Die sieben Leben des Hermann Scherchen (1)

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SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE

SWR2 Musikstunde Die sieben Leben des Hermann Scherchen (1) Von Werner Klüppelholz Sendung:

Montag, 13. Juni 2016

Redaktion:

Bettina Winkler

9.05 – 10.00 Uhr

Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

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2 „Musikstunde“ mit Werner Klüppelholz Die sieben Leben des Hermann Scherchen SWR 2, 13. – 17. Juni 2016, 9h05 – 10h00 I …mit Werner Klüppelholz, guten Morgen! Der Name dieses Geigers, Dirigenten, Orchestergründers, Klangforschers, Lehrers, Verlegers und Komponisten ist heute nur noch Kennern geläufig, wiewohl einer davon ihn als „größten Musiker des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet. Unser Thema lautet „Die sieben Leben des Hermann Scherchen“. Indikativ Hermann Scherchens Leben war atemlos, randvoll gefüllt mit unterschiedlichsten Aktivitäten, es waren mehrere Leben in einem; von Anfang an. Geboren wird er 1891 in Berlin, wo die Eltern eine bescheidene Gastwirtschaft führen; ein komplettes Mittagessen kostet 60 Pfennig, Feierabend nachts um drei. Schon als Kind muss Hermann mithelfen, seitdem kommt er mit vier Stunden Schlaf aus. Ein Dienstmädchen schöpft beständig aus einem Repertoire von dreihundert Volksliedern, Hermann fällt mit schöner wie kräftiger Stimme ein (und auf) und improvisiert die Melodien weiter. Mit sechs Jahren überzeugt er den Vater, dass der Geigenunterricht des älteren Bruders bei ihm besser investiert sei, und bis zum zwölften Lebensjahr hat er als Geiger und Bratscher sämtliche Streichquartette Haydns kennen gelernt. Doch dann hört Hermann ein Wunderkind in seinem Alter, das so fantastisch Geige spielt, dass er sich entmutigen lässt. Um diese Zeit stellt ein Schul-Aufsatz die Frage „Was will ich werden?“ und Scherchen antwortet „Mit zwanzig Jahren werde ich das Philharmonische Orchester leiten und Berliner Dirigent sein.“ Genau so wird es tatsächlich kommen, wenn er auch zunächst mit dem Orchester seiner Realschule vorlieb nehmen muss. Mit fünfzehn beendet Scherchen die Schule und verdient mal als Steh-, mal als Sitzgeiger in Nachtcafés gutes Geld, das zu Hause dringend gebraucht wird; hinzukommen Aushilfen in diversen Berliner Orchestern, eingeschlossen die Philharmoniker. Die Spielpausen in der Kneipe nutzt er, um Philosophen zu lesen, John Locke oder Friedrich Nietzsche; Spinozas „Ethik“ lernt er Satz für Satz auswendig. Das geschieht ebenfalls mit der Partitur einer Mahler-Sinfonie, die gerade erschienen war. Der Fünfzehnjährige sitzt vor der elterlichen Wirtschaft in der Herbstsonne und versucht, sich jedes Detail klingend vorzustellen und einzuprägen. „Eine halbe Stunde“, erzählt Scherchen, „benötigte ich, bis alle Noten des ersten Taktes als Tonhöhe, Akkordteil, Melodiewert, Klangfarbe und Dynamik klar in mir tönen und sich zum Klangganzen des Orchesters verweben – danach aber BESITZE ich diesen Takt in vollkommener Imagination“. Beim zweiten Takt geht es schon schneller, neunundzwanzig Minuten, und die letzten Takte

3 schafft Scherchen in je zehn Minuten, nach vier Wochen ist er durch. Später wird der Autodidakt zu seinen Schülern sagen: „Es ist sinnlos, dirigieren zu lernen. Begnüge dich damit, die Partituren gründlich zu studieren. Du wirst nie eine falsche Geste machen, wenn du das Stück richtig im Kopf hast.“ Nun der zweite Satz von Mahlers Fünfter mit dem Orchestre National de l’ORTF unter Hermann Scherchen, dessen Interpretation für einen schreibenden Kenner „voller Grimm und bestürzender Gewalt“ ist. Mahler: V. Sinfonie, 2. Satz Orchestre National de l’ORTF HMA 19051179 LC 7045

13‘21“

Die Schilderungen des Menschen Scherchen sind nicht immer schmeichelhaft. Grimm und Gewalt, die er aus dem gerade verklungenen Mahler-Satz herausholt, habe er selbst im Übermaß besessen, meint Elias Canetti in seinem ScherchenPorträt, das mit den Worten beginnt: „Er hielt die Lippen fest zusammengepresst, damit ihnen kein Lob entfuhr.“ Und weiter: „Entschlossenheit, Hochmut, Kälte war alles, was er von sich preisgeben wollte.“ Der Komponist Luc Ferrari lernt den alten Scherchen kennen und notiert: „Merkwürdig an Scherchen war dieser Widerspruch zwischen scheinbarer Kälte und ganz starken Emotionen den Dingen gegenüber, die ihn berührten. Er war ein Mensch, der einem schon Eindruck machte; geheimnisvoll, beinahe chinesisch, mit durchdringenden Augen – man wusste nie genau, was er gerade dachte. Das ließ ihn unnahbar erscheinen. Aber dann drangen aus diesem Menschen plötzlich Worte von solcher Herzlichkeit hervor, dass man merkte: auch er empfindet, auch er hat Gefühle, und zwar sehr tiefe und intensive.“ So war es wohl. Mit zehn Jahren hört Scherchen Beethovens ViolinRomanze von einem älteren Mitschüler gespielt: „Ich bin in Tränen, erbettle mir die Noten, schreibe sie noch in der gleichen Nacht ab und laufe am anderen Morgen, die Abschrift vor mir, laut singend und weinend die Potsdamer Straße hinab.“ Seltsam, dass ebenfalls der junge Brecht von genau diesem Stück stark berührt wurde; offenbar eine Musik, um harte Burschen zu erweichen. Wir hören Christian Tetzlaff mit dem Tonhalle-Orchester Zürich unter Leitung von David Zinman. Beethoven: Violin-Romanze Chr. Tetzlaff, V., Tonhalle Orchester Zürich, Ltg. D. Zinman M0373599

8‘18“

In Berlin gibt es ein dichtes Netzwerk von Musikern, und so gelangt Scherchen als Bratscher in das Orchester, das 1910 dort Schönbergs „Pelleas und Melisande“ aufführt. Scherchen teilt seine Begeisterung über das Werk dem Komponisten mit,

4 doch der Brief bleibt ohne Antwort, ihm fehlen Name und Adresse. Zwei Jahre später soll Scherchen bei der Uraufführung des „Pierrot lunaire“ den Geigenpart übernehmen, der sieht die Stimme und winkt ab, zu schwer für ihn. Doch er ist bei allen Proben dabei, die Schönberg in der Villa der Solistin namens Albertine Zehme abhält. Einmal fehlt Schönberg wegen Krankheit und Frau Zehme hat die Idee, dann soll der junge Mann dort in der Ecke die Probe leiten. Was Scherchen so glänzend gelingt, dass er nach einer halben Stunde von Frau Zehme als Dirigent für die Tournee engagiert wird, die sie nach der Uraufführung des „Pierrot lunaire“ plant. Arnold Schönberg wird zu einer der beiden lebensbestimmenden Prägungen für Hermann Scherchen, er nennt ihn „den größten Komponisten seit Beethoven“. Bald darauf stirbt der Vater, und Scherchen benutzt sein Erbteil von 216 Mark dazu, ein Orchester zusammenzutrommeln, einen Saal zu mieten und ein einziges Plakat zu malen, das die Berliner Erstaufführung von Schönbergs Kammersinfonie op. 9 unter seiner Leitung ankündigt. Im Publikum sitzen der Pianist Artur Schnabel und der Geiger Carl Flesch, berühmte Namen noch heute, und sind von den Fähigkeiten Scherchens überwältigt. Sie ermuntern ihn, doch einmal ein großes klassisches Konzert zu geben, aber auf die Finanzierung durch einen kommerziellen Veranstalter konnte niemand hoffen. Flesch hat freilich einen Freund, den Bankier Franz von Mendelssohn, der ohne Zögern drei Tausend Mark spendiert. Auf dem Programm stehen Haydn, Mozart, Bruckner und eben Schönbergs Kammersinfonie. Wie seinerzeit in Wien verursacht dieses Stück erneut einen Aufruhr im Publikum. Darin Scherchens Mutter, die sich ein Herz fasst und einem der lautesten Protestierer von hinten auf die Schulter klopft mit den Worten: „Aber mein Herr, warum pfeifen Sie denn? Der Junge hat sich doch solche Mühe gegeben.“ Schönberg: I. Kammersinfonie op. 9, Anf. RSO des WDR Köln DRA

3‘10“

Wir hörten den Anfang der Ersten Kammersinfonie von Arnold Schönberg. Hermann Scherchen leitete das Rundfunksinfonieorchester des WDR Köln. Gustav Mahlers Furor über nachlässige Arbeit, der auf Scherchen übergehen wird, hätte auch in Berlin genügend Nahrung gefunden. Genüsslich erzählt Scherchen von den Kapellmeistern, die er im Orchester erlebt. Etwa Joseph Stransky, den beste Beziehungen bis nach New York brachten, hatte allerdings nicht die besten Ohren und Proben konnte er auch nicht. Aber solche physischen Mängel sucht er metaphysisch zu kompensieren. „Bitte, meine Herren Zweite Geigen, das Tremolo müssen Sie transzendental ausführen.“ Worauf einer der Angesprochenen erwidert: „Wat is’n det?“ Felix Mottl, der Liebling Cosimas und in Bayreuth die Rolle spielend wie heute Christian Thielemann, dirigiert im Konzert einmal die „Pastorale“ und verspeist dabei lächelnd einen Apfel; vielleicht wollte

5 er damit ja nur das „Erwachen heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande“ andeuten. Arthur Nikisch, der Vorgänger Furtwänglers bei den Berliner Philharmonikern, sollte die „Romantische Suite“ von Max Reger uraufführen, hatte aber bis zuletzt keinen einzigen Blick in die Partitur geworfen. „Und wie“, fragt ihn der schlitzohrige Reger, „gefällt Ihnen denn die Schlussfuge?“ „Ach, lieber Reger, damit haben Sie sich dieses Mal selbst übertroffen.“ „Das muss ich wohl, denn in diesem Werk gibt es gar keine.“ Solchen Schlendrian findet Scherchen ebenfalls vor, wo er für den Sommer 1914 als Zweiter Kapellmeister in das Ostseebad Dubbeln bei Riga kommt. Mit Ehrgeiz und jugendlichem Elan will sich Scherchen an die Arbeit machen, alle Beethoven-Sinfonien unter anderem, aber von den Musikern hört er bloß: „Ach, lieber Freund, wir sind doch hier in der Sommerfrische.“ Wütend verzichtet Scherchen auf jegliches Probieren und studiert allein aufs Genaueste die Noten. Als er gerade mit dem Orchester Tschaikowskys „Slawischen Marsch“ begonnen hat, marschieren russische Soldaten ins Kurhaus, der Erste Weltkrieg war ausgebrochen. Tschaikowsky: Slawischer Marsch London Symphony Orchestra TAH 413/416 ohne LC

10‘11“

Hermann Scherchen leitete das London Symphony Orchestra mit dem „Slawischen Marsch“ von Peter Tschaikowsky. Zusammen mit anderen Musikern wird Scherchen nach Sibirien verfrachtet; er ist nun Zivilgefangener, wenn auch mit einer gewissen Bewegungsfreiheit. Eine Autobiographie hat Scherchen nicht verfasst, was man kennt, entstammt Interviews, doch über seine vier Jahre in Russland hat er einen Bericht veröffentlicht. Nicht zufällig, denn neben dem Schönberg-Erlebnis wird diese Zeit zur zweiten Prägung seines Lebens, er kehrt zurück als Anhänger des Kommunismus. Oft mittellos und hungernd schlägt sich Scherchen durch, zuweilen nehmen ihn russische Bauern auf und er lernt das ganze Elend der Landbevölkerung kennen, zu 90 Prozent Analphabeten, in Armut, Schmutz und Ungeziefer versinkend. Scherchen dankt seinen Helfern, indem er Uhren repariert oder sich als Kammerjäger betätigt. Einer schenkt ihm eine Geige und Scherchen gelingt die Gründung eines Streichquartetts, das vor Mitgefangenen Werke von Beethoven spielt. Der Gouverneur im heutigen Kirow hatte von ihm gehört und befiehlt ihm, ein Orchester aufzubauen. Ganze acht Mann bringt Scherchen zusammen, und er wird zudem Lehrer für Deutsch, Religion und Musik an einer Schule, die man dort für die Kinder der Zivilgefangenen einrichtet, mit offizieller Genehmigung des preußischen Kultusministeriums im fernen, feindlichen Berlin. Die Revolution erlebt Scherchen hautnah, zuerst in Sibirien, dann in Petersburg und er wird zum entschiedenen Verehrer Lenins. Längst hat er Russisch gelernt, liest Dostojewski im Original und Scherchen beginnt zu komponieren,

6 Klaviersonate, Lieder, Streichquartett. Wie beim Geigenspiel kommt er später allerdings zu der Einsicht: „Ich wusste, dass ich zwar kompositorisch mehr begabt war als 95 Prozent der Komponisten, dass ich aber nicht zu jenem einen Prozent gehörte, die allein das Anrecht hatten, in die Musikgeschichte einzugehen.“ Gleichwohl Ist namentlich der erste Satz des 1915 entstandenen Streichquartetts hörenswert, er klingt nach frühem Schönberg mit einer Prise Reger. Scherchen: Streichquartett Nr. 1, op. 1, H-Dur Erato Quartett Gravesano 1891 – 1 ohne LC

9‘34“

Diese „Musikstunde“ mit Werner Klüppelholz über Hermann Scherchen ging zu Ende mit dem ersten Satz aus dessen Streichquartett Nr. 1, op. 1, wiedergegeben vom Basler Erato Quartett.