Die Westwanderung der Slawen

Das aktuelle Thema: Völkerwanderungen - Migrationen Die Westwanderung der Slawen Hanna Köcka-Krenz1 W a n d e r u n g e n bilden einen wesentlichen ...
Author: Bettina Lehmann
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Das aktuelle Thema: Völkerwanderungen - Migrationen

Die Westwanderung der Slawen Hanna Köcka-Krenz1

W a n d e r u n g e n bilden einen wesentlichen Teil der Ge­ schichte der M e n s c h h e i t . G l e i c h w o h l sind sie beson­ ders schwer zu erhellende V o r g ä n g e . Dies gilt be­

treffen das W a n d e r u n g s z i e l , also die Attraktivität in Hinblick auf j e n e U m s t ä n d e , nach d e n e n die G r u p p e strebt. A m h ä u f i g s t e n sind w i r t s c h a f t l i c h e Faktoren

sonders dann, wenn m a n versucht, die U r s a c h e sol­ cher Prozesse zu ergründen. W a n d e r u n g s v o r g ä n g e sind nur schwer auf eine F o r m e l zu bringen. Sie können durch ganz verschiedene U r s a c h e n ausgelöst werden, und auch die Folgen k ö n n e n ganz unter­ schiedlicher Art sein. G e m e i n s a m bleibt ihnen nur der W e c h s e l des Lebensortes von der bisherigen zu einer neue Ansiedlung ­ sowohl im geographischen als auch gesellschaftlich­kulturellen Sinne ( Z A M O J S K I 1995,

und günstige g e o g r a p h i s c h e B e d i n g u n g e n die pullU r s a c h e f ü r W a n d e r u n g s b e w e g u n g e n ; es k ö n n e n aber

10). Kulturanthropologen, die sich mit solchen Pro­

hin zu neuen Gebieten als F a k t o r e n von positivem Charakter, j e n e aber, die z u m V e r l a s s e n der H e i m a t

zessen befassen, stoßen auf Schwierigkeiten, w e n n sie allgemeine "Gesetze" f ü r A u s w a n d e r u n g f e s t m a c h e n möchten. Auf noch größere P r o b l e m e stoßen j e n e Forscher, die den V e r s u c h w a g e n , G r ü n d e und Folgen von W a n d e r u n g e n in ferner V e r g a n g e n h e i t zu rekon­ struieren, da sie in der Regel einzig über archäolo­ gische Quellen v e r f ü g e n , die nur gelegentlich durch einige f r a g m e n t a r i s c h e Textquellen ergänzt werden. Bei F o r s c h u n g e n zu W a n d e r u n g s f r a g e n sollte m a n stets mit theoretischen Ü b e r l e g u n g e n beginnen, die auf kultur­anthropologischer Basis erarbeitet worden sind. Anschließend kann m a n versuchen, diese allge­ meinen Betrachtungen auf Situationen prähistorischer oder mittelalterlicher Populationen a n z u w e n d e n . Unter den vielen Arbeiten über diese P r o b l e m e schei­ nen die Ü b e r l e g u n g e n des englischen Soziologen E.G. R A V E N S T E I N (1889) in B e z u g auf archäologische Kulturen von b e s o n d e r e m W e r t zu sein. Er spricht von "Migrationsgesetzen". Seine F o r s c h u n g e n wurden von heutigen W i s s e n s c h a f t l e r n fortgesetzt ( D A N I E L S 1991, 16­22). Diese Arbeiten unterscheiden drei Hauptgruppen von W a n d e r u n g s f a k t o r e n : den Aus­ stoßfaktor (push), den A n z i e h u n g s f a k t o r {pull) und jenen Faktor, der die V e r l a g e r u n g ermöglicht (means). Alle Faktoren k ö n n e n sowohl objektiven als auch subjektiven Charakter haben. Unter d e m Begriff "Ausstoßen" werden solche Faktoren verstanden, die M e n s c h e n g r u p p e n veranlaßt oder ermutigt haben, die heimatlichen Gebiete zu ver­ lassen. Dabei werden sehr oft wirtschaftliche Faktoren genannt, daneben d e m o g r a p h i s c h e , katastrophenbe­ dingte oder politische. Die A n z i e h u n g s f a k t o r e n be­

auch nichtwirtschaftliche Faktoren, w i e e r h o f f t e poli­ tische U n a b h ä n g i g k e i t und religiöse Freiheit sein. D i e dritte (mean.s'­)Faktorengruppe betrifft den Z u g a n g zu Transportmitteln, das u n g e h i n d e r t e Verlassen der Hei­ m a t und die e r h o f f t e p r o b l e m l o s e A n s i e d l u n g s ­ möglichkeit in neuen G e g e n d e n . E . G . R A V E N S T E I N (1889) betrachtet die A n z i e h u n g der V ö l k e r g r u p p e n

zwingen, von negativem Charakter. D e r positive Se­ lektionsgrad wächst parallel mit Z u n a h m e der Trans­ portmöglichkeiten und genauer Ü b e r l e g u n g der Aus­ wanderungsentscheidung. N e b e n diesen "Hauptgesetzen", die die Migration b e s t i m m e n , weist R A V E N S T E I N (1889) auf andere M e r k m a l e hin. Sie b e t r e f f e n in erster Linie Alter und Geschlecht sowie den familiären und gesellschaftli­ chen Status der M e n s c h e n , die sich z u m A u s w a n d e r n entscheiden. Die M e h r h e i t der E m i g r a n t e n bilden j u n g e , ledige M ä n n e r . Selbst in einer Situation, die für die g e s a m t e Familie günstige V o r a u s s e t z u n g e n zum A u s w a n d e r n bietet, verläuft die A u s w a n d e r u n g häufig etappenweise. Zuerst w a n d e r n j e n e M ä n n e r aus, die ihre Familien später n a c h k o m m e n lassen. Später s t a m m e n die meisten E m i g r a n t e n aus den mittleren, nicht aber aus den niedrigsten Klassen. Ü b l i c h e r w e i s e lassen sich die aus derselben G e g e n d s t a m m e n d e n G r u p p e n z u s a m m e n an e i n e m neuen Ort nieder. Gele­ gentlich k o m m t es vor, daß einige Person z u m Her­ k u n f t s o r t z u r ü c k k e h r e n , h ä u f i g aber nur um sich schließlich auf D a u e r in d e m neuen Gebiet anzusie­ deln. Solche Personen vermitteln ihre E r f a h r u n g e n den M e n s c h e n in ihrer alten Heimat, was nachfol­ gende G r u p p e n e n t w e d e r z u m W e g g e h e n oder zum Verbleiben b e w e g e n kann. Die B e m e r k u n g e n von R A V E N S T E I N (1889) liefern uns also R a h m e n d a t e n , die m a n bei U n t e r s u c h u n g e n über das W a n d e r n in unterschiedlichen Zeiten sowie von und nach verschiedenen Orten v e r w e n d e n kann. Bei solchen F o r s c h u n g e n m u ß m a n aber in Betracht

Archäologische Informationen 19/1&2, 1996, 125-134

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ziehen, daß die Entscheidung zum Verlassen der ursprünglichen Heimat immer als individueller Akt von Menschen anzusehen ist und eine spezielle Verknüpfung unterschiedlicher Motive als Hinter­ grund hat. Diese gründen, häufig unbewußt, in der menschlichen Psyche (DANIELS 1991, 22). Die Begegnung unterschiedlicher Völkergruppen kann verschiedene Folgen haben, die abhängig sind von der Art und Weise des Kontaktes (KWAS NIEW­ SKI 1982, 25­27). Von besonderer Bedeutung sind die gegenseitigen Kontakte zweier Kulturen, die di­ rekt oder indirekt, fortlaufend oder vorübergehend, bewußt oder unbewußt angeknüpft werden können. Bei Migrationen, aus denen sich solche Kontakte er­ geben, haben wir es normalerweise mit dem Eintref­ fen einer Menschengruppe in einem von einer anderen Völkergruppe bereits besetzten Gebiet zu tun. Dabei kommt es zu einer Konfrontation beider Ge­ meinschaften. Als deren Resultat entwickelt sich vor allem ein Akkulturationsprozess, verstanden als Ganz­ heit der Veränderungen bei beiden oder einer der Kul­ turen. Eine andere Möglichkeit stellt die Vermischung dar; darunter wird ein gegenseitiges teilweises Ver­ mischen und Durchdringen sich berührender Kulturen verstanden. Dieses führt zur Entstehung einer neuen Kulturform. Welche Folgen die gegenseitigen Kon­ takte zweier Völkergruppen haben können, hängt un­ ter anderem stark vom Niveau ihrer kulturellen Ent­ wicklung ab. Dadurch kann die Annahme beziehung­ sweise Ablehnung neuer Elementen beeinflußt wer­ den. Die oben genannten theoretischen Formulierungen führen zu der Schlußfolgerung, daß Ursachen und Folgen von Wanderungen nicht ohne konkreten kultu­ rellen Hintergrund betrachtet werden dürfen. Dieses läßt sich sehr gut am Beispiel der Slawenwanderun­ gen des Frühmittelalters (5. bis 7. Jh. n. Chr.) veran­ schaulichen. Die Slawen unternahmen in dieser Zeit Wanderungen im mehrere Richtungen: nach Süden vom Sudeten­ und Karpaten­Bogen ausgehend, nach Nordosten und Süden von der Waldsteppenzonen Ost­ europas beginnend und nach Westen die Oder über­ querend (GODLOWSKI 1979, 57). Je nachdem wel­ che Verhältnisse in den Ausgangsgebieten herrschten und welches Ziel angestrebt wurde, waren die Ursa­ chen der Wanderung unterschiedlich. Daher ist jede Wanderungswelle getrennt zu erörtern. Nur dann kann es gelingen, Ursachen und Folgen der Wanderung möglichst genau zu rekonstruieren. Das Problem der frühmittelalterlichen Slawenwande­ rung in die Gebiete westlich der Oder ist in der Fach­ literatur umfassend diskutiert worden (HERRMANN 1968; 1979; 1985, bes. 21­65; STRZELCZYK 1976; ZAK 1977; 1984; BRACHMANN 1978; GODLOW­

SKI 1979; 1981; LABUDA 1981; KURNATOWSKA 1981; LOSINSKI 1982; PARCZEWSKI 1988; LE­ CIEJEWICZ 1989 ­ siehe dort weitere detaillierte Lit­ eraturangaben). Analysen der zugänglichen Quellen führten zu Erkenntnissen über die Ausgangsgebiete der Wanderungsgruppen, die Zeit und die Richtungen der Migration sowie die Kulturformen in den jeweili­ gen Besiedlungsgebieten. Die jüngsten zusammenfas­ senden Arbeiten lieferten keine Ergebnisse, die grundlegend neue Ansichten zu diesem Problem brächten. Hier wird nun das Ziel verfolgt, die bisheri­ gen Forschungsergebnisse in Beziehung zu den in der Einführung skizzierten "Wanderungsgesetzen" zu setzen. Unter den oben genannten Wanderungsfaktoren sind jene am einfachsten zu bestimmen, die die Grup­ pen slawischer Bevölkerung zum Ortswechsel bewo­ gen haben (pw//­Faktor). Eine wesenliche Größe war die Bevölkerungsentwicklung im Elbe­Gebiet wäh­ rend des Spätaltertums: In der spätrömischen Kaiser­ zeit war diese Gegend dicht von germanischen Stämmen besiedelt, aber doch schon geringer als in der frühen Römischen Kaiserzeit. Eine Auflockerung der Besiedlung trat zuerst, und zwar im fünften Jahr­ hundert, im Gebiet nördlich der Elbe ein. Gegen Ende des fünften Jahrhunderts kam es im ganzen Elbe­ Gebiet zum Verlassen ganzer Siedlungen und als Folge zum Abbrechen der Gräberfelder. Dieser Sied­ lungsabbruch spiegelt sich auch in der durch Pollena­ nalysen belegten Vegetationsentwicklung dieser Ge­ biete während des ersten nachchristlichen Jahrtau­ sends (GODtOWSKI 1979; 1981; KURNATOWSKI 1981). Das Ausdünnen der Besiedlung in jener Zeit mag auch mit den Wanderungen der Angeln und Sachsen nach Britannien und jener der Langobarden nach Süden in Zusammenhang stehen. Anzunehmen ist ferner, daß sich diesen Wanderungen weitere ger­ manische Gruppen aus Mecklenburg angeschlossen haben. Vermutlich kann man auch die Abnahme von Siedlungen der germanischen spätkaiserzeitlichen Luboszyce­Kultur (DOMANSKI, 1979, 111­112) zwischen Niederschlesien und Mittelelbe mit Abwan­ derungen in Folge des Erscheinens der Hunnen in Verbindung bringen. Deren Träger nutzten offenbar die durch den Zusammenbruch des Römischen Rei­ ches gebotene Möglichkeit, in bisheriges Reichsgebiet umzusiedeln. Archäologische Beweise für diesen Vor­ gang finden wir in der Befundkonzentration des fünften und sechsten Jahrhunderts im Rheinland und im Donauraum (GODLOWSKI 1981). Die germa­ nische Besiedlung überdauerte jedoch im Bereich der Reihengräberfelder des Elbe­Gebiets: in Thüringen östlich der Saale bis an die Mulde, in der Altmark, ferner in zwei weiteren Siedlungsräumen: um Riesa sowie an unterer Spree und Mittelhavel. In Vorpom­

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Abb. 1 Vorkommen der Merkmale der 1. und der 2. Kulturprovinz zwischen Weichsel und Oder im 6. Jahrhundert: 1 Handgemachte Keramik des 6. Jh.; 2 Blockhäuser oder unregelmäßig ovale Pfostenhäuser; 3 regelmäßig­rechteckige Gru­ benhäuser; 4 Brandbestattungen und Flachgräber; 5 Grabhügel; 6 Bestattungslose Zone; 6 u. 7 Mischgebiet mit wenigen Brandgräbern; 8 Nordgrenze des Vorkommens regelmäßig­rechteckiger Grubenhäuser (nach KURNATOWSKA 1981). mern, in M e c k l e n b u r g und Ostholstein h i n g e g e n rei­ chen die Spuren der g e r m a n i s c h e n Besiedlung nur bis A n f a n g des sechsten Jahrhunderts. M a n darf also in den Gebieten zwischen unterer Oder und E l b e i m sechsten Jahrhundert nur mit w e n i g intensiver germa­ nischer Besiedlung in der Zeit vor der S l a w e n e i n w a n ­ derung rechnen. In B r a n d e n b u r g , an der unteren Spree und der unteren Havel, an Mittelelbe und östlich der W e i ß e n Elster v e r s c h w a n d die Besiedlung u m 5 6 0 als K o n s e q u e n z des Z u s a m m e n b r u c h s des Thüringischen Staates und der Politik der M e r o w i n g e r . Sie hatte, un­ ter anderem durch U m s i e d l u n g der Bevölkerung, die Unabhängigkeit der g e r m a n i s c h e n S t ä m m e in den östlichen Grenzländern ihres Reiches beseitigt. A m Ende des f ü n f t e n Jahrhunderts sind in der Lausitz keine Spuren germanischer Besiedlung m e h r nachzu­ weisen. Die spätesten E r w ä h n u n g e n in schriftlichen Quellen, verbunden mit d e m A u f t r e t e n der G r u p p e n von Nordsueben und W a r n e n in einem kleinen Teil des Elbe­Gebietes, beziehen sich auf die zweite H ä l f t e des sechsten Jahrhunderts ( S T R Z E L C Z Y K 1976; Z A K 1977; G O D L O W S K I 1981).

Zur A u s w a n d e r u n g in das E l b e ­ G e b i e t d ü r f t e die Slawen dessen relativ e i n f a c h e Z u g ä n g l i c h k e i t und das geringe A u s m a ß seiner B e w i r t s c h a f t u n g veranlaßt haben. Die E r g e b n i s s e pollenanalytischer Untersu­ c h u n g e n f ü h r e n zu der S c h l u ß f o l g e r u n g , daß die Ü b e r n a h m e dieser Territorien nach e i n e m Besied­ lungshiatus erfolgte ( K U R N A T O W S K I 1981); aller­ dings scheint in m a n c h e n Gebieten b e i m W e c h s e l des E t h n i k u m s die Besiedlung f o r t z u d a u e r n (z. B. Dessau­ M o s i g k a u und T o r n o w , Kr. Calau ­ E n d e des 6. / An­ f a n g des 7. Jh. [ H E R R M A N N 1985, 24]). D e n n o c h waren auch diese Gebiete e i n f a c h e r zu besiedeln. Ihre Attraktivität war durch die g e o g r a p h i s c h e U m w e l t be­ dingt, die j e n e r östlich der O d e r ähnlich war. In den neubesiedelten Gebieten konnten die Slawen die ih­ nen eigene Wirtschaftsart, nämlich V i e h h a l t u n g und L a n d w i r t s c h a f t , f o r t f ü h r e n und in einer topographisch ähnlichen L a n d s c h a f t wie im H e r k u n f t s g e b i e t neue Siedlungen anlegen. Leider v e r f ü g e n wir über keine B e w e i s e f ü r die V e r m u t u n g , daß den Slawen diese Z u s a m m e n h ä n g e zur Zeit der B e s i e d l u n g des Elbe­ Gebiets b e w u ß t waren. Dieses könnte m a n wegen der Kontakte zwischen der g e r m a n i s c h e n und der slawi­

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sehen Welt erwarten, doch gibt es dafür keine Bestäti­ gung in schriftlichen Quellen. Unklar sind auch die Art und Weise der Wanderung und die Wanderrichtung, die zur Inbesitznahme des Elbe­Gebietes durch die Slawen führten (meansFaktor). Das Wandern der Slawengruppen nach We­ sten wurde nicht besonders erschwert. Die geogra­ phischen Verhältnisse begünstigten diesen Vorgang, da die Mitteleuropäische Ebene, als Hauptteil des Ge­ bietes, in dem die Wanderungen erfolgten, weder im Osten noch im Westen durch natürliche Grenzen deut­ lich bestimmt ist. Auch der Südteil ihres Zielgebietes, im Mittelgebirgsraum gelegen, ließ sich entlang der großen Flußtäler, z. B. durch die Mährische Pforte und den Durchbruch der Elbe durch das Elbsandstein­ gebirge, erreichen (LECIEJEWICZ 1989, 48). Die Einwanderung in diese Gebiete wurde, wie bereits oben dargelegt, auch von keiner starken politischen Macht behindert. Man möchte davon ausgehen, daß die Slawen über geeignete Transportmittel verfügten ­ zu Lande bedienten sie sich des Ochsenwagens und zu Wasser des Einbaums. Byzanthinische Quellen liefern Informationen wie häufig und vielseitig diese benutzt wurden (PLEZIA 1952). Aus der Verteilung der älte­ sten slawischen Besiedlungsgebiete kann man schlie­ ßen, daß die Slawen entlang der Flüsse vorrückten und sie an günstigen Stellen überquerten. Noch in dieser Zeit stellten bei starker Bewaldung und in Er­ mangelung eines regulären Fernwegenetzes besonders die Flüsse günstige und bequeme Verkehrswege dar. Dennoch ist es möglich, daß man gelegentlich auch Landwege benutzte (LECIEJEWICZ 1989, 108­109). Manches spricht dafür, daß die slawische Besied­ lung im heutigen Deutschland in der Lausitz begon­ nen hat (vor der Mitte des 6. Jh.), doch fehlen von diesem Vorgang bis jetzt jegliche archäologische Spu­ ren. In die Gebiete an Havel, Mittelelbe und westlich der Mulde drangen die Slawen etwa seit Mitte des sechsten Jahrhunderts ein.2 Nach Mecklenburg ge­ langten slawische Siedler gegen Ende des sechsten und Anfang des siebenten Jahrhunderts. In der ersten Hälfte des siebenten Jahrhunderts reichte ihr Sied­ lungsgebiet von der Saale bis nach Thüringen, zur Altmark und zum Hannoverschen Wendland (ZAK 1977; GODLOWSKI 1981). Der Vorgang der slawischen Landnahme im Elbe­ Gebiete benötigte einen längeren Zeitraum, der mehr als ein ganzes Jahrhundert umfaßte. Man muß ver­ mutlich mit Zuwanderungen von außen aber auch mit Besiedlungsverlagerung innerhalb des Gebietes rech­ nen. Letztere erfolgte übrigens noch über das ganze nächste Jahrhunderte hinaus. In dieser Zeit erkundeten die Slawen auch das germanische Grenzland (STRZE­ LCZYK 1976; KURNATOWSKA 1981). Die Etap­

pen dieser Siedlungsverlagerungen waren abhängig von den Jahreszeiten sowie von Art und Umfang der Gewinnung der für Menschen und Tiere benötigten Nahrungsmittel. In den Anfangsphasen des Frühmit­ telalters war die Lebensmittel Wirtschaft der Slawen jener der spätrömischen Kaiserzeit ganz ähnlich. Sommergetreide (Gersten, Hirse, Roggen und einige Weizensorten) sowie unterschiedliche Gemüse­ und Ölpflanzen wurden auf kleinen Feldern angebaut; das Halten von Rindern hatte größere Bedeutung, gerin­ gere das von Schweinen, aber auch von Schafen und Ziegen (KURNATOWSKI 1981; LECIEJEWICZ 1989, 40; 66). Bevorzugte Siedlungsgebiete der Sla­ wen waren Talauen oder die Ränder von Flußtälern mit leichten Humusböden, die sich landwirtschaftlich leicht bearbeiten lassen (ZAK 1984; LECIEJEWICZ 1989, 38). Eine solche Wirtschaftsweise, die den Bo­ den intensiv ausnutzte, begünstigte einen periodischen Wechsel des Lebensortes. Versuche, Ablauf und Stoßrichtung der slawischen Besiedlung des Elbe­Gebietes zu rekonstruieren, wer­ den einerseits anhand der Analysen frühslawischer Besiedlung im Elbe­Gebiet unternommen. Außerdem wird der Grad der kulturellen Verwandschaft der dort eingewanderten Gruppen zu slawischen Gruppen an­ derer Regionen untersucht (ZAK 1977; BRACH­ MANN 1978; GODLOWSKI 1981; KURNATOW­ SKA 1981; LABUDA 1981; HERRMANN 1985; LE­ CIEJEWICZ 1989, 43­44). Dieses Vorgehen ist be­ stens begründet. Nur selten nämlich siedelten die Sla­ wen in den neuen Gebieten mit der ehemals dort ansässigen Bevölkerung zusammen. Zu Kontakten mit andersartigen Kulturmodellen kam es hauptsächlich im westlichen Grenzland der slawischen Besiedlung. Dort unterlag die traditionelle Migrationskultur einer Umformung als Folge eines Akulturations­ oder Ver­ mischungsvorganges. Ein Symptom dieser Prozesse ist z. B. die Änderung des Bestattungsritus von Lei­ chenbrand­ zu Skellettbestattungen in solchen Gebie­ ten, in denen früher Reihengräberfelder auftraten (REMPEL 1966). Die Slawen behielten aber minde­ stens in der Anfangsphase der Besiedlung unbewohn­ ter Gebiete ihre bisherige Lebensweise und eigene Kultur bei. Die Bearbeiter dieses Problemkreises stimmen darin überein, daß die Slawenwanderung in den Raum zwischen den Flußgebieten von Oder und Neiße so­ wie Elbe und Saale in mehreren Wellen erfolgte. Sei­ nen Ausgang nahm dieser Vorgang östlich der Oder. Im Endeffekt kam es im Elbe­Gebiet zur Begegnung von Völkergruppen zweier großer slawischer Kultur­ provinzen, die aus zwei verschiedenen Kristallisa­ tionszentren hervorgegangen waren, in denen sich sla­ wische Kultur entwickelt hatte.

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Das am D n j e p r gelegene Kristallisationszentrum I (1. Kulturprovinz) ist mit d e m "Prager­Typ" zu ver­ knüpfen. Diese 1. Kulturprovinz ist am klarsten zu identifizieren. V o n Kristallisationszentrum I im Ge­ biet rechts des Mitteldnjeprs zogen im vierten Jahr­ hundert (vermutlich gegen dessen E n d e ) S t ä m m e der 1. Kulturprovinz nach Südpolen, in die Slowakei und die Tschechei, später auch in das Mittelelbegebiet. Charakteristisch für diese G r u p p e sind ein Siedlungs­ typ mit quadratischen G r ü b e n h ä u s e r n , deren Hei­ zungsanlage in einer E c k e des G e b ä u d e s liegt, hand­ geformte K e r a m i k und Urnengräberfelder. Ein zwei­ tes Kristallisationszentrum lag zwischen Oder und Weichsel. Dort formierten sich gegen E n d e des 5. Jh.

nach Z u w a n d e r u n g slawischer S t ä m m e aus d e m Osten unter E i n b e z i e h u n g von E l e m e n t e n der ansässigen spätrömischen P r z e w o r s k ­ K u l t u r die zweite Kultur­ provinz (Abb. 1; Z E M A N 1979; K U R N A T O W S K A 1981; B A R A N 1991, 47). Sie ist durch Blockhäuser, seltener durch u n r e g e l m ä ß i g ovale P f o s t e n h ä u s e r ge­ kennzeichnet. Ihre Spuren f i n d e n wir in flachen ova­ len G r u b e n mit steinernen Feuerstellen. Ferner sind f ü r sie typisch das teilweise V o r k o m m e n schei­ bengedrehter Keramik, nämlich der an die spät­ r ö m i s c h e Zeit a n k n ü p f e n d e s o g e n a n n t e T y p von Sul­ tow­Szeligi ( H E R R M A N N 1985, 27), und ein schwer faßbarer Bestattungsritus (sogenannte bestattungslose Zone: Z O L L ­ A D A M I K O W A 1979, 219­222; K U R ­

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NATOWSKA 1981; LOSINSKI 1982; PARCZEWSKI 1988; LECIEJEWICZ 1989, 38-44). Der Ver­ breitungsbereich der 2. Kulturprovinz erfordert noch eine genaue Bestimmung; im sechsten Jahrhundert umfaßte er Großpolen, Schlesien und das Gebiet an der mittleren Weichsel, möglicherweise auch Teile Pommerns. Aus dem Raum zwischen Oder und Weichsel dürften die ersten Wanderungen in das Ge­ biet westlich der Oder ausgegangen sein (Abb. 2). Zur gleichen Zeit, als dieses geschah, wanderten Stämme der 1. Kulturprovinz (Träger des "Prager­Typs") aus Böhmen nach Süden in das Donaugebiet. Später und zwar an der Wende vom 6. zum 7. Jh. drangen von Böhmen aus auch Slawen entlang der Elbe nach Nor­ den vor. Nach dem heutigen Kenntnisstand ist die früheste, noch relativ schwache Welle der Slaweneinwande­ rung in das mittlere Elbe­Gebiet in der ersten Hälfte des sechsten Jahrhunderts mit der zweiten Kulturpro­ vinz zu verbinden (Abb. 2). Spuren davon fand man an den Fundstellen Tornow, Altfriesack und Ber­ lin­Köpenick (KURNATOWSKA 1981, 55; HERR­ MANN 1985, 30). Dort lebte die eingewanderte sla­ wische Bevölkerung möglicherweise zusammen mit der zurückgebliebenen germanischen Bevölkerung im gleichen Gebiet. Nach neueren 14 C­Messungen kann allerdings der Brunnenfund von Berlin­Marzahn eine Gleichzeitigkeit oder nur geringen zeitlichen Abstand zwischen germanischer und slawischer Besiedlung des Platzes (HERRMANN 1985, 27) nicht mehr stützen. Weder ist die Zuweisung des älteren Brun­ nens zu einer germanischen Besiedlung noch der ge­ ringe Zeitabstand zwischen beiden Brunnen gesichert (HERRMANN u. HEUßNER 1991, 276 f f ; HEN­ NING 1991, 124 mit Anm. 13 u. 14). Die zweite Be­ siedlungswelle, die J. HERRMANN (1968; 1985, 24; 26) aus dem südwestlichen Polen (Gebirgsvorland von Sudeten und Karpaten) herleitet, hat einen größeren Umfang (zur Identifikation der Keramikfor­ men mit slawischen Stammesgruppen: HERRMANN 1985, 16­17, Abb. 3; 4). Sie fällt in das Ende des sechsten und den Beginn des siebenten Jahrhunderts und ist durch besser entwickelte Kulturformen cha­ rakterisiert. Die Siedlerströme gelangten wahrschein­ lich vom oberen Elbe­Gebiet ("Prager" [1.] Kultur­ provinz) in das Mittelelbe­Gebiet. Über diese ältere slawische Besiedlungswelle schichteten sich weitere, die mit anderen archäologischen Fundgruppen verknüpft werden können: der Feldberg­Gruppe in Mecklenburg, der Tornow­Gruppe in der Niederlau­ sitz oder der Leipzig­Gruppe im Saale­Gebiet (BRACHMANN 1978; KURNATOWSKA 1981). Diese Gruppen sind durch eine andersartige Sied­ lungsweise und eine höhere technische Entwicklungs­ stufe der Keramik charakterisiert. Fraglich bleibt, ob

die Herausbildung dieser Gruppen eine Folge der in­ neren Entwicklung der vor Ort ansässigen slawischen Kulturen ist oder sich doch eher aus der Ankunft nachfolgender Einwanderer ergibt. Es hat sich heraus­ gestellt, daß in der Leipziger­Gruppe im siebenten Jahrhundert handgeformte Gefäße durch scheibenge­ drehte Keramik ersetzt wurden, die Merkmale aus dem Donauraum aufweist. Diese Tatsache könnte dafür sprechen, daß ins Saale­Gebiet Gruppen von Sorben einwanderten, die diese Keramikformen mit­ brachten (HERRMANN 1985, 18). Die sorbische Bevölkerung, als dominierendes Besiedlungselement, überquerte auch die Saale und einzelne ihrer Gruppen ließen sich in Thüringen und Nordbayern nieder (HERRMANN 1985, 27). Die Tornow­Gruppe weist Verbindungen zu Nordschlesien und Südgroßpolen auf. Sie wird mit den Lausitzer Stämmen gleichge­ setzt (HERRMANN 1985, 23, Abb. 5). Vom nördli­ chen Elbe­Gebiet trennte sie ein Übergangsgürtel, der das Spree­, Havel­, und Mittelelbe­Gebiet umfaßte; dort kam es zur Vermischung von Kulturelementen beider Zonen (HERRMANN 1985, 22, Abb. 4). Mit den Stämmen der Wilzen und Westpomoranen wird die Feldberg­Gruppe verbunden. In deren ursprüng­ lich von der Sukow­Gruppe umgebenen Siedelgebiet soll eine neue Bevölkerung eingewandert sein, deren Herkunft festzustellen, aber bis heute Schwerigkeiten bereitet (HERRMANN 1968; 1985, 23, Abb. 5; KUR­ NATOWSKA 1981). Noch etwas später, nämlich im siebenten und Anfang des achten Jahrhunderts, ge­ langten slawische Siedler nach Ostholstein (Wagrien) (ZAK 1977). Die Merkmale ihrer Keramik sprechen dafür, daß hier eine Einwanderung von Gruppen statt­ fand, die sich zuvor im Elberaum niedergelassen hat­ ten (Abb. 2; HERRMANN 1968, 73). Auch in Ost­ holstein übernahmen die Slawen vor allem Gebiete, die zuvor von den ursprünglich hier siedelnden Ger­ manen verlassenen worden waren. Für einen solchen Ablauf sprechen jedenfalls die Ergebnisse pollenana­ lytischer Untersuchungen (ZAK 1977). Am schwierigsten sind die Ursachen für die Wande­ rung der Slawen über die Oder hinweg nach Westen zu finden (pus/z­Faktor). Ein Grund dafür ist der Man­ gel an ausreichenden Angaben über den ursprüngli­ chen, rein slawischen Besiedlungsraum in der Zeit vor deren großer Expansion (GODLOWSKI 1979, 6­7). Wir kennen keine wohl definierte archäologische Kul­ tur, die man zweifelsfrei der slawischen Bevölkerung vor der frühesten Stufe des Mittelalters zuordnen könnte. Auch fehlen schriftliche Quellen, die eindeu­ tige Klärung brächten. Versuche, das Problem zu lösen, haben zu zahlreichen, sich sehr oft gegenseitig ausschließenden Hypothesen geführt. Diese Hypo­ thesen lassen sich in zwei Hauptgruppen zusammen­

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fassen. Die erste nimmt an, daß der ursprüngliche Siedlungsraum der Slawen sich teilweise oder ganz im Weichsel­Oder­Gebiet befand; die zweite sieht ihn östlich der Weichsel in der südlichen Waldzone und im Grenzland der Waldsteppenzone. Die Diskussion über diese Hypothesen führte bislang zu keiner allge­ mein akzeptierten Lösung (GODLOWSKI 1979, 25). Stimmt man jedoch der zweiten Annahme zu, nach der das ursprüngliche slawische Siedlungsgebiet im Spätaltertum nur östlich der Weichsel gelegen hat, so muß man annehmen, daß die Slawen ein großes de­ mographisches Potential hatten, das es ermöglichte, in relativ kurzer Zeit einen ziemlich umfangreichen Raum zu beherrschen. Dieses erscheint aber aufgrund der Quellen wenig wahrscheinlich. Eher wird man die Heimat nur eines Teils der Slawen zwischen Weichsel und Oder suchen dürfen (vgl. ZAK 1984; LECIEJE­ WICZ 1989, 35­45). Doch bei diesem Lösungsver­ such bleibt die Frage zu klären, welche genetischen Zusammenhänge zwischen der Przeworsk­Kultur der römischen Kaiserzeit und der westslawischen Kultur des frühen Mittelalters bestanden. Die Schriftquellen weisen darauf hin, daß der Raum zwischen Weichsel und Oder im fünften und sechsten Jahrhundert von einer Krise betroffen waren, die zwar eine Änderung der Kulturmodelle nicht aber der ethnischen Verhält­ nisse zur Folge hatte (ZAK 1984, 98; LECIEJEWICZ 1989, 38). Sie war Teil einer allgemeinen Krise, die mit dem Zusammenbruch Westroms und mit der Schwächung Ostroms endete. Verstärkt wurden die Auswirkungen dieser Krise durch den Hunneneinfall und die Abwanderung germanischer Stämme, was die gesellschaftlich­politischen Veränderung beschleunig­ te. Völkerverschiebungen fanden auch im heutigen Polen statt. Deswegen sind die Zusammenhänge mit der spätrömischen Kaiserzeit in den einzelnen Gebie­ ten unterschiedlich zu lesen. Sie sind zum Beispiel in Kleinpolen nicht erfaßbar, das in der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts in gewisser Weise von den Hun­ nen abhängig war; die Westslawen durchquerten diese Gebiete u. a. in Richtung Böhmisches Becken. Solche Anknüpfungen werden aber im Oder­Gebiet und in der Polnischen Tiefebene bei Keramik und Metaller­ zeugnissen festgestellt. Auch die Wirtschaftsweise weist anfänglich ähnliche Strukturen auf. Gegner dieser Auffassung heben jene Argumente hervor, die für wesentliche Abweichungen in der ma­ teriellen Kultur der spätrömischer Kaiserzeit ge­ genüber der in den frühen Stufe des Mittelalters spre­ chen (GODLOWSKI 1979). Diese Unterschiede wa­ ren aber, wie es scheint, nicht allzu groß, wenn man vergleichbare Quellentypen einer solchen Untersu­ chung zugrunde legt. Nicht heranziehen darf man nämlich Funde von Gräberfeldern, da entsprechende Quellen der frühen Stufen des Mittelalters nicht aus

all jenen Gebieten vorliegen, die für diese Frage von Bedeutung sind. Hingegen sprechen die Funde aus Siedlungen nicht für entscheidende Unterschiede im Lebensstandard der Bevölkerung (LECIEJEWICZ 1989, 41). Dennoch haben wir es zweifellos in dieser Zeit mit einer Krise zu tun, die durch äußere und in­ nere Faktoren verursacht ist. Das Unterbrechen bis­ heriger Handelskontakte und der Zerfall der Erzeu­ gungszentren in den römischen Provinzen bilden die wesentlichen äußeren Faktoren; die Zerstörungen nach dem Hunneneinfall, insbesondere die daraus fol­ genden Wanderungsbewegungen der Slawen selbst, sind die inneren Faktoren. Sie führten unter anderem durch das Weggehen der aktivsten Bevölkerungs­ gruppe zu Störungen innerhalb der bisherigen gesell­ schaftlichen Ordnung (LECIEJEWICZ 1989, 41). Diese Vorgänge beschleunigten den Verlauf der ge­ sellschaftlichen Prozesse innerhalb des Organisations­ systems bei der Bevölkerung der "barbarischen" Zone (ZAK 1984, 99). Das neu entstehende Herrschaftssy­ stem hatte den Charakter einer Militärdemokratie. Den Höhepunkt erreichte diese Entwicklung im drit­ ten Jahrhundert und in der nachfolgenden Zeit bis zum Anfang des fünften Jahrhunderts. Im fünften Jahrhundert schließlich führte diese Situation zu einer nachhaltigen Störung des Interessenausgleichs zwis­ chen den Mitgliedern der Stämme und den Stammese­ liten. Diese verfolgten nämlich nun ihre eigenen In­ teressen und versuchten sie gegenüber den Interessen der ganzen Gruppe durchzusetzen. Solche Verhält­ nisse steigerten auch die wirtschaftlichen Schwierig­ keiten: zunehmende Ausbeutung der immer wieder beackerten Böden führte zu immer gerigerem Ertrag. Das trockener werdende Klima verstärkte diesen Niedergang der landwirtschaftlichen Produktion. Die Verringerung äußerer Kontakte und das Absinken der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit hatte die Verar­ mung der Stammesaristokratie und Autoritätsschwä­ chung in der eigenen Gesellschaft zur Folge. Alle diese Faktoren führten zum Zusammenbruch der bis­ herigen Stammes­ und Geschlechtsinstitutionen. Der Zerfall der gesellschaftlichen Bindungen motivierte die aktivsten Gruppen, Möglichkeiten zur Überwin­ dung der Krise zu suchen. Gefunden wurde die Lö­ sung in Auswanderungen in neue, oft weit entfernt gelegene Gebiete. Die wandernden Stammesgruppen bzw. Volksstämme ließen sich entweder im Rahmen friedlicher Kolonisation entvölkerter Gebiete oder nach Eroberung und Okkupation noch bewohnter Ge­ genden nieder. Als Folge all dieser Änderungen sind jene heterogenen Gesellschaften entstanden, die nach­ barliche und territoriale Bindungen aufwiesen und sich zum Zweck einer gemeinsamen Verteidigung in kleinen Stammesgruppen vereinten (ZAK 1984). Als Beweis und Beispiel für solche Bindungen läßt sich

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die Errichtung von B u r g a n l a g e n bei den W e s t s l a w e n

holstein am Ende des 6. Jahrhunderts weniger wahrschein­ lich. Er geht davon aus, daß die "Sukow­Feldberg­Keramik" am Beginn der slawischen Einwanderung in dieses Gebiet steht. Die Einwanderung sei aus dem Raum zwischen Weichsel und Oder erfolgt. Dort aber seien slawische Funde erst seit dem sechsten Jahrhundert anzutreffen (so auch STRUVE 1991, 22). Auch S. BRATHER (1996, 15; 209) weist auf Forschungsergebnisse hin, nach denen es wenig wahrscheinlich ist, daß in Mecklenburg slawische Burganla­ gen wesentlich vor ca. 700 n. Chr. errichtet wurden (HERR­ MANN & HEUßNER 1991). Die Anlagen von Tornow, die 1985 noch in das 6. bis 7. Jh. datiert wurden (HERRMANN & DONAT 1985, 66), stützen nach erneuter Überprüfung der dendrochronologischen Daten eine slawische Besied­ lung in dieser Zeit nicht (HERRMANN & HEUßNER 1991, 265; 285). Die ältesten dendrochronologischen Belege für die Einwanderung der Slawen in das Gebiet zwischen Oder und Elbe liefert zusammen mit dem Fundplatz Sukow noch immer Tornow. Allerdings ist auf diesem Wege eine sla­ wische Besiedlung vor der 2. Hälfte des 7. Jahrhunderts nicht faßbar, wenngleich HERRMANN und HEUßNER (ebd. 285) meinen, aus methodischen Gründen könnte diese Befundlage eine frühere slawische Landnahme nicht aus­ schließen. Immerhin müssen zumindest die in Anlehnung an HERRMANN (1985) in Abb. 2 angegebenen Datierun­ gen der Einwanderungsströme weitgehend als hypothetisch, wenn nicht als fraglich, gelten. BARAN (1991, 49) macht darauf aufmerksam, daß bei den Ausgrabungen der slawi­ schen Burg Oldenburg/Holstein Keramik gefunden wurde, die dem Prager Typ nahesteht; darüber hinaus träten in Ol­ denburg einzelne quadratische Blockbauten mit Lehmofen in einer Hausecke auf. Beides ist für die 1. Kulturprovinz typisch. Diese Erscheinungen könnten für eine (jüngere [?]) Zuwanderung aus dem Mittelelbe­Gebiet nach Ostholstein sprechen. Westlich der Oder stammt das jüngste sicher da­ tierte Grab mit Keramik des Prager Typs aus Brüske bei Brandenburg; es wird in die Zeit um 700 n. Chr. datiert (HERRMANN 1979, 53). Eine Einwanderung slawischer Siedler aus dem Mittelelbe oder dem unteren Havel­Gebiet nach Ostholstein müßte nach heutigem Forschungsstand also spätestens in dieser Zeit erfolgt sein.

a n f ü h r e n . D a z u g e h ö r e n auch j e n e im E l b e ­ G e b i e t und im nördlichen D e u t s c h l a n d ( L E C I E J E W I C Z 1989, 93­95, 103). Z u s a m m e n f a s s e n d kann m a n das P r o b l e m der slawi­ schen E i n w a n d e r u n g in das Gebiet z w i s c h e n O d e r und Elbe auf G r u n d l a g e des heutigen W i s s e n s s t a n d e s f o l g e n d e r m a ß e n darstellen: Ihren A u s g a n g n a h m die nach W e s t e n gerichtete W a n d e r u n g slawischer Grup­ pen in der P o l n i s c h e n T i e f e b e n e . Ü b e r Kleinpolen und das S u d e t e n g e b i e t k a m j e n e B e v ö l k e r u n g , die an die obere E l b e gelangte. V o n dort aus w u r d e das Ge­ biet an der mittleren E l b e kolonisiert. U r s a c h e f ü r das Verlassen der ursprünglichen H e i m a t durch aktive G e s e l l s c h a f t s g r u p p e n d ü r f t e der Z u s a m m e n b r u c h der bisherigen gesellschaftlichen, politischen und wirt­ schaftlichen O r d n u n g g e w e s e n sein. T e i l w e i s e auch w u r d e die V e r l a g e r u n g der B e v ö l k e r u n g durch die A n k u n f t der H u n n e n in d i e s e m Teil E u r o p a s verur­ sacht, e i n e m V o r g a n g , der unter a n d e r e m die bisheri­ gen N o r d ­ S ü d gerichteten V e r k e h r s v e r b i n d u n g e n in M i t t e l e u r o p a u n t e r b r o c h e n hatte. D i e W a n d e r u n g der W e s t s l a w e n nach W e s t e n w u r d e durch ihre Wirt­ s c h a f t s w e i s e erleichtert; in j e n e r Zeit beruhte sie nämlich vor allem auf V i e h z u c h t . D e r A n b a u von S o m m e r g e t r e i d e auf g e r i n g w e r t i g e n B ö d e n hatte un­ tergeordnete B e d e u t u n g . W ä h r e n d der W a n d e r u n g begegneten die S l a w e n keinen natürlichen Hindernis­ sen und keinen starken politischen Organisationen. Im E l b e ­ G e b i e t besiedelten sie e n t w e d e r zuvor verlassene R ä u m e oder G e g e n d e n , in denen eine geringe g e r m a ­ nische R e s t b e v ö l k e r u n g verblieben war. D a d u r c h war es ihnen möglich, weiterhin ihr eigenes Kulturmodell zu verwirklichen. Einerseits k a m es zu einer inneren E n t w i c k l u n g der slawischen Gesellschaften, im sla­ w i s c h ­ g e r m a n i s c h e n G r e n z l a n d aber auch zu dessen von außen b e e i n f l u ß t e r M o d i f i k a t i o n durch Teiladap­ tation f r e m d e r E l e m e n t e .

Literatur A n m e r k u n g e n 1 Die Übersetzung des polnischen Manuskriptes besorgte Bernadeta Sturzbecher. Für Hinweise auf neuere deutsch­ sprachige Publikationen, die sprachliche Bearbeitung des deutschen Textes und die Anfertigung publikationsfähiger Druckvorlagen der Abbildungen danke ich Jürgen Hoika, Schleswig, bestens. 2 Die hier und weiter unten angegebene Datierung der ein­ zelnen Einwanderungsströme (s. auch Abb. 2) fußt im we­ sentlichen auf HERRMANN (1985) und Autoren, die sich an dessen Aussagen angelehnt haben. Folgt man allerdings den Überlegungen von BARAN (1991, 47) so ist eine Ein­ wanderung der Slawen nach Mecklenburg oder gar Ost­

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dr. hob. Hanna Köcka-Krenz, prof. UAM Instytut Prahistorii UAM ul. Uw. Mar ein 78 PI - 61-808 Poznan Polen

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