Es geht nicht um Religion. Es geht um Demokratie

Es geht nicht um Religion. Es geht um Demokratie. In der Politik ist nichts unangreifbar. Das ist das Fundament der Demokratie. L assen Sie mich ein...
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Es geht nicht um Religion. Es geht um Demokratie. In der Politik ist nichts unangreifbar. Das ist das Fundament der Demokratie.

L

assen Sie mich einleitend einige Worte zu Charlie

Daher sollten alle Bürger dieser Welt sich diese zu

Hebdo sagen: Vor dem 7. Januar 2015 waren wir

eigen machen und für sie eintreten.

eine kleine politische Satirezeitschrift, dessen Bekannt-

heit normalerweise nicht über die Grenzen Frank-

Seit der Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen

reichs hinaus reichte, es sei denn, der Prophet Moham-

ist ständig von Religion und vom Respekt religiöser Ge-

med und seine selbsternannten Stellvertreter schalteten

fühle die Rede. Das ist ein großer Fehler. Es geht hier

sich in die aktuelle Debatte ein. Unsere Hauptsorge

nicht um Religion. Es geht vielmehr um Politik. Neh-

bestand darin, das Geld aufzutreiben, damit wir wei-

men wir ein Beispiel: Als die ägyptische Armee im Juli

terhin erscheinen konnten und denen entgegenzutre-

2013 auf die Anhänger Mohammed Mursis schoss,

ten, die uns beschuldigten, gefährliche Provokateure

zeichnete Riss ein Titelblatt, auf dem ein Muslimbruder

oder gar niederträchtige Rassisten zu sein. Und das,

zu sehen war, der versuchte, sich hinter einer Ausgabe

obwohl Charlie Hebdo von Anfang an immer jede Form

des Koran zu schützen und von einer Kugel getroffen

des Rassismus, Antisemitismus, der Homophobie und

wurde. Daneben stand: »Der Koran ist Mist, der hält

des Sexismus bekämpft hat.

keine Kugeln auf.« (»Le Coran, c’est de la merde, ça n’arrête pas les balles«). Ist diese Zeichnung blasphe-

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Innerhalb weniger Minuten, in der Folge eines furcht-

misch? Nein. Ist sie eine Beleidigung für jeden Gläu-

baren Anschlags, wurden wir dann zu einem weltwei-

bigen? Nein. In Frankreich ist es zwar nicht sehr höflich,

ten Symbol, zum Inbegriff der Meinungs- und Ge-

aber sehr üblich, über etwas zu sagen, dass es »Mist ist«

wissensfreiheit. Wir wurden zu Helden. Und lassen

(»c’est de la merde«). Man sagt es häufig, bei vielen Gele-

Sie mich Ihnen eines sagen: Das ist nicht unsere Auf-

genheiten, und meint damit, dass etwas nicht funktio-

gabe. Niemand bei Charlie Hebdo hat sich darum be-

niert oder sehr schlecht ist. Prinzipiell hat man auch das

worben, ein Held zu sein. Es ist nicht die Rolle einer

Recht zu sagen, dass der Koran sehr schlecht ist. Der

Zeitschrift, und insbesondere nicht die einer Satire-

Koran ist ein Buch, und man hat das Recht zu sagen,

zeitschrift, ein Symbol zu sein. Die Überzeugungen

dass ein Buch sehr schlecht ist, selbst wenn es den Stem-

und Werte, für die wir eintreten, sind universelle Wer-

pel »heilig« trägt. Man hat das Recht, das über den Ko-

te und als solche gehören sie allen Bürgern dieser Welt.

ran, die Bibel, die Tora, das Mahabharata … zu sagen.

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Es ist nicht die Rolle einer Zeitschrift, und insbesondere nicht die einer Satirezeitschrift, ein Symbol zu sein. Die Überzeugungen und Werte, für die wir eintreten, sind universelle Werte und als solche gehören sie allen Bürgern dieser Welt. Daher sollten alle Bürger dieser Welt sich diese zu eigen © Frank Nürnberger 2015

machen und für sie eintreten. Gérard Biard Chefredakteur des Satiremagazins Charlie Hebdo

Und im angesprochenen Fall gilt das umso mehr.

Wenn man den Koran zur Grundlage eines Staates

Denn hier ist der Koran vor allem ein politisches

erklärt, wenn er zum Regelungsinstrument einer

Programm. Der Slogan der Muslimbrüder ist in die-

Gesellschaft wird, dann wird er genauso behandelt

sem Punkt sehr deutlich. Er lautet: »Der Islam ist die

wie alle anderen politischen Plattformen. Dasselbe gilt

Lösung, der Koran ist unsere Verfassung«. Hier ist

für die Bibel, wenn sie von den fanatischen Anhängern

keine Mehrdeutigkeit möglich: Die Muslimbrüder,

der Tea Party angeführt wird, und ebenso für die Tora,

in Ägypten wie Tunesien, sehen den Koran nicht als ein

wenn sie als Rückgrat der religiösen Parteien Israels

religiöses Werk, nicht als persönliche »Richtschnur«

dient. Gewiss hat man das Recht zu sagen, dass es sich

des Gewissens, sondern vielmehr als Instrument der

hierbei um die geoffenbarte Wahrheit handelt, aber

politischen und gesellschaftlichen Kontrolle – dasselbe

man hat auch das Recht zu sagen, dass das Unsinn ist

gilt für die Könige und Emire der Golfregion oder

(»c’est n’importe quoi«). Das hat nichts mit Rassismus

die Mullahs im Iran. Er ist ihre Mao-Bibel. Und wenn

zu tun. Und auch nicht mit Blasphemie. Unabhängig

man sagt, die Mao-Bibel ist Mist (»le Petit livre rouge

davon, welche »Heiligen Schriften« man vor kränken-

est de la merde«), ist das auch nicht eine Beleidigung

den Kommentaren und Beschimpfungen schützen möch-

oder Diskriminierung aller Chinesen.

te, man darf sie nicht ins Zentrum der Politik stellen, denn dort verlieren sie ihren heiligen Charakter. Dort

In einer Demokratie ist ein politisches Programm

ist alles anfechtbar, und es wird auch früher oder spä-

nicht »heilig« und es kann, ja es muss, kritisiert, disku-

ter angefochten werden. Das ist das Fundament der De-

tiert, verspottet werden. Es ist nicht verboten, es, selbst

mokratie.

scharf, zu kritisieren. Ich nehme an, bei Ihnen gibt es, wie bei uns [in Frankreich], politische Parteien,

Dieses Fundament wird im Fall des religiösen Diskurses

die es sich nicht nehmen lassen, vom Programm der

durch den Laizismus geschützt. Besagter Laizismus,

jeweils konkurrierenden Partei zu sagen, dass es Mist

auf den wir bei Charlie Hebdo so viel Wert legen. Ge-

ist (»c’est de la merde«), ohne dass das irgendjemanden

statten Sie mir hierzu einige erklärende Worte, damit

schockiert.

Sie das Wesen des Laizismus besser verstehen. Um die Religionsfreiheit zu gewährleisten, darf sich nach dem

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angelsächsischen Modell, das Ihnen vielleicht ver-

ist keine Demokratie, und seit einiger Zeit können

trauter ist, der Staat nicht in religiöse Angelegenhei-

wir auch beobachten, wie Recep Tayyip Erdogan, nun-

ten einmischen. In Frankreich ist es genau umge-

mehr Präsident der Türkei, sich nicht mehr darum be-

kehrt: Die Religion darf sich nicht in staatliche An-

müht, »gemäßigt« zu erscheinen… Sobald man eine

gelegenheiten einmischen. Die Grundprinzipien des

Gesellschaft einem Gesetz unterwerfen möchte, das

französischen Gesetzes zur Trennung von Kirche

seine Legitimität aus einem »höchsten Wesen« bezieht,

und Staat von 1905 finden sich gleich in seinen ersten

ist jede Hoffnung auf Demokratie und Gleichheit illu-

zwei Sätzen: »Die Republik gewährt Gewissensfrei-

sorisch, und jede Form des Terrors und der Unterdrü-

heit« – dies impliziert die Freiheit zu glauben, aber

ckung ist möglich. Die Religion war von jeher der be-

auch die Freiheit nicht zu glauben – und »die Republik

ste Vorwand, um einen Staat von seinen »Unreinen«,

erkennt weder eine Religionsgemeinschaft an, noch

dem ökumenischen Begriff für Gegner, zu säubern.

finanziert oder bezuschusst sie eine Religionsgemeinschaft«. In Frankreich gibt es keine Staatsreligion. Der

Damit Demokratie funktionieren kann, muss das

Staat ist atheistisch und die Religion hat nichts mit der

Wort Gottes, ja selbst die Existenz eines solchen, wie

Staatsbürgerschaft zu tun, sondern ist Privatsache. Das

auch immer gearteten, geheimnisvollen höheren We-

ist von grundlegender Bedeutung.

sens, unbedingt von der öffentlichen Debatte ferngehalten werden. Genau dies ermöglicht der Laizismus,

Ein laizistischer Staat muss nicht zwangsläufig demo-

bei dem ein Bürger sich nicht über seine Religion

kratisch sein, jedoch kann es ohne Laizismus keine

definiert.

Demokratie geben. Nur der Laizismus ermöglicht die umfassende Ausübung dieses politischen Systems,

Lassen Sie mich nun über Blasphemie sprechen. Wir

das gewiss nicht perfekt ist. Es hat aber einen unschätz-

müssen nicht nur das Recht auf Blasphemie einfordern

baren Vorteil gegenüber allen anderen Systemen: es weiß

und es verteidigen. Wir müssen seine Universalität

eben, dass es noch verbesserungswürdig ist. Und daher

bekräftigen und betonen, dass es zur Ausübung der

bietet die Demokratie den einzigen Rahmen, in dem eine

Freiheit notwendig ist. Darüber hinaus ist es für die

Gesellschaft auf Weiterentwicklung hoffen darf.

Gläubigen unverzichtbar. Einen Glauben an Gott ohne Gotteslästerung gibt es nicht. Im Grunde lästern nur

Die Demokratie kennt unter anderem das Prinzip, dass

die Gläubigen über Gott: Damit man etwas oder je-

jedes Gesetz anfechtbar ist und keines unangreifbar. Das

manden beleidigen oder sich auch nur darüber lustig

göttliche Gesetz hingegen erklärt sich als unabänder-

machen kann, muss man davon überzeugt sein, dass es

lich, in ewigen Stein gemeißelt, es soll nicht kritisiert

existiert, dass es real ist. Atheisten lästern nicht über

oder in Frage gestellt werden. Es ist also mit der Demo-

Gott. Sie sagen »gottverdammt« (»bordel de dieu«) ge-

kratie nicht vereinbar. Umso mehr, da Gott, sobald man

nauso wie »verdammter Mist« (»bordel de merde«),

seine Existenz auf der politischen Bühne zulässt, ein

ohne nachzudenken. Und wenn sie Gottheiten in

unumstößlicher Tyrann ist. Irgendwann stirbt jeder

peinlichen Situationen zeichnen, malen oder filmen,

Diktator, jede Junta wird einmal abgesetzt. Gott abzu-

dann tun sie nichts anderes als das, was sie auch mit

setzen ist jedoch sehr schwer. Wer an ihn glaubt, wird

dem Bild eines Königs, Präsidenten oder Ministers tun

es immer tun, egal was passiert. Deshalb ist es nicht

würden. Blasphemie ist nichts weiter als der Ausdruck

akzeptabel, dass er über die Schwellen seiner Kirchen,

der Anfechtung der Macht.

Moscheen, Synagogen, Aschrams, Pagoden oder anderer Tempel nach draußen tritt.

Deshalb ist es absurd (»il est idiot«) zu behaupten, sie könnte als Beleidigung gegenüber allen Gläubigen

Ein Diktator, ein Henker, benötigt nicht unbedingt

empfunden werden. Zunächst einmal, weil diese selbst

die Religion, um die Demokratie mit Füssen zu treten

häufig von Blasphemie Gebrauch machen. Und zwei-

und Massenverbrechen zu begehen. Jedoch entkommt

tens, weil man sich nur dann gekränkt fühlt, wenn die

kein Staat, der seine Autorität auf einem religiösen Dog-

Beleidigung oder der Spott auf etwas Persönliches

ma begründet, der totalitären Versuchung. Der Vatikan

oder Intimes abzielt.

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Die Blasphemie zielt aber nicht auf den persönlichen

Recht für Muslime, Lehrpläne für Muslime, Kranken-

Gott jedes einzelnen Gläubigen, sondern auf die öffent-

häuser für Muslime, Schwimmbäder für Muslime, fehlt

liche Person Gottes, die Verkörperung des Dogmas, das

nur noch die Forderung nach Bussen für Muslime und

allen auferlegt sein soll.

Straßen für Muslime.

Hingegen versteht man sehr gut, warum die Blasphe-

Kurzum, glaubte man den Anhängern des »Respekts«,

mie die religiösen Autoritäten in Rage bringt. Sie ha-

würden die Muslime am liebsten Apartheid fordern.

ben sie in vielen Ländern sogar zu einem Verbrechen

Und zwar wären sie dann gerne auf der falschen Seite.

erklärt, auf das die Todesstrafe steht. Die Blasphemie

Es ist bekannt, dass eine große Mehrheit der Muslime,

bringt einen kleinen Teil der göttlichen Macht ins

gläubig oder nicht, dieses Dogma, das sie zu einer

Wanken, deren ewige Hüter sie sein wollen und die sie

besonderen »Spezies« in unseren Gesellschaften ma-

für unumstößlich erklärt haben. Das Delikt der Blas-

chen soll, nicht akzeptiert.

phemie verdeutlicht das zutiefst totalitäre Wesen der religiösen Macht. Nordkorea hat seine Arbeitslager,

Man muss ihre Stimmen nur hören – und keine Angst

die Religionen haben das Delikt der Blasphemie. In

haben hinzuhören, denn zu häufig werden sie vom

beiden Fällen wird der Einzelne unter Androhung von

Gebrüll der Islamisten und ihrer Unterstützer über-

Strafe aufgefordert, sich mit Leib und Seele mit der

tönt. Man kann nicht allein Fundamentalisten als

Macht und ihren Repräsentationen zu identifizieren

Gesprächspartner, als einzige Zeugen der musli-

und sich gekränkt zu fühlen, wenn diese Macht ver-

mischen Welt, akzeptieren und gleichzeitig Millionen

spottet oder angefochten wird.

von Demokraten, Journalisten, Schriftstellern, Künstlern, Intellektuellen und einfachen Bürgern musli-

In einer Demokratie muss das Recht auf Blasphemie

mischer Kultur mit der Begründung ihrem Schicksal

geschützt und unantastbar sein, so wie alle anderen

überlassen, dass sie keine demokratische Tradition

Formen der friedlichen Anfechtung der Macht. Sie ist

hätten und man die »Identität« jedes Volkes respek-

eine der vielen Formen der Meinungs- und Gedanken-

tieren müsse…

freiheit. Sie ist ein universelles Prinzip. Machen mich diese Worte zu einem Provokateur? HaLassen Sie uns nun zu besagtem »Respekt« kommen.

ben wir mit unseren Karikaturen bei Charlie Hebdo Öl

Er wird ständig angeführt und ist doch im Grunde

ins Feuer gegossen? Haben wir 1,5 Milliarden Menschen

nichts anderes als Verachtung für die Muslime, die über-

dieser Welt beleidigt?

all auf der Welt die ersten Opfer des totalitären Islamismus und seiner Schlächter sind.

Vernünftige Menschen sagen uns, dass wir die Gläubigen nicht in ihrem Glauben verletzen dürfen. Wir

Schauen wir uns an, worauf dieser Respekt beruht: Er

sind offen für eine Debatte hierüber. Damit diese De-

beruht auf dem Prinzip, dass die Muslime nicht wie die

batte stattfinden kann, müssen allerdings zunächst

anderen seien. Dieses Prinzip besagt, dass das musli-

gewisse Gläubige, oder solche, die sich dafür ausgeben,

mische »Wesen« physische und intellektuelle Merkmale

aufhören, diejenigen, die nicht voll und ganz ihre

besitze, die sich von denen des »Homo Vulgus« un-

Überzeugungen teilen, buchstäblich zu verletzen oder

terschieden: es könne Peitschenhiebe und Steini-

zu töten. Sie müssen aufhören, auf den Bleistift und die

gungen besser aushalten, hätte jedoch Probleme, Al-

Feder mit dem Dolch, der Kalaschnikow und dem

kohol zu vertragen. Es wäre zudem übertrieben emp-

Sprengstoffgürtel zu antworten.

findlich, wenn man sich über den Propheten lustig mache und dulde keinen Widerspruch. Das sei gene-

Es ist richtig, dass man in Zeiten des Internets, im Zeit-

tisch bedingt. Oder besser: so habe Gott es geschaffen.

alter von Facebook, Twitter und Informationsglobalisie-

Im Namen des »Respekts« werden nun also in den de-

rung, in Masar-e Scharif hört, was in Berlin gesagt wird.

mokratischen Ländern besondere Gesetz für die »[mus-

Aber müssen wir deshalb als Journalisten, als Karika-

limische] Gemeinschaft« gefordert. Man bräuchte ein

turisten, immer im Hinterkopf haben, dass unsere Texte

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und Zeichnungen jemanden irgendwo, dort, weit weg,

Weshalb sollen denn die Religionen stärker geachtet

anderswo, schockieren könnten?

sein als die Rechte und Gesetze des Menschen? Sobald eine Religion den Anspruch erhebt, dass ihre Regeln

Unter diesen Umständen dürfte es sehr schwierig wer-

für eine gesamte Gesellschaft gelten, handelt es sich

den, Meinungsjournalismus zu machen. Dann dürfte

hierbei nicht mehr um eine Religionsgemeinschaft, son-

man nicht schreiben, dass die Todesstrafe barbarisch

dern um eine politische Partei – zumeist eine rechtsex-

und einer Demokratie unwürdig ist, denn das könnte

treme. Ihre Symbole sind nicht mehr religiöse, son-

die Überzeugungen von Millionen Amerikanern, Ja-

dern politische Symbole. In einer Demokratie hat je-

panern und Indern verletzen, die gegen die Abschaf-

der das Recht, hierzu seine Meinung zu äußern, sie zu

fung der Todesstrafe in ihren jeweiligen Ländern sind.

kritisieren, zu verspotten und zu parodieren. Mohammed abzubilden oder Jesus Christus Nutella ins Gesicht

Man dürfte nicht schreiben, dass die multinationalen

zu schmieren ist keine »Provokation«, es ist die Ausübung

Konzerne die armen Länder ausbeuten, denn das könnte

des Rechts auf freie politische Meinungsäußerung im

die Vorstände dieser Konzerne beleidigen. Man dürfte

Rahmen demokratischer Gesetze.

nicht schreiben, dass Finanzbetrüger ganze Länder ruinieren, denn das könnte die Würde Tausender Bör-

Bleibt noch die Frage: Wie reagiert man auf Gewalt?

senmakler verletzen. Man dürfte nicht schreiben, dass

Ich weiß es nicht. Ich bin jedoch überzeugt, dass es kei-

Putin ein kaltblütiger Mörder ist, denn das könnte sei-

ne Lösung ist, der Politik des Terrors nachzugeben. Im

ne Mutter traurig machen. Wenn wir verpflichtet wä-

Gegenteil. Das ist die schlechteste Reaktion auf die to-

ren, uns zunächst über die Empfindlichkeiten jedes

talitäre Erpressung, mit der wir es zu tun haben. Denn es

einzelnen Erdbewohners Gedanken zu machen, bevor

handelt sich hierbei tatsächlich um Erpressung. Jeder,

wir zum Füller oder zum Zeichenstift greifen, dann

der schon einmal mit der Mafia zu tun hatte, weiß:

bleibt, mal abgesehen vom Wetterbericht, nicht mehr

sobald man das verlangte Geld bezahlt hat, erhöht sich

viel von einer Zeitschrift übrig. Und genau das ist das

der Preis immer weiter. Wenn wir bereit sind, einen

Ziel.

Teil unserer Werte aufzugeben und auf die Erpresser einzugehen, und sei es nur auf einen Bruchteil ihrer

Warum sonst beschuldigt man, seitdem wir es mit re-

Forderungen, geben wir den Terroristen und ihren Auf-

ligiösem Fundamentalismus zu tun haben, einzig die

traggebern zu verstehen, dass sie auf dem richtigen Weg

Demokraten und Laizisten der Provokation?

sind, dass ihre Ideologie sich auszahlt und sie die richtigen Mittel gefunden haben. Das ist also nicht der ge-

Niemals werden diejenigen, die Frauen steinigen oder

eignete Weg, um sie davon abzuhalten, uns weiter mit

sie in das Gefängnis des Schleiers sperren, die, die Ho-

Gewalt zu erpressen und erneut Anschläge zu verü-

mosexuelle von einer Klippe stürzen möchten oder sich

ben… Jeder hat das Recht, Angst vor Mördern zu haben.

an die Tore von Krankenhäusern und Kliniken ketten,

Aber niemand hat das Recht, sie, wie und warum auch

in denen der freiwillige Schwangerschaftsabbruch an-

immer, glauben zu machen, dass ihre Strategie aufgeht

geboten wird, diejenigen, die Theaterzuschauer mit Öl

und dass sie recht haben, wenn sie töten.

bespritzen oder Kinos, Moscheen, Synagogen, Tempel und Zeitschriften in Brand stecken, diejenigen, die erklären, dass das Gesetz ihres Gottes das einzig gültige ist, diejenigen, die jeden töten, foltern, einsperren und bedrohen, der sich ihrem irrationalen Diktat, und sei es mit Worten, entgegenstellt, von den »vernünftigen« Kommentatoren als Provokateure betrachtet. Obwohl sie mit ihren Taten weltweit Hunderte Millionen Menschen schockieren.

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Dankesrede von Gérard Biard, Chefredakteur des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo, anlässlich der Verleihung des M100 Media Award am 17. September 2015 in Potsdam.