grundnatur ist es ein Erleben. Wenn schert es, dass das Erleben ein Nicht-Mögen auslöst? Auch das Nicht-Mögen ist wieder ein Erleben, genauso wie das Mögen. Wir sind ständig mit der Natur des eigenen Gewahrseins verbunden. Wir erleben, wie lebendig das ist und wie vielfältig die Möglichkeiten sind, zu gestalten; in welche Richtung das alles gehen kann. Und darin, diese Möglichkeiten zu sehen, liegt unsere Freiheit: Jetzt könnte es sich so gestalten und es könnte sich so gestalten, völlig frei. Es kann sich auch einfach auflösen. Und diese Freiheit nutzen wir dann, um so zu gestalten, wie wir es am sinnvollsten halten. Das ist Freiheit. Nicht gefangen zu sein, in der vermeintlichen Unterschiedlichkeit von verschiedenen Körperempfindungen, Geschmäckern, Gerüchen usw., sondern auf die tiefere Ebene gehen zu können. Teilnehmer: Dieses Gestalten-Können oder das tatsächliche Gestalten, ist das auch schon eine Art von Verstrickung? Nein. Ein Buddha gestaltet, ein erwachter Meister gestaltet Situationen. Da ist ja kein Verstricken. Ver stricken erkennst du immer daran, dass Widerstände kommen. Wenn etwas nicht so läuft, wie es laufen soll te, dann merkt man ganz gut, wie weit da das eigene Wollen, die eigenen Absichten schon zu einer Verstrickung geführt haben. Schau dir zum Beispiel Shamar Rinpoche an, der gerade verstorben ist. Er hat unglaublich viele Projekte gestartet, ganz viele verschiedene. Er war einer der Lehrer, die ich kenne, die am aktivsten waren. Er konnte die Projekte mit unglaublicher Flexibilität den Umständen anpassen und trotzdem immer dieselbe Richtung beibehalten. Das ist so spürbar. Es geht immer um dasselbe, aber da ist diese Anpassungsfähigkeit. Aber für uns ist es ganz schwierig, ein Projekt zu haben ohne verstrickt zu sein. Aber es gibt diese Möglichkeit, die gibt es immer. Wenn wir merken, der Humor ist noch dabei, Freude ist dabei, das Spielerische ist noch dabei, es gibt noch einen gewissen Raum, wir haben noch die Fähigkeit, anderen zuzuhören – das ist noch nicht

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ganz verloren gegangen –, wir haben die Möglichkeit, noch einen anderen Weg einzuschlagen, wir sind noch nicht völlig fixiert, dann sind wir wenig verstrickt. Das sind die Indikatoren. Teilnehmer: Das gilt auch für Firmen, oder? Bei keiner Firma läuft es immer gerade. Geht es nicht so, dann geht es halt anders herum. Firmen sind ja auch Gruppen von Entscheidungsträgern. Wir können Gruppen eigentlich immer so verstehen, als ob es ein Individuum wäre, als ob es eine Person wäre. Es gibt die Sturheit von Gruppen genauso, wie es das sture Individuum gibt; es gibt flexiblere Gruppen. Die Psyche ganzer Völker lässt sich wie die Psyche eines Menschen verstehen. Da wirken dieselben Mechanismen. Aber in großen Gruppen ist das dann noch schwieriger. Es ist schwieriger, den Überblick zu behalten, ja. Und auch da dann einzugreifen. Ja, das ist ganz schwierig. Deswegen arbeiten wir zuerst einmal mit dem eigenen Geist, um selber flexibel zu werden, und dann schauen wir, ob unsere Flexibilität etwas Sinnvolles beitragen kann in den oft sehr festgefahrenen Strukturen und Situationen. Es ist oft nicht so viel möglich. Auf diese Weise gibt es kein dualistisches Haften an Glück und Leid. Damit ist gemeint: „Ich will glücklich sein, ich will nicht leiden.“ Wenn wir den gleichen Geschmack der Erfahrungen erfahren, dann ist es tatsächlich so, dass wir immer im unmittelbaren Erleben ankommen. Und dort gibt es diese Etiketten von „mag ich“ und „mag ich nicht“ nicht; das ist nachgeordnet. – Das ist aber schon die hohe Schule. Ihr kennt den berühmten Dharma-Spruch: „Die Wurzel von Samsara ist der Wunsch nach Glück.“ Das ist eine tiefe Analyse. Wir wollen alle glücklich sein. – Wir sollen auch alle glücklich sein! Der Weg des Er wachens ist auch der Weg in etwas, das wir Glück nennen würden. Aber aus diesem Wunsch nach Glück, aus dem kommen all unsere Handlungen: das Angenehme behalten zu wollen, das Unangenehme wegschieben zu wollen, Parteien zu bilden, eine Verbindung einzugehen mit denen, die scheinbar in meine Richtung gehen. Aller Streit, die ganze Profitsucht in unserer Welt kommt aus dem Wunsch nach Glück, weil wir das Glück dabei nicht besonders geschickt ansteuern. Und was dabei mitschwingt, ist der Wunsch nach persön lichem Glück, nach meinem Glück. Wenn wir das Glück aller im Auge haben, dann ist das kein Problem. Aber das Glück aller, nicht nur einer Gruppe im Unterschied zu einer anderen Gruppe. Dann ist der Vorteil der einen Gruppe unter Umständen mit dem Nachteil der anderen Gruppe verbunden. So geht’s nicht. Es müssen wirklich alle im Herzen mitgetragen werden; nur dann ist der Wunsch nach Glück nicht mehr die Wurzel von weiterem Leid. Teilnehmer: Es ist schwierig, nicht glücklich sein zu wollen. Das ist doch eigentlich unser aller Triebfeder von allem. Und der Trick ist nur: Wenn du an diese Freude kommst, dieses Gewahrsein und die auch noch loslässt, dann hast du ja das Glück. Jein. Du kannst es nicht haben, aber du kannst es teilen. Ich meine, wir sind an sich schon glücklich in unserem Urzustand, in unserer Buddha-Natur. Wenn wir da in Kontakt sind, dann sind wir eigentlich glücklich. Ja. Wenn wir frei von Greifen sind, wenn wir voll in diesem ganz offenen Geisteszustand sind, dann sind wir glücklich. Es ist nicht mehr das Glück im Unterschied zum Unglück. Da ist kein Unterschied. Genau. Ich dachte erst, du würdest etwas von einem Trick sagen wollen. Aber was du sagst, das ist kein Trick. Es gibt allerdings einen Trick, und der nennt sich: Widmen, Schenken, Freigebigkeit. Immer, wenn wir etwas haben, das uns glücklich macht, widmen wir. Wir teilen es; wir schenken es her und beziehen alle, wo es möglich ist, mit ein. Das ist in sich ein wunderbares Mittel, um zumindest nicht in einem starken Haften an den Quellen des Glücks und an den Glücksgefühlen zu sein. Immer teilen, fließen lassen; ständig. Wir halten nichts zurück. Alles, was uns glücklich, freudig macht, schenken wir her. Für mich zrückgehaltene Freude ist bald keine

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Freude mehr. Ein Glück, das ich nicht mit anderen teile, ist bald keines mehr. Und das ist der „Trick“. Es ist guter alter Dharma auf unserem Weg der Befreiung, das zu üben. Und da es um Glück und Leid geht, gehört zu dieser Unterweisung auch, dass wir immer dann, wenn wir leidvolle Erfahrungen haben, an das Leid der anderen denken und sagen: „So wie ich leide, leidet ihr ja auch. Möge, was auch immer ich entwickle um mit Leid umzugehen, euch allen zu Gute kommen.“ Wir öffnen uns im Leiden für das Leiden der anderen, und schon ändert sich unsere eigene Erfahrung von Leid. Ihr kennt es, wie die sich verändert; das ist unglaublich. Also ob Erfahrung von Glück oder Erfahrung von Leid, wir öffnen uns für alle in diesem verwandten Stre ben, Leid zu vermeiden und Glück zu erfahren. Und das macht aus den Erfahrungen von Glück und Leid dann keine Ursachen für Samsara mehr. Äußerlich gibt man seine Beschäftigungen auf, Innerlich hat man weder Hoffnung noch Furcht, Und dazwischen ist man frei von der Krankheit ehrgeizigen Strebens. Auf diese Weise gibt es kein dualistisches Haften an Tugend und Laster. Ihr denkt jetzt ganz stark im Rahmen der weltliche Beschäftigungen. Milarepa geht es aber jetzt auch um die sogenannten spirituellen Beschäftigungen und dergleichen. Es geht nicht nur um die weltliche Geschäftigkeit, sondern auch um das Beschäftigt-Sein mit Ritualen, Mantra Rezitationen, gutes Tun und dergleichen. Innerlich weder Hoffnung noch Furcht – weder Hoffnung erwacht zu werden, noch Furcht nicht erwacht zu werden. Frei von der Krankheit ehrgeizigen Strebens, ein besserer Dharma-Praktizierender sein zu wollen, und von daher kein Haften daran, besonders rein zu sein, oder seine Laster – Schwierigkeiten, Probleme – verstecken zu müssen. Es geht um diese Möglichkeit, einfach Mensch zu sein, ohne sich selber durch Geschäftigkeit, ehrgeiziges Streben immer wieder ein Bein zu stellen, und sich dann in Vorstellungen zu verfangen. Teilnehmer: Milarepa ist doch der Inbegriff des fleißigen Meditierers. Also fleißig im Sinne von unermüdlich im Gewahrsein verweilend, aber kein Rezitierer von Ritualen und dergleichen; gar nicht. Sein erstes Retreat hat er gleich so gemacht, dass er sich eine brennende Butterlampe auf den Kopf gesetzt und sich so lange nicht bewegt hat, bis die Butterlampe runtergebrannt war. Das sind dann so 7-12 stündige Meditations-Sitzungen. Also von daher, „fleißig“, vielleicht kann man so sagen in seiner Ausdauer, seiner Präsenz. Er hat eine unglaubliche Energie freigesetzt, um diesen Weg zu gehen. Vielleicht hast du ja das gemeint. Teilnehmer: Butterlampen-meditieren ist ja auch eine spirituelle Beschäftigung. Nein, das ist keine Beschäftigung. Es ist eher eine Gefahr, einen Guss heißes Butterfett über den Körper zu kriegen. Das ist keine Beschäftigung, sondern bewirkt, dass man immer aufrecht sitzt; das ist nicht von ungefähr. Du sitzt so aufrecht wie jetzt. Du musst wirklich diesen Scheitelpunkt ganz ruhig halten und kommst in eine Wachheit hinein, die tiefes Verstehen bewirken kann. – Stille Meditation Ihr könnt die Butterlampen runternehmen und in der Gehmeditation weitermachen. Bitte bewahrt diese exzellente Stille bei; die Aufmerksamkeit auch im Detail, im Wechsel von Gehmeditation, Sitzmeditation als Übung. Und dann die jeweiligen Pausen als Hauptpraxis.

Morgenmeditation Kontemplation Schaut einmal hinein in euren eigenen Geist, wie ihr euch gerade fühlt, mit der Frage: Bin ich bereit zu meditieren, bin ich eingestimmt? Oder brauche ich eine Vorbereitung, um den Geist zu sammeln, um in die Sammlung zu führen? – Das ist eigentlich die grundlegende Frage, die sich stellt: Bin ich schon in der Meditation angekommen,

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kaum dass ich mich hinsetze, oder würde es mir gut tun, nochmals durch die grundlegende Kontemplationen zu gehen? – Es kann nämlich sein, dass nach einigen Tagen der Praxis wie jetzt, die Praxis von selbst erscheint, kaum dass wir uns hinsetzten, und dass wir gar nichts zu tun brauchen. Es wäre vielleicht künstlich, noch durch die vorbereitenden Kontemplationen zu gehen. Nicht, dass diese Kontemplationen schaden würden, aber sie sind eventuell einfach überflüssig. – Es kann aber auch sein, dass wir gerade besonders aufgewühlt sind und uns manches beschäftigt. Dann ist es sinnvoll, an Vergänglichkeit zu denken, sich ins Bewusstsein zu rufen, wie kostbar diese Gelegenheit ist, ohne sich dabei Druck zu machen. Es ist sinnvoll, dann tiefe Wertschätzung zu entwickeln, um sich klar zu machen, dass das Nachdenken über diese Dinge vielleicht auch etwas warten kann, und dass es am meisten bringt, über schwierige Dinge nachzudenken, wenn man in einer gelösten Verfassung ist. – Dann ist es wichtig, sich zu entscheiden, wirklich die nächsten Minuten, die nächste Stunde, ganz der Sammlung zu widmen, dem Öffnen des Geistes, dem Verstehen. Wenn nötig, nehemn wir uns noch Zeit, über diese Dinge nachzudenken. – Wenn alles ganz klar ist und ich weiß, ja dieser Geist ist von Natur aus gesammelt, ich brauche mir nur bewusst zu werden, er ist weit und offen, da ist eine tiefe Gewissheit, dass das Erwachen die Natur des Geistes selbst ist, dann braucht es keinerlei Vorbereitungen. – Wenn wir uns hinsetzten und die Zuflucht rezitieren, das Bodhicitta-Gebet, die Vier Unermesslichen, dann tun sie das gar nicht nur für sich selbst, sondern für die Umgebung, auch für all die unsichtbaren Wesen, die eventuell zuhören, sodass die ganze Umgebung eingestimmt wird, dass alle erinnert werden, gar nicht nur wir selbst. Es ist wie ein Geschenk, das wir dem Universum machen, dass wir ganz bewusst diese Gedanken und Gesänge, Rezitationen wie hinausschicken als Geschenk an alle. Vielleicht können wir das heute ja so machen. Ich lade euch ein, gemeinsam die Zufluchtsgebete zu singen. Rezitation: Zuflucht, Vier Unermessliche und Gebet an den Lama Als Ausdruck dieser Verbundenheit mit allen, stellen wir uns jedes Mal beim Zufluchtnehmen vor, dass wir umgeben von allen Lebewesen sind, die sich zugleich mit uns ausrichten auf die wahren Qualitäten ihres Geistes, das Erwachen, und die dann zum Schluss der Gebete, so wie wir den Segen erfahren, wenn die Zuflucht in sie verschmilzt. – Und wenn wir während der Meditation dann Gedanken an Menschen oder Tiere oder sonst wen haben, dann können wir einfach innerlich sagen: „Komm, setz' dich doch einfach an meine Seite, wir praktizieren jetzt et was zusammen.“ Wir praktizieren die ganze Zeit in dieser Verbundenheit. Auch wenn wir allein in den Ber gen sitzen würden, wir praktizieren stets verbunden mit all den anderen um uns herum. – Stellt euch einmal vor, wir würden jetzt hier sitzen, alle noch mit ihrem Anhang, mit denen die uns lieb sind, unseren Freunden, Familie – keinem wird Zwang angetan, alle werden einfach nur eingeladen, sich zu öffnen und diese Öffnung zu erfahren. … Auch Verstorbene können wir dann einladen, jetzt hier zu sein. – Und aus diesem Gefühl der Verbindung heraus praktizieren wir dann, öffnen den Geist – in Herzensweite. – Wir atmen ein, wir atmen aus ... vom Herzen. – Beim Einatmen öffnen wir uns für alles was ist, für alles was erfahren wird; in uns selbst wie auch in anderen ... und dabei sind wir zugleich in dem Bewusstsein, dass sich ohnehin alles von selbst auflöst, dass nichts hängen bleibt. Und aus dieser Offenheit des Herzens strömt mit dem Ausatmen etwas liebevoll Unterstützendes in alle Richtungen aus, durchdringt uns selbst und geht in alle Richtungen – vorne, hinten, seitwärts, über uns, unter uns – eine liebevolle Ausstrahlung, so als würden wir all diejenigen, die um uns herum sitzen, liebevoll unterstützen, ohne es konkret machen zu müssen. – Einatmend öffnen wir uns für die Verbindung mit allen und ausatmend lassen wir das Wohlwollen fließen. Uns selbst annehmend und alle anderen, die uns ins Bewusstsein kommen, annehmend, so wie sie sind … und jeden in seinen Qualitäten unterstützend. – Was auch immer an Gedanken, an Gefühlen auftaucht, betrachten wir in Hinblick auf seine wahre Natur. Da gibt es gar nicht viel zu sehen – und genau das ist es, was wir die wahre Natur nennen. … Geistesbewegungen tauchen auf und sind schon wieder verschwunden, wenn wir ihrer gewahr werden. – Je weniger wir an Begriffen festhalten, an Vorstellungen, desto rasanter ist dieser Prozess – so viele feine Re gungen in diesem gesammelten Geist, der eigentlich gar nichts tut. –

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Und jede einzelne dieser geistigen Regungen wird in derselben wohlwollenden, annehmenden Grundhaltung erfahren, wie wir sie auch gegenüber den uns umgebenden Lebewesen kultiviert haben, zugelassen haben. – Die Sammlung besteht darin, dass wir den Geist ganz weit machen und nicht zu sehr ins Greifen gehen. Wir brauchen den Geist nicht zu beruhigen. Wir geben ihm nur allen Raum, wie eine große, große Tanzfläche, wo sich alles zeigen kann. Die Ruhe besteht darin, nicht festzuhalten. – Alle wahrgenommenen Formen lösen sich auf in andere Wahrnehmungen, alle Bewegungen führen zu anderen Bewegungen – manchmal mehr Bewegungen, manchmal weniger. – Wenn es euch möglich ist, dann öffnet alle Räume und lasst die ganze Lebendigkeit des Geistes zu, … ohne zu wollen, ohne Angst zu haben. – Wir brauchen nichts zu erzeugen, wir brauchen nichts zu stoppen, einfach diesen Tanz, dieses Spiel ablaufen lassen. – In dieser wohlwollenden Weite ist auch gar kein Unterschied zwischen Meditation und Pause. Ob wir nun viel hören, viel sehen – wenn die äußeren Wahrnehmungen zunehmen, in dieser Weite spielt das eigentlich überhaupt keine Rolle. – GONG Wenn ich mich frage: Wer bin ich denn in diesem ganzen Geschehen? Bin ich der Raum, die Tänzer, der Tanzboden? – Bin ich ein Beobachter, der von außen wohlwollend zuschaut? Bin ich der Inhaber dieser Tanzhalle? … All das! - All das?? … Dieses Ich? Das, was ich bin? – Das ist dieses dynamische Geschehen, jeder Aspekt des Erlebens ist Teil davon. – Und wenn wir da genauer hineinschauen, bemerken wir, dass jeder einzelne Aspekt dieses Geschehens dynamisch ist – sich wandelt. – Wir brauchen auch keine Distanz aufrecht zu erhalten gegenüber diesem Spiel, diesem dynamischen Erleben. Wir dürfen es zulassen, einfach dieses Erleben zu sein; ganz frei, unbekümmert. – *** Nach diesem letzten Lied erklärte dieser Mönch Shakyaguna: „Die Praxis des Jetsün ist sicherlich von Anfang an gut gewesen. Ich habe den Jetsün zwar früher schon getroffen, doch hatte ich kein Vertauen in deine Unterweisungen. Nun aber möchte ich dich um Ermächtigungen und und Unterweisungen bitten.“ Der Jetsün gab ihm Ermächtigungen und Belehrungen und ließ ihn meditieren. Nachdem Tönpa einige meditative Erfahrungen gemacht hatte – er hat sich offenbar ins Retreat begeben –, berichtete er dem Jetsün: „Gäbe es keine Erscheinungen -kein Erleben – und kein Samsara, dann brauchte man auch nicht zu praktizieren. Ohne Geist gäbe es niemanden, der denkt. Ohne Lama wüssten wir nicht, wie wir praktizieren sollen. – Da kommt kaum jemand von selber drauf. – Bitte sage mir, was für jeden dieser Punkte kennzeichnend ist, und kläre mich über die Natur des Geistes auf.“ Der Jetsün antwortete mit diesem Lied: Tönpa Shakyaguna möchte also weitere Erklärungen dazu. Er hatte Samsara angesprochen und den Geist, den Denker und die Bedeutung des Lehrers. Der Jetsün antwortete mit diesem Lied: Kennzeichnend für Erscheinungen ist, dass sie ungeboren sind; Stellt man sich vor, sie entstehen, so ist das Dinglichkeitshaften. Mit Dinglichkeitshaften ist Vergegenständlichen gemeint. Das betrachten wir jetzt näher: Geburt: Da ist eine Mutter – vorher noch eine Empfängnis –, die Mutter gebiert ein Kind. Das Kind lebt eine Weile, wird älter, stirbt irgendwann. Geboren werden entsteht durch eine andere Kraft, die etwas hervorbringt. In diesem Fall ist es die Mutter bzw. sind es all die Kräfte, die zusammenwirken, dass ein Kind geboren wird. Nach der Geburt gibt es eine Weile des Bestehens, und weil es Geburt gibt, gibt es immer auch Tod. Das ist die Folge. Wenn wir Erscheinungen, unser Erleben, betrachten – so wie heute morgen; ihr habt ganz

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weit aufgemacht und die Lebendigkeit des Seins zugelassen; da habt ihr vielleicht diese feinen Geistesbewegungen bemerkt; diese feinen Bewegungen nennt man Erscheinungen, wir haben sie heute als tänzerisches Spiel wahrgenommen –, haben diese Bewegungen eine Mutter? Geht ihnen etwas voraus? Werden sie durch etwas anderes erzeugt? Gibt es ein Geborenwerden und dann ein Bleiben, ein Sich-Aufhalten und dann ein Altern und einen Tod dieser Erscheinungen? Es könnte ja sein, dass wir uns das so vorstellen, aber da müssen wir noch feiner hinschauen. Bringt ein Gedanke den anderen hervor? Ist ein anderer Gedanke die Mutter des nachfolgenden Gedankens? Das wäre dann der Sohn oder die Tochter. Gibt es da einen Moment des Geborenwerdens, einen Moment des Verweilens und einen Moment des Sterbens? – Diese Fragen möchte Milarepa in Shakyaguna anregen; er möchte, dass Shakyaguna ins Retreat zurückgeht und schaut: Erscheinungen – kann man sagen, dass sie ungeboren sind? Wir haben ja bei allem, was wir erleben, das Gefühl, es wird hervorgebracht, es wird gebo ren. Es besteht für eine Weile, dann löst es sich auf. Wie ist es denn mit dem Wahrnehmen? Teilnehmer: Bestimmte Gedanken lösen ja andere Gedanken aus, oder? Oder auch nicht! Ist in einem Gedanken angelegt, dass er einen anderen Gedanken gebären muss? Angelegt ist es nicht, aber die Wahrscheinlichkeit ist groß. Du meinst, der eine Gedanke geht schon schwanger mit dem nachher kommenden Gedanken? Oft schon, ja. Und wenn das so wäre, gäbe es dann irgendwann einmal die Möglichkeit aufzuhören, sodass eine Gedankenkette zum Erliegen kommt? – Nein, eigentlich nicht. Wenn Gedanken schon den nächsten Gedanken tragen und hervorbringen würden, dann würde immer ein Gedanke auf den nächsten folgen. In deiner Wahrnehmung sind sie mal schwanger mit dem nächsten Gedanken und bringen ihn dann hervor, setzen ihn dann frei, gebären ihn, und mal nicht. Dann kommt es zum Abort oder so etwas. – Das war dann ein unfruchtbarer Gedanke. – Interessant, nicht? Es ist gut, da mal hineinzuschauen. Teilnehmer Ich vermute, dass es ein ganz subtiles Greifen ist, das den Gedanken anregt, alle seine Freunde auch herein zu holen. Teilnehmer Ich kehre zurück zur Formulierung von vorhin: Auslöser und nicht schwanger. Da besteht ein Unterschied. Ja, ein Auslöser ist etwas ganz anderes. Da hab ich vielleicht vorschnell geantwortet. Ein Auslöser ist etwas anderes als zu gebären. Was ist denn mit Auslöser gemeint? Warten die Gedanken bis es einen Auslöser gibt, und sie kommen dann zum Vorschein? Teilnehmer: Zu 95% vielleicht. – Ich denke schon, dass ein Gedanke den anderen erzeugt – Ursache-Wirkungsprinzip. Zwangsweise? Ist also in der Ursache angelegt, dass die Wirkung entstehen muss? Eine Ursache ist nur dann eine Ursache, wenn sie tatsächlich immer die Wirkung hervorbringt; sonst ist es keine Ursache und dann ist es auch kein Auslöser. Da gibt es keine 95%. Teilnehmer: Eine Frau muss ja nicht immer gebären. Dann ist sie nicht schwanger. Wenn eine Frau nicht gebiert, ist sie keine Mutter. Man muss genau sein! Teilnehmer Ein Auslöser ist eine Ursache, wenn man Interesse dafür hat. Nein, da braucht es eine zusätzliche Bedingung. Ein Auslöser ist nur dann eine Bedingung, wenn auch noch eine zusätzliche Bedingung dabei ist. Eine Ursache steht für sich allein. Eine Ursache hat aus sich heraus keine Kraft. Ihr müsst einfach sauber denken, aber schaut in eure Erfahrungen! – Ihr fängt jetzt an zu fabulieren. – Schaut in die Erfahrung: Wie sieht es aus? Wie entstehen Gedanken? Teilnehmer: Mich erinnert das an die Junkschen Assoziations-Experimente. Wenn ein Bild oder ein Wort-

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Bild in mein Hirn kommt, wodurch es emotional aufgeladen wird, also ein Greifen stattfindet, dann kommt dieser nächste Assoziationshof und verselbständigt sich. Da ist dann auch wieder was drin, was irgendwann einmal wichtig war. Da ist die Erinnerung, die wieder wichtig wird, und „schnapp!“, das Nächste kommt. Ja, so erleben wir das. Ist es so? Ich finde dieses Mutter- oder Geburt-Tod-Bild ist eine Metapher, die man da drauf setzt. Es geht um Schöpfung, es geht um das Gottes-Prinzip. Gibt es einen Schöpfer? Gibt es ein schöpfendes Prin zip? Das alles spielt im Hintergrund mit. Philosophisch ist dieses Geborenwerden sehr tiefgründig. Und zur Assoziation: Bringt eine Sinnesempfindung immer dieselbe Assoziation hervor? Nein! Das heißt, die nächste Assoziation ist noch nicht wirklich voll und ganz angelegt in der Wahrnehmung oder in dem Bild oder in dem, was da auftaucht. Da kommt noch etwas hinzu. Wenn es wirklich eine UrsacheWirkungskette wäre, dann würde ein Gedanke immer denselben nächsten Gedanken auslösen, und das wäre zwangsläufig so und es könnte auch keinen Stopp geben. Interessant! Das widerspricht unserer Erfahrung, es ist nicht so, dass es zwangsläufig immer zu denselben Assoziationsketten kommt. Es gibt unterschiedliche Ketten; die können auch mal zm Erliegen kommen. Manchmal geht ihnen offenbar der Treibstoff aus. – Es braucht Interesse dafür, ein besonders geartetes Interesse. Es geht dann auf eine bestimmte Art weiter, offenbar wie eben diese Art des Interesses ist. Teilnehmer Ich kann den Ursprung nicht genau erkennen, woher das kommt. Egal, welches Erleben da ist, es beinhaltet auch die Freiheit nicht einzusteigen, denn wenn das alles schon vorbestimmt wäre, dann hätten wir ja nicht die Freiheit, anders zu handeln. Aber ich frage mich gerade: Was entscheidet denn da? Es zieht z.B. ein Erleben vorbei, dann gibt es einen bestimmten Spielraum an Wahlfreiheit, darauf einzugehen, also sich zu verstricken oder nicht. Was entscheidet da? Da müssen wir mal hinschauen! Ich möchte euch noch auf etwas anderes aufmerksam machen: Damit wir davon sprechen können, dass etwas geboren wird, muss es ja existieren, man muss es ja finden können. Das muss es ja irgendwo geben. Das ist noch eine weitere Schwierigkeit, die wir jetzt mit den Gedanken haben oder mit Geistesbewegungen, Regungen. Man kann sagen, wir sind geboren worden, weil man uns anfassen kann, da waren Kräfte. Aber wenn wir sagen, ein Gedanke ist geboren worden, dann kommen wir in die zweite Phase, wo es ihn auch irgend wann geben muss. Die Frage ist also: Wie lange gibt es einen Gedanken? Was ist die Dauer eines Gedan kens? Solange ich ihn denke. Ja, solange ich ihn denke, ist er da. Wir machen dann in der Meditation gleich das Experiment. Wir ver suchen, denselben Gedanken einfach weiterzudenken. Wie lange können wir einen Gedanken halten? – Merkt Ihr? Allein jetzt, wenn ihr daran denkt, ... Merkt ihr, dass wir den scheinbar selben Gedanken immer wieder neu erzeugen müssen, dass ein Gedanke nicht einfach aus sich heraus bleibt? – Ist schon verrückt. Wir haben also zwar ein Gefühl von Stabilität, aber diese Stabilität ist dynamisches Geschehen, in dem wir etwas sehr Ähnliches immer wieder erzeugen. Das ist Denken, das ist gar nicht ein Gedanke. Es ist ein Prozess, in dem immer wieder etwas Ähnliches erzeugt wird. Spannend! Und die einzelne Denkbewegung, wie lange dauert die? Und die nächste Frage zu diesem philosophischen Hintergrund mit Geborenwerden usw.: Wie lange dauert das Sterben eines Gedankens? Gibt es einen Moment, wo der Gedanke stirbt? Gibt es mindestens drei Momente für einen Gedanken – den Moment, in dem er geboren wird; den Moment wo es ihn gibt und den Moment, in dem er stirbt? Teilnehmer Wie lange dauert ein Moment? Das möchte ich auch mal wissen! Merkt ihr? Bei diesen Fragen geht es gar nicht um die philosophisch richtige Antwort. Es geht darum, diesen Prozess des Entstehens und Vergehens von Geistesregungen immer

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feiner zu beobachten und alle Hypothesen darüber einmal beiseite zu lassen und in dieses Erleben der geis tigen Prozesse einzutauchen. Ihr braucht hier nicht mit einer „korrekten“ Antwort rauszugehen, die gibt es nicht; das braucht ihr nicht! Es geht darum, immer feiner zu erleben, und da öffnen sich die Freiheits spielräume. Die Vermutung von vorher, dass ein Gedanke so lange bleibt, wie ich ihn denke, teilen wir vermutlich alle. Tatsächlich bleibt der Gedanke nicht so lange, wie ich ihn denke, sondern es entstehen ähnliche Gedanken, solange wie ich sie denke. Das ist präziser ausgedrückt. Teilnehmer: Das ist sozusagen die Freiheit, den Gedanken wiederzubeleben, bevor er stirbt. Ja, machen wir doch gleich einmal ein Experiment. Noch einmal die Zeile von Milarepa: „Kennzeichen für Erscheinungen ist, dass sie ungeboren sind. Stellt man sich vor, sie entstehen – bleiben und vergehen – so ist das Dinglichkeitshaften.“ Wir denken, der Gedanke sei ein Ding, die Erscheinung sei ein Ding, das geboren wird und besteht. Meditation Wir entspannen den Geist, das ist immer wieder eine gute Voraussetzung. – Erster Versuch: Damit wir gut beginnen können, schaut doch mal, dass erst einmal gar nichts entsteht im Geist. – Okay, Kompromiss: so wenig wie möglich entstehen lassen. – Und jetzt noch einmal wie heute Morgen: Alles entstehen lassen was möchte; ganz weit machen, alles erlau ben, alle Lebendigkeit zulassen. – Um ganz sicher zu gehen, wechselt mal zwischen diesen beiden hin und her: erst gar nichts und dann mög lichst alles entstehen lassen. – Und entspannen, für eine Weile keine Übung mehr ausführen. – Jetzt ohne Vorgabe: Lasst ohne Vorgabe Gedanken entstehen und schaut mal, wie das ist. – Versucht mal, den Gedanken dauerhaft wach zu halten. – Und jetzt einmal Pause; einfach, damit es nicht zu viel wird. – Jetzt nehmen wir ein paar Beispiele; einfach, um es zu erleichtern: Denkt zunächst einmal einen Gedanken nur ein Mal – denkt ihn nicht noch einmal, aber denkt ihn so intensiv, dass er bleibt. Nehmen wir erst einmal etwas Abstraktes, denkt einmal ganz intensiv Glück. – Glück. – Nur ein einziges Mal, aber so intensiv, dass der Gedanke bleibt. – Was müsstet ihr tun, um sicher zu gehen, dass er bleibt? Versucht einmal, dass er bleibt. – Jetzt gehen wir in einen anderen Bereich hinein. Wir entspannen uns zunächst. – Stellt euch eine Sonne vor, eine leuchtende Lichtsphäre wie die Sonne. Wir stabilisieren diese Lichtsphäre in unserer Vorstellung. – Was braucht es, um diese Vorstellung stabil zu halten? – Bis jetzt waren wir – etwas in uns – Impulsgeber für bewusste Gedanken, Vorstellungen. Jetzt entspannen wir das und geben keine Impulse. – Ein Blick zurück: Habt ihr in den letzten zwei Minuten etwas gedacht? – Ja! – Komisch! Entspannt euch weiter! – *** Wir werden heute noch mehr Beobachtungen sammeln, aber ich biete euch schon einmal eine Brücke an, die es euch leichter macht zu verstehen, was mit dieser Aussage, 'Erscheinungen sind ungeboren' gemeint ist oder mit Dinglichkeitshaften: Ihr habt vielleicht gemerkt, dass Gedanken, Vorstellungen, mit denen wir experimentiert haben, durchaus entstanden sind; wir konnten etwas tun, damit es dazu kommt. Es brauchte aber bestimmte Bedingungen: Wir durften nicht abgelenkt sein, wir mussten das notwendige Interesse aufbringen, der Geist musste disponibel sein und es brauchte einen gewissen Erfahrungshintergrund. Es brauchte die Erfahrung, schon einmal eine Sonne gesehen zu haben, um mit diesem Wort überhaupt etwas anfangen zu können. Man nennt das 'Entstehen in Abhängigkeit', 'abhängiges Entstehen'. Ganz viele Bedingungen kommen zusammen und führen dazu, dass eine Geistesbewegung entsteht. Keine einzelne dieser Bedingungen hat aus

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sich heraus alleine die Kraft, etwas zu erzeugen. Es braucht viele verschiedene Bedingungen, Kräfte, die zu sammenwirken. Und diese Kräfte sind aus sich heraus nicht stabil, sie sind auch dynamisch. Es ist ihre Na tur, nicht stabil zu sein. Das gibt es nicht, dass ein Gedanke, eine Geistesregung im Geist entsteht, und dann stabil ist. Durch das Zu sammentreffen dieser Bedingungen entsteht kein stabiles Ding. Durch das Zusammentreffen dieser Bedin gungen formt sich etwas, und das, was sich da formt, ist Ausdruck dieser Bedingungen und ist selber auch dynamisch. Es ist kein stabiles Ding, von dem man sagen kann, es ist in die Existenz gekommen und exisitert jetzt. Was wir einen Gedanken nennen, ist ein sich ständig schaffender, sich wandelnder Prozess. Dieses Wort ist irreführend; es gibt nur Denken, es gibt keinen Gedanken. Durch das Zusammenkommen von verschiedenen Bedingungen formen sich Bewegungen, die Kräfte gestalten und diese Gestaltungen sind dynamisch – wie Wellen, die oft als Beispiel genommen werden, oder wie Wolken. Sie sind nicht fix. Und da es nicht zum Entstehen eines Dinges kommt, und keine einzelne der Be dingungen in sich die Kraft hat, dieses Ding alleine hervorzubringen, sagt man, es wird nicht etwas geboren. Gedanken sind nicht geboren, sie sind nicht durch etwas klar verursacht, sondern sie entstehen durch das Zu sammentreffen von Bedingungen. Sie entstehen auch nicht als ein Ding, das erzeugt wird und dann besteht, sondern sie sind in ihrem Entstehen dynamischer Natur. Man kann gar nicht sagen, wo in dieser Veränderung ein Tod beginnt. Es ist sowieso von Anfang an Veränderung und nicht so, als wenn zwischendurch einmal etwas Stabiles wäre. Es ist die ganze Zeit in sich lebendig – im Entstehen lebendig, im Erleben lebendig –, und dann kommt schon wieder das Nächste. Schaut einmal hin: Das ist die Lehre des abhängigen Entstehens, ein guter Ansatz, um zu verstehen, was mit 'Erscheinungen sind ungeboren' gemeint ist. Es ist keine Verneinung; es bedeutet nicht, dass es sie nicht geben würde. Ja, da ist etwas, das entsteht in Abhängigkeit von vielen Bedingung, die ihrerseits wieder dynamischer Natur sind. Es geht darum, dieses Lebendige in der Meditation zu entdecken und sich im Entdecken, im Erleben dieses Lebendigen aus diesem Dinglichkeitshaften zu lösen. Wenn wir denken „die Wut“, „der Hass“, „die Liebe“, … all dieses Vergegenständlichen, machen wir aus dem dynamischen Erleben von lie ben, hassen, wütend sein usw. immer wieder etwas; etwas, das den Charakter von etwas Festem bekommt. Dann sind wir tatsächlich die Gefangenen dieser Vorstellung von etwas Festem. Die Tür zur Befreiung öffnet isch, wenn wir merken, wie lebendig dieses Erleben ist. – Wie lebendig Trauer ist! Wie lebendig Depression ist. Bei einer Depression hat man das Gefühl, man ist kurz vor dem Tod. Depression ist ein höchst lebendiges Geschehen, nur muss man lernen, wieder das Lebendige zu sehen, die Wahrnehmung, man darf nicht in der Vorstellung von etwas sitzen bleiben. Vorstellungen haben eine erstaunliche Stabilität. Teilnehmer Das Ungeborene ist doch das, was dahinter ist. Es gibt ja den Moment, wo man den Gedanken loslässt oder wo er wie eine Seifenblase platzt, bevor dann das Nächste kommt. Das war das Ungeborene. Ja, das war so eine Vorstellung. Das Ungeborene ist sowohl davor, als auch während und danach. Du hast gedacht, das wäre eine andere Schicht. Was Milarepa sagt, ist, dass sich das Ungeborene in diesem gestaltenden Erleben findet und man gar nicht woanders zu suchen braucht. … aber auch dazwischen … Ich überlasse es dir, nachzuschauen, wieviel dazwischen du findest, ob man überhaupt sagen kann, dass es irgendwo nicht ist. Wenn man sagt, es ist dazwischen, dann würde das bedeuten, dass zwischen dem, wo es dazwischen ist, nicht ist. … Vielleicht ist diese Qualität des Seins überall – dieses abhängige Entstehen, dieses Nicht-Geborensein. Ihr seid jetzt sehr angeregt, aber ich möchte hier abschließen und heute auch keine Gespräche führen, son dern mit euch meditieren und gemeinsam mit euch in diesem Untersuchen dieser Prozesse bleiben. – Schießt alles Verstehenwollen zum Mond! Dadurch, dass es jetzt so angeregt ist, ist schon alles getan, was es braucht. Das wirkt jetzt in uns weiter, und so ganz sachte, ohne dass wir etwas wollen, brauchen wir einfach nur aufmerksam zu sein und die Aha-Erlebnisse stellen sich ein. Das Wissenwollen wird dann eher zum Hindernis.

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Lama Heiko: Was mir jetzt so klar wird, ist, dass man in eine gewisse Form geistiger Ruhe eintreten muss, um das erkennen zu können. Eindeutig! Solange man mit groben Konzepten arbeitet, geht es nicht. Erst in der Entspannung, wenn man die feineren Geisetsimpulse sieht, wird klar, was du gesagt hast. Ja, wir erlauben uns den Rest des Tages, in dieser Entspannung zu praktizieren, in diese Geistesruhe zu ge hen, und einfach grundlegend offen und interessiert zu sein für das, was ist. Mehr brauchen wir nicht zu tun. Einfach erleben, voll und ganz erleben.

Erklärungen zum Zufluchtsritual Der Moment im Leben, wo wir formell Zuflucht nehmen, ist, als würden wir zum Buddha kommen und sagen: „Ich habe deine Lehre bedacht und möchte ihr folgen. Ich habe das Gefühl, das ist wirklich ein Weg der Befreiung und den möchte ich gehen.“ „Nimmst du mich an als Schülerin/ als Schüler?“ war früher in Indien die übliche Frage an den Meister, ob er jemanden als Schüler, als Schülerin annimmt. Das hat sich im Buddhismus aber etwas verändert. Zuflucht zu nehmen, ist eine innere Entscheidung: „Ich möchte diesen Weg gehen und ich entscheide mich für diesen Weg“. Und der Tag der formellen Zuflucht ist der, wo das im Geist völlig klar ist. Nach reiflicher Überle gung oder auch aus spontaner Inspiration – die Gründe mögen unterschiedlich sein – kommt es zu diesem Entschluss. Die kürzeste Form, Zuflucht zu erhalten, war zur Zeit des Buddha so, dass er sagte: „Klar, komm her!“ und dabei hat er mit den Fingern geschnippt. Dieses Fingerschnippen war der Moment, in dem die Person quasi in den Weg des Erwachens eingetreten ist – formell; der Weg geht natürlich vorher schon los. Der Weg geht bereits so lange, wie man sich mit diesen Fragen beschäftigt und schaut, wo es tatsächlich freie Geisteszustände gibt bzw. wie Befreiung aussieht. In der Mitte seines Lebens hat der Buddha schon Schüler beauftragt, diese Zuflucht zu geben. Schon nach dem ersten Jahr hat er alle, die das Erwachen erlangt haben, beauftragt, nicht bei ihm zu bleiben, sondern in alle Richtungen auszuschwärmen und den Dharma weiterzugeben. Für eine Weile schien es noch so zu sein, dass alle, die den Dharma noch intensiver praktizieren wollten, zum Buddha geschickt wurden, um direkt bei ihm diesen Wunsch zu äußern. Irgendwann hat ein alter Mann, der den Dharma praktizieren wollte und von einem Schüler des Buddha Erklärungen bekommen hatte, die Reise zum Buddha nicht mehr geschafft und ist gestorben, noch ehe er Zuflucht nehmen konnte. Der Buddha sagte: „Das darf nicht noch einmal vorkommen, von jetzt an müsst ihr alle selber Zuflucht geben. Alle, die den Dharma verstanden haben, verwirklicht sind, sollen Zuflucht geben, sollen Einführen in den Dharma und das auch formell machen.“ Im Laufe dieser Entwicklung entstand dann die dreifache Zuflucht in Buddha, Dharma und Sangha. Das sind so die drei Juwelen, die drei klassischen Worte, die die Essenz des Weges beschreiben. Buddha steht für das Erwachen. Der Buddha ist ein Erwachter und bodhi ist das Erwachen. Wenn wir in die Erwachten Zuflucht nehmen, dann nehmen wir nicht in die Menschen aus Fleisch und Blut Zuflucht, sondern in ihr Erwachen, ihre Verwirklichung. Das ist die Ausrichtung, die wir einschlagen. Mit dieser Ausrichtung gehen wir dann den Weg des Dharma, das ist der Weg des Entdeckens, wie die Dinge wirklich sind. Dharma bedeutet auch Wahrheit, Wirklichkeit, Gesetz – all diese Bedeutungen schwingen da mit. Es ist wie ein Naturgesetz – wie die Dinge eben wirklich sind. So wie wir das heute morgen gemacht haben, als wir uns gefragt und geschaut haben: wie entstehen Gedanken eigentlich wirklich? Was findet da statt, wenn wir nicht mit unseren Konzepten kommen, sondern hinschauen. Dieses Erkunden, wie Leid entsteht und wie Befreiung, Glück entsteht. Das ist der Dharma-Weg – dieses Er forschen, welches zu einem Verstehen führt. Dieses Verstehen wird Dharma der Verwirklichung genannt. Der Dharma als Weg besteht aus Methoden, aus Unterweisungen, die uns helfen zu forschen, hin zu schauen.

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Daraus entsteht dann ein Verstehen und ein Verwirklichen des Dharma, und das ist dann der eigentliche Dharma, der innere Dharma. Auf diesem Weg haben wir Helfer, diese Helfer werden Sangha genannt. Sangha bedeutet eigentlich Gemeinschaft, es ist die Gemeinschaft all derer, die den Dharma verwirklicht haben und uns helfen können auf dem Weg. Wir werden eines Tages auch dazu werden – wenn wir den Dharma verwirklicht haben, werden wir in der Lage sein, anderen den Weg zu zeigen und sind für die anderen dann Sangha. Manchmal hört ihr den Begriff Sangha in einem lockeren Gebrauch. Zum Beispiel sind wir, die jetzt hier im Retreat sind, ein Sangha. Aber hier ist noch ziemlich viel Verwirrung im Raum und so ist dieser Sangha nicht total als Zuflucht geeignet. Schon als Unterstützung, aber als Juwel des Sangha sind nur diejenigen geeignet, die den Dharma verstanden haben und uns wirklich den Weg weisen können. Da gibt es die Buddhas und dann gibt es den monastische Sangha oder eine Gruppe von intensiv Praktizierenden, die als Gruppe Sangha sein können. Wenn wir vom monastischen Sangha als Zuflucht sprechen, dann sprechen wir nicht von der einzelnen Nonne oder dem einzelnen Mönch, sondern es müssen wenigstens vier von ihnen zusammenkommen, und als Gruppe halten sie den Dharma so authentisch, dass sie uns echte Hilfe auf dem Weg sein kön nen. Eigentlich bedeutet Sangha Freundschaft. Aus Freundschaft, aus Liebe wird der Dharma weitergegeben. Die grundlegende Qualität des Sangha ist diese liebevolle Zuwendung, uns alles zu schenken, was für sie selber hilfreich war – das alles weiterzugeben und nichts zurückzuhalten. Das ist die Qualität des Sangha, und darauf können wir vertrauen, das ist eine vertrauensvolle Qualität. Sich so auf Buddha – das Erwachen – auszurichten, die Wahrheit zu erforschen, bis sie zu einer Verwirkli chung, einer Gewissheit wird, und sich dabei auch auf authentische Helfer zu stützen, das nennt man formal in die Zuflucht einzutreten. Das passiert hier, wenn wir diese kleine Zeremonie machen. Das ist das, wozu ihr euch entscheidet: diesen Weg wirklich zu gehen, den Dharma zu praktizieren, sich auf den Sangha zu ver lassen und irgendwann dann selber Sangha zu werden. Als Lehrer ist man angehalten, diese Erklärungen mindestens eine Nacht, bevor die Zuflucht gegeben wird, zu geben, damit die Schüler darüber schlafen können und eventuell noch Fragen geklärt werden können, be vor es zur Zuflucht geht. Teilnehmer: Eine Frage nicht speziell zur Zuflucht. Ich hab immer so eine Verunsicherung bezüglich Grüßen der Buddhas. Für mich hat das mit Respekt zu tun, aber ich bin da immer ein wenig verunsichert, manchmal hab ich auch das Gefühl, dass es eher eine Floskel ist und ich möchte daraus eigentlich nicht eine Floskel machen. Könntest du mir dafür einen Hinweis geben? Ja, grüß sie doch jedes Mal anders. Du begrüßt ja auch deine Freunde nicht jedes Mal gleich. Teilnehmer: Die Art und Weise vom Beatenberg ist mir vertraut, aber dann denke ich, ob ich Körper, Rede und Geist ansprechen soll. Manchmal ja! Das ist manchmal eine ganz, ganz gute Idee. Du bist da wirklich frei. Das sind Erinnerungen an Qualitäten, und wie dich diese Erinnerung gerade erwischt und was sie in dir auslöst, ist jedes Mal anders. Lass dein Gebet, deine Verbeugungen, deinen Moment der Andacht oder was auch immer in dir lebendig sein, sodass du im Fluss bist – auch diese Handlungen, die vielleicht anderswo sehr formalisiert werden und man das Gefühl hat, man könnte etwas falsch machen. Hier kann man nichts falsch machen. Teilnehmer: Ist die Zufluchts-Zeremonie öffentlich? Ja, öffentlich im Sinne, dass alle, die im Kurs sind und sich das wünschen, dazukommen können. Sie können die Zeremonie miterleben und dadurch vielleicht auch Inspiration finden. Jene, die noch nie bei einer Zu fluchts-Zeremonie dabei waren, können sie hier zum ersten Mal erleben. Zuflucht wird immer wieder einmal auf Anfrage gegeben. Teilnehmer: Du sagst, dass man am Anfang mit der Zuflucht verschmilzt, das ist dann eine Art Vorstellung oder? Das ist eine Vorstellung. Wir stellen uns vor, dass zum Beispiel der Buddha wie eine leuchtende Präsenz vor

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uns ist und wir uns während der Gebete auf das Erwachen – symbolisiert durch den Buddha – ausrichten. Zum Schluss der Gebete löst sich dann der Buddha wirklich in Licht auf, und dieses Licht verschmilzt mit uns. Wenn wir wollen, können wir uns auch vorstellen, dass dieses Licht in uns wieder Form annimmt und sich in unserem Herzen oder in unserem ganzen Sein eine symbolische Präsenz des Buddha abbildet. Das hilft, um mit den inneren Qualitäten in Berührung zu sein. Das kann man auch etwas detaillierter visualisie ren, aber vielleicht reicht das erst einmal als eine etwas grobe Beschreibung. Teilnehmer: Inwieweit ist das Zufluchtnehmen mit Verpflichtungen verbunden – mit Ritualen, Niederwerfungen und so weiter? Das ist mit keinen solchen Verpflichtungen verknüpft. Es ist verknüpft mit neun Ratschlägen, die kann ich euch auch jetzt schon sagen: Neun Ratschläge zur Zufluchtnahme 1. Wir richten uns immer auf das höchste Erwachen aus und nehmen nicht Zuflucht zu mondänen Göttern, wie Geld, Macht, Einfluss, Familie, Eltern, Herrscher, Popstars, Naturgötter... Alle, die noch nicht befreit sind, sind keine wirkliche Zuflucht. Wenn z.B. jemand von euch christlich orientiert ist, dann würde man sagen, dass Gott dieses höchste Erwa chen symbolisiert. Er ist kein Gott in der Welt dieser nicht befreiten Götter, sondern dieses all befreite Sein; dieses schöpferische, kreative, dynamische, liebevolle Gewahrsein. Darauf richten wir uns aus, immer auf das Höchste. 2. Wenn wir Dharma praktizieren, folgen wir einer Grundhaltung des Respektes allen Lebewesen gegenüber. Wir versuchen, anderen nicht zu schaden. 3. Wenn wir spirituelle Hilfe brauchen, wenden wir uns an diejenigen, die den Weg wirklich kennen. Das ist vergleichbar damit, dass wir auf einer Reise jemanden nach dem Weg fragen, der den Weg wirklich kennt und nicht jemanden, der irgendwas vortäuscht oder nur meint, den Weg zu kennen. Diese drei Ratschläge zu beherzigen, ist die Voraussetzung, um Zuflucht nehmen zu können. Wenn wir dann die Zuflucht nehmen, bekommen wir drei weitere Ratschläge: Wir praktizieren Respekt gegenüber Buddha, Dharma und Sangha. 4. Wenn wir eine Darstellung des Buddhas sehen, spüren wir innerlich Respekt. 5. Wenn wir Dharma-Texte sehen oder auch Dharma-Unterweisungen hören, begegnen wir ihnen mit Re spekt. 6. Wenn wir Vertreter des Sangha sehen, entwickeln wir Respekt; wenn wir auch nur einen Teil der Robe irgendwo sehen, behandeln wir dieses Kleidungsstück mit Respekt und legen es an einen geschützten Ort. Oder wir behandeln Fotos mit Respekt. Die dritte Serie der drei Unterweisungen bezieht sich darauf, die Zuflucht, die man erhalten hat, nie aufzugeben, sich täglich an sie zu erinnern und den Dharma zu praktizieren: 7. Wir behalten diese innere Ausrichtung bei und geben die Zuflucht niemals auf. 8. Wir erinnern uns so oft wie möglich an die Zuflucht. Es heißt sieben Mal am Tag oder mehr – morgens, wenn wir aufwachen; abends, wenn wir einschlafen und zwischendurch am Tag. Immer wieder erinnern wir uns an diese innere Ausrichtung. 9. Wir praktizieren den Dharma, wir setzen die Unterweisungen um, d.h. wir lesen bzw. hören Unterweisun gen, kontemplieren sie und setzen sie um; wir meditieren – wie es uns halt möglich ist. Diese neun Unterweisungen sind sehr klar, aber auch sehr flexibel. Es sind keine Verpflichtungen oder Gebote, sondern sie stellen eigentlich eine Beschreibung der Bedingungen dar, die uns ermöglichen, auch wirklich auf diesem Weg zu bleiben. Das ist es, was man mit der Zuflucht dann auch verspricht. Ich muss euch diese neun Ratschläge dann während der Zeremonie noch einmal sagen.

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*** Inspiration für eine Meditations-Sitzung In einem Retreat mit vielen Medidations-Perioden kann es manchmal sein, dass wir gar nicht wissen, warum wir eigentlich noch meditieren. Und da ist es keine dumme Idee, in die eigenen Notizen zu schauen und sich inspirieren zu lassen oder den „Ozean des wahren Sinnes“ zu nehmen und einfach aufzuschlagen, ein biss chen zu blättern, bis wir eine Stelle finden, die uns inspiriert. Wir lesen diese Stelle dann ganz in Stille durch, ohne die anderen zu stören. Indem wir diese Zeilen kontemplieren, gleiten wir dann in die Meditation hinüber. Das ist eine der klassischen Weisen, quasi immer am Ball zu bleiben. Gendün Rinpoche hat uns vorgemacht, wie er seine langen Retreats gestaltet und wie er meditiert hat. Sein längstes Retreat war sieben Jahre am Stück in einer Höhle; die anderen waren etwas kürzer, aber insgesamt har er viele Jahre in Retreat verbracht. Er hat gesagt: „Ich kenne nur wenige Texte, wirklich nur wenige. Aber die Texte, die ich kenne, die habe ich alle durchmedidiert – von A bis Z.“ Ich habe hier einfach aufge schlagen: Dagpo Rinpoche – Gampopa – gibt eine Einsicht des Dombhi Heruka wieder: „Wenn du das Wasser nicht aufwühlst, ist es klar. In der gleichen Weise solltest du den Geist unverän dert lassen. Lasse die sechs Sinneswahrnehmungen unbehindert, wie sie sind, wie die Sonne am wolkenlosen Himmel. Sei immer und bei allen Beschäftigungen unzerstreut“. Das würden wir ein Mal lesen – dann legen wir es vor uns hin – dann lesen wir es noch einmal – „Aja, den Geist nicht aufwühlen, das Wasser nicht aufwühlen.“ – Nichts tun, nichts extra tun. „... den Geist unverändert lassen.“ Was bedeutet das? Wir gehen mit diesen Worten aus dem Text zunächst in ein Nachdenken, ein Kon templieren: „Was bedeutet das jetzt für mich? Wie geht das, wie mach ich das, den Geist unverändert zu las sen?“ Dann bleiben wir für eine Weile da drin. Und wenn es sich wieder bewegt, dann lese ich den nächsten Satz: Lasse die sechs Sinneswahrnehmungen unbehindert, wie sie sind, wie die Sonne am wolkenlosen Himmel. – „Aja! Natürlich, ganz weit lassen; keine Sinneswahrnehmungen ausklammern. Alles! Lasse es unbehindert, so weit wie der Raum.“ – Und dann gehen wir vielleicht sogar die sechs Sinne schrittweise hindurch – spüren, hören, sehen, riechen, schmecken, wahrnehmen. So setzen wir den Text unmittelbar ins Erleben um. Und wenn man einen Text so praktiziert, wenn man Wor te der Wahrheit und der Weisheit sich so direkt zu Herzen nimmt und austestet, anwendet, dann kommt der Dharma ganz tief in einem an. Da ist also nichts verkehrt damit, wenn ihr hier z.B. beim Meditieren eure Notizen oder ein Dharma-Buch aufgeschlagen vor euch liegen habt und euch gelegentlich davon inspirieren lässt. Das ist sogar eine ganz gute Idee. So können wir uns Stückchen um Stückchen durch den Dharma meditieren und es kommt ganz tief an. Wir sind ganz überrascht, wie tief es ankommt, denn begrifflich haben wir keine große Arbeit ge macht. Aber wir haben das, was da steht, ins Erleben reingeholt und es lebt in uns weiter. Es ist eine gelebte Erfahrung, auf die wir ständig Bezug nehmen können.

*** Zurück zu Milarepas Unterweisungen für Tönpa Shakyaguna: Kennzeichnend für Erscheinungen ist, dass sie ungeboren sind; Stellt man sich vor, sie entstehen, so ist das Dinglichkeitshaften. Erscheinungen ist die Übersetzung des tibetischen Wortes nangwa – alles was im Geist erscheint, alles was auftaucht. Die Sprache täuscht, eigentlich ist es nicht etwas, das auftaucht, sondern es sind Bewegungen, die sich bemerkbar machen; es sind keine Dinge, die auftauchen.

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Das, was bemerkbar wird, diese Bewegungen, die bemerkbar werden, für Dinge zu halten, ist Dinglichkeitshaften. Von Dingen könnte man sagen, dass sie entstehen; aber Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen – das sind keine Dinge. Das ist nicht etwas, nichts Definierbares, obwohl es ganz deutlich wahrnehmbar ist, so wie ein Fluss ganz deutlich wahrnehmbar ist. Flüsse, Bäche – alles was strömt – sind deutlich wahrnehmbar, aber sie sind nicht in dem Sinne Dinge. Sie sind Prozess und sie können nur als Prozess verstanden werden. Der Rhein, was auch immer für einen Fluss wir nehmen, ist kein Ding, sondern er lebt. Wir sind auch „Lebewesen“, alles was in uns entsteht, die Welten, die durchlebt werden, sind Prozesse. Das sind Kontinuitäten von sich wandelnden Erscheinungen, und wenn man sie wirklich untersucht, haben sie auch keine präzisen Anfänge und Enden. Es gibt keine Einheiten im Erleben, wo man merkt: Ah, hier ist eine Zeiteinheit zu Ende, hier ist eine Erlebenseinheit zu Ende. Das sind Bewegungen. Teilnehmer: Um das nochmal ganz klar zu machen: Wenn ich jetzt einen Stein anschaue, an dem sich bisher seit Jahrtausenden noch jeder den Fuß angestoßen hat, und dieser Stein in meinem Geist erscheint, dann ist meine Wahrnehmung des Steines ein solches Phänomen, eine solche Erscheinung, von der wir reden, egal wie ewig der Stein auch sein mag. Genau, es hat nichts mit dem Außen zu tun. Es geht um das Erleben des Steines. Kennzeichnend für Samsara ist, dass es ohne Grundlage ist; Die Vorstellung einer Grundlage ist begriffliches Denken. Ohne Basis, ohne Grundlage – auf was könnte Samsara denn aufbauen? Teilnehmer: Auf dem Festhalten am Ich. Ja, man könnte sich vorstellen, dass es sich am Festhalten an einem Ich aufbaut, das ist auch unsere gängige Vorstellung, so erklären wir uns Samsara ja auch. Aber Samsara ist nicht etwas, was es als ein Ding gibt, was sich irgendwo drauf aufbaut, es ist das Festhalten. Es ist gar nichts anderes. Man produziert mit dem Festhalten nicht etwa zusätzlich noch ein Samsara. Es gibt kein Samsara als solches, als ein Ding, das man festhal ten könnte. Immer da, wo in den Prozessen Greifen stattfindet – Fixieren, Verwicklung, Ich-Anhaften – zeigt sich das, was wir Samsara nennen. Diese engeren Geisteszustände werden als Samsara beschrieben. Samsara ist nicht etwas, was es gibt, was sich auf einer Grundlage aufbaut. Das sind Vorstellungen, man nennt das begriffliches Denken. Wenn man mit Vorstellungen arbeitet, so ist das höchst riskant, weil sich Vorstellungen so leicht verselbständigen. Diese Begriffe, diese Vorstellungen sind notwendig, damit wir kommunizieren können, wir brauchen sie. Aber Begriffe müssen eine Konstanz haben, sie dürfen sich eben nicht ständig ändern, sonst sind sie nicht mehr verständlich. Begriffe müssen also stabil sein. Es geht nicht, dass sich Begriffe genau so schnell wan deln wie das, was sie beschreiben. Damit würden wir nie mit dem Beschreiben hinterher kommen, das wäre unmöglich; wir hätten eben keine verlässlichen Vorstellungen. So schaffen wir mit unseren Begriffen etwas Stabiles, aber dann beginnt unser Verstand, diese stabilen Begriffe, die eigentlich dem Beschreiben von etwas Dynamischem dienen, miteinander zu kombinieren. Und dann entstehen jede Menge Fehlschlüsse, unlogische Schlüsse. Erst einmal klingt für uns die Aussage „Samsara baut auf dem Anhaften auf“ schlüssig. Darin sind aber unglaublich viele Annahmen enthalten, eben dass Samsara so etwas ist, was auf etwas anderem aufbauen könnte. Wenn man sich das aber genauer anschaut, dann ist es nicht so, dass Samsara auf etwas aufbaut, sondern Samsara baut sich im Festhalten auf. Es baut nicht auf etwas auf, sondern es gestaltet sich. Es ist ein Prozess der Gestaltung. Samsara gestaltet sich in jedem Moment neu. Auch in diesen Satz habe ich einige Irrtümer gepackt: „Jeden Moment“ – wo soll es denn diese Momente geben? Man müsste sagen „Samsara gestaltet sich laufend neu“. Das wäre ein bisschen näher dran. So müssen wir mit den Begriffen sehr aufpassen, dass sie sich nicht verselbständigen und dann Begriffswelten schaffen, die in sich zwar logisch klingen, aber mit dem Erleben gar nichts mehr zu tun haben. Sie taugen

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dann auch nicht dazu, einen Weg in die Befreiung zu finden. Teilnehmer: Man muss natürlich auch sehen, dass unsere Sprache eigentlich völlig ungeeignet ist. Unsere Sprache ist ja total substantivierend und die Versuchung bzw. die Falle ist in der Sprache allgegenwärtig. Allgegenwärtig, genau! Ihr könnt in meiner Entwicklung als Lehrer sehen, dass ich immer mehr Verben benutze und weg komme von den Substantiven. Die Substantive sind nicht geeignet, das dynamische Erleben zu beschreiben; Verben viel eher. Teilnehmer: Ich kenne auch so eine Gegenüberstellung von Samsara und Nirvana als das Bedingte und das Unbedingte. Nach dem, was du jetzt gesagt hast, wäre das ja auch völlig absurd. Ja, das ist es. Es ist eine traditionelle Beschreibung, die so benutzt wird. Was ist denn damit gemeint? Samsara ist das Bedingte, was meint man damit? Ich würde sagen, man meint das aus Bedingungen Entstandene, und dadurch wird es sozusagen zu etwas Festem gemacht. Ist doch klasse, das nehmen wir einfach einmal so: Samsara wäre etwas aus Bedingungen Entstandenes. Welche Bedingungen? – Immer da, wo Ich-Anhaften oder Greifen eine Rolle spielt, das sind Bedingungen. Eine der wesentlichen Bedingungen, damit so etwas sich gestaltet, was wir Samsara nennen, ist, dass Formen einer unnötigen Fixierung eine Rolle spielen. Da sind fixierende Kräfte im Spiel, die eigentlich nicht zu sein bräuchten und deren Folge dann leidvolle Erfahrung ist. Bedingtes Entstehen von samsarischen Erfahrungen beruht auf Kräften, die darin aktiv sind, die mit unnötigem Fixieren zu tun haben, mit Sich-Identifizieren und so weiter. Was entsteht da also? Da entstehen Erscheinungen, in diesem Fall leidvolle Erscheinungen. Das ist die Definition von Samsara – Samsara sind leidvolle Erfahrungen im Geist, wobei das Leid ganz subtil sein kann, ganz fein. Gefühle des Getrenntseins z.B. oder die Gefühle der Trennung in Ich und Du. Diese feinen dualis tischen Muster, die da aktiv sind, führen zu solchen Gefühlen des Getrenntseins von Beobachter und Beob achtetem. Das alles gehört zu den Beschreibungen, was Samsara ist. Es entstehen also dualistische Erscheinungen im Geist. Das ist die Folge dieser samsarischen Kräfte, die da wirken. Was ist denn die Natur dieser dualistischen Erscheinungen? Wenn wir ihre wahre Natur anschauen – nehmen wir mal eine dualistische Erscheinung, wie zum Beispiel Ärger oder Trauer – was wäre die wahre Natur dieses ärgerlichen Fühlens? Vergänglichkeit? Ja, diese Gefühle sind vergänglich, sie wandeln sich. Gehen wir noch weiter: Was bedeutet, dass sie sich wandeln? Leere. Was meinst du mit Leere, wenn du uns das mit etwas anderen Worten noch sagst? Es ist bedingtes Entstehen. Es ist zusammengesetzt; da sind Prozesse, die vorher ablaufen; alte Prozesse laufen weiter und enden in anderen Prozessen. Total einverstanden! Das, was wir als eine samsarische, eine dualistische Erscheinung betrachten, wandelt sich, ist Prozess, ist bedingt durch alle möglichen Kräfte und gestaltet sich ständig neu. Und das bezeichnet man als Leere – sie sind nicht fassbar. Ihre wahre Natur ist wiederum kein Ding. Und diese wahre Natur, kein Ding zu sein, das ist die unbedingte, die nicht bedingte Natur, denn das ist in al lem so. Alle Erscheinungen haben die Natur dieses Nicht-Bedingten, diese Seins-Natur des Nicht-Fassbaren oder Leeren und deswegen sagt man: Nirvana ist die wahre Natur von Samsara. Haben wir den Bogen ge schlossen? Teilnehmer Nicht ganz, heute Morgen hab ich mir aufgeschrieben: „Die Bedingungen, die zu dem Geist der

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Aktivitäten führen, sind auch dynamisch.“ Genau; sie sind also auch leer, nicht fassbar. Wahrscheinlich liegt es an der Sprache, dass in diesem Gerundium 'das Bedingte' das Dynamische nicht ausgedrückt werden kann. Im Grunde genommen sind die Begriffe Samsara und Nirvana reine Täuschungen. Wenn wir in dieser tiefen Analyse sind, sehen wir, dass sich durch die Kräfte des Greifens etwas aufbauscht, und indem wir die wahre Natur von dem, was sich da aufbauscht, was sich da als Film abspielt, erkennen, fällt das Greifen in sich zu sammen, weil sich das, was wir ergreifen, als nicht greifbar, als nicht fassbar herausstellt. Im Erkennen der nicht fassbaren, leeren Natur – egal welcher Erscheinung, egal welchen Erlebens – geht das Greifen ins Leere und hört auf. So erkennen wir in jedem Erleben die wahre Natur und es kommt zu einem Ende des Greifens, womit der Geist im selben Moment raus ist aus der Erfahrung des Greifenwollens, des Festhaltens, des Fixierens. So einfach ist das eigentlich. Teilnehmer: Ich hab dazu noch so ein Beispiel. Wir sagen z.B. „meine Angst“. Das ist so etwas Festes, das habe ich, ich habe da immer das Gefühl Angst. Von Ursula Flückiger habe ich gehört, Angst nicht als Emotion, als Gefühl zu beschreiben, sondern als Energie. Und schon wird das etwas Fließendes und wir haben einen besseren Zugang dazu. Genau, da entsteht angstvolles Erleben. Und das können wir auf alle anderen Emotionen übertragen. Wir können jede Emotion als energetisches, prozesshaftes Phänomen betrachten, beschreiben und sind viel näher dran an dem, was wir erleben. Wir haben gar keine Angst, sondern angstvolles Erleben gestaltet sich. Wir sind in diesem dynamischen Erleben, was wir dann blockhaft als Angst beschreiben, aber die Beschreibung trifft nicht das tatsächliche Erleben. Teilnehmer: Ich möchte noch einmal unterstreichen, dass wir eine Sprache voller Substantive haben, was ziemlich problematisch ist. Angenommen wir hätten eine Sprache, die fast nur aus Verben bestünde und Substantive vielleicht nur mal um einen stecken gebliebenen Prozess als pathologisch zu kennzeichnen, das wäre wohl viel näher an dem, was wir erleben. Ja, völlig richtig. Und das ist auch ein Problem, das wir als Übersetzer hatten. Wir sind mit dem Tibetischen lange Zeit in die Falle getappt, dass wir z.B. in der Beschreibung von Meditations-Erfahrungen Wörter, die scheinbar Substantive sind, oft aber auch eine verbale Bedeutung haben, fast immer als substantivisch übersetzt haben. Nangwa z.B. wird hier als Erscheinung übersetzt, aber nangwa bedeutet erscheinen genauso wie auch Erscheinung. Es ist in den meisten Sätzen ein substantiviertes Verb. Dann macht es sofort Sinn zu sagen „zu erscheinen ist ungeboren“, da hiermit ja der Prozess beschrieben wird. Wenn man versucht, die tibeti schen Texte daraufhin zu untersuchen, wird man bemerken, dass es an vielen Stellen möglich ist, ein substantiviertes Verb einzusetzen, wo wir – weil wir unsere klassischen Sätze mit Subjekt, Prädikat, Objekt formulieren wollen – die Neigung hätten, objektbezogen, dinghaft zu denken. Das ging den Tibetern auch so, nur ermöglicht ihre Sprache uns heute ein dynamischeres, prozessorientiertes Übersetzen, ohne irgendetwas ändern zu müssen. Man kann das spüren in der Sprache. Teilnehmer: Mit der Angst ist das ja ähnlich wie wir es heute Morgen mit den Gedanken gehabt haben. Da ist vielleicht so ein Schreckmoment, was so einen Moment von Angst vor dem Erleben auslöst, und das wird erst einmal zu so einem komlexhaften, aufgebauschten Angstgebilde, in dem ich dann anfange, weiter was hinzuzufügen. – Da könnte das sein oder da könnte das sein... Das ist ein Beispiel dafür, wie wir es einfach immer wieder machen. Ja, da ist ein gutes Beispiel. Da ist ein Erleben, mit dem das anfängt, und dann kommen noch weitere sorgenvolle, fixierende Kräfte ins Spiel, die das Ganze noch weiter verdichten und aufbauschen – meistens. Genau da können aber noch andere Kräfte ins Spiel kommen, die wir hier als Dharma-Praktizierende aktivieren. Wir aktivieren Kräfte, die das entdramatisieren, die uns aus dem Dinglichen rausführen. Das ist es, was wir üben. Wir üben mit der Dharma-Praxis, aus dem Vergegenständlichen herauszufinden und unmittelbar im Er leben zu bleiben. Das ist immer der erste Schritt: Ich habe eine Emotion – ein Ding. Und dann gleich die erste Frage: Wie fühlt

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es sich an? Wie ist es eigentlich im Körper? Wie fühlt es sich im Körper an? Welche Formen des Erlebens spielen sich da ab? Das ist einfach ein ganz normaler Prozess, sich mit einer gewissen Geistesruhe zu befrei en – noch längst keine Verwirklichung. Wir bleiben im Erleben und merken, wie dynamisch z.B. Trauer ist; es ist trauriges Sein in verschiedensten Schattierungen. Angst ist Erleben in verschiedensten Schattierungen – anschwellend, abschwellend und so weiter. So geht es uns mit jeder Emotion – diese Lastwagen, die da über unseren Geist rollen, entpuppen sich als Flüsse. Das sind sich gestaltende Flüsse des Erlebens. Und das ist immer der erste Schritt. Wir haben durch die Meditation gelernt, im Erleben zu bleiben und es geht darum, dass wir das auch alles anwenden, immer dort, wo Vergegenständlichen stattfindet. Genau dort üben wir, im Erleben des Wandels zu bleiben. Genau das ist der Grund, weshalb der Buddha so viel über Wandel, über Vergänglichkeit gelehrt hat. Den Wandel zu bemerken und zu leben, ist das Tor zum Verstehen der Natur des Geistes. Wenn ihr irgendwann nichts mehr wisst vom Dharma – alles ist weg –, dann kommt vielleicht eins noch durch: auf den Wan del zu achten, auf dieses Prozesshafte zu achten. Teilnehmer: Du hast gerade Wandel und Vergänglichkeit als Synonyme verwendet. Ich finde, der Begriff Vergänglichkeit ist schon aus sich heraus falsch, denn vergänglich kann etwas nur sein, wenn es vorher bestanden hat; nachdem es ja nie bestanden hat, kann es auch nicht vergänglich sein. Ja genau! Man müsste nach den Quellen im Pali und Sanskrit von Unbeständigkeit sprechen. Ich kenne mich mit dem Tibetischen besser aus. Das tibetischeWort mi-tagpa bedeutet unbeständig – tagpa heißt ewig; etwas, das beständig, ewig ist. Und mi-tagpa ist die Verneinung davon, etwas ist nicht beständig. Herauszufinden, dass was auch immer wir in unserem Erleben betrachten keine Beständigkeit hat, ist der springende Punkt. Wandel ist ein neutraler Begriff, den ich für sehr hilfreich halte, weil er nicht mit einer Verneinung arbeitet, deswegen benutze ich meistens den Begriff Wandel. Wichtig ist, dass unsere Illusion von Beständigkeit, von Dinghaftigkeit durch das direkte Erleben aufgelöst wird. Könnte man sagen, dass die Tatsache der Unbeständigkeit der Kern von Nirvana ist? Das gab es schon seit anfangsloser Zeit. Alles ist grundsätzlich unbeständig und deswegen ist die Unbeständigkeit nicht bedingt entstanden. Genau, diese nicht-beständige Qualität des Seins ist das Einzige, was immer ist. Nur der Wandel ist ewig. Wir sagen damit, dass nur der Prozess ewig ist. Das Einzige, was verlässlich ist, ist, dass alles immer Prozess ist. Teilnehmer: Eine Frage zur Widumg, wo steht: „... Durch den Segen der unveränderlichen Wahrheit der Natur aller Dinge (Dharmata)...“ Ist das diese Wahrheit, von der jetzt gesprochen wurde? Ja, das ist genau das. Das ist Dharmata, die Natur der Dinge – tschö nyi. Die ist immer gleibleibend. Diese Natur der Dinge, diese Qualität des Seins, dass da ein Prozess ist, ist immer da; es ist Erleben, dynamisch, nicht fassbar. Da ist auch noch mehr: Die Qualität des Seins ist auch eine Fülle, eine Fülle des Erlebens. Wir haben schon darüber gesprochen. Was also mit Dharmata, der Natur des Seins, gemeint ist, sind diese Merk male – wir nennen es Qualitäten –, die immer vorhanden sind, in jedem Erleben. Teilnehmer: Zum Sein allgemein: das Problem beginnt ja, wenn man viele Seins ist. Ja, das macht für das Sein kein Problem. Mein Sein, mein Bewusstheitsstrom – wo krieg ich den her, dass er durchgängig ist? Kommt es da mal zufällig, dass Kräfte wirken, wie du gesagt hast, und dann lösen sich die Kräfte wieder auf? Aber dann gibt es ja keine Wiedergeburt, wie den Prozess von einer Person. Du führst uns jetzt in einen Bereich von etwas theoretischen Überlegungen. Die sind nicht unwichtig. Weil wir ja auch ein bisschen wissen wollen, wie es nach dem Tod weitergeht und wie getrennt wir eigentlich sind. Ich muss aber ein wenig abkürzen: Die Erfahrung, das Erleben des Seins findet tatsächlich erst einmal getrennt statt – deines von meinem – ist Tatsache. Und dann können gelegentlich aber seltsame Phänomene passieren, dass sich unser Erleben hier und da mal ein wenig durchdringt und eine gewisse Durchlässigkeit in der Tiefe bemerkbar wird. Diese Durchlässigkeit nimmt offenbar zu, je weniger diese sogenannte Geistes-

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strom im Fixieren ist. Die Kräfte, die da so eng zusammenhalten und uns so gar nicht durchlässig machen für anderes, lassen nach und es wir offenbar durchlässiger. Und wenn es gar keine Kräfte mehr gibt, die einen sogenannten Geistesstrom, diesen Strom des Erlebens zu sammenhalten, dann ist es offenbar so, dass sich dieser Strom in den sogenannten Ozean der vier Buddha körper ergießt. Da ist dann keine Trennung mehr zu anderen Lebewesen. In Kommentaren wird zum Beispiel ein Buddha Amitabha beschrieben. Buddha Amitabha ist in Dewatschen, wo alle Lebewesen, die dort gebo ren werden, in seinem Segen ihren Weg ins Erwachen gehen können. Aber eines Tages, heißt es im Kom mentar, wird Buddha Amithaba in diese grenzenlose Offenheit übergehen, wo man keinen Buddha Amitabha mehr findet. Dann wird Buddha Tschenresi – Avalokiteshvara – die Leitung von Dewatschen übernehmen. Aber eines Tages wird auch er es nicht mehr aufhalten können, in völlige Offenheit überzugehen. So wird beschrieben, dass selbst Buddhas, die sich noch als ein Strom erwachter Präsenz, erwachten Wirkens manifestieren, eines Tages in etwas noch Offeneres, wo gar keine Trennung mehr da ist, übergehen. Soweit aus meinem Wissen heraus – ich hab diesbezüglich ja keine Erfahrung – als Antwort für dich. Diese vorübergehende, sehr lang anhaltende Trennung von Bewusstseinsströmen, Erlebensströmen scheint nicht der Endzustand zu sein und vielleicht auch nicht der Ursprung. Das wissen wir alles nicht, aber es scheint in immer weitere Bereiche der Durchlässigkeit zu gehen. Das ist offenbar die Entwicklung, die in den Kommentaren beschrieben wird. Teilnehmer: Ich bin ein bisschen hängengeblieben und hab mir Gedanken gemacht über Angst und dass die Angst ein Prozess ist. Aber was mache ich denn, wenn es um traumatische Erfahrungen geht, die in den Kör per eingeschrieben sind? Da ist ja so ein Wandel in der Art gar nicht möglich, sondern immer nur ein Ver such, irgendwie damit heilsam umzugehen. Traumatische Erfahrungen sind auch prozesshaft, und genau das bietet die Möglichkeit, sie zur Heilung zu bringen. Das sind Prozesse, die allerdings nicht mehr vom Cortex gesteuert sind; sie sind nicht mehr vom Verstand beeinflussbar. Sie laufen ab – Mandelkern –, und um ein Trauma allmählich zu integrieren, braucht es eine Verankerung in einem heilsamen Erleben, wo diese traumatischen Prozesse allmählich bewusst werden können und gleichzeitig mit diesem Heilsamen verbunden werden, sodass eine Integration, eine Lösung dieser traumatischen, blockierten Energie tatsächlich möglich ist. Wenn ein Trauma ausgelöst wird, kommt es zu Prozessen, auf die der Verstand überhaupt keinen Einfluss hat. Es geht dann nur über die Körpererfahrung; man kann diesem Prozess die Möglichkeit geben, sich zu vollenden, sich auszulaufen, aber in einem Rahmen, der ihm ermöglicht, eben nicht schädlich zu sein. Aber Trauma ist Prozess, auch wenn wir es mit einer Sprache beschreiben, die dann ebenfalls wieder fixierend wirkt. Teilnehmer Ich finde es auch wichtig, dass man den Körper als Prozess ansieht und deswegen ist es auch möglich, damit geschickt und heilsam umzugehen. Denn wenn das durch die Art und Qualität der Arbeit möglich ist, dann erlebt man auch Veränderung im Sinne von Heilsamem. Es ist wichtig, alles körperliche Geschehen in seiner Prozesshaftigkeit zu verstehen, auch wenn es sich noch so dicht und so zwanghaft anfühlt und wie automatische Reaktionen, die da ablaufen. – Es sind Reaktionen, es sind Prozesse. In diese Prozesse, die ja von Kräften gesteuert werden, können andere Kräfte tatsächlich einwirken, mitwirken. Sie können dazu führen, dass diese Prozesse auch anders ablaufen. Es ist da keine ab solute Zwanghaftigkeit. Teilnehmer: Ich finde den Hinweis natürlich gut, weil es wirklich bestimmte Konstellationen gibt, die sehr unbewusst sind, die in unbewusster Psychodynamik liegen und die sind meistens auch den Wahrnehmenden gar nicht zugänglich. Die bedürfen zur Heilung auch anderer Methoden, anderer Vorgänge usw. Verstehe ich dich richtig, dass du meinst, auf all das nur mit der Meditationspraxis einzugehen, ist oft nicht ausreichend? Dem stimme ich auch zu. Da braucht es manchmal wirklich externe Begleitung, um sich in diesem liebevollen Gewahrsein zu stabilisieren, in dem die anderen schwierigen Prozesse ganz dosiert in das Bewusstsein eingelassen werden. Das kriegt man oft alleine nicht so hin.

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Jetzt bleiben wir wieder bei Milarepa. Kennzeichnend für den Geist ist seine ungespaltene Einheit; Nur Teilaspekte zu beachten, führt zu einseitigen Standpunkten. Da war die Frage nach dem Geist. Tönpa Shakyaguna hatte gesagt: „Ohne Geist gibt es niemanden, der denkt.“ Darauf antwortet Milerepa hier, dass Beobachter, Beobachten und Beobachtetes nicht drei verschiedene Teile des Geistes sind. Was wir Geist nennen, ist eine ungespaltene Einheit. – Sehender, Sehen und Gesehenes; Hörender, Hören und Gehörtes sind eine untrennbare Einheit. Das gäbe es jetzt auch noch einmal zu untersuchen. Ich sage für heute einfach nur so viel, dass es wirklich darum geht, in dieses Erleben einzutauchen und zu schauen, ob es im Erleben ein getrenntes Ich gibt, ob es im Denken einen getrennten Denker gibt. TönpaShayagunas Reise war noch nicht vollständig, sein Erkennen war noch nicht vollständig, aber da war schon viel – „Ohne Geist gibt es niemanden, der denkt“. Er war schon auf den Weg in dieses Verständnis. Gibt es denn überhaupt jemanden, der denkt ? Teilnehmer: Natürlich nicht. [Gelächter] Natürlich nicht, wir haben jetzt ja soviel Dharma gehört... Teilnehmer: 'Denker' ist wieder ein fixierender Begriff; also es gibt Denken, aber keinen Denker. Genau, es gibt Denken, ja. Im Erwachen, gibt es da jemanden, der erwacht ? – Es gibt nur Erwachen. Im Leiden, gibt es da jemanden, der leidet ?... Aber ja, sonst würden wir ja nicht leiden. [Gelächter] Mit einseitigen Standpunkten meint Milerepa die Aufspaltung in Subjekt und Objekt – ich und anderes; Denker und Gedachtes; ich und meine Emotionen –, all diese Aufspaltungen, die da stattfinden. Das gilt es, sich immer wieder anzuschauen. Ich erlebe diese ungespaltene, ungetrennte Einheit des Erlebens als eines der größten Geschenke beim Meditieren. Es ist so wunderbar befreiend, einfach zu sehen, ohne dass jemand sieht; einfach zu hören, ohne dass jemand hört; einfach zu denken, ohne dass jemand denkt. Das gilt für alle Bereiche. Das ist die eigentliche Einfachheit des Seins, von der immer gesprochen wird; dieses einfache Sein ohne Komplikationen. Was wir Komplikation oder Projektion nennen, ist, dass wir im Erleben immer noch diese Extraschleife „Ich“ erleben oder dazu denken; dass wir denken „Was macht das mit mir“? und diesen IchBezug immer noch mehr hinein denken in das Erleben. Das kann das Erleben völlig überwuchern, dass wir uns emotional ständig in diesem Ich-Bezug aufhalten. Das ist sehr ermüdend, macht es sehr anstrengend. „Mag ich – Mag ich nicht“ und so weiter. Im Sprechen, gibt es einen Sprechenden? Teilnehmer: Natürlich nicht. [Gelächter] Teilnehmer Es kommt drauf an [Gelächter] Mit „kommt drauf an“ sind wir immer schon ganz gut gerüstet, nicht? Dabei kann nur die Hälfte schief gehen. [Gelächter] Teilnehmer: Du kennst ja den Denker von Rodin. Der Denker von Rodin steht in Paris, ohne sich zu rühren. … Den Denker von Descartes finde ich viel be denklicher. Teilnehmer „Ich denke also bin ich.“

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Es denkt, also gibt’s niemanden. Teilnehmer: Aber „Ich denke, deshalb bin ich“, daher gibt es ja das Ich! Weil ich mich denke, gibt’s mich. Ja, so müsste man es formulieren. Weil ich mich denke, gibt’s mich. So können wir es ja auch nehmen. Gut, nehmen wir das nochmal ganz kurz: „Cogito ergo sum“ – Die Endung o in cogito ist das Ich – „Ich denke.“ Und sum bedeutet „bin ich“. Da merkt ihr, dass in diesen sehr wichtigen Satz, der unsere Kultur stark geprägt hat, eine Hypothese miteingeflossen ist. Descartes hat nicht gesagt „Denken gibt es, also …“ – was? Er hätte keinen Schluss ziehen können, er musste in diesem Denken bereits ein Ich formulieren, damit im Schluss wieder ein Ich rauskommt. Ja, es gibt Denken, also ?.. Teilnehmer: Erscheinungen. Ja, es gibt Denken, also gibt es Erscheinungen. Aber aus dem Denken ein Ich abzuleiten, ist die Folge mangelhafter Beobachtung des Denkens. Teilnehmer: Das ist ein Glaubensbekenntnis! Das ist ein Glaubensbekenntnis! Teilnehmer: Also „ich glaube dass ich bin, weil ich denke.“ … dass ich bin. [Gelächter] Dieser Satz von Descartes ist ein Glaubensbekenntnis, keine wissenschaftliche Beobachtung. Teilnehmer: Ich habe mich nach dem Lachen über Descartes ein wenig schlecht gefühlt. Man muss das na türlich im Kontext sehen, in welcher Zeit er das geschrieben hat. Das war auch eine Befreiung, ohne diese Geschichten hätten wir hier keinen Buddhismus. Die Gesellschaft und die Technik konnten sich nur ent wickeln, weil solche Sätze gesagt wurden. Es ist für mich sehr wichtig zu klären, was damit gemeint ist. Er hat auch ein anderes „Ich“ gemeint, eine andere Art Befreiung, er hatte ja kein buddhistisches Wissen. Ich hatte das Gefühl, als säße ich in der Klasse und habe da einen Witz über jemand anderen gemacht, was aber nicht so ganz fair war. Ja, das kann ich gut verstehen. Descartes war wirklich ein großer Philosoph und hat ein umfassendes Werk geschaffen, was zu den Prozessen der Aufklärung beigetragen hat und wir greifen da so einen Satz raus – das tut ihm Unrecht. Also entschuldigen wir uns bei ihm. – *** Morgenmeditation – Heilmeditation Wir üben als Aufwach-Übung erst den Reinigungsatem und nehmen dabei ein zusätzliches Element dazu: Wir stellen uns bei jedem Einatem vor, dass wir Regenbogenlicht einatmen, das unseren ganzen Körper füllt. Und beim Ausatmen – drei mal drei – lassen wir die Vergangenheit los, die Zukunft und die Gegenwart. Kein Nachdenken mehr über die drei Zeiten. Die eigentliche Erklärung ist ein bisschen ausführlicher. Sie behandelt alle Übertretungen, alles was uns belastet, alle Gelübde-Überschreitungen und alles, wo wir Versprechen gebrochen haben, loszulassen; alle emotionalen Belastungen loszulassen und alle Schleier im dritten Zyklus. Aber das kann man sich so schwer merken, und all das ist sowieso inbegriffen, wenn wir an die drei Zeiten denken. Da sind alle unnötigen Vor stellungen mit drin. Man kann dem auch noch eine Farbe geben und sich vorstellen, dass der verbrauchte Atem all das rausbefördert. Wir setzen uns so gerade wie möglich hin. – Reingungsatmung – Innerlich können wir Zuflucht nehmen in die Untrennbarkeit unseres Geistes vom Geist aller Buddhas, in den Dharma als die Natur des Geistes, die Natur des Seins und in den Sangha als die Qualität der Freund schaft, der Liebe, des Mitgefühls, die alle Lebewesen verbindet. –

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In dem Vertrauen, dass es einfach so ist, dass dies auch unsere eigene wahre Natur ist, meditieren wir. – Und wieder erlauben wir in der Stille die ganze Lebendigkeit unseres Seins. Es bringt gar nichts, sich zu bemühen besonders still und ruhig zu werden. Es ist viel hilfreicher Raum zu geben, unbegrenzten Raum, in dem sich das Spiel vollziehen kann, wo wir gar nicht einzugreifen brauchen, und wenn wir nicht greifen und nicht eingreifen, finden wir in eine innere Durchlässigkeit, Gelöstheit – völlig unabhängig davon, ob gerade viel los ist oder wenig los ist. – Das Erleben geht unaufhörlich weiter; fließendes Erleben, und darin haben wir jederzeit die Möglichkeit zu entscheiden, ob wir eine der Wahrnehmungen, einen der auftauchenden Gedanken etwas weiter verfolgen wollen oder ob das gerade gar nicht nötig, gar nicht interessant ist. Und je bewusster und gewahrer wir sind, umso leichter ist es uns möglich, in Freiheit zu entscheiden: Möchte ich wirklich darüber nachdenken oder ist es mir lieber, das einfache So-Sein zu genießen? – Möchte ich den Körper spüren? – Vielleicht möchte ich auch dem Strom des Erlebens eine Richtung geben und lenke meine Aufmerksamkeit zum Beispiel ins Herz, auf den Herzensatem und/oder auf eine Vorstellung, die mir gut tut. – Durch feine Veränderung unserer Aufmerksamkeit können wir Akzente setzen, können wir eine Richtung ge ben. – Hilfreich ist bei allem, den Bauch entspannt zu lassen und uns tief im Becken nieder zu lassen, gut in der Körpermitte anzukommen, entspannt zu sein. – Indem wir Bauch und Becken sich so gut entspannen lassen, entspannt sich auch das Flatterhafte in unserem Geist. – Wenn wir uns so auf unserem Sitz niederlassen, wirklich ankommen, unseren Platz einnehmen, fällt es uns umso leichter, die Öffnung zuzulassen, durchlässig zu sein, im Grunde genommen niemand zu sein. – GONG Während ihr euch in der Stille streckt und reckt und vielleicht aufsteht und tut, was euch gut tut, werde ich euch einige Erklärungen geben: In den Gesprächen ist mehrmals der Wunsch aufgetaucht, mit dem Gefühl des Mangels in sich besser zurecht zu kommen; etwas zu finden, um sich zu nähren, um innerlich diesem tiefen Gefühl von Bedürftigkeit Rechnung zu tragen, ohne sich von außen abhängig zu machen. Normalerweise suchen wir ja in unserer Bedürf tigkeit im Außen, in den Partnerschaften, in der Ablenkung, im Tanzen, in der Musik, im Sport, in der Begegnung mit anderen Menschen nach etwas, das dieses Gefühl von innerem Mangel, von Leere oder Bedürftigkeit füllt – zumindest temporär. Es ist dann enttäuschend, dass es nur für ein paar Stunden, vielleicht für einen Tag gerade noch ausreicht. Ich möchte euch in der nächsten halben Stunde ein wenig führen. Wir können dieses Verweilen im Erleben nutzen, und es ist gar nicht so schwierig, in der Tiefe Befriedigung zu erfahren, Fülle, und aus dem Mangel heraus zu kommen. Die Vajrayana-Lehren sprechen von den Sinneswahrnehmungen als Dakinis; als Botinnen der Weisheit, des Mitgefühls; als die Fülle des Erlebens; als das, was uns nährt. Wenn wir das möchten, können wir über die Sinneserfahrungen so etwas wie Segen oder Fülle erfahren. Das ist der Hintergrund. Wir können unser jetzi ges Erleben nutzen, um in – ich würde das so nennen – die Ganzheit unseres Seins einzutreten, wo wir ganz und heile sind, wo nichts fehlt. Das möchte ich in der folgenden Meditation mit euch versuchen. Ich wollte euch nur ein wenig darauf vorbe reiten. Es ist eine Art Heilmeditation, und alle buddhistischen Traditionen sprechen davon, wie heilsam Shamata ist – Geistesruhe. Wir brauchen gar nicht weiter zu gehen, als das. Es geht um ein tiefes, volles Erleben. Ihr könnt euch hinlegen, das ist völlig in Ordnung. Lehnt euch an, macht es euch wirklich angenehm, sodass die Haltung keinen Stress verursacht. Das ist eine der Voraussetzungen. Wenn wir durch unsere Körperhal tung uns selbst Stress verursachen, ist es ein wenig schwieriger. – Es geht trotzdem, aber es ist ein wenig schwieriger. – GONG Wir gönnen uns völlige Entspannung des Körpers, die Rede ist ebenfalls entspannt, und geistig haben wir gerade gar nichts zu tun, wir haben Ferien. – Wir lenken unsere Aufmerksamkeit dort hin, wo wir gerade irgendwo in unserem Erleben etwas spüren, das

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uns gut tut, ein beginnendes Entspannen, ein Gefühl von Lebendigkeit, das uns gut tut, das wir als nährend erfahren. – Vielleicht ein Gefühl im Bauch, oder eine Entspannung, die sich aus dem Nacken in die Schultern fortsetzt, … oder ein Gefühl von Dankbarkeit. – Schaut mal, was es bei euch ist, das ihr als Einstieg nehmen möchtet. – Nehmt irgendeinen Aspekt des Erlebens, wo ihr euch freut, dankbar seid, es erleben zu dürfen. Das kann so einfach sein, wie sich zu freuen beim Einatmen und beim Ausatmen. – Wir bleiben mit unserer Aufmerksamkeit in diesem Bereich des Erlebens, in der Freude gewahr zu sein. Und statt nach diesem Erleben zu greifen, geben wir diesem Erleben Raum, Raum zu sein. – Wir bleiben in diesem Erleben und erleben es immer voller und zugleich weiter, ohne ihm eine Richtung zu geben. – Wir erleben die heilsame Qualität, ohne sie einzusperren, ohne sie zu ergreifen – wir sind dankbar dafür. – Wenn es sich um Körperempfindungen handelt, erlauben wir ihnen, sich auszuweiten, sich zu verändern – und das Gleiche tun wir auch, wenn es sich um vorwiegend geistiges Erleben handelt, die Freude am gewah ren Sein. Auch da entspannen wir, was immer eingrenzend wirkt. – Dieses Erleben, dieses gelöste Sein ist aus sich heraus eine Quelle der Freude, weil es so entspannt ist und ohne Greifen.– Subjektiv ist das vielleicht verbunden mit einem Gefühl der Selbstannahme, dem Annehmen von allem, was es gerade zu erleben gibt. – So ganz allmählich finden wir heraus aus dem Kämpfen – auch mit den anderen Sinneserfahrungen –, und wir erleben die eine oder andere Erfahrung vielleicht bereits als ein Glück, als eine Botschaft unseres eigenen Lebendigseins. – Dann lassen wir diese kleine Meditation ausklingen, indem wir nochmal weniger tun als vorher; gar nichts tun, gar nichts beabsichtigen. – *** Samadhi wirkt heilend – Samadhi ist ein Wort, das meditative Versenkung beschreibt und es ist definiert als ein Eins-Werden, ein Eintreten in das, was heilsam ist. Und dieses ruhige, unabgelenkte Verweilen in dem, was heilsam ist, das ist die Quelle von Heilung und von Befreiung. Es gibt viele verschiedene Samadhis, unendlich viele Samadhis, und es gibt verschiedene Eintrittspforten. Den meisten von euch ist die Atem-Meditation vertraut, das ist ja eine Eintrittspforte, und auch da gibt es ganz verschiedene Arten. Da nehmen wir ein völlig neutrales Gefühl, eine Empfindung, wie das Ein- und Ausatmen irgendwo im Kör per, da wo wir es gut spüren können und da, wo es keinen Stress auslöst und bleiben dabei. Da wir damit bleiben, treten die anderen Aspekte des Erlebens, zurück. In diesem vollen Erleben des Atmens zeigt sich immer mehr, welch eine Freude es ist, voll und ganz zu erle ben. Und wir erlauben dieser Freude, sich auszuweiten und Frieden zu bringen. Sie führt uns raus aus dem Kampf, aus dem Kämpfen mit Sinneserfahrungen. Es entsteht dadurch eine natürliche Weite, das Greifen hört auf, und verschiedene Erfahrungen von Wohlgefühl stellen sich ein. Aber das ist nur eine Eintrittspforte. Wir können über die Liebe hineinfinden, über das Mitgefühl, über das Vertrauen, über die Hingabe, über je des andere Sinnestor, über das Hören, über das Sehen, über innere Vorstellungen. Was auch immer das Eintrittstor ist, danach vollziehen sich diese Prozesse, die ich beschrieben habe – man kann sie noch genauer beschreiben. Das Wesentliche ist, unabgelenkt einfach mit dem zu bleiben, was gut tut, was heilsam ist, und ihm Raum zu geben – Nicht es haben zu wollen, sondern ihm Raum zu geben, damit es sich weiter entwickeln kann. Das ist das Wesentliche. Und dann entstehen Gefühle, wie Segensströme oder ein inneres Fließen im Körper und Wärmegefühle, Freude im Geist – und all dem geben wir Raum und es hört auf, so faszinierend zu sein, es kommt eine im mer größere Stille und Ruhe in diese Empfindungen. Die Anfangsgründe von Samadhi mögen noch etwas faszinierend sein, aber dann löst sich allmählich auch die Faszination an diesen Erfahrungen auf und es wird immer natürlicher, immer einfacher, bis wir das einfach so Sein als den höchsten Genuss erfahren, wobei es gar niemanden gibt, der etwas genießt. Das einfache Sein ist selber so erfüllend, so nährend, dass es einfach nur das braucht. – Aber bis dahin müs -

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sen wir eben aus all diesem Kämpfen und Ablehnen und Wollen irgendwie raus finden, und dafür nutzen wir die verschiedenen Eintrittspforten in die Sammlung und Offenheit. Wir setzen das in unserer Hauptpraxis fort, bleiben ganz bewusst in diesem inneren Frieden, geben ihm Raum und spüren, was gut tut; wir geben auch dem wiederum Raum, verteidigen es nicht gegen anderes. Und diesen Raum geben wir durch unsere nicht-haftende Aufmerksamkeit. Das ist alles, was wir zu tun haben. Spürt also beim Essen, was gut tut. Wenn ihr dann beim Fegen, Putzen und Aufräumen seid: Wie können wir das tun, dass es gut tut, dass es öffnend wirkt, dass es nährend wirkt und nicht einfach nur abgehakt wird. Wie können wir das tatsächlich zu unserer Hauptpraxis machen und nicht schon im Denken daran sagen: „Ach, wenn ich das doch endlich mal erledigt habe, dann kann ich endlich spazieren gehen.“ Beim Spazierengehen sind wir schon wieder bei: „Ach du meine Güte, gleich ertönt wieder der Gong und dann muss ich wieder zurück sein.“ Genauso verhindern wir, dass wir das, was gerade ist, erleben. Also lasst uns voll in dieses Erleben gehen und im Erleben geben wir uns eine Ausrichtung auf das, was gut tut – ohne festzuhalten. Fragen Teilnehmer Zur Einheit des Geistes: Du hast Beobachter, Beobachten und Beobachtetes erwähnt – Subjekt, Objekt und Handlung. Ist das das Gleiche wie die Aussage, dass aus dem Zusammenkommen von Sinnesobjekt, Sinnesfähigkeit und Sinnesbewusstsein ein Bewusstseinsmoment entsteht? Das ist ein bisschen anders. Du stellst die Frage, weil du das offenbar schon bemerkt hast. Wahrnehmung entsteht, wenn ein funktionierendes Sinnesorgan, wie ein Auge, zusammentrifft mit einem aktivierten Sinnesbewusstsein und etwas Wahrzunehmendem, also einer Lichtquelle – etwas, das auf der Retina Lichteindrücke hinterlässt. Bei diesem Prozess nehmen wir keine Aufspaltung in drei Aspekte vor, wo wir innerlich beim Erleben sagen: „Jetzt nimmt das Auge etwas wahr.“ Das ist eine Beschreibung davon, was es braucht, damit Sehen, Riechen, Schmecken stattfindet. Es wird nicht subjektiv eine Aufspaltung in drei As pekte vorgenommen, während diese Aufspaltung in die drei Kreise – Subjekt, Objek, Handlung – stattfindet, während wir etwas tun. Ich könnte ja das Gefühl haben, ich – spreche – mit dir. Das findet tatsächlich statt, diese Gefühle stellen sich ein während wir sind, während wir erleben; dass es hier jemanden gibt, der dort etwas wahrnimmt, und dass da ein Wahrnehmen, ein Sprechen, ein Handeln zwischen den beiden stattfindet. Das ist etwas, wo wir das Erleben unnötig aufteilen. Es ist, als ob drei verschiedene Instanzen im Geist wären bzw. drei verschiedene Aspekte: das Erleben von einem Ich-Gefühl während wahrgenommen wird, was so stattfindet, und während vermeintlich anderes wahrgenommen wird. Die Beschreibung der drei Kreise bezieht sich auf eine Täuschung, der wir unterliegen, und das andere ist eine einfache Analyse davon, wie es zu Wahrnehmung kommt. Wenn eines der Elemente fehlt, z.B. wenn kein intaktes Auge vorhanden ist, dann findet eben keine Sehwahrnehmung statt, weil ein Element fehlt. Mir ist der Unterschied immer noch nicht ganz klar, denn die logische Folge dieser einfachen Aussage ist, dass es diese sogenannte äußere Welt nicht gibt, weil sie ja meine Wahrnehmung ist. Gehen wir mal noch feiner: Sehen kann ohne Ich-Gefühl stattfinden. Das Subjekt-Gefühl ist keine notwen dige Voraussetzung dafür, dass Hören, Sehen, Denken und dergleichen stattfindet. Das Gefühl von einem getrennten Objekt ist keine notwendige Voraussetzung, damit Sehen, Hören usw. stattfindet. Es ist also anders. Während die Beschreibung der Elemente, die zusammentreffen müssen, tatsächlich die Beschreibung einer Notwendigkeit ist, etwas, das es wirklich braucht und was von selbst stattfindet. Das findet automatisch statt, ohne Zutun. Immer wenn diese drei Aspekte zusammenkommen, findet Wahrnehmung statt. Und die Illusion von Ich und anderen baut sich auf diesem ganz automatisch stattfindenden Prozess auf. Das wahr nehmende Bewusstsein wird plötzlich für ein Ich gehalten. Das Wahrgenommene wird plötzlich für etwas anderes gehalten. Und dann stellt man sich auch noch vor, dass zwischen den beiden etwas stattfindet.

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Das sind dann die drei Kreise; insofern sind sie schon miteinander verbunden. Aber sie sind über Täuschung miteinander verbunden. Das, was mit den drei Aspekten der Wahrnehmung beschrieben wird, ist ein Erleben. In diesem einen Erleben identifiziert sich dann ein Subjekt mit dem wahrnehmenden Bewusstsein und macht aus dem Wahrgenommenen etwas Getrenntes. Aber Erleben selber findet immer in der Einheit von drei Aspekten, die zusammenkommen, statt. Wenn ich dann versuche, diese ungeteilte Einheit in der Meditation zu erfahren, dann komme ich doch auf diese drei. Es gibt einfach nur Sinnesorgan, Sinnesobjekt und Sinnesfähigkeit. Da ist dann kein Ich. Ja, dann merkst du, sobald das Hörbewusstsein aktiviert ist, findet Hören statt, ohne dass es dafür ein Ich braucht. Das ist so einfach. Die Beschreibung dieser Aspekte hilft dir, aus dieser Aufspaltung der Wirklichkeit heraus zu kommen. Von daher ist es wirklich was anderes. Du kommst nicht zu einer Bestätigung der Trennung, sondern: „Ah! Bedingtes Entstehen von Erfahrungen. Diese drei Aspekte zeigen, wie durch das einfache Zusammenkommen von Bedingungen Erleben entsteht. Das Erleben ist ein Erleben, aber es kommt durch das Zusammentreffen von Bedingungen. Das können wir dann bei allem fortsetzen, dass wir bei allem bemerken: „Ja, Erleben entsteht abhängig von Bedingungen. Und wenn sich die Bedingungen auch nur im geringsten verändern – das tun sie ständig – verändert sich das Erleben.“ Dabei ist es völlig irrelevant, ob Subjekt oder Objekt usw., das Erleben ändert sich. Teilnehmer Zur Freude am Sein: Wo ist der Unterschied zum 'Schaf-Shine'? Zur Geistesruhe wie bei einem Schaf? – In der Lebendigkeit, in der Freude, in der Frische. Ich hatte das heute Morgen, und auch wenn ich zu Hause sitze und in dieses Gefühl hineinkomme, habe ich immer ein schlechtes Gewissen. In der Geistesruhe, die der einsm Schafes ähnelt, ist die innere Bewegung so stumpf. In unserer Morgenmeditation haben wir gesagt: weiter machen, die innere Erfahrung ist eine Öffnung. Wir fangen mit etwas Angenehmem an – da ist das Gemeinsame –, denn irgendwie brauchen wir etwas Heilsames als Einstieg, und indem wir uns dabei entspannen und öffnen können, wird es sogar möglich, Bereiche des Erlebens hineinzunehmen, die wir vorher nicht mit aufgenommen haben. Vielleicht habt ihr das heute Morgen bemerkt. Da waren Geräusche, Klänge, und obwohl wir nicht auf Klänge ausgerichtet waren, konnten die auch als 'Dakini-Botinnen' wahrgenommen werden. Klänge sind Ausdruck der Lebendigkeit und stimulieren das Gewahrsein, ihr habt das vielleicht auch bei anderen Körperempfidungen, die vorher nicht im Zentrun waren, wahrgenommen. In der Schafs-ähnlichen Geistesruhe ist ein Vermeidungsverhalten zu bemerken, dabei öffnen wir uns nicht weiter, sondern wir beschränken uns auf eine möglichst ungestörte Ruhe. Da sind Spuren von Dumpfheit enthalten; obwohl es sich klar anfühlen mag, ist doch nicht die volle Lebendigkeit da. Teilnehmer: Heute Morgen habe ich an etwas gedacht, das ich vor 35 Jahren in Kathmandu erlebt habe. Da war ein Fluss, der wie eine Kloake war, ich ging da hinunter, mir ging es ganz schlecht und ich schaute den Geiern zu. Dann kam mir ein Mönch entgegen, wir sahen uns an, da ging ein Lächeln über sein Gesicht, und meine ganze Stimmung hat sich geändert. Ich hab mir heute gedacht, das kann nur geschehen, wenn in mir etwas ist, das das so aufnehmen kann. So wurde das Lächeln zu meinem inneren Lächeln, das war sehr schön. Das war vor 35 Jahren. Das ist dann ein authentisches Lächeln. Es war aber heute Morgen da, ausgelöst durch eine Erinnerung, aber das Erleben war gerade heute. *** Kennzeichnend für Erscheinungen ist, dass sie ungeboren sind; Stellt man sich vor, sie entstehen, so ist das Dinglichkeitshaften. Kennzeichnend für Samsara ist, dass es ohne Grundlage ist; Die Vorstellung einer Grundlage ist begriffliches Denken.

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Kennzeichnend für den Geist ist seine ungespaltene Einheit; Nur Teilaspekte zu beachten, führt zu einseitigen Standpunkten. Mit diesen drei Versen nimmt Milarepa Bezug auf Shakyagunas Bitte: „Bitte sag mir, was für jeden dieser Punkte kennzeichnend ist.“ – Erscheinungen, Samsara, Geist. Der nächste Vers bezieht sich auf Shakyagunas Aussage:„Ohne Lama wüssten wir nicht, wie wir praktizieren sollen.“ Kennzeichnend für einen Lama ist seine Übertragungslinie; Wer sich nur selbst etwas ausdenkt, ist ein Dummkopf. Der Lama hat es auch nicht selbst herausgefunden. Er hat es mithilfe einer Übertragung erhalten. Es geht um einen Erfahrungsschatz, der von Generation zu Generation, von Meistern zu Schülern weiter gegeben wurde. Wer das alles selbst machen möchte und sich nicht auf die Weisheit stützt, die in der Menschheit schon vorhanden ist, geht einen sehr schweren Weg und wird in vielen Sackgassen landen, aber kaum am Weg der Befreiung. Auch diejenigen, die behaupten, sie hätten keinen Lehrer, stützen sich auf das überall zu findende Wissen der Menschheit, auf das Weisheits-Wissen, das heutzutage ganz leicht zugänglich ist. Umso besser noch, wenn wir mit einem Lama arbeiten können, einem Lehrer/ einer Lehrerin, die geschult wurden in einer Übertragung und diesen Schatz weitergeben können. Das beschleunigt unseren Weg, es wirkt beschleunigend darauf, tief zu erkennen, sich schneller aus den Sackgassen zu befreien, Fallstricke zu vermeiden. Und was Lehrer angeht und sich selbst etwas auszudenken: Da macht man sich selbst zum Dummkopf, denn das ist Selbstüberschätzung. Man kann es vergleichen damit, dass man an Patienten noch nicht erprobte Arzneien verteilt. Das, was Übertragung geworden ist, hat sich bewährt – 100.000-fach. Deswegen ist es Teil der Übertragung geworden. Ein bisschen experimentieren können wir damit schon, aber Selbstgemachtes einzusetzen und an Schüler zu unterrichten, birgt ein hohes Risiko, denn es ist noch nicht ganz klar, wo es damit hingeht. Deswegen ist es für SchülerInnen ein wichtiges Element, ob ein Lehrer wirklich Erprobtes weitergibt und aus einer Übertragung heraus unterrichtet. Das ist eines der wesentlichen Merkmale, worauf man sich stützen kann, worauf man sich verlassen kann. Anpassungen müssen stattfinden, da ist ganz wichtig, die Essenz der Übertragung, die Methodik, die schon ausgetestet wurde, so übertragen zu können, wie sie sich bewährt hat. Tönpa Shakyaguna bat dann noch: „Und bitte kläre mich über die Natur des Geistes auf.“ Die Antwort darauf kommt in den nächsten Versen: Die Natur des Geistes ist wie der Himmel; Manchmal wird sie von Wolken der Begrifflichkeit verdeckt. Die Unterweisungen eines qualifizierten Lamas wirken wie der Wind. Das hypertrophe – überwuchernde – begriffliche Denken nimmt uns die Sicht zum Himmel. Die Unterweisungen eines Lamas verblasen die Wolken der Begrifflichkeit. – Da ist er ja wieder, der Himmel. Da ist sie ja wieder, die Weite des Geistes. Manchmal heizt ein Lehrer auch die Begriffliehckeit an, und wenn sie richtig stark geworden ist, dann wird geblasen. Dann ist wieder ganz deutlich zu spüren, was für ein Kontrast das ist, sich im Begrifflichen zu ver heddern und es dann wieder zu lassen und die Offenheit zu spüren. Das eigentliche Wesen der Gedanken ist strahlende Klarheit; Und Erfahrungen scheinen wie Sonne und Mond. Die Klarheit jenseits von Raum und Zeit, Ist ungreifbar und unbeschreiblich. Und Gewissheit leuchtet wie ein Stern. Wir können in der ersten Zeile auch übersetzen: Das eigentliche Wesen des Denkens. Gedanken sind nicht einfach nur Wolken, die stören, begriffliches Denken ist nicht einfach nur etwas Störendes, sondern sein ei -

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gentliches Wesen ist strahlende Klarheit – auch manchmal Klares Licht genannt, erhellende Klarheit. Denken ist Ausdruck der Lebendigkeit des Geistes und hat keine Substanz. Wer das erkennt, den stört es nicht mehr. Dann erleben wir im Denken die erhellende Klarheit des Geistes selbst. Was immer wir erfahren, ist ebenfalls Ausdruck dieser strahlenden Klarheit, so wie Sonne und Mond uns den Tag und die Nacht hell machen, so macht das Erleben – das, was wir erfahren – den Geist hell. Erleben, Er fahrungen – speziell auch die vielen Meditations-Erfahrungen – sind ebenfalls genau diese strahlende Klarheit des Geistes. Diese strahlend klare Qualität des Erlebens ist in sich selbst auch wieder kein Ding. Klarheit ist kein Ding, es ist das klare Erleben. Das ist nicht greifbar, ungreifbar, nicht fassbar und entzieht sich den Beschreibungen. Diese Qualität zu beschreiben, bringt es immer wieder in die Nähe des Dinglichen. Wir machen dann etwas daraus; das ist nicht seine wahre Natur. Dieses klare, offene Sein lässt sich eigentlich nicht beschreiben. Die Gewissheit darüber, dass die Natur allen Denkens, allen Erlebens diese nicht fassbare, strahlende Klar heit hat, leuchtet wie ein Stern. Das ist unser Glücksstern, unser Leitstern. Was immer man erfährt, ist untrennbar vom großen Glück, – von der großen Freude – Denn die eigentlicher Natur von allem ist der Dharmakaya – der Wahrheitskörper – Jenseits von Begriffen. Die bedingten Erscheinungen der sechs Wahrnehmungen – dieses bedingte Erleben in den sechs Sind von Natur aus offen-leer. Sinnesbereichen – Mühelos wird die spontan vorhandene Reinheit erfahren, Denn in der höheren Natur von einem selbst und allen Lebewesen Ist das von Haften freie Urbewusstsein immer gegenwärtig. Wie wunderbar sind doch die drei untrennbaren Buddha-Körper! In der eigentlichen Natur von uns allen ist dieses zeitlose Gewahrsein immer gegenwärtig, frei von Haften. Die drei untrennbaren Buddhakörper sind: der Wahrheitskörper als die grundlegend offene Dimension unseres Seins, der Freudenkörper als die Dynamik, Lebendigkeit dieses Seins, und der Ausstrahlungskörper – Nirmanakaya – als all die Erfahrungen, all das Erleben, all die Erscheinungen, die da auftauchen. Offener, lebendiger Gewahrseinsraum voller Erleben. Vielgestaltiges Erleben, abhängig entstehend, aber nicht greifbar. So sang er und fuhr fort: „Tönpa, sehne dich nicht nach Berühmtheit in diesem Leben, nach Bequemlichkeit und Glück; jage nicht hinter abstrakten Begriffen und Worten her, und praktiziere, solange du lebst! Das gilt für dich und alle anderen Dharma-Praktizierenden; setze den Sinn dieser Worte in die Praxis um.“ *** Meditation Und wieder lassen wir für eine Weile den Buddha in uns meditieren. Wir geben unserem Geist wieder einmal eine Chance zu sein. – Gendün Rinpoche sagte gelegentlich: „Wir entdecken den Buddha in uns.“ – Wir können dies verbinden mit der Heilmeditation von heute morgen und sind uns dieser feinen Veränderungen gewahr, die es bewirkt, den Buddha in uns aufzuspüren. Wir können ihnen unsere Aufmerksamkeit schenken und dabei bleiben. Es tut gut diese Weite zu spüren, diese Sorglosigkeit. – Wir meditieren gerade so, dass wir uns leicht fühlen, erleichtert .... keine Aufgaben. – Gelöst präsent zu sein, gewahr zu sein, ist ganz leicht, es ist meistens schon da, bevor wir es versuchen. – Und wenn wir dieses leichte, gelöste Sein entdecken, dürfen wir es nicht einsperren, sondern wir geben ihm Raum. Wir werden immer weiter werden da drin. … Weit, sorglos und total lebendig. – Lebendig bedeutet, dass unser Herz ganz wach ist und wir fühlen, spüren; wir brauchen nichts damit zu tun. Einfach alles fallen lassen. Vorstellungen lassen, durchlässig sein, zulassen … und hinspüren, welche Art des Lassens uns wirklich gut tut. Meistens tut es gut zu lassen, dass wir meditieren wollen. –

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Wir brauchen auch nicht jemand anderes zu sein; wir erleben voll und ganz gerade den oder die, so wie wir sind. – Das eigentliche Wesen vom Denken ist strahlende Klarheit; das eigentliche Wesen allen Erlebens ist diese erhellende Klarheit. Die Dynamik unseres Geistes wird auch die Strahlkraft unseres Geistes genannt. – Beim Meditieren ist es nicht etwa so, dass wir den Dimmer herunterregeln. Wir stellen den Dimmer ganz an, das heißt volle Leuchtkraft: alles öffnen, nicht versuchen weniger lebendig zu sein. – Da geht es nur darum, genug Raum zu geben für so viel Lebendigkeit, und sie nicht zu erfassen, sie nicht greifen und kontrollieren zu wollen. Es geht darum, ganz weit zu werden. – *** Manche von uns haben den Eindruck, dass wir wie platzen, wenn wir diese ganze Lebendigkeit zulassen; dass uns nichts mehr am Ort hält, dass wir unbedingt was tun müssen. Das nennt man Greifen. [Lachen] Das ist nicht tragisch. Es bedeutet nur, dass wir um so weniger greifen dürfen, je lebendiger der Geist ist, denn sonst zieht es uns in alle Richtungen und wir müssen ständig was tun. Wir fühlen uns dann wie die Gefangenen unserer eigenen Lebendigkeit, wie die Sklaven unserer Lebendigkeit und wünschen uns manchmal, wir hätten einen weniger lebendigen Geist. Dabei ist das so etwas Wunderbares, nur brauchen besonders le bendige Kinder umso mehr Auslauf. Wir geben unserem Denken, Fühlen, Imaginieren, all diesen Lebens kräften, eine riesige Wiese zum Austoben. Gendün Rinpoche verglich das immer mit einem wilden Pferd. Zunächst haben wir das Gefühl, wir müssten lernen, das wilde Pferd zu reiten. Weit gefehlt, wir sind das wilde Pferd, es braucht keine Domptur. Wir brauchen das wilde Pferd nicht zu bezähmen. Wir geben freien Raum, und jedes noch so wilde Pferd kommt irgendwann zur Ruhe. Es hat sich schnell ausgetobt, wenn es nicht gegängelt wird. Deswegen findet ihr im Mahamudra-Buch des 9. Karmapa Hinweise, wie: Denk soviel wie du willst, gib den Gedanken freien Lauf. Hüte deinen Geist, so wie ein Trottel die Kühe hütet. – Gar nicht. Diese Lebendigkeit hat etwas mit der Ruhe des Körpers zu tun und auch mit der Stille, die wir praktizieren. Denn die Lebendigkeit würde mit dem geringsten Greifen dazu führen, dass wir mit dem Körper etwas tun möchten; dass wir sprechen möchten; dass wir ein Projekt angehen möchten. Das können wir ja ab und zu mal tun, das sind Ventile. Wenn der Geist ganz weit wird und der Körper ganz durchlässig, dann können diese lebendigen Energien fließen. Sie können sich zeigen und wir brauchen nichts zu tun. Dann erst werden wir frei im Handeln: wenn wir nicht mehr gezwungen sind zu handeln, weil wir es nicht aushalten. Dann können wir frei entscheiden: Jetzt mache ich das. Jetzt spreche ich. Jetzt will ich wieder still sein, ruhig sein. Ich muss nicht ständig an meinem Häuschen rumbauen und machen und dieses und jenes. Ich brauche nicht ständig zu quatschen. Milarepa sagte im letzten Lied zum Schluß: Die bedingten Erscheinungen der sechs Sinneswahrnehmungen – all unser Erleben – sind von Natur aus offen-leer, nicht fassbar. Das bedeutet aber auch aus sich heraus, dass sie keine Macht haben und uns zu nichts zwingen. Mühelos wird die spontan vorhandene Reinheit erfahren, denn von der wahren Natur aller Lebewesen ist das von Haften freie zeitlose Gewahrsein immer gegenwärtig. In diesem zeitlosen Gewahrsein wird eine Reinheit des Seins erfahren, die spontan vorhanden ist, und die wird mühelos erfahren. Mit Reinheit ist gemeint, dass alles, was sich als Erleben erhebt, als die Einheit von Mitgefühl und Weisheit erfahren wird. Der Begriff 'Reinheit' bedeutet im buddhistischen Sprachgebrauch non-dual, nicht dualistisch. Es wird nicht in Subjekt und Objekt aufgetrennt. Was auch immer erscheint – wenn es kein Greifen gibt –, wird mühelos in seiner Nicht-Zweiheit erfahren; als ein Erleben, das entsteht und im selben Moment des Erscheinens schon vergeht und sich befreit. Der Geist ist rein in dem Sinne, dass in diesem nicht greifenden Gewahrsein das, was wir normalerweise für unrein halten – die verschiedenen

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emotionalen Verstrickungen, die sogenannten Kleshas – überhaupt kein Thema, kein Problem sind. Dieses Nichtgreifen ist mühelos; es ist keine Anstrengung. Es ist anstrengend zu greifen, es ist anstrengend festzuhalten. Was wir normalerweise Samsara nennen, ist verflixt anstrengend. Da ist alles andere weniger anstrengend. Jedes Quäntchen weniger Verstrickung, weniger Greifen ist weniger anstrengend. Es ist ein völliger Irrtum zu sagen, der Weg der Befreiung wäre anstrengend. Was anstrengt, sind unsere Widerstände. Und was sind diese Widerstände? Es ist gar nicht so, dass wir uns dem Weg oder der Freiheit bewusst widersetzen. Uns ist einfach das Alte vertrauter. Es ist für uns schwierig, in neuen Bahnen zu leben, zu funktionieren; darin liegt unser Widerstand. Neue Weisen des Erlebens zuzulassen, ist uns so wenig vertraut. Es fühlt sich zunächst anstrengend an, ein fach weil es nicht vertraut ist. Das vertaute Leid ist auf eine Art lieber als die nicht vertaute Offenheit, Ein fachheit, das einfache Sein. Es ist uns so vertraut, sodass wir gleich kommentieren und „ich“ rufen: „Mag ich!“ – „Mag ich nicht!“ Das ist uns so vertraut. Und es sein zu lassen und ohne das zu sein, ist erst einmal erschreckend einfach und unvertraut. Und lange halten wir es da drin nicht aus, wir werden orientierungslos. In diesem einfachen Sosein fehlen uns die Bezugspunkte. „Wer bin ich denn, wenn ich einfach nur bin?“ – Wenn ich kompliziert bin, dann weiß ich, wer ich bin. Bin ich ärgerlich, bin ich sauer, bin ich glücklich? Ich bin immer das, wie ich mich fühle und was ich gerade für Gefühle habe. Aber, wenn die Gefühle einfach so durchrauschen und sich nicht mehr verfestigen, wer bin ich denn dann? Dann könnte ich ja jeder sein. Ja, wer bin ich dann ohne meine Vorlieben? Dann habe ich ja keinen Stil mehr. – Das verunsichert, und das ist ein bisschen anstrengend. Ihr seid manchmal genauso wie ich überrascht, wie müde man sein kann von einem Tag Meditation. Schon ein Vormittag reicht, um für eine Stunde in den Mittagsschlaf zu sinken. – Das ist das Ungewohnte, weil wir ungewohnte Wege beschreiten. Das sollte uns klar sein. Es ist nicht das Meditieren so anstrengend, aber es ist so ungewohnt, nicht in den Gleisen zu funktionieren, die wir gewohnt sind. Ich war im Retreat einmal ziemlich verzweifelt und sagte zu Gendün Rinpoche: „Es ist so schwer, die Art zu sein zu ändern, ich fühle mich so festgefahren.“ Darauf sagte er: „Ja, das ist so wie auf Schienen sein. Man versucht, irgendwie ein bisschen nach links oder nach rechts und Korrektur anzubringen. Da hast du keine Chance! Die Lokomotive muss zum Stillstand kommen, und dann gibt es nur noch den Rückwärtsgang. Genau anders herum. Alles genau anders als sonst.“ Das war ein Beispiel, mit dem er mir im persönlichen Gespräch klar machen wollte: Ja! Es ist zum Verzwei feln, wenn wir diese Korrekturen anbringen wollen, aber grundlegend so weiter funktionieren wollen wie vorher. Stillstand erst einmal, wirklich offenes Sein, und dann anders los, das heißt in die andere Richtung: in die Richtung, wo es nicht mehr um Ich-Bezogenheit geht, sondern um dieses situative Gewahrsein, wo alles ein bezogen ist – anders. Und deswegen sprechen wir so viel über die Pausen, über dieses Innehalten, um immer wieder einen kleinen Neustart hinzulegen. Heraus aus dem Greifen und dann weiter fließen, dort wo es natürlicherweise dann hingeht, wenn wir draußen sind aus dem Greifen. Und Milarepa singt dem Tönpa Shagyaguna auch so etwas Ähnliches. Denn diese Geschichte ist noch nicht zu Ende: Ihr Edlen von Glück begünstigten Menschen! Steht es etwa nicht fest, dass dieses Leben trügerisch ist? Ist es etwa fraglich, dass Besitz illusorisch ist? Stimmt es etwa nicht, dass es in Samsara keinen Frieden gibt? Ist es etwa ungewiss, dass Glück wie ein Traum ist? Stimmt es etwa nicht, dass Lob und Tadel wie ein Echo sind?

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Steht es etwa nicht fest, dass Erscheinungen von der Natur des Geistes sind? Steht es etwa nicht fest, dass der eigene Geist Buddha ist? Steht es etwa nicht fest, dass Buddha der Dharmakaya ist? Steht es etwa nicht fest, dass der Dharmakaya die absolute Wirklichkeit ist? Erkenntnis bedeutet zu verstehen, Dass alle Erscheinungen im Geist erfahren werden. Betrachte den Geist Tag und Nacht. Wenn ihr den Geist betrachtet, ist nichts zu sehen. Verweilt in dieser Weite, in der es nichts zu sehen gibt. Mahamudra ist von Natur aus jenseits allen Vorstellbaren, Man kann es mit dem Verstand nicht begreifen, Aber man kann es erfahren. Da Meditation und Nach-Meditation untrennbar sind, Gibt es für mich keine Stufen der Meditation. Was immer auch erscheint, ist von Natur aus offen-leer, Ganz gleich, ob ich achtsam bin oder nicht. So erfahre ich den Geschmack der ungeborenen Wirklichkeit. Um diese Meditation zu verstehen, Gibt es die Einstiegsmethoden des Mahayana, Wie die tantrische Praxis mit einer Gefährtin, Die Praxis mit den Körperenergien, Mantra Rezitation und das Visualisieren von Gottheiten, Die Meditation über die vier grenzenlosen Tugenden und so weiter. Praktiziert man diese Methoden jedoch nur auf der begrifflichen Ebene, Kann man die Wurzel von Anhaftung und Abneigung nicht durchtrennen. Man muß verstehen, dass Erscheinungen im eigene Geist erfahren werden Und dass die Natur des Geistes offen-leer ist. Ist man nicht von dieser Erkenntnis getrennt, Dann ist alles tugendhafte Handeln, wie Disziplin und Das Darbringen von Opfergaben usw. darin einbegriffen.“ So sang er. Tönpa Shakyaguna widmete von da an all seine Zeit der Praxis, machte außergewöhnliche meditative Erfahrungen und wurde einer der engsten Schüler, genannt Töngom Repa. Dies war die Geschichte, wie Töngom Shakyaguna in der Magengrotte zu Nyanang Milarepas Schüler wurde. Einige Stellen bedürfen noch einer Wiederholung, einer Erklärung. Vieles ist ja schon gesagt worden. Ganz wichtig erscheint mir der Punkt, dass unser Erleben, unsere Gefühle und unsere Gedanken auch dann leer und nicht fassbar sind, wenn wir es nicht bemerken. Beweis dafür ist, dass sich all unser Erleben seit der frühesten Kindheit aufgelöst hat, ohne dass wir irgendetwas dazu getan hätten. Nichts bleibt, aber vorüberge hend findet Greifen statt, das vorübergehend zu ziemlich intensiven Dramen führt – inklusive dem grundle genden Drama von Geburt, Alter, Krankheit und Tod. Das sind auch Formen des Erlebens: Zusammentreffen und Trennung, Aufbau und Niedergang, Glück und Unglück, Gewinn und Verlust, Lob und Tadel, Ruhm und Schmach, Macht und Machtlosigkeit... All diese Dramen, die finden so statt. Sie sind daraus gestrickt, dass wir bestimmten Elementen unseres Erlebens ganz besondere Bedeutung geben; ganz starke Bedeutung. Wir nennen das Identifikation. Sie haben für mich, als Person, eine große Bedeutung. Immer dann, wenn ich als Person mit etwas identifiziert bin, dann hat das, mit dem ich identifiziert bin, große Bedeutung. Und das ist, was wir mit dem Greifen meinen. Die Kunst freien Handelns, freien Seins ist, Dingen ihre Bedeutung zu geben im Kontext für alle, ohne iden -

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tifiziert zu sein. Dieser Körper, mit dem wir so identifiziert sind, ist ein tolles Gefährt für die Praxis; ist eine tolle Hilfe, um in dieser Welt unterwegs zu sein. Das ist wunderbar! Er ist unser Lehrmeister, Helfer und unser Werkzeug. Wir können ihn nutzen, brauchen aber nicht identifiziert sein damit. Das ist genau so wie mit unserem Auto. Es ist super, ein Auto zu haben, sehr hilfreich. – Und so geht es mit allem. Gute Nahrung, wunderbar! Tolle Ehefrau, toller Ehemann, wunderbar! Und überhaupt: Freunde; und sich wirklich auch um sie zu kümmern; aber sich zu kümmern, ohne unser inneres Glück daran zu hängen. Einfluss zu haben ist wunderbar, Boddhisattvas machen geradezu Wünsche, Gebete, um Einfuss zu haben und ihn zum Wohle aller einsetzen zu können. Aber keinen Einfluss zu haben, ist kein persönliches Drama, das eigene Glück hängt nicht davon ab. Das ist dieser feine Unterschied: die Dinge wichtig zu nehmen, ihnen ihre ganze Bedeutung zu geben, aber nicht damit identifiziert zu sein. – Ich bin z.B. nicht achtlos, wenn ich unterrichte. Gut zu unterrichten, Sinnvolles zu sagen, ist von höchster Bedeutung, aber ich brauche nicht damit identifiziert zu sein. Wie kann ich mich um einen Garten kümmern und nicht persönlich beleidigt zu sein, wenn mir die Schnecken den Salat wegfressen? Die Gärtner/innen wissen, wovon ich spreche. Wie kann ich mich um meine Kinder kümmern, ohne persönlich identifiziert zu sein? Das ist unglaublich schwierig, aber möglich! Wie kann ich in einer Paarbeziehung leben, ohne mich mit dem anderen zu identifizieren? Wow! Da merkt ihr die Herausforderung. In all diesen Bereichen geht es darum, die Qualitäten von dem, was uns umgibt, was wir spüren zutiefst zu schätzen und uns doch nicht damit zu identifizieren. Wie geht das? Indem wir in jedem Moment die leeroffene, nicht fassbare Natur des Erlebens bemerken, ihrer gewahr sind. Das macht den Unterschied! Da kommt die Freiheit her! Das ist, glaube ich, der zusammengefasste Sinn dieses Liedes von Milarepa. Das Motto unter dem Strich heißt: volles Engagement ohne Identifikation! Es heißt nicht: weniger und weniger Engagement in dieser Welt, bloß dass es nicht weh tut. Nein! Dann haben die Dinge immer noch dieselbe Kraft, dieselbe Macht über uns, wie zu der Zeit, als wir noch engagiert waren. Rückzug ist keine Lösung. Erkennen, verstehen ist die Lösung. Dieses Verstehen führt zum Nicht-Greifen, führt zum Lebendigsein-Können, zum Engagiertsein-Können, ohne sich zu verstricken. Da sind wir gemeinsam unterwegs. Ich möchte nicht so tun, als ob ich das schon verwirklicht hätte, aber darum geht es. Immer wenn es möglich ist, dann merke ich, wie unglaublich frei der Geist dann ist, was für ein unglaubliches Geschenk das ist. – Und wie wahr das alles ist; wie wahr das ist, dass unser Geist Buddha ist; wie wahr das ist, dass unser Geist frei ist, von Natur aus. Laßt uns noch meditieren – sein ohne Begriffe. Meditation Nachdem wir so viele Worte gehört haben, soviel mitgedacht und mitgefühlt haben, lassen wir all das sein, wie Zeichnungen im Wasser. Wir lassen es davonziehen wie Wolken im Himmel und machen Raum für das Neue. – *** Meditation und Nach-Meditation sind nicht voneinander zu trennen. Lasst uns in diesem Sinn unmittelbar weiter praktizieren; mit den ersten Bewegungen nach dem Meditieren und dem Gehen. Ich wünsche mir, dass ganz viele von euch die Erfahrung machen, wie hilfreich das ist, bei der Gehmeditation einfach auf und ab zu gehen; so lange, bis wir uns dabei vergessen können; bis wir gar nicht mehr beschäftigt sind mit dem, was es um uns herum in der Landschaft alles so Schönes zu entdecken gibt und wir in eine meditative Tiefe und Qualität hineinfinden. Lasst uns alle miteinander gehen und sitzen und gehen und sitzen...

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Morgenmeditation Reinigungsatem Wir haben wieder eine kostbare Zeit vor uns, in der wir Gewahrsein praktizieren, einfach gewahr sind. Um die bestmöglichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, helfen wir dem Körper, etwas wach zu werden. Die Atemübung ist sehr gut geeignet dafür. Zugleich können wir mit jedem Ausatem die innere Motivation bekräftigen, nicht festzuhalten an was auch immer, uns nicht zu identifizieren. Wir gehen bereits bei den neun kräftigen Ausatmungen jeweils in diesen offenen Geisteszustand. Wenn wir dann die Sieben-PunkteHaltung einnehmen und diejenigen, die das können, in der Vasenatmung verweilen, bleiben wir in dieser offenen Klarheit. Und auch wenn wir dann die Haltung lösen und einfach nur so sitzen, bleiben wir in der Nachwirkung dieser Atemübung. Wenn wir uns darauf einlassen, ist sie geeignet, uns relativ sicher in ein nicht-begriffliches Sein hineinzubringen. Das ist der Vorteil dieser Art von Übung. Einatmend können wir uns Regenbogenlicht vorstellen. Ausatmend lassen wir alles los, was uns vielleicht bedrängt oder an dem wir festhalten – Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart. – Entspannen und Öffnen Wir verweilen in der Zuflucht, im offenen So-Sein. – Wir lassen dieses natürliche Gewahrsein praktizieren. Wir selbst brauchen gar nichts zu tun, nur zuzulassen, dass die Kräfte von Weisheit und Mitgefühl in uns sich ausdrücken können, sein können. – Wir können den Atem als Hilfe nehmen, um uns tiefer zu verankern; … im Sitzen den Bauchraum öffnen, im Becken noch etwas nachgeben, Spannung loslassen, und wirklich und ganz unseren Platz einnehmen. Die nach oben hin spürbaren Atembewegungen können wir nutzen, uns jedes Mal ein wenig mehr zu öffnen, zu lassen, vertrauensvoll loszulassen. – Wir können uns trauen,in der Zwerchfellgegend die Spannung zu lockern. Damit treten wir natürlich in den Bereich ein, wo wir uns vielleicht etwas verletzlicher fühlen, wo wir uns weniger schützen, offener sind. – Wenn wir gleichzeitig durchlässiger werden, dann brauchen wir uns nicht so zu schützen. – Sanfter Atem in Verbundenheit Lasst uns probieren, mit einem ganz sanften Atem zu sein. Sanft in dem Sinne, dass wir uns selbst darin annehmen; gerade so, wie wir sind, und zugleich die Verbindung mit allen anderen spüren, uns sanft öffnen für unser Verbunden-Sein. – Über den Atem sind innen und außen ohnehin in beständigem Austausch, in Verbindung. – Wir sind genauso abhängig vom Atem, wie jeder andere auch hier im Raum; außerhalb wie die Vögel, die Pferde. Alles, was lebt, ist in Abhängigkeit von seiner Umwelt. – In dieser wechselseitigen Abhängigkeit sind wir auf die Welt gekommen, sind wir groß geworden. Diese wechselseitige Abhängigkeit gestaltet auch heute noch unser Leben, Atemzug für Atemzug. – Wenn wir in Liebe und Mitgefühl atmen, in Dankbarkeit und Respekt, dann macht das einen gewissen Unter schied. – In der buddhistischen Tradition spricht man davon, dass alle Lebewesen bereits einmal unsere Eltern waren, und wir ihre Eltern. Damit soll vermittelt werden, dass wir Fürsorge füreinander tragen, dass wir fürsorglich mit uns selbst, mit anderen und mit der Welt im Ganzen umgehen. – Schaut, ob ihr in dieser Fürsorge, in diesem Wohlwollen atmen könnt, ohne dass es künstlich wird. – Wir spüren unsere wechsel seitige Abhängigkeit, wir wissen darum, dass sich jeder Glück wünscht und Leid vermeiden möchte. – Und wenn uns beim Meditieren Personen in den Sinn kommen, oder Tiere, Lebewesen, dann nehmen wir sie einfach mit hinein in diese Fürsorge, in dieses Wohlwollen. Wir können uns vorstellen, dass sie sich in unserer Nähe niederlassen, dass wir einfach liebevoll, mitfühlend weiter atmen, es in alle Richtungen strömen lassen. Es strömt von ihnen zu uns, genauso wie es von uns zu ihnen strömt. – Wir empfangen Liebe und Wohlwollen und lassen Liebe und Wohlwollen fließen. – Wenn wir erkennen, wie sehr unser Sein verwoben ist mit dem Sein aller anderen, dann ist diese Fürsorge etwas ganz Natürliches. – *** Das war die Übung und jetzt kommt die Hauptpraxis. Wir können jeden Moment genießen. Ich sag' das nur als Erinnerung; es ist immer so wichtig sich zu erinnern. Überlegt doch gerade mal kurz, was euch jetzt persönlich wichtig ist in diesen anderthalb Stunden Hauptpraxis, die jetzt anstehen, bevor wir dann wieder

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ein bisschen üben. Worauf möchtet ihr achten beim Frühstück, beim Aufräumen, Putzen – was auch immer ihr in der Frühstückspause tun werdet. Was ist euer Anliegen? Es ist gut, sich dieses Anliegen ganz klar zu machen und sich ab und zu daran zu erinnern, um immer wieder dahin zurück zu gehen. So gestalten wir unser Leben, so nehmen wir unser Leben in die Hand: indem wir uns immer wieder an das Wesentliche erinnern. Wir erinnern uns an das, was für uns wesentlich ist, nicht an das, was für andere wesentlich ist.

Bodhicitta Ich möchte euch heute von etwas erzählen, was meinen Lebensweg sehr verändert hat. Im auslaufenden Winter 1981 kam ein tibetischer Meister nach Freiburg und meine damalige Freundin Medi sagte zu mir: „Komm, den hören wir uns an, der soll gut sein, interessant.“ Ich hatte noch nie einen buddhistischen Lehrer gesehen und in diesem buddhistischen Zentrum war ich vorher auch noch nie. Ich war damals in einer ZenGruppe unterwegs. An diesem Abend war da eine Gruppe wie hier, 30 bis 40 Leute, ungefähr dieselbe Alterszusammensetzung, ein paar Freaks dabei. Vorne setzt sich ein älterer Mann hin, schwer einzuschätzen, ein Tibeter mit Namen Gendün. Das Wochenende war angekündigt mit Bodhicitta. Das Wort Bodhicitta hatte ich auch noch nie gehört. Er spricht über Bodhicitta, das Herz des Erwachens, den Geist des Erwachens. Ich höre ganz aufmerk sam zu, und tatsächlich: was Lama Gendün damals über den Geist des Erwachens erzählte, hat mich von dem Moment an nie mehr verlassen. Später wurde mir klar, dass das, was er mir an anderer Stelle noch sagte – in die andere Richtung neu starten, wenn man wie auf Schienen festgefahren ist –, genau das ist, was mit Bodhicitta gemeint ist. Es wurde mir an diesem Tag ins Herz geschrieben, und das Gefühl, dass es möglich ist, aus dieser Ich-Bezogenheit voll und ganz auszusteigen und sein Leben so zu gestalten, dass es immer das Wohl aller vor Augen hat, hat mich nie mehr verlassen. Und wie Gendün Rinpoche da vor mir saß, hatte ich subjektiv den Eindruck, zum ersten Mal in meinem Leben einem Menschen zu begegnen, der solche Worte sagen konnte und sie zugleich verkörperte; wo Worte und Sein deckungsgleich waren. Das, was er sagte, war Ausdruck von seinem Sein; da war kein Unterschied, da passte nichts dazwischen. Und dieses total authentische, integre Sein – in seinem Humor, in seiner Öffnung, in seinem ganz offenkundigen Sein für alle, ohne etwas für sich zu erwarten – hat mein Leben ver ändert. Erst dachte ich, alle buddhistischen Lehrer wären so, denn das war ja mein erster, den ich getroffen habe. Später habe ich herausgefunden, dass es da auch Variationen gibt. Und als ich ein paar Monate später – noch inspiriert von diesem Erlebnis –, in Paris bei Shamar Rinpoche Zuflucht nahm und der mir erlaubte, intensiv Vipassana zu praktizieren, da durchstöberte ich die Regale von dem Theravada-Zentrum Led's House in Südengland nach diesem Bodhicitta, nach diesem Geist des Erwachens. Aber ich fand nichts darüber, es war nichts zu finden. Ich dachte mir: „Was? Das ist doch wohl die wesentliche Unterweisung, was ist denn da los?“ Ganz allmählich – das hat aber lange gebraucht – merkte ich, dass es verschiedene buddhistische Richtungen gibt, verschiedene Ausdrucksweisen, die schon alle dasselbe meinen aber es anders ausdrücken und die Akzente anders setzen. Ich ging ganz auf in dieser Vipassana-Praxis, über drei Jahre hinweg machte ich neun oder zehn von diesen Zehn- bzw. Vierzehntageskursen, und immer wieder ging mein Geist zum Bodhicitta zurück. Heute ging er auch dorthin. Ich spürte beim Aufwachen: „Doch! Darüber möchte ich mit euch sprechen!“ – nicht abstrakt, sondern von dieser lebensverändernden Qualität her; wie Bodhicitta in einer Situation einfach den Blick verändert. So erlebe ich es auch bei euch, wie ihr spürt was die Gruppe braucht, was die Situation braucht – fürs Essen, fürs Aufräumen – wie sehr umsichtig ihr seid. So wie Bodhicitta mir damals erklärt wurde und wie es auch in den Büchern steht, ist es auf der AnfängerEbene der Wunsch und das Versprechen, Buddhaschaft zu erlangen, um dann alle Lebewesen in die Buddha schaft zu führen. Das ist ein Unding, es ist so unglaublich. Es sprengte auch damals alle meine Vorstellun gen. Aber so wie Gendün Rinpoche da saß und sagte: „Ja, ja, ihr Buddhas! Alle, alle! Wir können alle vollkommen erwachen, und dieses Erwachen wird umso leichter, je früher ihr euch vergesst. Je eher ihr euch

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vergesst und euch einfach in den Dienst der Situation stellt, in den Dienst anderer, desto leichter ist das Erwachen.“ Auch das Meditieren wird ganz leicht, denn das Einzige, was uns bei dem Versuch, den Geist zur Ruhe zu bringen und zu öffnen, hindert, ist das ständige Mit-sich-selbst-Beschäftigtsein. Wahre Liebe und wahres Mitgefühl sind noch nie als Hindernisse der Meditation aufgetreten. Unsere Ablenkung kommt immer von dem Beschäftigtsein mit uns selbst, und dieses Drehen um sich selbst hat einen zwanghaften Charakter. Das brauchen wir nicht weiter zu nähren, wir können uns ja um uns selbst und um andere kümmern wie um uns selbst. Wir können eigentlich das, was wir uns selbst an Gutem tun wollen, auch ausdehnen und immer die Gleichheit von uns selbst und anderen praktizieren. Nicht, dass wir uns zurück stellen, es geht darum, dass wir andere mit der gleichen Aufmerksamkeit behandeln.

Der zweifache Nutzen Im Rahmen dieser Unterweisung über Bodhicitta sprach Gendün Rinpoche auch über den zweifachen Nutzen. Im Mahayana – im Buddhismus des sogenannten großen Fahrzeugs – wird viel über den Nutzen für uns selbst und den Nutzen für andere gesprochen. Indem wir selbst das Erwachen erlangen, ist unser Nutzen vollkommen verwirklicht. Da brauchen wir gar nichts weiter; wer frei ist, ist frei, ist glücklich. Da gibt es keine Angst mehr vor dem Tod, auch keine Angst vor zukünftigen Leben. Wenn der Geist frei ist von Anhaften, dann ist dieser Strom des Erlebens befreit und braucht vor nichts mehr Angst zu haben. Das nennt man die Verwirklichung des Dharmakaya, des Wahrheitskörpers. Das ist der Nutzen für einen selbst; unser Geist – dieser Geistesstrom – geht auf in seiner grundlegenden Offenheit, in der Dimension des Seins, die einfach nur die Natur unseres Geistes ist. Und darum kümmern wir uns. Wir brauchen uns nicht aufzugeben und zu vergessen in dem Sinn, dass wir nur noch an andere denken. Das wäre ein aufgesetzter Altruismus, kein echtes Bodhicitta. Das echte Bodhicitta fängt bei mir selbst an, dass ich mich gut um mich selber kümmere. Denn wenn es mein Wunsch ist, anderen zu helfen, muss ich zunächst einmal in der Lage sein zu helfen. Das leuchtet total ein. Ich muss mich um meinen eigenen Geist kümmern, ich muss schauen, wie ich einen Weg finde, dass sich diese emotionale Verwirrung in mir auflöst. Ich muss – so wie wir das ausdrücken – an mir selber arbeiten. Ich muss selber den Weg kennen, um ihn anderen zeigen zu können. Und diese Arbeit an mir selbst, mit mir selbst, mit meinen eigenen Emotionen und Hang-Ups – wie man auf Englisch sagt –, mit meinen Verstrickungen, ist aber anders motiviert als sie es zuvor war. Sie ist nicht davon motiviert, einfach nur für mich selbst glücklich zu sein und dann: „Basta! Geschehe mit der Welt, was halt geschieht.“ Bereits die Arbeit mit mir selbst, an mir selbst – z.B. dieses Üben von liebevollem Gewahrsein in jeder einzelnen Situation, in jeder Meditationspraxis – ist motiviert von Bodhicitta, von dem Wunsch, es mit anderen teilen zu können; es anderen auch zeigen zu können, wenn wir dann herausgefunden haben, wie der Geist frei wird. Das war für mich ein springender Punkt: zu verstehen, dass die Motivation sich ändert, gar nicht so sehr das Handeln. Und es geht auch nicht darum, aus Ich-Bezogenheit zu helfen, sondern es geht darum zu helfen, damit es allen besser geht, damit alle den Weg in ihre eigene Natur hinein finden. Viel von dem, was wir aus Hilfsbereitschaft tun, ist von unserer Ich-Bezogenheit motiviert. Ich z.B. war schon jemand, der anderen half, der sehr hilfsbereit war. Aber hinter meiner Hilfsbereitschaft war der Wunsch nach Liebe und Anerkennung, es war eigentlich eine ich-bezogen motivierte Hilfsbereitschaft. So findet man viele Freunde, so ist man beliebt, so ist man angenommen, so ist man im Zentrum einer Gruppe, man kümmert sich um andere und kriegt ganz viel zurück. Das kennen wir alle, aber das ist nicht Bodhicitta. Bodhicitta ist zu schauen, was wirklich nützt. Und manchmal nützt es, sich zurückzuziehen, es ist auch für andere gut, auszusteigen aus den Verstrickungen, auch aus den Verstrickungen in helfenden Beziehungen; freier zu werden, um sich selbst zu kümmern und diese gründliche Arbeit mit sich selbst zu machen, sodass wir auch im Helfen, im Unterstützen anderer, nicht mehr auf unseren eigenen Erfolg aus sind; auf unsere eigene Anerkennung, auf dieses Geliebtwerden. Das kommt ohnehin. Anderen uneigennützig zu helfen, ist das, was absolut am glücklichsten macht, das kann man gar nicht vermeiden. Es geht nicht darum, auf das Glück zu verzichten, miteinander verbunden zu sein und einander zu unterstützen. Es geht einfach darum, diese innere Kehrtwendung zu machen und sich aus anderen Gründen um sich selbst zu kümmern, nicht nur,

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damit es einem selbst besser geht, sondern eben auch um hilfreich sein zu können; erst einmal schon um nicht mehr so eine Belastung in der Welt zu sein. Das ist auch Mitgefühl, dass ich mich um mich selber kümmere und meinen eigenen Kram aufräume, um nicht so eine Belastung in der Welt zu sein. Es ist schon einmal viel wert, bei sich zu Hause, im eigenen Geistesstrom aufzuräumen. Und dafür auch Hilfe in Anspruch zu nehmen, aber nicht gnädigerweise, sondern weil ich es wirklich brauche. Auch da aus Bescheidenheit. Bodhicitta hat unglaublich viel mit Bescheidenheit zu tun. Es hat mich damals etwas berührt, was ich in der Tiefe zwar verstanden, mir aber nicht zugeben wollte. Es hat mich total berührt, wie bescheiden Lama Gendün da saß und über das größt-denkbare Ideal, das die Menschheit hervorgebracht hat, spricht; ohne irgendeinen Leistungsanspruch. – „Das müsst ihr jetzt machen!“ – Es war einfach eine große Inspiration. Aber in meinem eigenen ich-bezogenen Geist wurde diese Inspiration schon verarbeitet wie ein großes Projekt, ein großes Helferprojekt – und ich habe Bodhicitta grundlegend missverstanden. Ich habe zwar geahnt, was ich da gespürt habe, aber es kam noch nicht so im Bewusstsein an. Heute weiß ich, dass sich Bodhicitta nur leben und umsetzen lässt, wenn niemand Bodhicitta praktiziert, wenn es niemand ist, der sich um andere kümmert. Wenn sich jemand um andere kümmert, dann ist es noch nicht ganz Bodhicitta. Das nennt man das Bodhicitta des Strebens. Im Bodhicitta des Strebens entsteht in unserem ich-bezogenen Geist der Wunsch, allen zu helfen. Das ist ein ganz edler Wunsch, der in unserem Geist entsteht. Wir haben dann das Gefühl: „Jetzt kremple ich die Ärmel hoch und gehe ran! Jetzt mache ich meine Praxis, ich werde dann erwacht sein und dann kann ich anderen helfen!“ Das sind die Reste, Relikte des ich-bezogenen Funktionierens innerhalb unserer DharmaPraxis. Im Grunde genommen machen wir unsere Dharmapraxis wieder zu einem ich-bezogenen Unterfan gen. Dann fragen wir uns: „Wie viele Lebewesen gibt es denn zu retten? Wie lange wird denn das dauern? Wie viele sind denn zusammen mit mir unterwegs? Muss ich das etwa ganz alleine machen?“ Das sind Fragen, die aus dem überlegenden, etwas berechnenden, ich-bezogenen Denken kommen, weil ich noch nicht verstanden habe, dass Bodhicitta spontan wirkt; dass es nicht auf Vorsatz beruht. Es entsteht ganz spontan in uns und ist im Theravada-Buddhismus als die Vier Unermesslichen Qualitäten, die Vier Brahmaviharas, bekannt. Es ist etwas, das ganz spontan zum Vorschein kommt, wenn die Ich-Bezogenheit weg ist, wenn sie sich aufgelöst hat. In solch einem spontanen Handeln ist kein Fragen nach: Was kriege ich dafür? Wie lange dauert das? Wie oft wird es noch dazu kommen? Wie viele Lebewesen brauchen das noch von mir? – Ihr lacht weil ihr merkt, wie irrelevant das ist. Bodhicitta – das habe ich erst lange später verstanden – ist tatsächlich etwas ganz Natürliches. Es ist ganz spontan, natürlicherweise in uns vorhanden, und wird deshalb auch Geist des Erwachens genannt – citta ist Geist und bodhi Erwachen –, denn wenn wirkliches Erwachen da ist, ist da diese spontane Präsenz, die aus dieser Verbundenheit mit allem heraus wirkt, wie wir das heute Morgen ein bisschen angespürt haben. Dieses Verbunden-Sein mit allem zuzulassen, ist die Grundlage von Bodhicitta. Und da können wir tatsächlich mit unseren Kontemplationen, mit unseren Verstand, etwas nachhelfen, indem wir den Weg bahnen. Bodhicitta-Kontemplationen bahnen, öffnen den Weg in das, was sich dann ohnehin natürlicherweise zeigen wird, was sich aber leichter zeigen kann, wenn wir den Weg ein bisschen geöffnet haben. Das sind Kon templationen über die Güte, über die Güte anderer; wie oft wir schon Wohlwollen durch andere erfahren haben – sei es durch eine Kindergärtnerin, einen Lehrer, eine Lehrerin, immer wieder durch unsere Eltern, gelegentlich durch unsere Geschwister. All diese Menschen waren auch beschränkt in ihrer Güte, in ihrem Wohlwollen. Und trotzdem – und das macht ihr Wohlwollen, ihre Güte um so kostbarer –, obwohl sie selber auch in ihren Emotionen gefangen waren, haben sie sich um uns gekümmert, und deswegen leben wir heute. Wir sind groß geworden, haben sprechen gelernt, weil es Menschen gab, die sich um uns gekümmert haben, obwohl sie emotional verstrickt waren. Sehr oft sehen wir den Mangel; wir sehen, was unsere Eltern alles nicht geben konnten, was uns gefehlt hat, und das hat tiefe Spuren in uns hinterlassen. Aber sie haben uns doch so viel geben können, dass wir hier sind, dass wir uns dennoch haben entwickeln können. Mit dieser Sichtweise machen wir in den Bodhicitta-Kontemplationen den Wechsel vom halb leeren Glas zum halb vollen Glas. Wir kontemplieren ganz bewusst, was alles an Hilfreichem in der Welt ist; wie sich andere darum kümmern, dass wir hier so einen Raum haben; dass hier ein Haus entstanden ist, in dem wir den Dharma praktizieren können; dass irgend jemand Brötchen bäckt, die bei uns auf dem Frühstückstisch

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stehen; dass Käse aufgetischt wird, der auch von irgendwoher kommt. Das heißt, all das, was wir als gegeben voraussetzen, wird neu angeschaut, und wir sehen, dass das Prinzip der Fürsorge das gesamte Leben durchwirkt. Die Fürsorge des Bäckers wird abgewertet, kann man fast sagen, indem man denkt: „Wir haben es doch bezahlt.“ Die Fürsorge des Bauern wird abgewertet dadurch, dass wir sagen: „Wir haben die Milch doch bezahlt. Wir arbeiten doch dafür, dass wir uns das kaufen können.“ Gleichzeitig möchten wir für unsere Arbeit aber auch geschätzt werden; einige sind Lehrer, Therapeuten, machen Büroarbeit – was auch immer. Was wir auch tun, wir kümmern uns auf verschiedene Arten und Weisen um die Belange anderer und werden dafür bezahlt. Aber damit ist das Wesentliche noch nicht geschehen; eigentlich ist dieses Geld nur Ausdruck der Wertschätzung, und es hat diese Form gefunden, damit man damit von einem zum anderen gehen kann und der Austausch von Hilfeleistungen leichter wird. In den Bodhicitta-Kontemplationen gehen wir überall rein und kultivieren neu, ganz frisch diese Wertschätzung, diese Dankbarkeit für das Wohlwollen, das wir zunächst schon einmal entgegengebracht bekommen haben. Dann gehen wir noch ein Stück weiter und kontemplieren, wie wir nicht nur in diesem Leben wohlwollend umsorgt wurden, sondern auch in früheren Leben; dass dieses Leben aller Wahrscheinlichkeit nach nicht das erste Leben ist, in dem es uns so geht. Immer wenn unser Geist offen ist, dann haben wir fürsorgliche Beziehungen; wenn unser Geist eng ist, dann haben wir kämpfende Beziehungen. Wir richten unser Augenmerk zunächst auf das Fürsorgliche und sehen, dass wir eigentlich doch in unserer Motivation mit allen fürsorglich verbunden sind. – Es sei denn, es werden unsere schwierigen Emotionen berührt. Dann fangen wir an zu kämpfen, dann entsteht Streit; wir alle haben uns auch schon gegenseitig umgebracht. Aber darauf richten wir unseren Geist nicht speziell. Wir wissen das, aber es war ja nicht unsere eigentliche Motivation. Immer wenn wir in diesem Leben und in vergangenen Leben aus mangelndem Respekt gehandelt haben, waren wir emotional in der Klemme. Wir wollten das eigentlich nicht. Wir wollten nur glücklich sein und wären auch froh gewesen, Wege zu finden, wie die anderen gleichzeitig hätten glücklich sein können. Mit dieser Grundmotivation, die etwas total Natürliches ist, verbinden wir uns, wenn wir Bodhicitta kontemplieren. Wir kontemplieren, wie unsere eigentliche Motivation schon immer ist, nämlich dass alle glücklich sein können. Das ist es, was wir tun, um es dieser uneigennützigen Grundhaltung zu erleichtern, zum Vorschein zu kommen – 'uneigennützig' kann man genau genommen nicht sagen, denn darin ist auch der eigene Nutzen enthalten – dass also diese gesamtnützige Grundhaltung zum Vorschein kommt. So kann man es gut sagen. Es geht um diese Grundhaltung, in der den Bedürfnissen aller Rechnung getragen wird. Genau so, wie wenn wir in einer großen Gruppe am Tisch sitzen und es gibt nur einen Laib Brot; den teilen wir auf, sodass alle satt werden, und wir sorgen dafür, dass es mehr Brot gibt. Was die Herzenskräfte angeht, machen wir dann eine wunderbare Entdeckung: wir merken, dass sie unerschöpflich sind. Wir machen die Entdeckung, dass Freigebigkeit umso leichter wird, je fließender, je freigiebiger wir sind. Je mehr wir lieben, desto leichter wird es zu lieben. Da ist nicht etwa so ein Reservoir an Liebe, wo dann erst einmal Pause ist, wenn es erschöpft ist, und dann müssen wir es auffüllen, sondern das Lieben verstärkt das Lieben; das miteinander Teilen verstärkt die Freigebigkeit. Das sind wunderbare Entdeckungen, die uns dann allmählich verstehen lassen, dass wir uns keine Sorgen zu machen brauchen um die Anzahl der Lebewesen, um die wir uns küm mern; um die Anzahl der Leben, die wir das noch tun werden, weil es aus diesem unerschöpflichen Quell des liebevollen Seins heraus einfach geschehen wird. – Wenn wir es zulassen, wenn wir es ermöglichen. Und so wechseln wir allmählich vom Bodhicitta des Strebens und des Wunsches in das angewandte Bodhicitta, wo wir das tatsächlich schon leben, immer wieder leben. Wenn wir dann merken, dass es gar nieman den gibt – keinen Jemand, keine Person, die liebt –, sondern dass Lieben geschieht und dass es genauso im Gegenüber auch niemanden gibt, das nennt man letztendliches Bodhicitta. Bodhicitta ist ein sehr seltsames Unterfangen. Niemand kümmert sich um niemanden. Das muss man sich einmal klarmachen. Ein Geistesstrom, in dem es aufgrund der gemachten Erkenntnisse nicht mehr dazu kommt, sich selbst zu vergegenständlichen, kümmert sich um andere Geistesströme, die zum Teil noch in diesem Vergegenständlichen drin sind. Er tut das aber im Wissen, dass es nur darum geht, diese Freiheitsräume aufzutun, in denen jeder von diesem Vergegenständlichen, von diesem Irrtum ablässt. Selber aus dem Irrtum, aus der Täuschung befreit, kümmert sich dieser Geistesstrom darum, anderen zu helfen, sich auch aus

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dieser Täuschung zu befreien. Der Motor dafür ist diese Umkehr in der Motivation. Wenn wir auf diesen Schienen unterwegs sind, wo es normalerweise nur in eine Richtung geht – immer ich, was mehr oder weniger klappt, uns aber unbefriedigt zurück lässt –, dann kommt dieses Innehalten: „Hey! Es geht ja auch anders!“ Und dann entsteht dieses Situations-Bezogene, dieses Denken, Wirken, Gestalten für den Gesamtnutzen, und das macht von Anfang an zutiefst glücklich. Es fühlt sich stimmig an. Diesem Gefühl der Stimmigkeit können wir vertrauen; Bodhi citta ist überhaupt nichts Aufgesetztes. Es bejaht unser grundlegendes Sein, unser Verbunden-Sein, und in diesem Verbunden-Sein ist das einzig Sinnvolle, Fürsorge für das gesamte Netz zu tragen – für alle, die mit uns verbunden sind, uns selbst inklusive. Das wird bejaht, und in dieser Vernetzung spüren wir, dass da einfach Kräfte wirken, Kräfte fließen, in denen es gar kein Ich als Mittelpunkt der Welt hat. Wir sind in diesem abhängigen Entstehen unterwegs. Dieser Geistesstrom, in dem Erleben abhängig entsteht, öffnet sich immer mehr für diese einfache Tatsache des abhängigen Entstehens und weiß, dass das einzig Sinnvolle in diesem gegenseitigen Sich-Beeinflussen ist, es mit Liebe zu tun; mitfühlend, fürsorglich, wohlwollend. Darauf kommt es in diesem Netz an, in dem wir uns gegenseitig beeinflussen. Es geht einfach darum, unseren Teil dazu zu tun, dass das, was an diesem Punkt dieses Netzwerks ankommt, wie in unserem Bodhicitta-Herzen eine Auflösung erfährt, eine Bejahung in Richtung der heilsamen Impulse. Heilsame Kräfte gehen von uns aus. Wir brauchen gar nicht viel zu tun; es reicht, im Bodhicitta zu sein. Wir sind wie eine Vernetzungstelle, kann man sagen; an einer Stelle im großen Netzwerk ist dieser Geistesstrom. Wenn in diesem Geistesstrom Liebe, Mitgefühl und ein tiefes Verstehen, Weisheit sind, dann ist alles, was dieser Strom bewirkt, was er weitergibt, was er reflektiert, durchtränkt von dieser Kraft des Mitgefühls, des Ver stehens. Das ist etwas ganz Natürliches. Aber ihr merkt vielleicht, dass im Unterschied zu dieser Beschreibung, in uns andere Mechanismen aktiv sind. Manchmal möchten wir uns am liebsten diesem Netzwerk entziehen, wir wären gerne nicht so stark in dieser wechselseitigen Abhängigkeit. Wir haben Kontroll-Mechanismen mit Angst überall da, wo wir berührt werden und haben es nicht so leicht, umzugehen mit dem, was da spürbar wird und reagieren mit unseren üblichen emotionalen Mustern, weil unsere Motivation erst einmal vorrangig – und das war ja auch lange Zeit sinnvoll – Selbstschutz, unser persönliches Überleben war. Mit dem Erwachsenwerden, mit dem zunehmenden Verstehen, merken wir, dass es ein sehr begrenztes, ein sehr anstrengendes Unterfangen ist, sich als Einzelner um sein Überleben, um sein eigenes persönliches Glück zu kümmern. Wir kontemplieren vielleicht auch – wie das in den Bodhicitta-Übungen so üblich ist – dass es schwierig ist, wirkliches Glück zu erleben, solange andere um uns herum noch unglücklich sind. Das ist sehr schwer: man muss sich abkapseln, man muss sich wie Scheuklappen anlegen, um nicht wahrzunehmen, wie es anderen neben uns geht. Natürlicherweise bekommen wir als spürende Menschen mit, wie es anderen geht, und ganz natürlicherweise möchten wir, dass es denen, die in unserer Nähe sind, denen wir begegnen, auch gut geht. Immer wenn wir uns für dieses natürliche Sein öffnen, merken wir, dass die Lösung nur darin besteht, für alle zu sein – mich selbst inbegriffen –, und das auf die natürlichste und selbstverständlichste Art, die man sich nur vorstellen kann. Und das ist ein Buddha. Ich habe gerade einen vollkommen Erwachten beschrieben. Ein Erwachter ist auf die natürlichste, selbst verständlichste Art auf diesem Planeten unterwegs, und immer wenn die Situation es verlangt, entsteht eine natürliche, selbstverständliche Antwort auf die Situation, nicht mehr und nicht weniger. Ein Erwachter braucht nicht umherzureisen, um mehr Schüler zu sammeln und ein bisschen mehr Anerkennung zu bekom men. Er unterrichtet, wenn es nötig ist, und er lässt es sein, wenn es nicht gefragt ist. So einfach ist das. Wo materielle Hilfe nötig wird, ist materielle Hilfe angesagt; wo es Schutz braucht, wird Schutz gegeben; wo es Verständnis braucht, wird Verständnis gegeben – einfach jeweils das, was die Situation braucht. Und deshalb wurde Bodhicitta so genannt: weil es der Geist der Erwachten und des Erwachens ist, die selbstverständliche, ganz natürliche Geisteshaltung, die alle Erwachten beschreibt. In der Entwicklung des Buddhismus war es so, dass in den späteren Jahrhunderten, in den Schulen des Mahayana, besonderes Augenmerk darauf gerichtet wurde, genau diese Motivationsverschiebung zu erleichtern; frühzeitig mit der Motivation das schon einmal zu bahnen, was dann ermöglicht, dass sich das natür liche Sein zeigen kann. Eigentlich ist das der einzige Unterschied zwischen den buddhistischen Schulen. Das

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hängt auch damit zusammen, dass die Mahayana-Buddhisten viel stärker auf das Leben in Familien, in der Aktivität, bezogen waren. Sie waren etwas weniger bezogen auf diejenigen, die sich schon etwas aus Verstrickungen zurückziehen konnten. Aber Bodhicitta gibt es, seit es das Erwachen gibt. Das ist keine Erfindung des späteren Buddhismus, es ist etwas ganz Natürliches. Habt ihr Fragen dazu? Ihr habt ja bestimmt schon einiges über Bodhicitta gehört. Fragen Teilnehmer: Wenn ich dich richtig verstanden habe, dann sagtest du, beim Bodhicitta des Strebens sei noch ein gewisser Projektcharakter dabei, das sei etwas begrenzt. Ist das grundsätzlich so, oder gibt es das auch frei davon? Nein, wenn man frei davon ist, gibt es kein Streben mehr. Streben, diese Ausrichtung, beinhaltet, dass wir eine Vision haben; wir haben die Vision, dass alle Lebewesen erwacht sein können, und das ist das Projekt. Teilnehmer: Könnte man sagen, das Streben ist das Beste, was man schon hinkriegt während man noch ziemlich im Ich verhaftet ist, und deswegen wird es so angegangen? Vergleichbar mit Stützrädern. Genau, so ist es. Es ist das, was uns ausrichtet. Es hat ein paar Jahre gebraucht, bis ich dann bei Kalu Rinpoche in Bordo das Bodhisattva-Gelübde genommen habe. Da hatte ich ausreichend Zeit gehabt, aber das Bodhicitta immer noch nicht verstanden. Aber ich hatte es soweit verstanden, dass ich wusste, dass ab dem Zeitpunkt, an dem ich das Bodhisattva-Gelübde nehme, mein Leben eigentlich allen gehört. Diese Wende war mir klar, dass etwas grundlegend anderes im Leben Einzug hält. Und bevor ich das nahm, fragte ich mich sehr: „Bin ich bereit dazu, mein Leben in die Hände des Erwachens aller zu legen?“ Und das hat schon seine Auswirkungen gehabt, das hat starke Auswirkungen. Teilnehmer: Ich bin gerade ganz angerührt, weil ich aus der Erinnerung weiß, dass es ja manchmal Momente gibt, wo man spontan wirklich helfen und für die Wesen was tun will. Aber die Frage ist, was das andere Wesen braucht. Ich finde dieses Brauchen, diesen Verständnis-Aspekt immer wieder auch schwierig. Habe ich wirklich das getan, was gebraucht war? Ich wusste es nicht anders. Würdest du zu diesem Aspekt des Sehens von dem, was gebraucht wird, noch etwas sagen? Unsere Fühler dafür, was wirklich gebraucht wird, werden feiner; aber das geht über einen Prozess. Wir können fragen, aber es ist nicht gesagt, dass die andere Person weiß, was sie braucht. Wir machen Fehler. Der Bodhisattva-Weg ist gepflastert mit Fehlern – ausprobieren, immer wieder Fehler machen und daraus lernen. Wir machen es einfach immer besser, es geht ja nicht um uns. Wir versuchen, immer hilfreicher in dieser Welt zu sein. Das ist manchmal so frustrierend; manchmal haben wir überhaupt keine Ahnung, wie wir helfen können; manchmal haben wir eine Ahnung, aber liegen doch noch daneben; manchmal passt's. Das ist auch etwas, was ich noch gelernt habe. Ich habe erst gedacht, man müsste ziemlich perfekt sein, um den Bodhisattva-Weg zu gehen. Es war Shamar Rinpoche, der uns diesen Zahn gezogen hat. Er hat gesagt: „Glaubt nicht, dass man irgendwie in der Welt unterwegs sein könnte, ohne Leid zuzufügen, ohne dass man Fehler macht.“ Den perfekten Bodhisattva gibt es nicht, und schon gar nicht sollte man mit Hilfe warten, bis man perfekt ist, das wäre sehr schade. Ich merke gerade, dass in meinem Angerührtsein sehr viel Verdinglichung enthalten ist, dass der Wunsch, diesen Wesen irgendwie zu helfen, ein Greifen ist. Aber das gehört dazu. Es ist nicht nur das Verdinglichen da drin, auch deine ganze Liebe schwingt da mit. Es ist eben eine etwas verdinglichende Liebe, aber da ist so viel Gutes drin. Wir müssen da durch, und die Tränen zu weinen, weil wir nicht helfen können, gehört auch mit zum Weg. Das schmerzende Herz werden wir nicht los werden. Der Bodhisattva-Weg ist kein Weg, um in einen Bereich zu kommen, wo es nicht mehr weh tut, sondern wir öffnen uns so sehr, dass wir auch die Schmerzen anderer in unserem Herzen fühlen können. Deswegen können wir dann auch immer besser unterstützen. Wir lassen uns auch helfen, wir brauchen als Bodhisattvas nicht die starken Supermen/ Superwomen sein, wir sind in unserer Verletzlichkeit unterwegs, in unserer Liebesfähigkeit. Das ist eigentlich das größte Geschenk, und so können wir anderen viel mehr helfen, als wenn wir so vollkommen sind und andere in ihrer Unvollkommenheit dastehen. Ich

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habe es von allen Lehrern gehört, dass einen diese Betroffenheit im Herzen und dieser Schmerz im Herzen – der dann kein Problem mehr ist – dann ein Leben lang begleitet; als würden wir das Leid anderer in uns selbst erfahren können. Das können wir aufgrund des Verbundenseins. Und dann tut es auch weh, nicht helfen zu können. Es hat mir bis zu ihrem Lebensende weh getan, meinen Eltern nicht wirklich helfen zu können. Ich konnte ein bisschen Liebe und Unterstützung in ihr Leben bringen, ein bisschen Trost, aber so wirklich? Da waren mir die Hände gebunden. Teilnehmer: Könntest du vielleicht noch etwas zu dem zornvollen Mitgefühl sagen? Das, was wir nie brauchen? Was als das echte zornvolle Mitgefühl, als das heftige Mitgefühl beschrieben wird – z.B. diese Manifestation, die ihr als Mahakala kennt – braucht es in der Menschenwelt normalerweise nicht. Das Mitgefühl drückt sich in Form der vier Buddha-Aktivitäten aus, meistens als befriedende Aktivität. Es bringt Frieden in die Herzen, es bringt Frieden in den Geist, und gleichzeitig unterstützt es alle Qualitäten im Geistesstrom anderer und in uns selbst. Das ist die vermehrende Aktivität. Mit diesen beiden Aktivitäten – Qualitäten unterstützen und Frieden bringen – sind wir normalerweise unterwegs. Und wenn es unter uns Menschen heftig zugeht, dann kommt die dritte Bodhisattva-Aktivität, nämlich die kontrollierende, die kraftvolle Aktivität, manchmal auch magnetisierende Aktivität genannt. Die besteht darin, dass wir unseren Samadhi, unsere Geisteskraft, so stark werden lassen, dass die anderen wie davon eingefangen werden und gar nicht anders können als sich zu beruhigen. Das ist eine sehr starke geistige Präsenz, die anderen hilft, wieder zur Vernunft zu kommen. Das zornvolle Mitgefühl ist Ausdruck der heftigen Aktivität, die das zerstört, was schädlich ist. Sonst gibt es aber auch ein gespielt zornvolles Mitgefühl, wo eine zornvolle Fassade, eine zornvolle Erscheinung benutzt wird, so wie eine Mutter quasi zornvoll ein Kind vom Abgrund wegzieht. Das ist aber nicht diese vierte Aktivität, sondern nur aus Liebe und Mitgefühl und Weisheit wird eine so kraftvolle Präsenz aufgebaut, dass die anderen wie erschrecken. Das reicht dann aus, um befriedend wirken zu können und aus der Gefahren zone heraus zu kommen. Das ist vielleicht das, was du mit zornvollem Mitgefühl gemeint hast; aber eigentlich ist dieser Begriff verbunden mit dieser vierten Aktivität, und die ist eigentlich gar nicht notwendig. Es ist also kein echter Zorn, eigentlich handelt es sich um Liebe und Mitgefühl mit Weisheit im Hintergrund. Teilnehmer: Ist das vielleicht auch angebracht bei unheilsamen Tendenzen in uns selbst? Ja, aber wir brauchen das nicht so. Es ist einfach eine Entschlossenheit, die es braucht. Wenn wir mit so unheilsamen Tendenzen unterwegs sind, da braucht es einfach eine totale Entschlossenheit. Es ist okay, wenn ihr das jetzt 'zornvolles Mitgefühl' nennt, das geht auch. Ich habe in all den Jahren mit Gendün Rinpoche nie sein zornvolles Mitgefühl gesehen; das war offenbar nicht nötig. Dann lasst uns die letzten Minuten noch in Stille verweilen. – Wenn ihr die Unterweisung konkret anwenden möchtet, dann könnt ihr einfach atmen mit dieser Ahnung von Bodhicitta – das Bodhicitta atmen lassen. Teilnehmer: Zur Heilpraxis, die du gestern vorgestellt hast: Ich merke, dass ich viel besser in diese Freude und Frische und Wachheit reinkomme, wenn ich auf etwas Unangenehmes meditiere. Dann tu das. Das andere ist so – es bleibt ja nicht, und dann muss ich immer etwas künstlich erzeugen, habe ich das Gefühl. Das Unangenehme bleibt? Ich finde, das ist ein Vorteil. Nimm dir lieber ein beständiges Meditationsobjekt... Teilnehmer: Du hast jetzt zweimal die Zufluchtnahme in einer sehr subtilen Weise angeleitet, in einer

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Mahamudra-Sichtweise, wie man es auch in der Milarepa Puja nachlesen kann. Magst du darüber, wie sich das Verständnis des Zufluchtnehmens immer mehr verfeinern oder subtiler werden kann, wenn man immer mehr nach innen kommt, ein paar Worte sagen? Zunächst ist das Zufluchtnehmen wie das Einstellen des Lenkrades: „Da geht es lang, und ich geh' jetzt aufs Erwachen zu. Ich nehme Zuflucht zu Buddha, Dharma und Sangha; die Buddhas, die Erwachten kümmern sich um mich; ich nehme Zuflucht zu ihnen; ich habe Vertrauen in sie. Ich kann mich auf den Dharma stützen, ich habe Vertrauen in ihn. Und der Sangha, das sind die Lehrer, die ich kenne, die Praktizierenden, die den Weg schon wirklich tief kennen, auf die kann ich mich stützen.“ – Das sind notwendige Schritte, um klar zu kriegen, wo es für mich lang geht. Unter all den verschiedenen Wegen, die es gibt, ist es wirklich der Weg, den ich gehen möchte. Indem wir den Weg gehen, bemerken wir dann, dass es gar nicht um das Ziel geht, sondern darum, in uns Qualitäten zu entdecken, und die Zuflucht wird immer innerlicher, ist gar nicht mehr so außen. Oft hört man dann: „Der Weg ist das Ziel.“ Also die Bewegung selbst, das Gehen, das Sich-Öffnen, das ist die Praxis. Schließlich findet man heraus, dass alles schon da ist, dass es auch immer schon da war, und dass die ganze Vorstellung von einem Weg, den man gehen müsste, eigentlich hinfällig ist. Dann geht es nur noch darum, in der Zuflucht zu sein und gar nicht mehr darum, irgendwo hin zu gehen. Der Weg ist dann das Lassen von allen Vorstellungen über Zuflucht, über das Erwachen und Ankommen im einfachen Sein, im So-Sein. Ich glaube, so kann man das in ein paar Worten beschreiben. Teilnehmer: Ich bemerke ja erst, dass ich nicht gewahr bin, wenn ich schon verstrickt bin – das ist das Eine. Und das andere ist, dass ich dann auch nachts dann so träume, oder am Morgen wach werde, ohne dass ich was weiß, außer dass ich nicht gewahr bin und dann Stunden brauche, bis ich dann wieder auf der Spur bin. Gibt es da noch etwas an Hilfen? Immer dann wenn du es merkst, bist du gewahr. Dann brauchst du dir nicht nachträglich die vergangenen Träume oder das, wo Verstrickung war, anzuschauen, sondern nur bemerken, „Jetzt, ah! Bin wieder zurück, gerade jetzt“, und die Praxis geht weiter. Du brauchst nicht noch einmal zurückschauen. Wir schauen natürlich zurück, aber wenn wir bemerken, dass es immer dieselben Muster sind, die uns in Bewegung brin gen, dann können wir uns anschauen, was die Triebfeder ist; die Gefühle, die Emotionen, die hinter diesen Mustern sind. Der Moment, wenn wir es merken, ist der kostbare Moment, wo das Gewahrsein wieder da ist. Und dann ist es gut, sich zu freuen. Teilnehmer: Ich bin nicht so geübt in der Gehmeditation, aber ich habe festgestellt, dass es eine Methode ist, die mich sehr anspricht. Aber ich habe festgestellt, dass ich das Laufen – die Bewegung des Fußes auf der Erde – wie ein äußeres Objekt nutze. Und ich bin nicht so ganz sicher, ob das angebracht ist – wie wenn ich auf ein äußeres Objekt meditieren würde, statt auf den Atem eben auf diese Bewegung. Das geht natürlich, das ist eine gute Art und Weise anzufangen. So richtig spannend wird es, wenn du dann bei der Gehmeditation versuchst, die zu finden, die das beobachtet; wenn du den Blick – obwohl du gerade gehst – nach innen wendest: „Wer betrachtet das jetzt?“ Es gibt auch Zwischenformen, du kannst dir z.B. sagen: „Lass mich mal zum Fuß werden, zum Knöchel, ...“, aber selbst da wirst du merken, dass du dich wie innen drin, im Fuß, im Knöchel, positionierst und dann hast du deine Warte innerhalb des Fußes und es ist immer noch diese Trennung da. Aber probier' einfach aus, es geht doch einfach darum, dass es dir gut tut, und diese Achtsamkeit auf die vielen Empfindungen, die da beim Gehen entstehen, tut ja erst einmal richtig gut. Das ist so, wie wenn wir auf den Atem meditieren und den Atem wie ein äußeres Objekt betrachten – das machen die allermeisten Meditierenden, dabei ist der Atem bloß ein Anker für die Aufmerksamkeit. Man kann natürlich auch dauerhaft diese Dualität stärken, klar. Aber das weißt du ja schon, das spürst du schon. Ich denke nicht, dass du da stehen bleibst. Du wirst jetzt mehr und mehr entdecken, was in der Gehmeditation so alles möglich ist. Lass es sich einfach entwickeln. Teilnehmer: Du hast uns vor ein paar Tagen kleine Aufgaben gegeben, und hast einmal gesagt, dass man eine Stufe zurück geht, um bemerken zu können, wo das Denken herkommt. Da bin ich hängen geblieben. Da ist das Denken in Objekten, dann gehen da irgendwelche Bilder voraus, manchmal gehen Emotionen voraus, so habe ich es für mich gefunden. Wo kommt das her? Und dann fiel mir ein, wie das Gehirn aufgebaut ist ...

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Jetzt gehst du ins Spekulieren. Du warst schon in der Aufgabe, du hast gemerkt, „Ah, da gehen Gefühle voran“, wenn du aber anfängst, den Aufbau des Gehirns zu erwähnen, gehst du in angelerntes Wissen. Aber was ist denn da zu spüren? Es geht darum, das Gewahrsein zu schärfen, und du bist da schon in den vorbegrifflichen Bereich gekommen. Bleib doch ruhig ein bisschen dabei! Da gibt es so viel zu entdecken. Was ist da? Was ist da? – Vorher, bevor die Begriffe sich formen? Es gibt so viel Unterschiedliches. Auch vor den Bildern. Gibt es da immer was? Gibt es manchmal nichts? Entstehen Bilder aus sich heraus? Es geht darum mitzubekommen; keine Theorien anzufertigen, sondern so fein zu werden in der Beobachtung, dass wir es mitbekommen. Teilnehmer: Du sagtest heute Morgen, wir können uns, unseren Beruf, durchaus aktiv vergessen – wer ich bin, wo ich wohne, so. Das ist sehr hilfreich. Mal zu vergessen, welches Alter ich habe, welchen Beruf, welches Geschlecht, welche Nationalität, Kulturkreis, ... Im Zen gibt es den Koan: „Wer war ich, bevor meine Eltern geboren wurden?“ Im Tibetischen habe ich gehört: „Wer war ich vor der Empfängnis?“ Aber das lässt noch ein Schlupfloch offen, ich finde das vom Zen besser. Das lässt einfach: „Ah … Äh?“ Und das ist gut, da sind wir dann mit einem Gewahrsein, das sich nicht mehr identifizieren kann, an nichts mehr festhalten kann. Es braucht viel, sich nicht mehr so mit all diesen Rollen zu identifizieren, mit den Prägungen. Teilnehmer zum Denken: Bei mir ist es so ein Gefühl, dass ich versuche, einen Gedanken aktiv zu denken. Ich erzähle mir den Gedanken echt stückchenweise, habe ich so den Eindruck; dass ich mir den selber erzählen muss; dass das gar kein ganzer Gedanke ist, sondern in Bruchstücken zusammengesetzt und erzählt wird. Aber ich habe auch manchmal das Gefühl, dass durch das Mir-selber-Erzählen auch viel Erleben passiert. Ja, das ist ganz spannend. Während wir uns selber so langsam was erzählen, passiert ein Haufen anderes neben dem Erzählen, ums Erzählen herum. Achte mal darauf. Da passiert noch so viel. Die eigentliche Geschichte erzählt sich fast im Hintergrund. Und dann tatsächlich aber auch – als Ermutigung – kann dieses konstruktive begriffliche Denken schneller werden, flüssiger, und dann merken wir, dass wir konstruktiv denken können, ohne Begriffe zu benutzen. Es ist eine feine, sehr zeitsparende Entdeckung. Das geht nämlich viel schneller. Wir können innerlich ganz viel denken und verstehen, ohne Begriffe zu benutzen – das ist unglaublich. Teilnehmer: Soll ich dann aufhören, mir was zu erzählen? Mir gelingt das nicht so einfach. Nicht so sehr aufhören, sondern immer feiner hinschauen; immer hinschauen und so viel Geistesruhe zulassen, dass du wirklich mitbekommst, was da so alles los ist. In der Zahnarztpraxis saß ich einmal neben einem Aquarium. Es heißt ja immer, dass wir so fein werden, dass wir die ganz kleinen Fische in unserem Geist mitbekommen. Und tatsächlich braucht es eine Weile, auf so ein Aquarium zu schauen. Zuerst sieht man die großen Fische; dann sieht man die kleineren; dann sieht man feine Trübungen; dann sieht man welche, die dabei sind den Boden sauber zu machen, die sind so gut getarnt, dass sie einem zuerst gar nicht auffallen; und dann sieht man ihre Nahrung da herumschwimmen. So ist es auch mit unserem Geist. Wir sehen dann feine Bewegungen, und wir sind dann mit der Zeit nicht nur Beobachter sondern können in diesen Geistes bewegungen auch denken, kreativ sein, und brauchen das nicht immer so in Begriffe zu kleiden. Teilnehmer: Ich merke, dass vieles bei mir über Bilder läuft – das ist doch auch eine Form von Denken – ein bildhaftes Denken, das ist kein begriffliches Denken. Die Bilder haben für mich irgendwie eine Bedeutung, aber ich habe das Gefühl, sie sind freier als Begriffe, die stärker geprägt sind. – „Das ist das und das.“ Die Bilder können mehr spazieren gehen. Ich erlebe viel über Bilder, die tauchen auf – heute war das Samenkorn da –, dann hat sich das entwickelt und ich merke „Das ist das Bodhicitta-Samenkorn und ich werde es hüten, ich werde ihm Humus geben“, und so fängt sich das an zu entwickeln aus einem Bild – eine SamenkornBodhicitta-Meditation. Anfangs weiß ich gar nicht, worauf ich mich einlasse, und dann merke ich: „Das stimmt für mich, das ist gut“. Das war jetzt ein bisschen durchmischt mit Begriffen, aber lasst uns das doch mal nehmen.

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Übung mit inneren Bildern Einfach für diejenigen, die das nachvollziehen möchten: Stellt euch mal vor, da wäre so ein Samenkorn im Boden, in einem wunderbaren Boden. Ich bleibe extra vage, damit die Vorstellungen in eurem Geist ent stehen. Lasst mal aus diesem Samenkorn in eurer Vorstellung eine Pflanze wachsen. – Und noch größer. – Wenn ihr es gesehen habt, dann macht die Augen wieder auf. Es geht unglaublich schnell, nicht wahr? Da können wir uns ein Samenkorn vorstellen, das bricht durch die Erde durch, dann entfalten sich die Blätter, die Blüten. Es kann inzwischen schon ein Mammutbaum gewor den sein. Das haben wir nicht begrifflich gedacht, das war eine lebendige Vorstellung. Das war Bilderdenken. Wollen wir das auch mit Klängen machen? In Klängen denken? Komponieren? Komponiert doch gerade einmal irgendeine beliebige Klangfolge. – Ihr braucht sie nicht zu behalten, nur entstehen lassen. – Jetzt nehmt noch eine zweite Stimme dazu, vielleicht einfach eine Rhythmusstimme. – Die, die fertig sind, können die Augen aufmachen. Irgendetwas gehört habt ihr, nicht? Es war vielleicht ein bisschen anspruchsvoll, aber es ist möglich, in Geräuschen, in Klängen, musikalisch zu denken. Habt ihr das gemerkt? Klang-Denken. Wollen wir auch Geruchs-Denken machen? Lasst mal verschiedene Gerüche entstehen. – Okay. Wie ging das? – Teilnehmer: Gar nicht! – Gut! – Einige gut, einige gar nicht – wenig geübt. Das ist etwas, was wir wenig üben, wenig nutzen. Aber jetzt Fühl-Denken, Körperspür-Denken. Lasst mal vorgestellte Körperempfindungen entstehen, als ob euch jemand auf dem Rücken kratzen würde, oder streicheln, oder was auch immer. – Oder stellt euch vor, ihr macht eine Anstrengung, ohne eine Anstrengung zu machen. – Okay. Wie ging das? Einfacher, nicht wahr? – Teilnehmer: Als ich mir die Anstrengung vorstellte, da schlug mein Herz schneller. Ja sieh mal an, so wirklich wirkt das. So ist es im Traum. Im Traum schlägt plötzlich das Herz schneller, der Körper reagiert mit, obwohl wir nur in einer vorgestellten Aktivität sind. Teilnehmer: Körperempfindungen und die Gerüche habe ich oft mit Bildern gekoppelt. Da ist oft etwas Visuelles dabei. Ich habe mir vorgestellt, ich mache eine Anstrengung, und plötzlich sah ich mich die Anstrengung machen. Da geht das Visuelle mit dem inneren Gefühl zusammen. Es gibt Menschen, die können symbolisch denken. Es gibt Mathematiker, die brauchen Formeln nur zu sehen, die brauchen sie sich nicht vorzulesen; sie verstehen sie, wenn sie sie nur sehen. Aber ihr versteht auch Symbole. Stellt euch z.B. vor, euch wird eine rote Rose überreicht, ein klassisches Symbol … eine Lotusblüte, die aufgeht … oder, oder … ein Kreuz ist in unserer Kultur ein wichtiges Symbol. Jetzt nehmen wir etwas, das Gefühle auslöst. Stellt euch einen wunderbaren Sonnenaufgang vor, was für Gefühle da entstehen. – Okay, danke. Diese Kraft des vor-begrifflichen Denkens in Symbolen wird im Vajrayana genutzt, in diesen vielen vielen Heilvisualitationen des tibetischen Buddhismus. Das sind alles heilsame Vorstellungen. Ich würde euch gerne noch viel mehr darin einführen, aber es besteht die Gefahr, dass es zu sehr vom Wesentlichen ablenkt, wenn man beginnt, sich mit solchen Dingen zu beschäftigen. Im Moment sind wir mit diesen Mahamudra-Kursen noch dabei, die Geistesprozesse kennen zu lernen, tiefer gewahr zu werden. Aber irgendwann kommt der Punkt, wo wir Lust haben, unseren Geist einzusetzen, ihn zu benutzen; ihm eine Richtung zu geben und seine Kräfte zu nutzen, um weitere Räume aufzustoßen. Darüber kann ich euch jetzt sprechen, weil wir schon einige Tage im Retreat sind. Die meisten von euch haben sich so erholt, dass jetzt der Wunsch spürbar wird, den Geist kreativ zu nutzen, um weitere heilsame Räume aufzustoßen. Das ist etwas ganz Natürliches, denn der Geist ist kreativ und wir können jede mögliche Richtung einschlagen oder sein lassen. – Später mehr dazu. Teilnehmer: Ich erlebe das als etwas großartig Befruchtendes, sich gegenseitig Befruchtendes, ... Mahamudra-Praxis ist eigentlich untrennbar vom Nutzen dieser Kreativität. Mahamudra und tantrischer

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Buddhismus gehen eigentlich zusammen; oder Mahamudra und die Sechs Yogas – wo wir mit den Energien arbeiten, die wir immer über Visualisationen stimulieren. Wieso da stehen bleiben im nur Beobachten und Gewahr-Werden? Wir können es doch nutzen. Unterrichten ist auch so ein Prozess. Unterrichten ist ein kreativer Prozess, innere Erfahrung in Symbolen auszudrücken. Die Symbole sind in dem Fall Worte und manchmal Gesten. Aber das ist Symbol; begriffliche Sprache benutzt Symbole, Gleichnisse, tut Assoziationswelten auf. Das tut gut. Meditation Vielleicht möchten einige von euch noch subtiler hinschauen. Gar nicht so sehr auf die Geistesbewegungen, mehr vielleicht auf die Stimmungen; die Gefühle, die gerade so da sind, das Gestimmtsein. – Wie macht sich das eigentlich bemerkbar? – Woran bemerke ich eine Stimmung? – Was löst das Geräusch des Regens in mir aus? – ***

Die Vier Arten des Kultivierens von Gewahrsein Als der Buddha die Vier Arten des Kultivierens von Gewahrsein unterrichtete, hat er mit den so genannten Formen begonnen. Dabei geht es darum, die Gestaltungen mitzubekommen, wie sie sich in den Sinneswahrnehmungen vollziehen: körperliche Erfahrungen, Hör-Erfahrungen, Seh-Wahrnehmung, Geruchs- und Geschmacks-Wahrnehmung – die fünf äußeren Sinne. Dann wendet sich die Aufmerksamkeit dem inneren Gestalten zu. Das kann man Gefühle nennen; je nach Abhidharmaschule gehören die Gedanken entweder noch zu den Formen oder schon zu den geistigen Gestaltungen. Das sind die ersten beiden Schritte: körperliche Gestaltungen über die äußeren Sinne – das wird alles mit dazu gerechnet – und geistige Gestaltungen; klar wahrnehmbare Geistesbewegungen. Die dritte Art des Kultivierens von Gewahrsein bezieht sich auf den Geist. Dabei stellte der Buddha Fragen: Ist der Geist eng oder ist er weit? Ist er frei, oder fühlt er sich gefangen an? Ist er hoch gestimmt oder trau rig? Er stellte diese Fragen in Gegensatzpaaren, die eine Spanne auftun. Und so merken wir: „Ah, manchmal bin ich so gestimmt und manchmal so.“ Das Hören des Regens zusammen mit einer Veränderung in der Atmosphäre mag ein Gefühl der Frische auslösen, oder ein Gefühl von Trauer. Das sind Stimmungen, die da entstehen. Die Gedanken, das sind die geistigen Gestaltungen, aber da ist subtiler noch etwas anderes im Gange, und aufgrund dieser Stimmungen, dieser Verschiebungen im Grundgefühl – das kann recht schnell gehen, Stim mungen können innerhalb von Sekunden wechseln – kommt es zu bestimmten Formen des Denkens. Typische Gedanken erheben sich: ärgerliche Grundstimmung – es ist ganz klar, was für geistige Gestaltungen sich da erheben. Freudige Grundstimmung – plötzlich sieht man alles mit einer rosaroten Brille. Verliebte Grundstimmung, … das ist nicht unbedingt eine Geistesbewegung. Trauer ist nicht eine Geistesbewegung, es ist eine Grundstimmung. Da findet ganz viel statt aufgrund dieser Stimmung. Die Erfahrung von befreitem Sein, von freiem Sein ist nicht eine Geistesbewegung. Es ist zum Teil die Abwesenheit von dem, was vorher war. Ein freies Fließen-Können, dieses fließende, gelöste Gefühl – das sind keine Geistesbewegungen, das sind Stimmungen. Die vierte Grundlage der Achtsamkeit – so wurde es früher übersetzt – die vierte Übung im Kultivieren von Gewahrsein ist, die Dharmas, die Zusammenhänge, zu sehen; wie der Geist eng wird, wie er sich öffnet, wie das alles stattfindet. Die Zusammenhänge, die Ursache-Wirkung-Beziehungen zu sehen, nannte der Buddha Gewahrsein der Dharmas, der Gesetzmäßigkeiten. Mit all dem waren wir all die Tage befasst. Es geht nicht nur um das bloße Beobachten, sondern eben auch um das Sehen, wie sich eins aus dem anderen ergibt, wie eins mit dem anderen zusammenhängt. Und dadurch entsteht Verstehen.

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Teilnehmer: Eine konzeptuelle Frage, die mir nicht ganz klar ist: Was genau ist der sechste Sinn, was ist der Unterschied zu „den Geist beobachten“, was ist da drin und was ist nicht drin? Wenn ich über die Sinne spreche, dann ist im sechsten Sinn immer alles drin: das ganze geistige Gestalten, die Gefühle, die Stimmungen, das ist alles mit drin. Ich nutze meistens diese Art, um in die Praxis einzu führen. Das sind der zweite und der dritte Schritt zusammen – das ist einfacher. Die Beschreibung ist feiner, wenn wir zwischen den Geistesbewegungen und diesen Stimmungen unterscheiden, die nicht einzelne Bewegungen sind. Es ist präziser. Aber wenn wir sagen „Schau in den Geist“, dann ist all das zusammen gemeint. Teilnehmer: Grundstimmungen sind ja ganz fein – ich habe das Gefühl, ich mache aus einer Mücke einen Elefanten. Da ist etwas Feines da, dann kommt ein Denken, ein Interpretieren – es kann auch ein Miss interpretieren sein – und plötzlich ufert das aus, ... Genau. Das kann immense Auswirkungen haben. Wenn wir uns dessen nicht bewusst sind, kriegen wir nur die Reaktionen, die Gedanken mit und wir merken gar nicht, in was für einer Grundstimmung wir sind. – Es ist unglaublich, was z.B. eine Grundstimmung von Abwehr oder eine Grundstimmung von „Lass mich in Ruhe“, Bedürfnisse oder Ängste, die als Stimmung mitschwingen, in der zwischenmenschlichen Beziehung alles bewirken können. Und das sind nicht einzelne Gedanken – die kommen dann auch, die sind typischer weise auch vorhanden –, man wundert sich, warum so viele ähnliche Gedanken auftauchen. „Wenn mich der nicht nervt, dann nervt mich der“, etwa so. „Heute bin ich mit dem falschen Fuß aufgestanden“ – so etwas ist mit dieser Stimmung gemeint. Teilnehmer: Wenn ich oft viele Gedanken habe, merke ich, dass ich müde bin oder wenn ich auf die Stim mung schaue und merke, dass ich traurig bin, dann wird es leichter, sie beruhigt sich. Es ist enorm hilfreich, die Stimmung zu bemerken; das befreit uns zunächst einmal aus dem unbewussten Einfluss der Stimmung, der Gemütslage. Und dieser Grundstimmung gewahr zu sein bewirkt etwas; oft verändert sie sich dadurch; sie beruhigt sich, so wie du es beschreibst, und dann kommt schon das Nächste. Stimmungen, die wir nicht bemerken, dauern meistens etwas länger als die, die wir bemerken. Teilnehmer: Grundstimmungen kann man beeinflussen. Ich war Hauptschullehrerin und da ging es ziemlich heftig zu, Brennpunktschule. Ich habe auf dem Weg zur Schule – ich bin da 20 min gelaufen – LiebendeGüte-Meditation für mich selber gemacht und kam ziemlich entspannt in der Schule an. Ich habe alles, was da gleich passiert – Zu-spät-Kommen oder mit Wütend-Reinkommen –, viel besser ausgehalten. Und tatsächlich haben die mich nach einem halben Jahr gefragt, was denn mit mir los ist, ich hätte mich so verändert. Da habe ich ihnen erzählt, dass ich auf dem Weg zur Schule meditiere. Da sind sie ganz still geworden, und eine Schülerin hat dann gefragt: „Denken Sie dabei dann auch an uns?“ Das Wichtigste, was du uns an deinem Beispiel sagen willst, ist: „Stimmungen kann man beeinflussen.“ Das wäre dann der nächste Schritt. Wir sehen wie Stimmungen entstehen und dann können wir Stimmungen auch beeinflussen, wir sind gar nicht gefangen in unseren Stimmungen. Und da ist das Arbeiten mit Vorstellungen unglaublich hilfreich. Du hast eine kontemplative Übung gemacht. Mit liebevoller Güte zu arbeiten, das sind Stimmungs-beeinflussende Bilder, Gedanken. Meistens ist es nicht so hilfreich, über das begriffliche Denken zu kommen; es ist hilfreicher, über Stimmungs-erzeugende, Stimmungs-unterstützende Bilder zu gehen. Teilnehmer: Da kommt mir die Innere-Kind-Arbeit in den Sinn. Was ist ähnlich und was ist anders bei der Arbeit mit den inneren Stimmungen und der Arbeit mit dem inneren Kind, was ja auch um Aspekte geht, zu denen ich mich irgendwie heilsam in Bezug zu setzen trachte? Es ist als Erstes naheliegend, dass bei dieser Arbeit mit dem inneren Kind der aktive Teil die Haltung der Eltern einnimmt, die fürsorgliche innere Haltung, wodurch in uns aufgrund dieses Gestimmtseins diese Qualitäten beginnen gestärkt zu werden, und gleichzeitig bekommt der traurig gestimmte, ärgerliche Teil die volle Zuwendung. Das ist wie eine Übung, mit zwei Stimmungen gleichzeitig arbeiten zu können, hin und her gehen und beides halten zu können, sodass sich das allmählich integriert und eine sehr heilsame Ent wicklung nimmt. Sonst würden wir uns in der einen Stimmung festsitzen, mit den Gefühlen, die mit dieser Grundstimmung verbunden sind. Teilnehmer: Aber du kannst ja auch ein Bild dazu haben, das das auf ganz stimmige Art und Weise aus -

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drückt, so wie ein Symbol, das kannst du auch für dich nehmen. Zum Beispiel hatte ich letztes Jahr ganz viel mit Angst zu tun, und dann habe ich mir immer vorgestellt, ich sitze und meditiere in Tara, ich sitze in ihrem Bauch: Sie ist schwanger, und ich sitze da drin. Das geht wunderbar, das kann man auch nehmen, weil es das ausdrückt. Teilnehmer: Ich hatte heute früh so eine Vorstellung von all meinen inneren Kindern so als ein friedlich schlummerndes Rudel junger Hunde unter dem Schoß von Tara. Das hat sich sehr heilsam angefühlt. Ja, das sind Bilder, Vorstellungen, die Auswirkungen haben und unsere Art da zu sein, eindeutig verändern. Wir sind ganz anders da aufgrund dieser Vorstellungen. Man hört ja immer wieder: „Warum diese Vorstellungen nutzen, das ist doch was Künstliches?“ Ja, es ist etwas, das wir bewusst gestalten, insofern ist es künstlich. Aber das unbewusste Gestalten unserer Welt läuft ständig ab. Wenn wir dann nicht im Gestalten wären, dann könnte ich das Argument ja noch verstehen. Aber wir sind ja ständig dabei zu gestalten, und mit wenig bewussten, unbewussten Vorstellungen von Freund und Feind, „mag ich“ oder „mag ich nicht“, die Welt zu gestalten. Und wenn das ohnehin der Fall ist, dann kann man es auch geschickter machen, nicht wahr? Denn das scheint ein ganz natürlicher Prozess zu sein. Teilnehmer: Wie passt das mit dem, was Milarepa in dem Lied gesagt hat, dass die hinführenden Methoden des Mahayana – die Praktiken mit den Körperenergien und Tantra und all das – Hilfsmittel sind, um Mahamudra zu verstehen? Sind sie. Aber du meinst jetzt, Mahamudra führt logischerweise dazu, dass man mit Vorstellungen arbeitet; dass man also zum Vajrayana kommt. Oder habe ich das falsch verstanden? Es ist beides. Wenn du Mahamudra verstehen willst, kannst du diese Hilfsmittel benutzen, und wenn du anderen Mahamudra vermitteln willst, dann nutzt du sie wieder. Wir nutzen diese vielen Möglichkeiten sowohl auf dem eigenen Schulungsweg als auch, wenn wir dann zum Wohle anderer aktiv werden; dann nutzen wir diese Mittel eben auch. Aber nicht mehr für uns. Ja, dann nutzen wir sie für die Situation als Ganzes. Z.B. hat mir diese Atemübung – ich habe die Vasenat mung früher sehr intensiv praktiziert – unglaublich geholfen, um ins Mahamudra reinzufinden. Ihr merkt ja, dass allein das bisschen Reinigungsatem schon eine klärende, belebende Wirkung hat. Er hilft den Geist zu öffnen, ist Methode. Man kann die verschiedenen Mittel, Methoden, die uns zur Verfügung stehen, so anwenden, dass sie nicht das Wollen sondern die Öffnung verstärken; dass sie also nicht die Ich-Bezogenheit verstärken sondern das Lassen, das Vertrauen. Es kommt sehr darauf an, wie wir die Methoden anwenden. Deswegen ist es eben Methode: Eine Methode ist nicht aus sich heraus effizient in nur eine Richtung, es kommt immer darauf an, wie sie angewendet wird. Dieselbe Atemmeditation, die wir machen, kann auch kontraproduktiv sein, wenn man sie mit starkem Wollen anwendet. Oder sich selbst als Tara mit Selbstüberhöhung zu visualisieren – „Wow! Jetzt bin ich Tara!“ – ist kontraproduktiv. Es kommt immer darauf an, wie. Die Haltung ist ganz wesentlich, dann kann man Methoden sinnvoll einsetzen.

Morgenmeditation:

Lass den Buddha in dir meditieren

Wir sammeln innerlich unsere Motivation. Wir richten uns aus, zum Beispiel mit der Frage: „Worum geht’s mir jetzt? Worauf möchte ich während dieser Stunde achten?“ – Für die, die das möchten, schlage ich vor, dass wir noch einmal die Atemübung machen. Dabei können wir darauf achten, dass wir – obwohl wir sie energisch ausführen – zugleich entspannt sind – eine entspannte Kraft. – Wenn es in den Unterweisungen heißt: „Lass den Buddha in dir meditieren“, was bedeutet das eigentlich? – Wie würde ich als Buddha sitzen? Fühlt doch einmal hinein in euch, welche Sitzhaltung bei einem freien, würdevollen, mutigen oder furchtlosen inneren Geist für euch spürbar wird. Wie drückt sich das in der Hal-

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tung aus? – Wenn wir den Buddha in uns meditieren lassen, wie wirkt sich das auf die Schultern aus ... auf den Bauch … aufs Becken … auf den Nacken? – Ganz offen im Strom des Erlebens, offen auch im Körper. – Wie fühlt es sich an, wenn wir dieses lebendig-offene Sein in allen Wahrnehmungen zulassen? – Wir haben keine Rolle zu spielen, wir brauchen niemand Bestimmtes zu sein. – Spüren, hören, sehen, riechen, schmecken, wahrnehmen – alles ohne Extra-Schlaufen, ohne Komplikationen. Wir erlauben uns, ganz wir selbst zu sein; so wie wir sind, wenn wir frei sind. – Wahrnehmungen, Gedanken, vor-begriffliche geistige Bewegungen, nicht-begriffliches Spüren – all das taucht auf: abhängiges Entstehen. … Wir brauchen gar nichts zu tun. – Vielleicht läuft die Nase, vielleicht müssen wir husten – all das ist abhängiges Entstehen; ohne dass wir es zu benennen bräuchten. – Über unsere Sinne sind wir offen verbunden mit allem. Wir brauchen gar nichts damit zu tun. … Die Vorstellung des Getrenntseins hat ein Ende. – Und dieses selbe lebendige Gewahrsein begleitet uns durch die Pause hindurch. – GONG Und falls es in irgendeiner Weise anstrengend war, sich als Buddha zu spüren, dann schmunzeln wir darüber. Wo kam sie denn her, die Anstrengung? Vielleicht war ja auch keine da? – Furchtloses Sein in dem, was ist. Jetzt möchte ich euch mit einem weiteren Aspekt vertraut machen von dem, was zum erwachten Gewahrsein dazu gehört: mit all dem, was auftaucht, bleiben zu können. Wir sind, wir sitzen jetzt gerade – wir könnten auch stehen. Ich lade euch ein, immer mit dem, was gerade bedingt erscheint, zu verweilen und gar nicht woanders hin zu gehen; immer mit dem, was gerade auftaucht, zu sein; gerade so, wie es ist. – Das furchtlose Sein in dem, was gerade ist. Dabei entsteht ein tieferes Verstehen ganz von selbst. – Was immer das bedingte, abhängige Entstehen gerade hervorruft; alles ist willkommen, bei allem, in allem verweilen wir. Jedes Erleben ist recht. – Körperempfindungen erleben ohne weg zu zucken, ohne irgendwo anders hinzugehen; frei von Ergreifen und frei von Ablehnen. – Das Gleiche gilt für alle anderen Sinneserfahrungen. – Gefühle, Stimmungen. – Neues Erleben kommt unablässig, ganz von selbst. Wir brauchen ihm nicht das geringste Bisschen entgegen zu eilen. – Das Erleben von gerade eben ist schon längst vorbei. Wir brauchen es nicht festzuhalten. Wir brauchen uns nicht extra noch einmal daran zu erinnern. – Voll und ganz erleben, was ist und wie es ist. – *** Entspannt verweilen und gestalten Beim Üben haben wir recht wenig gestaltet. Wir haben uns hingesetzt. – Wir haben gestaltet, wie wir uns hingesetzt haben, die Körperhaltung; oder wie wir uns hingestellt haben. Dann haben wir einfach angenommen was ist, wir waren – und sind jetzt noch – im Erleben, wie es ist. Wenn wir jetzt in die Hauptpraxis gehen, dann kommt das Gestalten mit hinzu, wir werden viel mehr gestalten. Wir lenken unsere Schritte, wir treffen Entscheidungen, was wir essen möchten; wir gestalten unser Frühstück. Wir wählen aus, wo wir uns hinsetzen, wie wir uns ausrichten. Wir gestalten dann die Zeit des Aufräumens, des Putzens. Vielleicht haben wir auch die Möglichkeit, einen Spaziergang zu machen. – Wir gestalten. Dieses Gestalten findet statt im Rahmen des abhängigen Entstehens. Mit dem Gestalten geht manchmal die Illusion einher, wir könnten unser Leben so gestalten, dass es uns dann auch wirklich perfekt entspricht. Und dann braucht es wieder die Übung, genau in dem Erleben zu bleiben, das gerade da ist; dieses entspannte Fließen mit dem Erleben; zulassen, was sich dann neu gestaltet und mit derselben Entspannung, wie wir das Erleben annehmen weiter gestalten. Das ist diese große Herausforderung, wenn wir in die sogenannte Aktivität gehen. Wir praktizieren nicht einfach nur dieses Annehmen von dem was ist, sondern gleichzeitig ein Gestalten. Wir sind ja aktiv in dieser Welt, wir sind in dem Mo ment, wo wir jetzt aufstehen, sehr viel stärker selber eine Bedingung. – Da sind viele Kräfte in uns aktiv, durch die unser Erleben mitgestaltet wird, und das Erleben der anderen. Gleichzeitig braucht es das Verwei-

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len-Können in dem, was ist, ohne zurück zu zucken, ohne weg zu laufen, etwas anderes zu wollen. Wir spüren vielleicht „Ah, das könnte noch hilfreicher so oder so sein“, und dann gestalten wir weiter und schauen, ob das entsteht – in Abhängigkeit von Bedingungen. Bei allem was entsteht, bei allem was auftaucht, bleiben wir gewahr, dass es diese nicht fassbare Qualität hat; dass wir nicht unbedingt kämpfen müssen. Das brauchen wir eigentlich gar nicht. Wir können, wenn es uns möglich ist, sinnvoll weiter gestalten. Das ist kein Kampf. Wir schauen, ob sich im Rahmen dieses abhängi gen Entstehens eine förderliche, weitere Bedingung ergeben kann, eine weitere Situation ergeben kann. Und darin bleiben wir in diesem ganz offenen, gewahren Sein; ganz offen, aber eben auch unserer Möglichkeiten zu gestalten gewahr. Diese Möglichkeiten nutzen wir mit derselben entspannten Haltung, wie wir dann die Auswirkungen auch wieder annehmen; die Auswirkungen unseres Gestaltens und die Auswirkungen des Gestaltens der anderen; z.B. dass sich gerade jemand dort hinsetzt, wo wir uns haben hinsetzen wollen. Weiter fließen, weiter fließen – das sind Sinneswahrnehmungen, die abhängig entstehen, und wir gestalten weiter und schauen nach dem nächsten Ort, wo wir uns hinsetzen können. Genau da kommen Aktivität und Meditation zusammen. Im Meditieren wird die Fähigkeit geübt, ganz im Erleben zu bleiben, ohne zu ergreifen und abzulehnen, und jetzt geht dies aber ins Gestalten hinein. Im Gestalten sind wir unglaublich versucht, wieder ins Greifen zu kommen, weil Gestalten sich mit einer Idee verbindet, wie etwas sein sollte. Und genau diese Idee im Gestalten schon wieder loszulassen und neugierig zu sein: „Na, mal schaun was dabei jetzt rauskommt; mal schaun, wie das ist“, und dann darin flexibel weiter zu gestalten, das ist die Kunst entspannt zu bleiben in der Aktivität. Schaut, ob ihr das jetzt in den anderthalb Stunden des Gestaltens beobachten könnt. Guten Appetit!

Mahamudra: Sicht, Meditation und Aktivität Die Zuflucht, unsere Ausrichtung ist in der Stille von selbst entstanden. Es braucht eigentlich gar kein Gebet. Manchmal ist es gut, zur Unterstützung noch ein Gebet zu rezitieren, aber dadurch, dass wir jetzt so gewohnt sind hineinzufinden, richtet sich – kaum dass die Stille einkehrt und wir in Erwartung einer Unterweisung oder der Praxis sind – unser Geist aus; und da ist sie, die Ausrichtung. Einige höre ich innerlich wie Zuflucht nehmen, einige höre ich das Mantra der Grünen Tara singen, dann höre ich Guru Rinpoche, … das sind verschiedene Arten und Weisen sich auszurichten. Einige erleben, spüren einfach nur Gewahrsein. … Und da ist sie, die Ausrichtung. Das ist es, worum es geht: zu spüren; man braucht gar nichts zu tun. Und dieses Spüren – „Man braucht gar nichts zu tun.“ – das ist eine ganz tiefe, authentische Ausrichtung, die wir da erleben. Wenn wir wirklich den Mahamudra-Weg gehen – ich würde diesen Ausdruck übersetzen als den Weg des natürlichen Seins, des einfachen, frischen, gelösten Seins –, dann braucht es den Mut, die Dinge immer wieder anders zu machen. Das natürliche, lebendige Sein ist eben einfach lebendig. Unsere Schubladen gehen nicht so gut mit diesem natürlichen Sein zusammen; die Vorstellung, dass man etwas machen muss, damit man es 'richtig' macht. Wie nehme ich richtig Zuflucht? Das ist immer wieder neu. Und immer dann, wenn es die Auswirkung hat, diesen Geistesstrom zu öffnen für das, was wesentlich, was hilfreich ist, dann war es wohl richtig. Im Leben wiederholt sich nichts. Es gibt nichts, das auf die identische Art und Weise ein zweites Mal geschieht. Das gibt's nicht. Diese Welt hat schon Millionen von Sonnenaufgängen erlebt, aber keiner war wie der andere. Wir haben schon millionenfach eingeatmet und ausgeatmet, aber kein Einatem, kein Ausatem war wie der andere. Dafür offen zu sein, sich diesem immer Neuen wirklich zu öffnen, Teil davon zu werden und es zu genießen, das ist es, was wir Freude nennen – die Freude des Seins. Wenn diese Freude ganz frei ist von Anhaften, dann nennt man sie sogar große Freude – nicht, weil sie groß wäre, sondern weil sie leer ist; weil es niemanden gibt, der sie besitzt. Jede Freude, die von jemandem besessen wird, die von jemandem erlebt wird, die jemand hat, ist eine kleine Freude. Es heißt von Mahamudra-Praktizierenden, dass sie in jeder Situation die Natur des Geistes praktizieren. Was

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bedeutet das eigentlich? Kann man da was praktizieren? – Schon? – Teilnehmer: Veränderung Ja, man kann der Veränderung gewahr sein, des immer wieder Neuen, des Frischen. Solange es noch jeman den gibt, der gewahr ist, ist das eine Annäherung an Mahamudra. Bei vollem Gewahrsein ganz und gar darin aufzugehen, ohne in dieses Ergreifen und Ablehnen hineinzutaumeln, hineinzutrudeln, das ist dann Mahamudra. Mahamudra ist Gestalten, so wie wir es heute am Ende der Morgenmeditation schon hatten. Um Mahamudra zu verstehen, ist wichtig zu verstehen, dass Mahamudra Gestalten, Aktivität, bedeutet. Aus früheren Erklärungen kennt ihr die drei Schritte von Mahamudra: Sicht, Meditation, Aktivität. Wir haben in diesem Retreat viel Zeit mit der Sicht verbracht – irrtümliche, täuschende Sichtweisen aufzulösen, und nicht eine neue Sicht zu entwickeln, sondern eine frische Sicht; die Sicht des 'Immer grade so, wie es ist', ohne im Vorhinein zu sagen, wie es zu sein hat. Dieses Schauen, das von allen Brillen und allen Scheuklappen entledigt ist, nennt man Sehen. Es ist ein Sehen ohne Mittelpunkt; insofern ist es kein Sehen im Sinne, wie wir mit den Augen schauen. Es ist nicht ein Sehen von hier nach da. Es ist ein Erleben, ein Sein, in dem tatsächlich – wenn man es dann ausdrücken möchte – ein Verstehen entsteht. Wir sehen und ver stehen, aber das ist die dualistische Sprache. Mit dem Sehen haben wir ganz viel Zeit verbracht im Retreat. Im Mahamudragebet des 3. Karmapa heißt es: „Meditieren ist, in der Sichtweise zu verweilen“, die Sicht in die Meditation einfließen zu lassen. Damit ist keine bestimmte Sicht gemeint, wie es zu sein hat, sondern dieses Nicht-sehen-Können von irgendetwas. Wir könnten das eine bodenlose Meditation nennen, eine Meditation, die sich von Bezugspunkten befreit. Die klassischen Bezugspunkte sind Ich und Du, Geist und Erscheinung als getrennt; aber auch das Verweilen-Wollen irgendwo im Erleben, irgendwo; einen klaren Bezug zu haben, um zu existieren. Weil es einen Bezug gibt, bin ich in Bezug, und deswegen gibt es mich. Das loszulassen und in der Sicht, in der Schau des Nicht-zu-Schauenden zu verweilen, das ist die Meditation des Mahamudra. Das haben wir viel geübt; ich habe versucht, es mit einfachen Worten immer wieder anzu deuten. Ich habe es oft 'ganz im Erleben sein' genannt. Heute Morgen habe ich versucht, mit euch noch einen Schritt mehr zu wagen: ganz im Erleben zu bleiben, auch gar nirgends irgendetwas zu suchen – egal ob angenehm oder unangenehm –, immer in dem gerade sich vollziehenden Erleben zu sein. Totale Annahme von allem, was es zu erleben gibt, und zwar genau wie es ist. Dieses totale Annehmen, Sein – ganz wach – führt zu dem, was wir intuitives Erkennen nennen, intuitive Einsicht. Intuitiv wird etwas klar. Es wird aus der persönlichen Sicht immer klarer, dass es ungefährlich ist, einfach zu sein; dass es ungefährlich ist, niemand zu sein. Mit der Zeit wird sogar klar, dass es ein Geschenk ist. Und dann wird klar, dass es weder Geschenk noch Gefahr ist, dass es immer schon so war und immer so sein wird – egal ob wir es merken oder nicht. Wir sind jemand und wir sind niemand, und dieses scheinbare Paradox ist überhaupt keines, denn wir können nur jemand sein, weil wir niemand sind. Ja! Weil nichts von dem, was wir erleben, wirklich Substanz hat, können wir tatsächlich leben; können wir immer wieder frisch, neu, jemand sein. Und dieser Jemand, der sich jetzt gerade formt und der jetzt gerade z.B. zuhört oder unterrichtet, kann so lebendig sein, weil nichts von dem, was den Jemand von gerade eben ausgemacht hat, irgendeine Substanz hat. Das ist das Wunder des Lebens. Wir können nur deswegen ein lebendiger Jemand sein, weil sich ohnehin alles immer auflöst. Ich und Du, wir können nur deswegen so frei erleben und immer wieder neu, weil das, was wir vorher erlebt haben, abtritt, sich auflöst. Das ist dieses oft missverstandene Zitat „Leerheit ist Form, Form ist Leerheit“, die meisten Leute lesen gar nicht weiter, was danach kommt. Nur weil es Leerheit gibt, gibt es Form; nur weil es Formen gibt, gibt es Leere. Und das bezieht sich auf Empfindungen, auf Wahrnehmungen, auf alle fünf Skandhas. Etwas kann nur deshalb erlebt werden, weil es keine Substanz hat; nur deshalb. Sonst könnte sich keine Dynamik vollziehen. Eine Pflanze könnte nicht wachsen, wenn der Zustand des vorherigen Wachstumsstadiums in irgendeiner Form stabil wäre, dinglich wäre. Es ist alles Dynamik, und während eine Pflanze wächst, wächst sie in allen ihren Teilen. Alle Zellen sind in einer Dynamik. Nur weil alles Dynamik ist, kann Wachstum stattfinden. Und weil alles Dynamik ist, kann Zerfall stattfinden. Nur weil alles Dynamik ist, kann Leben stattfinden. Sterben ist nur ein anderer Aspekt des Lebens. Deswegen heißt es: „Weil alles leer ist, entstehen Formen, gibt es Wahrnehmungen“. Es ist die Begründung, es heißt nicht „Obwohl alles leer ist, …“ Nein! Es geht gar nicht anders. Weil alles diese dynamische Natur hat, deswegen gibt es Erleben;

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deswegen gibt es Gewahrsein. Das verstehen wir mit der Zeit. Das Wunder des Lebens ist überhaupt nur möglich, weil eben nichts dinglich ist in dem Sinne von abgegrenzt, für sich existierend. Alles ist miteinander verwoben in einer ständigen Dynamik. Und das ist in unserem Geist halt so, wie es ist. Das war immer schon so – ob wir es erkannt haben oder nicht – und das wird immer so sein, da können wir gar nichts dran ändern. – Ein Glück! Zu erwachen bedeutet, genau das zu bemerken, zu verstehen und dann zum Wohle aller zu nutzen. Bodhicitta bedeutet, in diesem Gewahrsein zum Wohle aller zu gestalten – da ist, wo das liebevoll mitfühlende, wohlwollende Bodhicitta zusammen mit dem Verstehen ins Wirken hinein fließt. Das Wirken ist immer ein Wirken in der Gesamtsituation, immer. Die Gesamtsituation durchwirkt uns – wir sind nämlich nicht ein getrennter Bestandteil der Gesamtsituation, der aus einer Trennung heraus die Situation beeinflusst. Während wir wirken, gestaltet die Gesamtsituation uns gleichzeitig auch. Wir sind im Gestaltet-Werden und Gestalten zugleich. Während ihr zuhört, habt ihr vielleicht manchmal den Eindruck von Passivität. Doch weit gefehlt! Während ich spreche, laufen im Geist von allen, die zuhören, gestaltende Prozesse ab. Die bewirken, dass ihr hier bleibt z.B., dass ihr euch etwas aufschreibt, dass ihr euch etwas merkt, dass ihr etwas versteht, dass ihr bei etwas verweilt, dass ihr mehr oder weniger wahrnehmt von dem, was um euch herum ist. Es laufen selbst im sogenannten passiven Sein ständig gestaltende Prozesse ab. Und die laufen ab, während wir gestaltet werden. Ihr gestaltet mich gerade. Eure Blicke gestalten mich, eure Geräusche gestalten mich, die Farbeindrücke, das Verbundensein; was mein Herz, mein Bauch, mein ganzer Körper, mein Wesen von euch mitkriegen, gestaltet mich. Das gestaltet jetzt gerade die Unterweisung. Eure fragenden, dankbaren, lächelnden Blicke – all das gestaltet jetzt gerade, was als Antwort darauf kommt. Es ist ein wechselseitiges abhängiges Sein, in dem die Dinge sich gestalten, zusammen – und das ist das Wunderbare – mit unseren inneren Herzensbewegungen; mit dem, was wir Motivationen nennen. Wenn Bodhicitta gestaltend wirkt, dann gestaltet es sich etwas anders, als wenn andere Kräfte am Gestalten sind. Das gestaltet mit, aber das Bodhicitta einer Person reicht nicht aus, um eine ganze Situation erheblich zu ver ändern. Es müssen andere mitschwingen. – Und vielleicht geben die anderen auch gerade von sich aus etwas rein, was dann wiederum mich beeinflusst. Und so, wenn wir über die Resonanz der Herzenskräfte in dieses Miteinander-Gestalten gehen, dann gestalten sich unglaubliche Gemeinschaftsräume; die haben wir gemeinsam gestaltet. Die gestalten sich dadurch, dass wir miteinander in Schwingung kommen; dass wir uns berühren lassen und nicht jemand Festes sind. Nicht fest; bereit, sich gestalten zu lassen und mitzugestalten. Das ist etwas ganz Wunderbares. Genau da wird die Praxis, die sogenannte Meditation zur Aktivität; und zwar zu einer freien Aktivität, in der es keine Illusion von Freiheit gibt. Frei ist in diesem Prozess gar niemand. Die Illusion ist, dass ein Erwach ter frei wäre im Sinne von frei außerhalb des abhängigen Entstehens. Nein, das gibt es nicht! Es gibt keinen Erwachten außerhalb des abhängigen Entstehens. Erwachte fügen sich zwanglos ein in die Prozesse des abhängigen Entstehens in genau den Situationen, in denen sie sich wiederfinden. Sie sind aber darin nicht so blockiert, sie sind darin ein erheblicher gestaltender Anteil. Weil sie so frei sind, können sie umso freier mitgestalten – aber in Abhängigkeit. Und sie sind im Gestalten so sehr in Abhängigkeit, da sie mitfühlen. Mahamudra-Gestalten oder erwachtes Gestalten ist durch und durch geprägt vom Mitfühlen, vom Mitschwingen; so stark, weil es gar keine abgegrenzte eigene Agenda gibt. Es gibt keine eigenen Projekte und Ziele, sondern das Resonnieren, das Mitschwingen eines Erwachten, ist voll und ganz von der situativen Wahrnehmung geprägt, von diesem panoramischen Gewahrsein. Man könnte so weit gehen, zu sagen: „Ein Buddha ist der Sklave des Mitgefühls.“ – Es ist gut, das einmal auf den Kopf zu stellen. Das Mitschwingen in dem Bewusst sein dessen, was für eine Situation hilfreich wäre, ist für einen Erwachten all-bestimmend. Es ist kein Frei sein von Mitgefühl, es ist ein Freisein im Mitfühlen. Es ist ein Freisein im Gestalten für das Wohl aller Beteiligten, der Gesamtsituation. Aus unserer Perspektive der Ego-zentrierten Wahrnehmung ist ein Buddha unvorhersehbar. Wenn wir ihn angreifen, schlägt er vielleicht gar nicht zurück; er verteidigt sich vielleicht nicht einmal; vielleicht tut er es aber auch – keine Ahnung, wie er wohl reagieren wird. Er ist unvorhersehbar, weil er frei ist, frei von reak tiven Mustern, die zwanghaft ablaufen. Gleichzeitig ist ein Buddha aus der erwachten Perspektive total

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vorhersehbar, weil er immer zum Wohl der Situation handeln wird. Wenn wir so wie der Buddha die Gesamtsituation wahrnehmen könnten, dann wüssten wir, dass er in der Situation mal mit dem zornvollen Mitgefühl handelt und diese kräftige Fassade zeigt, und ein andermal ganz weich ist und nachgibt; manchmal streng, manchmal wie eine Mutter – was es gerade braucht. Wenn wir genauso wie das erwachte Gewahrsein die Situation wahrnehmen könnten, dann wüssten wir genau, warum so und so gehandelt wird. Aber immer dann, wenn wir nur beschränkt wahrnehmen, wenn wir nur Teile wahrnehmen, dann bleibt uns zum Teil noch schleierhaft, warum etwas gerade jetzt so stattfindet. Unsere eigenen Schleier engen unsere Wahrnehmung ein und bewirken, dass uns etwas schleierhaft bleibt. Je weniger Schleier da sind, desto offenkundiger wird es, warum es gerade so zu sein hat, gerade so richtig ist. Wenn wir von der Sicht über die Meditation in die Aktivität gehen, dann praktizieren wir dieselbe Grund haltung. Es ist ein Handeln, eine Aktivität im Verstehen der Natur des Seins. Lassen wir das Wort 'Natur des Geistes' weg; das ist obsolet geworden, weil wir im Sein keinen Unterschied mehr machen zwischen Geist und Materie. Es geht um die Natur des Seins, um dieses abhängige Entstehen von allem, um dieses energetische Sein, wo alles Energie ist. Alles ist in einem ständigen Prozess des Sich-Gestaltens, des GestaltetWerdens; alles, die vermeintliche Materie genauso wie das vermeintlich Lebendige, anders Lebendige: der Mensch und die Lebewesen. In diesem Verstehen der Natur des Seins wird gestaltet, ohne dass den Gestal tungen, dem was da körperlich oder geistig gestaltet wird, irgendeine bleibende Existenz zugeschrieben wird. Das Gestalten selber ist durchwirkt, ist begleitet von dem Verstehen einer nicht fassbaren Natur – nicht fassbar und zugleich wirkend, wirkungsvoll. Überall wo Kräfte wirken, entstehen Wirkungen. Kräfte werden Kräfte genannt, weil sie wirkungsvoll sind. Es gibt keine Kraft ohne Wirkung. Geisteskräfte wirken; die Kraft der Kommunikation wirkt; die körperliche Präsenz wirkt; Mimik, Gesten wirken. Alles wirkt. Versucht einmal etwas zu finden, das nicht wirkt. – Merkt ihr was? Farben wirken, Klänge wirken, Gestalten wirken, Gerüche wirken, Gedanken wirken, Gefühle wirken. Merkt ihr? Es gibt gar nichts, was nicht wirkt. Wir haben damit beschrieben, dass die gesamte Welt Wirken ist. Es gibt kein Ende des Wirkens. Warum? Weil alles wirkende Kräfte sind. Wenn wir die Welt als Energie beschreiben, bedeutet das, dass Kräfte wirken, und darum ist alles Wirken. Es ist unglaublich, wenn uns das klar wird; ständige Prozesse des Wirkens, Gestaltens, sich gegenseitig Beeinflussens. Die Wände beeinflussen uns, die gestalten unser Erleben. Licht und Dunkel gestalten, wirken. Luft – ob verbraucht oder frisch – wirkt. Es gibt keinen Anfang, kein Ende dieses Wirkens. Und darin gibt es Geistesströme, die meinen, sie würden getrennt existieren. Und das ist die grundlegende Täuschung, diese Täuschung des getrennten Seins. Bodhi sattva-Aktivität ist eine Form des Wirkens, um mit dieser Täuschung aufzuräumen, aus der so viel Leid entsteht, weil sie – wie alle Täuschungen – nicht der Natur des Seins entspricht. Überall wo Anschauungen, Fixierungen aktiv sind, die der Wirklichkeit widersprechen, entsteht Reibung mit der Wirklichkeit. Diese Reibung, diesen Knatsch mit der Wirklichkeit, nennt man dukkha. Das ist die grundlegende Spannung, unter der wir stehen. Aus dieser Reibung damit, wie die Dinge sind, herauszufinden, das ist Bodhisattva-Wirken. Es anderen zu zeigen, genauso wie man selbst es verstanden hat; selber als dieser dynamische Prozess. Das war jetzt auf einer tieferen Ebene eine Vorbereitung auf das Wirken, Gestalten, das mit dem Ende des Retreats stärker werden wird. Wir haben aber die ganze Zeit gestaltet und sind gestaltet worden. Wir waren die ganze Zeit in der Aktivität. Es ist nicht etwas so, dass wir jetzt in die Aktivität eintreten. Aktiv gestaltendes Sein, während wir die ganze Zeit selber gestaltet wurden, beeinflusst wurden; im Spiel der Kräfte, der Energien, unterwegs waren. Teilnehmer: Wir hatten die fünf Merkmale des gegenseitigen abhängigen Entstehens im Abhidharma, wo zum Einen spezifische Ursachen und spezifische Wirkungen beschrieben sind. Anhand des Reiskornsprösslings wird erklärt, dass das Reiskorn spezifisch ist und die Sonne unspezifisch. Oder ein Eichensamen ist die spezifische und die Sonne eine unspezifische Ursache für eine Eiche. Die anderen vier Merkmale haben für mich etwas sehr Offenes – ich habe das Gefühl, das Spezifische ist so ein Kunst-Ding. Vielleicht hast du einfach Mühe mit dem Wort 'spezifisch'. Hier ist eine Gleichartigkeit gemeint, dass aus einem Eichensamen immer nur eine Eiche werden kann, und das ist eine spezifische Wirkung und keine xbeliebige Auswirkung. Diese Gleichartigkeit spielt eine Rolle. Wenn zum Eichensamen unspezifische Zu-

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satzfaktoren oder Bedingungen wie Feuchtigkeit, Wärme, Sonne kommen, dann wird aus einer Eiche immer eine Eiche werden. Das ist festgelegt, in der Natur der Eiche steckt das so drin. So wird aus dem Genom eines Menschen immer ein Mensch entstehen und kein Elefant. Die anderen Bedingungen bewirken noch vieles anderes; z.B. die Sonne sorgt nicht nur dafür, dass Pflanzen sich entfalten, sondern auch dafür, dass der Ozean warm wird, dass Fotosynthese stattfindet, dass Spiegel reflektieren – die verschiedenen Auswirkungen der Sonne werden unspezifisch genannt. Wenn man sagt, dass alles von Kräften zusammengehalten wird, dann macht man einen Kunstgriff, man macht eine Entität daraus. Ja, es ist eine Illusion, eine Täuschung. Es gibt keinen Reissprössling als Etwas. Das ist bei den anderen vier Merkmalen ja nicht so, die haben diese Offenheit. Es geht ja nicht nur um den Reissprössling. Ein Beispiel für spezifisches Wirken ist, dass, wenn etwas mit tiefem Wohlwollen gesagt oder getan wurde, im Bewusstsein dieses Geistesstrom die Frucht des Wohlwollens dann nicht Hass sein wird. Es verdreht sich nicht etwa in sein Gegenteil, sondern die Frucht, die daraus entsteht, ist etwas Gleichartiges; ohne die Illusion, dass das, was daraus entsteht, ein Ding wäre; es ist nur eine gleichartige Wirkung. Eigentlich ist es bei allen Kräften so, dass sie etwas Gleichartiges auslösen. Teilnehmer: Dann hat die Gleichartigkeit doch auch wieder eine gewisse Flexibilität, denn mit der Zeit werden z.B. aus Affen Menschen oder aus Mäusen Fledermäuse. Das ist ähnlich genug, dass man erkennt, dass dieser Grundsatz nicht verletzt ist. Genau, es ist nicht etwa etwas Identisches, denn so etwas gibt es gar nicht. Eine Eiche kann nicht etwas Identisches hervorbringen: dann würde sie entweder immer nur Eiche bleiben, oder sich auf irgendeine seltsame Weise als Eiche direkt wieder manifestieren. Nein, es ist etwas Gleichartiges, nicht etwas Identisches. Bezogen auf das Verständnis von Beziehungen: sollte man im atmenden wechselseitigen Entstehen miteinander sein, sozusagen – im Vergleich zu gesellschafts-konventionellen Beziehungen? Könnte man. Wenn ich tief in mir nicht mehr Hauptwörter als Zustands- oder Dingbeschreibungen verstehe, sondern immer höre, dass ein Hauptwort etwas Prozesshaft-Fließendes, etwas Dynamisches beschreibt, dann macht die Sprache für mich viel mehr Sinn und es entstehen weniger Fehler, kann das sein? Absolut. Teilnehmer: Wenn eine spezifische Bedingung da ist, dann könnte man sagen, die gibt eine Richtung – im Unterschied zu unspezifischen Bedingungen, die die Richtung nicht beeinflussen. Oder beeinflussen sie weniger spezifisch. Legt es euch zurecht, wie ihr es gerne möchtet …

Wir gehen noch einmal in die völlige Stille, genießen es noch einmal, wirklich zu sein und im Stillen zu erforschen, wie wir durchwirkt werden, wie uns Kräfte durchwirken, in uns wirken, während wir gleichzeitig wirken und gestalten. Spürt noch einmal hin, wie jeder Schritt ein Gestalten ist und ein Gestaltet-Werden, jede Bewegung. – Gestaltende Kräfte, die im Spiel sind und zugleich wieder Auswirkungen. Nehmt euch Zeit, das anzuschauen. – Wo ist darin die Freiheit? – Was ist Freiheit in diesem Spiel der Kräfte? Ob ich nach rechts oder links gehe, oder geradeaus, oder rückwärts? Wie frei sind wir in unserem Gestalten, wann ist unser Gestalten frei? Welchen Wirkungen können wir uns überhaupt entziehen? Wie wirkt etwas auf uns? Wo machen uns Wir kungen unfrei und wo nicht? Nehmt das mit in eure Sitz- und Gehmeditation. ***

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Mitfühlen In den Einzelgesprächen ist häufig das Thema Mitgefühl gekommen. Natürlich ist Mitgefühl ein wunderbares Thema zum Abschluss eines solchen Retreats, wenn wir jetzt wieder stärker in die Begegnung gehen. So manche von euch fragen sich: „Wie kann ich mehr Mitgefühl entwickeln?“ Tja. Das ist eine sehr selbstbezo gene Frage: Ich möchte mehr Mitgefühl. – Weil ich mich damit besser fühle, wenn ich mitfühlender bin? Ich sage es extra etwas provozierend, denn der springende Punkt bei Mitgefühl ist das Bedürfnis, den anderen zu verstehen. Eigentlich sollte die Frage lauten: „Wie kann ich andere besser verstehen?“ Wie ist es möglich, jemanden, der mir fremd ist oder den ich nicht verstehe, besser zu verstehen? Genau dort mangelt es mir an Mitgefühl. Bei denen, die ich ohnehin schon verstehe – oder die ich meine zu verstehen –, ist es kein Problem. – Merkt ihr? Das mit dem Mitfühlen wird immer dann zum Thema, wenn wir ehrlicher weise gar nicht groß motiviert sind, den anderen zu verstehen, und wenn wir uns nicht die Zeit nehmen und die Energie aufwenden, um wirklich verstehen zu können. Mit dem Mitgefühl erlebe ich es so, dass es manchmal einfach da ist, weil es die Wellenlänge ermöglicht, direkt zu spüren, was der andere erlebt. Das hat oft damit zu tun, dass wir etwas Ähnliches schon kennen, dass wir es selbst auch erlebt haben. Da ist es relativ leicht mitzufühlen, wenn wir es kennen. Dann gibt es aber diejenigen, wo es nicht leicht ist. Dort ist das Hineinfinden in Mitgefühl die Kunst, sich in Demut zu üben; auszudrücken, dass man nicht weiß und nicht versteht. Das brauche ich nicht so direkt zu sagen, aber es geht darum, dass ich mich interessiere dafür; dass ich gerne besser, tiefer, verstehen würde. Es braucht diese Haltung: „Ich verstehe es eigentlich nicht, aber wie könnte ich es denn tiefer verstehen?“ Und dann gehe ich auf die Menschen zu, die ich nicht verstehe, wo ich nicht so umfassend mitschwingen kann, und lade diese Menschen ein – mit meinen Antennen oder mit Worten, mit meinem Sein – und spüre hin, wie sie denn wohl die Welt erleben. Das ist die Fähigkeit, aus der eigenen Perspektive auszusteigen und in die Perspektive des anderen zu wechseln. Und wer ist der Kompetenteste, um mir zu zeigen, wie ich mitfühlen kann? Die Person, die ich nicht verstehe, ist genau die Person, die am kompetentesten ist, es mir zu zeigen. Das lernen wir nicht von einem Lehrer, einer Lehrerin, einem spirituellen Lehrer; das lernen wir immer in den Situationen von den Menschen, die wir noch nicht so ganz verstehen. Ganz viel geschieht über das Zuhören und Nachfragen: „Habe ich richtig verstanden?“, „Erlebst du das so?“, „Wie meinst du das eigentlich?“, „Kannst du mir ein Beispiel dafür sagen?“, „Wie hast du die und die Situation erlebt?“ … Es geht um dieses wirklich interessier te Nachfragen, bis wir in der Lage sind, soweit zu spüren, zu empfinden, dass der andere sich in unseren Worten, mit denen wir dieses Verständnis ausdrücken, verstanden fühlt. Wenn der andere sich verstanden fühlt, dann ist dieses Verstehen entstanden. Das ist ein Verstehen mit dem Herzen, Herz und Verstand spielen da zusammen. Es ist ein Verstehen, das Begriffe und Bilder benutzt, ein Verstehen mittels intuitiver Anten nen, und das ist ein großartiges Geschenk. Aber dafür ist es notwendig, dass wir die eigene Welt verlassen; dass wir bereit sind, hineinzuschlüpfen in das Leben des anderen, in die Sichtweise des anderen. Man sagt ja, man muss zuerst einmal in den Mokassins des anderen gelaufen sein. Das ist gemeint. Mitgefühl hat also ganz viel damit zu tun, die eigene Sichtweise verlassen zu können, zu wechseln, zu erspüren, und ganz viel Geduld zu haben; ganz viel Geduld im Erkunden, Erforschen, Erspüren, Sich-Hineinfühlen in das, wie es wohl aus der Warte des anderen ist zu leben. Es gibt ein paar Hilfestellungen dafür, die alle beinhalten, die eigene Welt ein wenig zu verlassen. Wenn jemand z.B. nicht spricht, kann ich mich auf den Atemrhythmus dieser Person einstellen und im selben Rhythmus, in der selben Tiefe atmen wie die andere Person. Wie fühlt es sich an, so zu atmen? Was könnte jetzt einen solchen Atem auslösen? Ich kann denselben Blickwinkel einzunehmen. Das machen wir alle, wenn wir Kindern begegnen: wir knien uns oft hin, oder wir beugen uns. Wir versuchen wirklich, aus der Höhe und aus dem Blick des anderen zu schauen; die Worte des anderen auch wirklich wortwörtlich aufzu greifen. Wie fühlt es sich wohl an, diese Worte mit diesem Tonfall zu benutzen? Was bedeutet das, was löst das aus, was schwingt da mit? Wie ist es, die Stirn so in Falten zu legen oder so zu schauen? Wie ist das, wenn ich mich darauf einlasse, mir das innerlich vorzustellen? Was löst das in mir aus? Und so nutzen wir unser eigenes Erleben, um uns über die Hilfestellungen, die uns die andere Person gibt, einzufühlen. Und natürlich ist das Allerwesentlichste, dem anderen Glauben zu schenken; zu glauben, dass das, was die andere

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Person uns vermittelt und ausdrückt, für diese Person so ist und so stimmt. Das ist die Grundlage, um zu einem Verstehen zu kommen. Nicht abstreiten – „Kann doch nicht sein!“, „Ist doch nicht möglich!“, „Du irrst dich!“, „Ist es nicht eher so …?“ – und dann unsere Vorlagen geben, um dem anderen doch etwas andere Gefühle noch beizubringen. Es geht darum, wirklich aus der Sicht des anderen die Welt zu sehen und nicht um eine objektive Wirklichkeit. Wenn sich zwei Menschen verstehen wollen, geht es nie darum, was objektiv tatsächlich abgelaufen ist. Es geht doch meistens um Mitgefühl, wenn es schwierig wird. Da war irgend etwas, es fließt nicht so von selber und wir müssen uns ein bisschen bemühen. Es gibt nur subjektive Wirklichkeit. Darüber habe ich am Anfang des Kurses schon gesprochen. Die subjektive Wirklichkeit des anderen nachzeichnen, nachempfinden zu können, bis wir sie ausdrücken können, setzt voraus, dass man sich eingefühlt hat, dass man mitfühlt. Wir brauchen das nicht in den sentimentalen Bereich zu pushen; es wird sehr schnell dazu kommen, dass wir berührt sind, dass wir betroffen sind, weil wir spüren können. Aber wir brauchen das nicht besonders zu betonen, wir können dann auch wieder in unsere Perspektive wechseln, in unsere subjektive Wirklichkeit. Meine subjektive Wirklichkeit ist genauso wirklich wie die Wirklichkeit des anderen. Wir brauchen uns nicht im Mitgefühl zu verlieren und die Sicht des anderen zu behalten oder als für uns verpflichtend zu erleben. Aber andere haben diese Sicht. Es ist gar nicht die Frage, ob wir sie ihnen erlauben, sie haben die einfach. Wir sagen dann manchmal, nachdem wir jemanden ansatzweise verstanden haben: „Na gut, wenn du es unbedingt so sehen willst …“ Damit drückt sich aus, dass wir ein bisschen nachgeben, nicht mehr an dem Wunsch festhalten, dass der andere das doch bitte so zu sehen hat, wie wir selber. Das tut er von vornherein nicht. Niemand hier im Saal hat meine Sichtweise. Und für jeden von euch gilt dasselbe: keiner hier im Saal hat eure Sichtweise. Teilnehmer: Wie funktioniert das bei Menschen, mit denen ich nicht in direktem Kontakt bin oder in Kommunikation stehe, wo ich nur ein paar Informationen habe? Oft ist es dann so, man macht sich eine Vorstellung – aber das ist ja dann meine Vorstellung und nicht das Erleben der Person. Genau. Wir machen uns Vorstellungen so gut wir können, so einfühlend wir können, und müssen die Gren zen dieser Situation akzeptieren. Mehr wissen wir nicht. Wenn wir mehr wissen möchten, dann müssen wir mit dieser Person in Kontakt treten. Auch dann, wenn wir mit der Person in Kontakt sind, ist es trotzdem noch unsere Vorstellung. Es ist selbst bei allernächstem Kontakt so, selbst mit unseren Partnern. Wenn wir versuchen zu spüren, wie unser Partner, unsere Partnerin die Welt sieht, es bleibt Vorstellung. Je tiefer dieses Verstehen ist und je mehr es am Erleben der anderen Person, den anderen Personen ist, desto passender, stimmiger wird unser Handeln sein. Desto stimmiger werden unsere Berührungen sein. Aber wir können immer fragen, ob es stimmt, ob es passt. Das ist die Demut: zuzugeben, dass wir ja tatsächlich nur die Vorstellung haben. Aber selbst wenn die Vorstellung super nahe ist, werden wir nie deckungsgleich sein. Es geht darum, bereit zu sein uns weiter anzupassen, uns weiter einzustellen. Wenn es darum geht, dem anderen hilfreich zu sein, wenn wir zum Beispiel eine Hand hinlegen wollen, damit es jemandem gut tut, und der andere sagt: „Oh, nicht da!“, dann können wir doch ganz flexibel bleiben und es nicht persönlich nehmen und sagen: „Ja, wo denn? Oder überhaupt?“ Es geht ja nur darum, irgendwie eine Unterstützung zu geben, und die soll möglichst passend sein; es geht um diese Bereitschaft sich einzufühlen, sich anzupassen an die Bedürfnisse des anderen, an das Erleben des anderen, in dem Moment wo es um den anderen geht. Es geht ja nicht um mich, wenn ich jemandem Unterstützung geben will. Das ist Demut. Das ist Bescheidenheit: „Ja, ich weiß nicht, welche Berührung, welches Wort, welche Geste, welche Haltung, welche Nähe, welche Distanz jetzt für dich am besten ist. Ich weiß es nicht. Ich meine, ich versuche, es könnte ja das sein.“ – Und genau das schärft unsere Antennen des Mitfühlens. Diese Bereitschaft, immer dazuzulernen, immer zu spüren was jetzt gerade angemessen ist, vertieft unsere Fähigkeit mitzufühlen, mitzuschwingen. – Jetzt gerade, nicht für immer und ewig, jetzt passt es so, nächstes Mal passt es wieder anders. – Und das ist umso leichter möglich, je schmaler unser Ego geworden ist. Das berühmte Ego, das niemand findet, aber das daraus besteht, dass man sich unheimlich wichtig nimmt und so an der eigenen Sichtweise festhält. Wenn das ein bisschen abschlankt hat, ist es viel leichter mitfühlend zu sein, weil wir uns nicht so wichtig nehmen. Es geht wirklich um den anderen. Es braucht dieses wirkliche Interesse am anderen, ohne das geht es nicht. Wenn diese Elemente zusammen kommen, brauchen wir uns

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über das mitfühlende Handeln gar nicht zu unterhalten. Wir werden ja nun auch bald wieder sprechen, wir werden nach Hause gehen oder in den Urlaub, oder wo auch immer hin: wir werden Menschen treffen. Und dann ist die wichtigste Qualität, zu verstehen. Da, wo wir nicht verstehen, gibt es Missverständnisse, und aus Missverständnissen entsteht eine ganze Menge anderes. Habt ihr dazu Fragen? Teilnehmer: Ich glaube, das gilt nicht für jede Person. Ich denke da konkret an jemanden, der deutlich macht, dass er nicht verstanden werden will, und der routinemäßig Leute verletzt, ohne dadurch für mich wahrnehmbar zufriedener zu werden. Auf der einen Seite habe ich meine Vorstellungen und Spekulationen, warum das so ist und wieso er sich so verhält – aber das sind nur meine Vorstellungen. Auf der anderen Seite: ehrlich kommunizieren oder in Kontakt mit mir treten, will er ja nicht. Dann ist für mich in der Situation die richtige Handlung: kein Kontakt. Ist halt so. Ist das das Mitgefühl? Schau, solche Menschen gibt es, und es ist jedermanns Recht, nicht verstanden werden zu wollen. Vor allem nicht von mir. Das ist wieder die Demut; jemand schlägt mir die Tür zu und sagt: „Nö. Ich möchte nicht von dir verstanden werden.“ Dann muss ich nicht anklopfen? Musst du nicht. Sag dir: „Ja“ – auch in dir drin – „Ich kann das nachempfinden, dass es eine Art gibt, sich zu fühlen und zu sein, dass man nicht verstanden werden möchte.“ Solche Menschen zu verstehen, ist am schwierigsten. Aber der tiefe Respekt für das Recht des anderen, nicht von dir verstanden werden zu wollen, bewirkt, dass du diesem Menschen den Abstand, die Distanz gibst, die er braucht. Und das ist Mitgefühl. Denn es ist bedrängend und wird für den anderen zum Dämon, wenn man da dann anklopft und meint, eindringen zu müssen. Mit solchen Menschen mitfühlen ist: Aha, klar. Wenn du dich so fühlst, dass du sagst: „So, raus hier, stopp! Kein Kontakt“, dann bleibt als einzige Möglichkeit zu warten, offen zu bleiben, bis die Tür von selber, von innen, aufgeht. Wenn wir sie einrennen, dann kommt es zum Kampf, dann gibt es Streit, dann wird es fies. Aber das hängt damit zusammen, dass man mit jemandem, der Kontakt vermeiden möchte, in einem nicht ausreichend mitfühlenden Kontakt ist. Also gehen wir raus. Das ist Mitfühlen, und das, was ich ausgeführt habe, trifft auch auf diese Personen zu. Wir lesen in ihrem Verhalten – ohne dass sie sich weiter erklären wollen –, aber ihr Verhalten spricht eine ganz deutliche Sprache. Wir können natürlich spüren, dass dahinter eine Menge Enttäuschung liegt, eine Menge enttäuschte Bindungserfahrung von früher. Und wir können ahnen, in was für einen emotionalen Schutzraum sich dieser Mensch zurückgezogen hat, und dass das ursprünglich mal anders war; dass da ein Bedürfnis bestand – und vermutlich immer noch in den tiefsten Tiefen besteht –, in Kontakt zu treten. Aber das braucht für solche Personen eine so unbedingte Sicherheit, und schon gar nicht ein zu schnelles Nahekommen, irgendetwas, das forcierend, manipulierend wirkt. Das alles kann man erspüren und man gibt diesen Raum, und der Raum bleibt einladend, das ist das Mitgefühl. Manche von haben Eltern, die so sind; es gibt Vorgesetzte, es gibt Mitarbeiter, die so sind, und es ist echt schwierig, das zu respektieren und diesen Raum zu geben. Wirkliche Ausnahmen fürs Mitgefühl habe ich noch nicht getroffen. Kürzlich – es wurde von Franziska, einer langjährigen Freundin von mir, vorbereitet – hat eine Mutistin (jemand der mit niemandem spricht) ihre ersten Worte mit mir gewechselt und ist ins Gespräch gekommen. Allerdings in einer Fremdsprache, weil sie nicht in ihrer Muttersprache kommunizieren wollte, die war zu belastet. Am Anfang ging die Kommuninkation über Zettel. Das geht nur, wenn man Raum gibt; Raum, in dem das alles so sein darf, es braucht nichts anders zu sein; totaler Respekt. Auf der Grundlage dieses Respektes ist das schier Unmögliche möglich, und diese Frau hat zum ersten Mal seit Jahren wieder gesprochen. Das ist ganz wunderbar – jetzt schreiben wir uns E-Mails. Im Anschluss an unser Treffen hat sie auch mit Franziska gesprochen; auch in einer Fremd sprache. Das ist ganz was Feines. – Franziska ist Musiktherapeutin und ist über die Musik mit dieser Frau in Kontakt gekommen. Sie hatte sich dann einmal pro Woche mit ihr im Café verabredet zum Austausch über Zettel und Notizblock. Ganz allmählich ist Vertrauen entstanden. Es braucht einfach unglaublich viel Geduld. Menschen brauchen Geduld; sie brauchen den Respekt, den sie früher nicht erhalten haben. Wenn wir ihnen den dann doch noch geben können, wenn die Lebenssituation es

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dann so ermöglicht, dann kommt es zum Verstehen. Teilnehmer: Ich kenne so eine Situation mit einer Kollegin, die ich lange versucht habe zu verstehen; vielleicht war ich zu forsch am Anfang, dann dachte ich, ich warte einmal. Bei mir ist dann irgendwann Frust entstanden und so richtig zum Thema geworden. Wie kann ich denn da mit mir auch bleiben, wie ist beste Haltung mir gegenüber? Das ist eine praktische Frage. Es ist gut, es innerlich klar zu haben, was wir gerade tun. Sind wir gerade beim anderen, geht es wirklich um den anderen, oder frage ich den anderen: „Willst du auch mal hören, was bei mir war? Ist es okay, wenn ich dir mal erzähle?“ Dann schauen wir, ob wir auch mal ganz klar bei uns selber, bei unserem Erleben bleiben können. Manchmal ist es der anderen Person nicht möglich, wirklich bei uns zu sein. Dann müssen wir auf dieses Bedürfnis in dieser Situation verzichten; die andere Person wird uns nicht verstehen, weil sie im Moment nicht den Raum, das Interesse dafür hat. Dann geht es eben mit anderen Personen mehr um unser Verstehen. Aber wir können immer bei uns bleiben, wir brauchen nicht unauthentisch zu werden, nur weil wir uns auf den anderen einlassen. Es gibt eine Möglichkeit, beim anderen zu sein, im Verstehen des anderen zu bleiben, und dabei ganz authentisch zu sein. Zu verstehen bedeutet z.B. nicht, zuzustimmen, dass alles genauso ist, so zu sein hat. Es bedeutet nicht, gutzuheißen. Es bedeutet nicht, zu tun was die andere Person von mir möchte. All das bedeutet es gar nicht. Es bedeutet nur, zu verstehen, wie es sich für die andere Person anfühlt, und dann zu schauen: „Was bin ich bereit – ich als die Person, die ich bin – in dieser Situation zu geben? Was fühlt sich da richtig an?“ Teilnehmer: Als Ergänzung zu dem was du vorhin sagtest: „Man kann da nichts anderes machen als das zu akzeptieren, zu warten, offen zu bleiben.“ Wahrscheinlich ist es auch nicht falsch, Wünsche zu machen oder Tonglen oder so etwas. Sicher. Oder auch für einen selber. Ich kenne so eine Situation aus der näheren Familie. Ich weiß, wie schwer es ist, das für mich zu akzeptieren, da sind sehr starke Bedürfnisse und Gefühle von mir, die da zurückstecken müssen. Ich glaube, dass es helfen kann, wenn man da aktiv etwas tun kann, auch wenn es nicht in direktem Kontakt ist. Das Zurückstecken ist für mich auch schwer. Teilnehmer: Ich war gerade auf einem Seminar, wo zu diesem Thema das Bild eines Hauses verwendet wurde, das man betritt und danach wieder in sein eigenes Häuschen zurück geht. Es fällt einem vielleicht leichter, ein anderes Häuschen zu betreten als eine andere Welt. Das ist ein sehr schönes Bild, weil es all die Prozesse auch beinhaltet, dass man anklopft: „Darf ich rein kommen?“ Danke! Ja, in das Haus des anderen auf Besuch gehen. Teilnehmer: Ich hatte dieses Problem mit meiner Tochter, sie war ganz verstockt. Aber malen konnte sie das Problem. Ich war ganz überrascht. Schön. Jetzt kommen wir mit dem Beispiel von deiner Tochter, die es übers Malen ausdrücken konnte, in einen weiteren Bereich: Natürlich ist ein Teil des hilfreichen Kontaktes, dass wir einander helfen, uns auszudrücken Worte zu finden, Bilder zu finden, Beispiele zu finden für das, was so schwierig zu be schreiben ist. Das ist eben auch dieses geduldige Mitfühlen; nicht dass der andere schon in der Lage sein muss, zu beschreiben was er fühlt, und dann habe ich das gehört, und dann weiß ich es. Es geht darum, mitgehen zu können im Erforschen der inneren Welt des anderen, und die noch nicht gefundenen Worte und Bilder zusammen mit dem anderen zu finden. Es gehört zum Mitfühlen eben auch dazu, zu helfen, dass es etwas klärt im Erleben. Soweit wollte ich gar nicht gehen, aber das gehört alles dazu. Ich wollte eigentlich nur auf die Frage eingehen: „Mitgefühl – was ist das eigentlich? Wie kann ich das entwickeln?“ Teilnehmer: Ich finde es schwierig, die Grenze zu finden. Wieweit darf ich einem schwer kranken Freund näher kommen, ihn fragen und so weiter und so fort? Das herauszufinden ist auch ein Risiko. Das einfachste ist womöglich, so offen wie es geht zu fragen, was für den anderen passt, und es anzunehmen. Das ist das Einfachste: damit geben wir dem anderen die Möglichkeit, den Kontakt zu steuern. Es ist Teil des

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Mitgefühls, dem anderen die Möglichkeit zu geben, mitzusteuern oder ganz selber zu steuern wie nahe, wie fern, wie oft, wie tief, worüber wir sprechen. Es ist wichtig, wirklich bereit zu sein, dem anderen Steuerungs möglichkeiten zu geben, sodass nicht wir die Kontrolle über die Situation haben, wie wir uns die mitfühlende Situation vorstellen, wie wir uns das Helfen vorstellen. *** Wir werden beim Abendessen wieder sprechen. Dabei können wir das, was wir gerade gehört haben, schon umsetzen, einander tief zuhören und gar nicht nur so quatschen – das können wir auch – sondern einander auch wirklich zuhören, wie wir das Retreat erlebt haben. Wir können fragen, was uns interessiert und einan der noch ein wenig kennen lernen. Wir waren hier als Familie unterwegs – ohne es so sentimental genannt zu haben, aber wir sind zu einer Retreat-Familie zusammengewachsen –, von manchen kennen wir jetzt den Namen, weil ich euch mit Namen angesprochen habe, wenn ihr etwas gefragt oder gesagt habt. Aber eigent lich seid ihr euch untereinander zum größten Teil noch unbekannt. Es ist ein ganz wichtiger Teil des Über gangs von der Retreat-Praxis in die aktive Zeit zu Hause, bei der Arbeit, im Urlaub, dass wir auch hier schon beginnen zu sprechen. Da treten wir ein in das edle Reden, in die edle Sprache, dass wir mit dem Herzen verbunden sind während wir sprechen. Ob wir scherzen, ob wir über Tiefes sprechen – wir sind mit dem Herzen verbunden, das Ge wahrsein schwingt mit, und wir genießen es, die eine oder andere Person doch noch kennenzulernen, bevor das Retreat zu Ende ist. Diejenigen, die ein starkes Bedürfnis danach haben, können das natürlich jetzt schon tun, aber bitte nicht hier in der Nähe des Hauses, denn das bleibt noch für zwei Stunden in Schweigen getaucht. Könnt ihr euch daran halten, dass wir es noch für zwei Stunden im Schweigen lassen? Diejenigen, die sich noch kennen lernen möchten, können einen längeren Spaziergang machen.

Morgenmeditation: Gewahrsein ruht in sich selbst Heute ist ein Tag des Übergangs vom Retreat in eine andere Situation hinein. Da ist es umso wichtiger, den eigenen Geist bewusst auszurichten. – Die Kontemplation über den kostbaren Menschenkörper kann dazu dienen, Dankbarkeit zu spüren für das, was war, und Dankbarkeit für das zu entwickeln, was kommen wird; für die Möglichkeiten, die wir jetzt haben werden, aus dieser Erfahrung hinaus in die nächste zu gehen. – Dabei wird uns der Dharma begleiten; die kostbaren Einsichten, die Erfahrungen, die entstanden sind, die sich weiter entfalten können und sich entfalten werden, wenn wir bewusst bleiben. – Teil dieses Bewusstseins ist es, dass wir uns klar machen, dass das, was wir jetzt erleben, genauso das, was wir erleben werden, nicht beständig ist; dass es sich wandelt; dass wir gestalten können, dass das aber nicht die einzigen gestaltenden Kräfte sind. Wir können in diesem Netzwerk des Wirkens, das wir Karma nennen, nur einige der Kräfte beeinflussen; viele andere können wir nicht beeinflussen. … Aber unseren Teil können wir nutzen, wir können uns jetzt schon innerlich darauf einstellen, wie – mit welchen Kräften – wir diesen Tag gestalten möchten. – Was bedeutet es genau, in diesen Tag mit dem Geist des Erwachens hineinzugehen? Wie könnte das konkret aussehen? – Wie kann ich dieses Gefühl des Verbundenseins wach halten, in einer Lebendigkeit sein, in einer Frische? Wie ist es möglich, im Herzenskontakt zu sein? – Einen Moment um den anderen, immer gerade jetzt, gewahr bleiben. – Uns öffnen und dabei zugleich gut spüren, wie es in uns selber ist. – Lasst uns noch einmal die Zuflucht singen, die Gebete, wobei wir uns vorstellen können, dass unsere Zuflucht vor uns ist, über uns, und dann zum Schluss mit uns verschmelzen wird. Rezitation: Zuflucht, Vier Unermessliche, Gebet an den Lama In dem Bewusstsein unserer erwachten Natur machen wir gemeinsam die Atemübung. Wenn es uns möglich ist, lassen wir den Geist weiterhin in sich selbst ruhen: Gewahrsein ruht in sich selbst, ist seiner selbst gewahr. – Falls wir in Gedankenketten unterwegs sind oder in irgendwelchen Komplikationen, die wir nicht weiter verfolgen möchten, dann entspannen wir in dem Moment, wo wir dessen bewusst werden, in die einfachst-

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mögliche Art des Seins; immer wieder einfach sein, bewusst, offen, ohne Kommentar, einfach so. – Ein bewusstes Ausatmen kann uns dabei helfen, in dieses offene Sein zurückzufinden. – Und auch diesmal versuchen wir nicht zu meditieren. Wir lassen den Geist weit, wie eine riesige Spielwiese für wilde Pferde: unendlich groß; oder wie der Himmelsraum, den es nicht kümmert, ob Wolken aufsteigen oder nicht. – Wir nehmen einfach wahr wie es ist, lebendig zu sein mit all diesen verschiedenen Empfindungen, aus denen wir nichts zu machen brauchen – GONG Freisein im Nicht-vollkommen-sein Lasst uns Frieden finden mit unserem Körper, mit all den Empfindungen. Unser Körper wird wohl nie so sein, wie wir uns das wünschen. – Und gegen das Ende des Lebens wird es nur noch schlimmer. – Lasst uns Frieden finden mit unserem Geist. Da kann es auch mal einfacher werden. Aber auch der wird nie so sein, wie wir uns das wünschen. In seinem Wesen, in seiner Natur ist er es schon immer: vollkommen, selbstbefreiend. … Und es ist eigentlich unnötig, mit seinen Manifestationen zu kämpfen. Manchmal ist er klar und frisch; manchmal aufgewühlt; manchmal trübe, manchmal schläfrig. Sein eigentliches Wesen ist immer dasselbe. – Lasst uns zudem in Frieden sein mit unserer Umwelt; auch die wird nie so sein, wie wir uns das wünschen. … Und zugleich ist auch diese Umwelt ein perfektes Feld des Erwachens. – Unsere Vergangenheit war nicht perfekt, doch auch damit können wir in Frieden sein. Es gibt keinen Grund zu glauben, unsere Zukunft könnte perfekt sein. – In diesem Sein, das wahrscheinlich nie unseren Vorstellungen entsprechen wird, können wir vollkommen frei sein; in Frieden; indem wir alles nehmen wie es ist. – Wir können gestalten, wir können verbessern, aber es wird grundlegend nichts daran ändern, dass die Welt ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt. – Abhängiges Entstehen in stetem Wandel. – ***

Neuorientierung Festhalten ist nutzlos. Das Einzige, was uns übrigbleibt, ist „Ja“ zu sagen zum Wandel, und der Wandel ist unerbittlich. Einige von uns haben es schon erlebt, dass sie nach einem Retreat so ein bisschen in ein Loch gefallen sind. Das ist die frustrierende Erfahrung, dieses Gewahrsein im Alltag nicht halten zu können; dass wir nicht so entspannt bleiben können, wie wir das vielleicht zwischendurch waren; dass uns alles irgendwie zu viel wird; dass wir am liebsten die Welt verlangsamen würden; dass wir den anderen die Klappe verbieten würden. – Gleichzeitig schwätzen wir selber so gern; da würden wir uns selbst die Klappe verbieten wollen. Es hilft alles nichts. Wir können uns darauf vorbereiten, dass es einfach ziemlich ähnlich sein wird wie vorher, dass wir aber einen kleinen Unterschied bemerken können. Und auf diesen kleinen Unterschied kommt es an. Wir würden uns nach einem großen Unterschied sehnen, und den können wir bewirken, indem wir viele kleine Unter schiede ermöglichen. Wir haben uns hier über acht volle Tage quasi runtergefahren, wir haben uns entspannt und sind in einem möglichst einfachen Modus unterwegs gewesen. Wir sind aus vielen normalen Mustern ausgestiegen und konnten immer wieder – und auch jetzt dann – einen Neustart hinlegen, eine Neuorientierung. – „Wie gehe ich neu in die nächste Situation rein?“ Darauf kommt es an: Wenn wir in die Aktivität gehen, schaffen wir uns immer wieder die Möglichkeiten für einen Neustart. Man nennt das Pausen. Diese Pausen sind aber nicht nur ein Ausspannen, um dann gleich wieder genauso weiter zu machen, sondern jede Pause ist die Möglichkeit zur Neuorientierung. Und die macht den kleinen Unterschied, wie ich in die nächste Situation reingehe. Wenn ich dann den großen Unterschied möchte, dann brauche ich viele Pausen, viele Momente der Neuorientierung, und das gibt in der Summe eine ziemlich große Veränderung. Es geht darum, mich immer wieder zu besinnen, mich aus den reaktiven Mustern zu lösen und zu spüren: „Wo geht es wirklich lang? Was möchte ich leben? Wie kann ich da Kontakt aufnehmen mit diesen Herzenswünschen in mir? Wie kann ich

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die leben?“ Das gilt es dann umzusetzen. Bevor wir uns allzu sehr verloren haben, machen wieder eine Pause. Darauf sollten wir uns vorbereiten – ganz realistisch sein. Vor allem die anderen in unserem Leben werden uns so betrachten wie vorher. Da werden viele Muster laufen, die uns zurück ziehen in unser vorheriges Verhalten. Allein schon unsere Wohnung wird uns einladen, uns wieder genauso zu verhalten wie vorher. Unsere E-Mails und Kontakte, unsere Freunde, unsere Freundinnen, unsere Familie, unsere Sorgen werden uns einladen, sich genauso um sie zu kümmern wie vorher. Wir müssen es nicht, wir müssen nicht einsteigen. Aber um nicht wieder einzusteigen, müssen wir zwischendurch immer wieder aussteigen, denn unbewusst steigen wir sofort ein. Das ist so. Dann ärgern wir uns über uns selbst, dass wir wieder quasi drauf reingefallen sind, wieder eingestiegen sind. Aber das ist normal, das ist die Macht der Gewohnheit. Aber wir können andere, hilfreiche Gewohnheiten aufbauen. Immer wieder innehalten – das können wir jetzt gerade üben. Wir werden miteinander fröhlich beim Frühstück sprechen, und der eine oder andere wird in Momenten, wo er gerade nicht angesprochen ist, innerlich wie so eine kleine Pause machen, spüren und schauen, wo es dann als Nächstes langgeht. Das sind die kleinen Momente der Neuorientierung; und dann gibt es die größeren: die formelle Meditation, die informelle Meditation, die Pause auf der Bank irgendwo, den langen Spaziergang, das Nichtstun; immer wieder das Nichtstun. Also seid nicht überrascht. Es gibt eigentlich kein Loch nach dem Retreat, es gibt nur unseren Widerstand gegen das, was ist. Wenn wir uns schon von vorne herein klarmachen, dass es unsere Widerstände sind, die uns in solche Turbulenzen stürzen, dass wir nicht annehmen können, wie es dann halt ist, dann können wir es sehr schnell sein lassen. Wir stellen uns einfach dem, was ist. Und wenn es einfach mächtige Arbeit ist, was jetzt auf uns wartet, dann stellen wir uns der Arbeit. Das machen wir einfach; das muss sein, es geht nicht anders. Und in dieser Arbeit, in diesem Tun schauen wir, ob wir irgendwo ein paar Pausen rein kriegen, um es ein bisschen anders anzugehen. Meditation Lasst uns trotzdem noch mal in die Stille gehen. – Das ist jetzt einfach mal so eine Pause, von der ich vorhin gesprochen habe. – In solch einer Pause steigen wir total aus. Es ist, als ob wir ein Reset vornehmen. Alle laufenden Programme werden geschlossen. ... Dabei verhindern einige der Anwendungen noch das Runterfahren und wir insistieren, indem wir sagen: „Ja, bitte runterfahren! Auch diese Anwendung noch schließen!“ – Die Erfahrung sagt, dass wir mindestens zehn Sekunden ganz außerhalb all der normalen Aktivitäten sein müssen, bevor wir den Restart vornehmen. – Dann gehen wir wieder neu hinein in die Welt des Erlebens, des Denkens, des Gestaltens – aber immer nur das, was wir gerade brauchen. ***

Unterweisung zur radikalen Pause So manche Praktizierende haben sich gewünscht, es gäbe einen Knopf, auf den man drücken könnte, um so runter zu fahren und dann neu zu starten. Es gibt keinen Knopf, aber es gibt gebahnte Erfahrung. Wir können das lernen. Wir können unser System im Nu – genau so schnell wie einen Computer – runter fahren aus einer Übererregung, aus einer verfangenen Situation. Wir müssen ganz konsequent sein und wir werden bemerken, dass manche Gedankenketten, manche Filme wie hartnäckige Anwendungen sind, die sich nicht so leicht schließen lassen; die ein bisschen Widerstand leisten. Und genau da – das ist der springende Punkt – genau da steigen wir aus. Diese emotionalen Muster, diese begrifflichen Ketten sind mit einem hohen Grad an Identifikation versehen. Deswegen geben sie nicht einfach nach, wenn wir sagen: „Pause!“ Es bedarf einer energischen Pause, sie muss wirklich umgesetzt werden. Das bedeutet dann oft, dass wir aus einem Film aussteigen müssen, in dem

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wir gerade ziemlich ärgerlich sind oder auf unserem Recht bestehen; etwas wirklich wollen und nicht krie gen; wo irgendetwas schief gelaufen ist oder wir uns gerade in Schuld- oder Schamgefühlen aufhalten; dass wir Angst haben. Genau das ist das Programm, die Anwendung, die gerade verhindert, dass wir in Freiheit finden können; dass wir einen Neustart vornehmen können. Das braucht richtig Energie, Nachdruck im Lassen, im Loslassen, im Aussteigen. Wir nehmen es wahr und sagen: „Genug damit!“ Wir merken dann, dass uns das immer schneller gelingt. In der Neurophysiologie nennt man das eine Bahnung im Gehirn. Der Prozess des Sich-Entspannens wird gebahnt und wird immer leichter. Was am Anfang bei mir zehn Minuten brauchte um so runter zu fahren, geht nun in Sekundenschnelle; zum Teil in Zehntelsekundenschnelle. Weil es gebahnt ist, weil es vertraut ist. Wir sind vertraut damit zu entspannen, weil wir es kennen. Unser System kennt das und genießt das. Es geht manchmal sogar wie von selbst in diese innere Gelöstheit; aus einem tiefen Wissen heraus, dass genau das gut tut. Aber um das zu bahnen, braucht es dann doch einige Hundert klare Übungen darin. Das muss einfach stärker gebahnt werden als die übliche Verstrickung, die auch schon gebahnt ist. Die üblichen Muster, wie sich Sorgen zu machen und Angst zu haben, die Schuldgefühle, Wut und Ärger sind ganz hübsch gebahnt in uns. Das läuft in einer unglaublichen Schnelligkeit ab. Das überrascht euch vielleicht, aber genau so schnell wie wir wütend werden können, genau so schnell können wir entspannen; nur müssen wir es zulassen und durch Wiederholung bahnen, uns die Möglichkeit eröffnen. Es kommt euch vielleicht wie Zukunftsmusik vor, aber etwas, das so bewusst gebahnt wird, lernt der Organismus sehr schnell. Wir denken machmal, dass Atmung, Pulsfrequenz und die Stresshormone eben so ihre Zeit bräuchten, um runter zu fahren. Nein! Das geht ganz schnell! Genau so, wie das Herz ganz schnell beschleunigen kann, kann es auch ganz schnell wieder langsamer werden. Das ist sehr erstaunlich! Wenn wir in der Verspannung sind, fühlt es sich bei den meisten von uns so an, dass es im Kopf sehr stark angespannt ist, und sobald wir loslassen, ist das wie so ein Knistern, wenn sich alles wieder ent-faltet, entstrickt. Jetzt erlebe ich nur, dass es sich innerhalb einer Sekunde wie ein Strom öffnet und wieder völlige Frische da ist. Eine Sekunde normalerweise, wenn ich es wirklich möchte, wenn ich nicht im Zweifel bin. Das ist der springende Punkt: wenn ich nicht wirklich aus dem Film aussteigen will, weil da noch irgendeine Identifikation ist, dann kann der Film Stunden und Tage lang anhalten, weil ich ihn immer wieder nähre. Das heißt, die Entschlossenheit, mit der ich dieses frische, gelöste Gewahrsein zulasse, ist absolut entscheidend. Wenn ich den Film noch aufrecht erhalten möchte, wird er noch weiter bestehen bleiben. Wenn ich meine Wut noch möchte, wird sie bleiben. Wenn ich mir weiter Schuldgefühle machen möchte, werden die bleiben. Wenn ich in meinem Verlangen bleiben möchte, wird es bleiben. Aber wenn ich entschlossen bin, gibt es einen Weg. Diese Entschlossenheit entsteht aus der Weisheit, aus dem Wissen; aus dem Wissen darum, wie Leid entsteht und wie es aufhört; Wissen darum, wie Freude und Glück entstehen und wie sie verschwinden, und aus Mitgefühl. Hier ist es das Mitgefühl mit uns selbst; ein Mitgefühl, uns nicht unnötig lange in angespannten Geisteszuständen aufzuhalten. Nicht länger als nötig, das heißt, sobald wir gewahr werden, ist es nicht mehr nötig zu leiden. – Es ist unvermeidbar zu leiden, wenn wir nicht gewahr sind, aber wenn wir gewahr werden, dann bedeutet Mitgefühl, den schnellst möglichen Ausstieg zu finden. Weil wir uns der Folgen bewusst sind: Es wird nicht besser! Drin zu bleiben in dem Film, der uns jetzt gerade in Anspannung und Leid verstrickt, ist nicht sinnvoll. Das zu erkennen und umzusetzen, ist die Verbindung von Mitgefühl und Weisheit. Das ist mit Pause gemeint. Es ist nicht ein langsameres Laufen des Filmes, einfach ein bisschen entspannen aber innerlich alles weiter kultivieren, weiter hegen, was so unsere ganze Anspannung ausmacht. Was wir Pause nennen – und von denen brauchen wir viele am Tag – sind radikale Ausstiege. Radikal, weil es darum geht, die Wurzel des Anhaftens an unserem Film, an dem jetzt gerade laufenden Film, zu ziehen; auszu steigen! Das ist so, wie wenn wir bei einem Film, der uns gefällt, den Fernseher ausschalten. – Wir müssen davon ausgehen, dass uns unsere Emotionen gefallen, sonst hätten wir sie nicht. Wir wollen! Ein Teil von uns will die Emotionen! „Ich möchte wütend sein!“, „Ich will das!“ Verlangen: „Ich will das!“, „Ich fühle mich wohl mit meinem Stolz und ich habe ein Recht auf meine Eifersucht!“ Ok? Das ist so, wie ein Film, den wir gerne schauen, obwohl er uns in Anspannung versetzt und die Tränen laufen lässt. „Ich will meine Trauer!

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Bitte nimm mir nicht meine Trauer weg!“ Das sagen wir ja auch zu anderen so. Ok, solange wir das wollen, schauen wir den Film weiter. Aber bitte beklagt euch nicht! – Na? Habt ihr den Mut, das Programm einfach zu beenden? Stecker zu ziehen? Austaste drücken? Das ist die Frage. Und das ist genau so intensiv, wie bei einem guten Film, der uns eigentlich schon gefällt, egal ob es ein Horrorfilm, ein Krimi, ein Fußballspiel, eine Lovestory oder irgend eine Show ist... Was auch immer uns gerade fällt: Aus! Schluss! Ausstieg! Ich finde den Vergleich sehr angebracht, weil ich weiß, wie zäh wir in den Emotionen hängen und ich weiß, wie zäh ich da drin hänge. Ich weiß, dass ich den Stecker ziehen kann. Ich weiß, dass ich die Austaste drücken kann. Es geht! Ich habe es gelernt, ich muss es nur anwenden. Aber das ist meine Entscheidung. Und da kommt unsere Weisheitskraft rein. Andere mögen das Willen nennen. Wille? Ja, da ist eine Ent schlusskraft drin. Aber wenn ich es nicht tue, bedeutet das einfach, dass ich nicht mitfühlend und weise genug bin; dass ich nicht ausreichend genau hingeschaut habe, was die Konsequenzen sind, weiter in diesem Film unterwegs zu sein. Es hat nämlich Konsequenzen; es wirkt; es verändert mich und andere. Und bei dieser Art von Filmen, über die ich da spreche, bewirkt es Leid. Und so muss ich lernen auszusteigen, und das mit den Kräften von Weisheit und Mitgefühl. Der Wille alleine, ohne Weisheit und Mitgefühl, könnte einfach eine neue Form von Selbstmanipulation sein. Wenn ich es aus Weisheit und Mitgefühl tue, ist nur Erleichterung. Dann bin ich echt froh, es gepackt zu haben, aus dem Film auszusteigen; diesen Streit, den ich gerade mit meinem Partner/ meiner Partnerin laufen habe, einfach gesehen zu haben und beendet zu haben. Ihr wundert euch vielleicht, denn man kann ja über Psychodynamik arbeiten; man muss ja sprechen und sich austauschen und verstanden werden. Das hilft alles und ich mache es in meiner Partnerschaft; klar versuchen wir, einander zu verstehen. Aber auch wenn ich nicht verstanden werde und den anderen nicht verstehe, kann ich trotzdem den Stecker ziehen. Ich kann trotzdem aus diesem Film der Anhaftung/ Abneigung aussteigen. Das geht. Unilateral, wie man so sagt. Unilateraler Waffenstillstand – einseitig die Waffen nieder legen, der andere macht unter Umständen gar nicht mit. Kein bilaterales Abkommen: „Ich steige aus, wenn du aus steigst.“ – „Nein, aber ich steige erst aus wenn du aussteigst.“ – „Ja dann steigen wir doch beide gleichzeitig aus.“ Das nennt man bilaterales Abkommen. Keiner traut sich, die Waffen zu strecken, bevor der andere sie nicht streckt. Dharmapraktizierende warten nicht darauf. Denn wenn wir auf unseren vermeintlichen Vorteil verzichten – der in der Geschichte meistens irgendwo mitschwingt – wissen wir, dass der Rest des Filmes, der ohne unsere Beteiligung abläuft, unschädlich ist. Wir haben eine tiefe Weisheit. Und das ist die Weisheit, um die es in diesem Retreat ging. Was auch immer dann kommt – seien es Beleidigungen; sei es, dass jemand versucht, uns über den Tisch zu ziehen; sei es irgendeine Spannung, die kalte Schulter gezeigt bekommen; was auch immer dann kommt – es ist Erleben, das sich von selbst auflöst. Wenn wir tief verankert sind in dieser Gewissheit, dass wir gar nichts damit zu tun brauchen; dass sich der Rest des Filmes, wenn er von uns nicht genährt wird, von selber auflöst, dann können wir auch unilateral, einfach von uns ausgehend, einen Film beenden. Das ist auch für Beziehungen etwas ganz Wichtiges. Wir können es dem anderen auch mal ersparen, dass wir die Dinge ausdiskutieren müssen. Oder dass wir unbedingt eine Runde in gewaltfreier Kommunikation machen müssen, bevor wir das Problem bereinigt haben. Es muss nicht sein, dass wir irgendwie noch eine Friedensverhandlung vollziehen müssen. Das ist alles hilfreich, aber ich spreche euch jetzt über den eigentlichen Ausstieg. Diese Mittel sind unglaublich hilfreich, um die Täuschung zu durchschauen, die wir noch nicht durchschaut haben. Aber wenn ihr es könnt, beendet den Film doch einfach mal so. Das ist die eigentliche Pause. Die eigentliche Pause, die wirklich erfrischend wirkt, ist der Ausstieg jetzt sofort und das Eintreten in dieses Grundgewahrsein. Ihr habt im Laufe dieses Retreats, jeder auf seine Art, in euch bemerkt, was euer entspanntestes Sein ist. Das braucht ihr mit niemandem anderen zu vergleichen; auch nicht mit irgendeinem Ideal. Ihr habt gemerkt, was euer Ruhezustand ist; gelegentlich war er da, spürbar. Das nennen wir jetzt mal das gerade erreichbare, verfügbare Grundgewahrsein. Das braucht nicht nondual zu sein, das braucht auch nicht völlig frei zu sein von irgendwelchen Gefühlen und so, sondern es ist einfach der ruhigste, entspannteste Zustand, den ich kenne. Ich bitte euch inständig, ich rate euch euch, mehrfach täglich zu diesem Grundzustand zu kommen, zu diesem grundlegend entspannten Sein. Das ist die Praxis. Dieses grundlegend entspannte, gewahre Sein wird

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sich weiter entspannen, dank der wiederholten Präsenz, weil wir Vertrauen darin fassen. Es wird irgendwann das erwachte Grundgewahrsein sein; völlig frei von Schleiern. Aber darauf brauchen wir nicht zu warten. Wir haben ja bereits das, was uns jetzt gut tut. Dieses Grund gewahrsein, das uns jetzt gut tut, ist unsere Richtlinie für die Praxis. Damit braucht es täglichen Kontakt; täglich das System so weit runter fahren, wie es nur irgendwie geht. Wir steigen aus allen Filmen aus und gehen dann mit neuer Herzensenergie, mit neuer Ausrichtung in die Aktivität hinein. Wir werden uns wieder verstricken, aber wir können auch wieder aussteigen. Wir sollten nicht glauben, wir könnten jetzt einfach in die Aktivität einsteigen, ohne dass wir uns da verheddern oder emotional werden. Das ist alles wunderbar. Das befreit sich auch alles wieder und vor allen Dingen, wenn wir zwischendurch immer wieder diese echten Pausen machen. Das ist die eigentliche Praxis: immer zum Grundgewahrsein zurückkehren und dieses Grundgewahrsein sich ausweiten und vertiefen lassen; und zwischendurch in die Aktivität gehen und in der Aktivität möglichst wenig greifen. Das ist aus Mahamudra-Sicht die eigentliche Praxis.

Fragen Teilnehmer: Wenn ich merke, dass ich in einem reaktiven Muster bin, ist es denn nicht auch hilfreich, es zu analysieren und mir anzuschauen, was es jetzt ist, das mich getriggert hat? Wenn ich das mache und es dann erkannt habe, fällt es mir auch leicht loszulassen. Ja, das wäre jetzt so ein wichtiger Zwischenschritt. Wir merken, eine unserer Anwendungen möchte sich nicht schließen, da ist viel Enerige drin. Wir schauen hin; wir erforschen es und gehen mit dem Gewahrsein da rein. Dadurch entsteht das notwendige Verständnis, das uns ermöglicht, auf gute Art und Weise zu lassen. Das ist ganz wichtig und hilfreich. Teilnehmer: Zu diesem Stoppen der Emotionen: wie ist es mit Trauer? Da heißt es doch eigentlich, dass es eine gewisse Zeit braucht und dass es ein wichtiger Prozess ist, die Trauer auch zuzulassen... Heißt es. Ich habe jetzt aus einer viel grundlegenderen Ebene gesprochen und du hast mich schon missverstanden. Ich habe nicht davon gesprochen, die Emotion zu stoppen, sondern auszusteigen aus dem Film. Stopp war für den Film. Es geht darum, aus der Identifikation auszustiegen. Das ist was anderes als die Emotion zu stoppen. In der Trauer, in der Depression sind unglaublich stark identifizierende Kräfte beteiligt. Wir lassen die Trauer immer wieder kommen, aber es kann auch einfach mal gut sein. Was ich jetzt dargestellt habe, ist nicht dieses einfühlsame Arbeiten mit den Emotionen, verstehen, Raum geben, lassen und so. Es ging mir darum, was eigentlich eine Pause ist; die Radikalität der Pause klar zu machen; dass sie nicht nur darin besteht, eben mal zwischen zwei Aktivitäten einen Tee zu trinken. Darum ging es mir. Alles andere, was wir gelernt haben, was wir über die inneren psychischen Dynamiken wissen, sollten wir anwenden. Trauer braucht ihre Zeit, aber auch während der Zeit, in der wir trauern, ist es nicht notwendig, durchgehend zu trauern. Wir können zwischendurch lachen und freudig sein. Die Trauer kommt dann schon wieder. Es wird eine neue Welle kommen. Das sind auch Filme, zu denken: „Ich bin jetzt gerade traurig, ich habe jetzt meine...“ Wir sind aber gar nicht sechs Monate traurig, es kommen immer wieder Trauerwellen. Das ist auch in Ordnung, die können dann auch einfach mal wieder sein. Ich habe hier in eine andere Art gewechselt, über den Umgang mit Emotionen zu reden. Ich habe jetzt noch einmal klar gemacht, was wir eigentlich für eine Freiheit haben, wenn wir es denn wollen. Das ist eine Freiheit, die wir uns erarbeiten können. Wir haben den ganzen Kurs damit verbracht, zu schauen, dass wir nicht verdrängen, dass wir mit dem Gewahrsein rein gehen, dass wir bemerken. Aber darin löst sich das ja. Eine ganz wunderbare Art, wie ich diesen Ausstieg mache, ist zum Beispiel rein zu schauen, voll zu erleben. Das Erleben löst sich nämlich auch auf, wenn ich nicht mehr mit den Inhalten des Filmes beschäftig bin, sondern voll erlebe, wie es ist im Film zu sein. Da hört der Film auf. Es ist so, wie wenn ich im Betrachten eines Filmes nicht mehr der gefangene Zuschauer oder sogar Akteur bin, sondern mit den Augen eines Regisseurs schaue; mit den Augen von jemandem, der den Film analysiert. Der ist plötzlich nicht mehr in der Story gefangen. Er bemerkt, wie geschickt die Story inszeniert ist, wie geschickt die Farb-, Licht- und

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Klangeffekte sind und so weiter. Er sieht das ganze Wie und ist dadurch draußen, nicht mehr gefangen in der Story. Das ist der Wechsel. Das wollte ich euch einfach klar machen. Ich erahne, dass euch diese Unterweisung – wenn ihr sie hoffent lich nicht falsch in Richtung Verdrängen versteht, was überhaupt nicht gemeint war – helfen wird, die Kraft eurer Weisheit und eures Mitgefühls quasi wie bei den Hörnern zu nehmen; wirklich diese Kraft zu nehmen, zu sagen, „Es reicht! Ich habe es mir genug angeschaut! Es reicht jetzt!“, und lassen zu können. Das braucht es nämlich manchmal. Über diese zusätzliche Möglichkeit wird sehr wenig gesprochen. Wir können sie dann schadlos einsetzten, wenn wir bemerken, dass wir gewahr genug sind. Wir haben wahr genommen, wir laufen nicht weg. Es ist kein Davonlaufen. Wir können es dann auch kommen lassen in der Meditation, die darauf folgt oder die wir abends machen. Dann lassen wir den ganzen Film ganz bewusst wieder kommen und schauen in das Erleben rein. Gemeint ist also kein Vermeiden-Wollen sondern zu sehen, dass es nicht nötig ist, sich weiter zu verstricken. Teilnehmer: Zu der Entschlossenheit, die du jetzt noch ein paar Mal angesprochen hast: Reicht es, öfter diese Pausen zu machen und von daher auch gewahr zu sein und diese Film-Erkenntnis zu kultivieren? Mir fallen noch die vier grundlegenden Gedanken ein, die so etwas wie Entschlossenheit darstellen. Aber das weiß ich mehr so vom Kopf, als dass ich in der Situation dran denke, wenn jetzt so ein Film läuft. Die vier grundlegenden Gedanken sind nur eine Hilfe für diese Entschlossenheit. Ich sage z.B.: „Das Leben ist zu kostbar und zu kurz, als dass ich mich jetzt noch weiter in diesen Film verwickle!“ Das sind die ersten beiden grundlegenden Gedanken zusammen mit dem dritten, weil ich die Konsequenzen sehe – Karma. Sie führen dazu, dass ich – zusammen mit dem vierten Gedanken, der Kontemplation über Samsara – aussteige. Es sind eigentlich schon alle vier darin enthalten gewesen. Das Leben ist zu kostbar, zu kurz, als dass ich mit etwas weiter mache, was solche Auswirkungen hat und mich immer weiter verstrickt. Deswegen nehme ich Zuflucht ins klare, offene Bewusstsein. Da sind sie schon, die vier grundlegenden Überlegungen. Sie helfen uns beim Ausstieg. Mir hilft es z.B. in der Beziehung mit meiner Frau, zu sagen: „Nein, mir ist das zu kostbar, und das Leben ist zu kurz! Ich will nicht so ins Bett gehen! Ich steig aus, es reicht! Ich hab‘s genug gesehen. Ich kenn‘ mein Theater.“ Ich steige ja aus meinem und nicht aus ihrem Theater aus. Ich steige immer nur aus meinem Film aus, was beim anderen dann womöglich den Ausstieg auch erleichtert. Machmal merke ich das Zähe in mir, dass ich den Film noch will. Ich brauche den irgendwie. Und bei manchen komme ich mir vor, wie in so einer Fortsetzungsserie.

Abschluss Erst geht mein Dank natürlich vor allen Dingen an Gendün Rinpoche. Alles was wir hier miteinander geteilt haben, kommt von meinem Lehrer Gendün, der das mit uns gelebt hat. Er hat es uns gezeigt und unterrichtet. Während des Kurses gab es zwei, drei Momente, in denen ich einfach nicht wusste, wie es weiter geht. Dann habe ich zu Lama Gendün gebetet, weil ich nicht wusste, was die nächste hilfreiche Unterweisung sein könnte oder sollte. Ich wusste es nicht, keine Ahnung. Immer wenn ich nicht weiß, habe ich so einen Reflex – der ist inzwischen auch schon gebahnt –, und ich bete zu Lama Gendün. – Ich hab keine Ahnung, ob es da jemanden gibt, der mich hört. Aber es funktioniert. Es hat schon zu Lebzeiten Lama Gendüns funktioniert und funktioniert seither genau so gut. Damals, als Lama Gendün einige von uns beauftragt hat, die Reteats zu leiten, das Kloster zu führen und auch die Übertragungslinie weiter zu geben, hat er uns Segen gegeben. Er hat gesagt, dass wir darauf vertrauen können, dass der Segen der Übertragungslinie immer bei uns sein wird. Er hatte uns einen Khatag um den Hals gehängt. Das war eine offizielle Zeremonie, in der Neun von uns als seine Nachfolger in diese Verantwortungsposition berufen wurden. Dieser Segen der Übertragungslinie ist so was von spürbar. Ihr denkt jetzt vielleicht manchmal – oder auch nicht, weil ihr weit genug auf dem Weg seid –, dass Heiko und ich aus uns heraus unterrichten; dass wir eigentlich gute Lehrer sind. Aber im Grunde genommen – wenn ich

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das auch für dich sagen darf, Heiko – sind wir einfach gesegnet von einer Übertragungslinie. Wir haben Anschluss an etwas Authentisches, Befreiendes erfahren, an eine Kraft, die uns transformiert während wir unterrichten. Während wir den Dharma weiter geben, wirkt diese Kraft durch uns. Ich höre mir manchmal beim Unterrichten zu und bin ganz angetan, weil ich so viel lernen kann. Als Heiko im Retreat war, war ich auch noch ein junger Lama/Drupön. Ich war manchmal so baff, was dieser Mund an Wahrheiten, an Weisheiten ausdrücken konnte – speziell auch in der allerersten Generation. Was dieser Geistesstrom an intuitivem Verstehen formulieren konnte, einfach bloß weil in mir etwas bereit war, mich in den Strom dieser Übertragung rein zu stellen und nicht zu blockieren. Dann konnte ich mir selbst zuhören und hörte Unterweisungen, bei denen ich mir sagte: „Boa! So gut hast du es noch nie verstanden!“ Versteht ihr? Dieser Prozess hat noch nicht aufgehört; er geht immer noch weiter. Diejenigen, die häufiger kommen, merken, dass eigentlich keine Unterweisung wie die andere ist. Das nennt man das Wirken der Übertragungslinie. Die Lehrer beschreiben das so, dass sie in der Begegnung – in dem Fall Lama Gendün – Samen setzen. Ihr Vorbild, ihre Unterweisungen, ihre Worte setzten Samen in unseren Geist; das ist der Ausdruck, den sie benutzen. Sie wissen, dass sie im Normalfall vor uns sterben werden und sie wissen auch, dass bei uns das Gleiche passieren wird wie bei ihnen, dass nämlich – obwohl der Lehrer schon gestorben ist – die Samen weiter aufgehen werden; dass wir noch verstehen werden, was wir zu Lebzeiten des Meisters noch nicht verstanden haben, weil die Samen da sind und bewässert werden. Diese Samen haben Bedingungen, um aufzugehen; man nennt das Hingabe. Das Wort Hingabe meint eigentlich die Qualität des Vertrauens, des liebevollen und vertrauensvollen Sich-Öffnens genau für das, was mal als Same kam, und dann dran zu bleiben. Diese Kräfte, die schon zur Zeit des Lehrers begonnen haben zu wirken, können weiter wirken und weiter aufgehen. So können zu einem ganz frühen Zeitpunkt im Leben von einem Schüler, der diese Hingabe hat, Samen gesetzt werden, für etwas, das für den ganzen Rest des Lebens weiter aufgeht und sich weiter entfaltet. Das Phänomen, dass es komplette Übertragungen von Worten, Texten und Methoden gibt, die aber noch nicht zur Lebenszeit des Lehrers oder der Lehererin voll verwirklicht werden müssen, und dass sich dieser Prozess abschließt und im Rest des Lebens vollendet und auch wieder weiter gegeben werden kann, dieses Phänomen nennt man eine Übertragungslinie. Darum sagen wir, was sich jetzt hier vollzogen hat, ist eigent lich das Phänomen, dass eine Mahamudra-Übertragung weiter fließt; mit neuen Ausdrücken, aber immer wieder das Wesentliche; genau das, was damals schon übertragen wurde von Tilopa zu Naropa, von Naropa zu Marpa, von Marpa zu Milarepa, von Milarepa zu Gampopa, von Gampopa zum ersten Karmapa und so weiter, die ganze Linie bis hin zum 16. Karmapa, der einer der Wurzel-Lehrer von Gendün Rinpoche war. Zu der Zeit, als Gendün Rinpoche schon hoch verwirklicht war, hat Karmapa ihm noch einmal die gesamte Übertragung gegeben. Gendün Rinpoche hatte andere Lehrer im Retreat, und in der Zeit nach dem Retreat waren zwei Lehrer ganz wichtig für ihn. Aber er betrachtete in der späteren Phase seines Lebens den 16. Karmapa als seinen Wurzelguru. Der hat ihn dann auch gegen seinen Willen in den Westen geschickt. Er hat da auch nicht groß gefragt. Genau so wie Gendün Rinpoche mich gegen meinen Willen zum Retreatleiter gemacht hat. Da hat er auch nicht gefragt. Er hat nur darauf gewartet, dass ich endlich zustimme. Aber die Meister wissen das. Sie sehen schon ein bisschen die Zukunft voraus und wissen, dass das schon gut raus kommt. Es bewahrheitet sich dann auch. Wir sehen, wie segensreich es war, dass Gendün Rinpoche diese Übertragung zu uns gebracht hat. Durch jeden, der ihm begegnet ist, fließt etwas von dieser Über tragung weiter. Davon wollte ich euch auch sprechen, denn vor Tilopa sind noch all die indischen Lehrerinnen und Lehrer. Da sind auch Lehrerinnen dabei wohlgemerkt! Das geht bis zurück auf den Buddha. Und von Buddha heißt es, dass auch er in früheren Leben Lehrer gehabt hat und bei Buddhas gelernt hat, die ebenfalls solche Samen gesetzt haben, die dann aufgehen konnten. Es geht eigentlich um diesen Strom der Übertragung. Wir selbst sind Durchgangsphänomene. Es geht darum, diesen Strom der Übertragung erst einmal weiter zu ermöglichen, anderen zugänglich zu machen und zu schauen, dass er in die nächsten Generationen weiter geht und dann wieder weiter gegeben werden kann.

„Gewahrsein entwickeln“

Lama Tilmann, Remetschwiel, August 2014

Das ist ein wesentlicher Bestandteil dessen, was wir Mahamudra nennen. Ich wollte zum Abschluss noch einmal davon sprechen, denn dem gilt mein absolut größter Dank. Es hat mein Leben total verändert und – egal wie begrenzt das alles ist – Tatsache ist, dass es mich immer wieder mit der Kraft erfüllt, einfach weiter zu gehen, zu schenken, zu teilen. Eigentlich ist die Quelle dort – im eigenen Geist und in der Übertragungslinie. Wenn die zusammen kommen, dann passieren solche Wunder. Jetzt noch Dank an euch alle. Es war für mich ein ganz wunderbarer Kurs, ein ganz schönes Retreat. Ihr habt ja, so wie ich das schon angesprochen hatte, die Unterweisungen durch euer Sein und eure Praxis hervor gelockt. Ich hoffe sehr, dass wir so weiter gehen können. Ich möchte dir ganz herzlich danken, Heiko! Für mich war dieser Kurs deutlich leichter, ich war entlastet, weil du deinen Part so gut erfüllt hast. Das funktioniert einfach so, ohne dass wir uns da abzusprechen brauchen. Wie man so sagt, wir kommen aus demselben Stall. Und das geht dann einfach so. Wenn du dich danach fühlst, ein paar Worte zu sagen; ich hab einfach das Wesentliche schon gesagt. Lama Heiko: Für mich war das auch eine sehr interessante Zeit hier, mit sehr verschiedenen Erfahrungen. Es ist für mich auch eine Herausforderung, wie ihr sicherlich schon gemerkt habt, wieder in so eine Aktivität rein zu gehen; Dinge zu erklären in einer Sprache, die ich nicht mehr so gewöhnt bin. Aber es ist für mich auch eine unwahrscheinlich bereichernde Erfahrung. So wie du es auch ausgedrückt hast, es kommt dann so ins Fließen. Es ist ein Austausch auch mit euch zusammen und es entsteht einfach Verständnis in der Situation. Es ist sehr schön, wie du das ausgedrückt hast. Es geht in diese Richtung. Die Antwort erscheint dann auch manchmal einfach so in der Situation. Als würden wir selber und alle etwas zusammen tun und dann erscheint es einfach. Ja, bei dem Kurs, den ich anbieten muss, äh, werde... [Lachen] Lama Tilmann: Es bleibt dir keine Wahl. Ich glaube, wir sind gerade Zeugen eines Übertragungsphänomens. Lama Heiko: Wie nennt man das in der Psychologie noch mal, wenn man sich so verspricht? Ein Freudscher. Also die Idee ist, eine Alternative zu diesen relativ langen Kursen von acht Tagen anzubieten. Das heißt, ich werde einen Vier-Tages-Kurs anbieten. Vielleicht dann auch für Leute, denen das andere zu intensiv oder zu lang ist, oder die vielleicht auch nicht so viel Zeit haben, einen längeren Kurs mitzumachen. Ich möchte es eigentlich erst mal nicht als Schweigeretreat machen, aber genau so auch Erklärungen und gemeinsame Meditationen vormittags und nachmittags machen. Mit der Möglichkeit, auch mal zusammen in der Zeit spazieren zu gehen. Für diesen Kurs habe ich mir als Thema ausgesucht: Das Vierfache Kultivieren von Achtsamkeit. Das ist eine andere Einteilung von den Sachen, die wir hier machen. Es geht in die gleiche Richtung, würde ich sagen. Es ist einfach noch mal eine andere Darstellung. Lama Tilmann: Ich danke dir sehr, dass du das bereit bist, das zu machen. Denn ich habe mich entschlossen, wie ihr mitbekommen habt, diese acht-neun-tägigen Retreats anzubieten und nicht mehr diese kürzeren. Da braucht es einfach eine Zwischenform. Es wäre dann auch geeignet für Freunde von euch, die einen Einstieg suchen, denn es ist eben nicht im totalen Schweigen. Lasst uns jetzt in ein paar Minuten der Stille noch einmal Revue passieren, was denn so diese Woche bei uns passiert ist, was wir an Wesentlichem erlebt haben. Geht noch einmal zurück. Vielleicht erinnert ihr euch noch an den Ankuftstag, an die ersten beiden Tage. Wie ihr euch gefühlt habt. ... Es ist fast anzunehmen, dass alle von uns Höhen und Tiefen erlebt haben; dass wir vielleicht Durststrecken erlebt haben; dass aber auch ein Erkennen und Verstehen da war; dass wir wie Geschenke aus der Praxis erhalten haben. – Vielleicht gibt es ja etwas davon, was ihr als Geschenk in diese Runde tragen möchtet; etwas, von dem ihr die Gruppe wissen lassen möchtet, was euch bewegt, was ein Geschenk für diese Gruppe sein könnte. Und

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„Gewahrsein entwickeln“

Lama Tilmann, Remetschwiel, August 2014

der Raum ist damit offen für spontane Beiträge; für das, was sich jetzt gerade ausdrücken möchte. Wir atmen nach jedem Beitrag einmal tief durch, dann kann der Nächste sprechen. Anders als ich, müsst ihr euch kurz fassen. Aber ich werde jetzt wenig sagen. Gibt es noch etwas zu sagen. Wie ist es? Teilnehmer: Dass du bitte gut auf dich aufpasst, sodass du uns noch ganz lange erhalten bleibst. Teilnehmer: Und nicht jedes Mal einen Zahn verlierst! Oder fast jedes Mal... Ja, er ist ja noch drin, devitalisiert... Aber wer hatte das gesagt? Du? Der wurzelbehandelte Wurzellama. Ich sag euch, wenn man da so einen lachenden Buddha in sich hat... Oder eben: Der Tilmann hat auch seinen Text wieder verwendet... [Lachen] Teilnehmer: Wir haben ja Texte, die gucken wir jeden Tag durch. Also nächstes Mal wieder! Teilnehmer: Vor allem, weil du gesagt hast, vielleicht merken wir es nicht... ich habe es wirklich nicht gemerkt, dass es noch einmal der gleiche Text war. Ich habe es ja selbst nicht gemerkt. Heiko: Ich habe es gemerkt, aber ich dachte es wäre normal, dass du öfter mal den gleichen benutzt. Teilnehmer: Ich kann euch beruhigen, auch wenn der Text derselbe ist, wir sind nie dieselben. Teilnehmer: Ich wollte nur sagen, ich finde den Text ganz wunderbar und wenn ich den 20 Mal höre, da werde ich jedes Mal was anderes hören. Insofern schadet es nie. Teilnehmer: Ich finde es sogar super spannend zu sehen, wie ich es immer neu verstehe, ganz neue Aspekte herauskommen. Ich werde meine Notizen mit dem letzten Jahr vergleichen. Aber ich bin mir sicher, da steht etwas anderes drin. Teilnehmer: Da möchte ich anknüpfen. Ich finde es schön auch zu spüren, nicht nur wie ich jedes Mal etwas anderes daran verstehe sondern auch, wie ich auch immer tiefer spüre. Schicht um Schicht, so ansatzweise wenigstens, wo es hindeutet. Die Reise wird immer spannender. Teilnehmer: Und unser Reiseführer wird immer entspannter. Teilnehmer: Ich wollte mich noch für einen Hinweis bedanken, der mir sehr geholfen hat. Ich hatte über viele Jahre einen ganz intensiven Zugang zu Metta und hat auch super funktioniert. Diesmal habe ich gemerkt, wie viel Ego da eigentlich noch drin ist, immer besonders gut sein zu wollen. Das fand ich auch sehr hilfreich, da auch mit den schwierigen Anteilen von mir, die ich eigentlich gar nicht gerne sehe, konnte ich diesmal sehr gut arbeiten. Damit hatte ich viel zu tun.Für mich nicht so angenehm, aber ich finde es auch spannend, diese anschauen zu können. Sie lösen sich dann auch irgendwann auf, glücklicherweise. Danke. Wollen wir mit der Stille hinüber gleiten in die Widmung? Widmung Dafür lassen wir unseren Herzensgeist noch einmal ganz weit werden, verbunden mit allen in allen Uni versen. Es heißt in den Unterweisungen, dass es überall, wo es Raum gibt, Lebewesen gibt. Sie alle wünschen sich, glücklich zu sein. Darum sei unsere Praxis ihnen gewidmet. So aufrichtig und vollkommen gewidmet, dass wir hier aufstehen können mit dem Gefühl: „Niemand hat praktiziert.“ – ENDE