Die Erben von Selvir

J.D. Others Die Erben von Selvir Grenzfall Teil I Richten Prolog 21. Januar 2017 (Samstag) 00:02 Uhr Die Sterne funkelten hell in der Nacht, in der...
Author: Linda Hertz
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J.D. Others

Die Erben von Selvir Grenzfall Teil I Richten

Prolog 21. Januar 2017 (Samstag) 00:02 Uhr Die Sterne funkelten hell in der Nacht, in der zwei Menschen sterben sollten. Es war kurz nach Mitternacht. Ein neuer Tag, ein neuer Anfang. Zwei Enden, zwei Tode. Das Licht der Sterne wurde wie in jeder Nacht von den hoch gebauten Gebäuden der Stadt und ihren künstlichen Lichtern verschluckt. Auf einer Hochstraße fuhr eine Motorradfahrerin. Sie war ganz in schwarz gekleidet und verschmolz samt ihrer Maschine mit der Dunkelheit der Nacht. Die Straße verlief über und durch die Stadt. Die Fahrerin war müde. Sie wusste noch nicht, wann sie nach Hause kommen würde. Doch darüber durfte sie sich jetzt keine Gedanken machen. Durch das spiegelnde Visier des schwarzen Helmes sah sie in den linken Seitenspiegel. Hinter ihr tauchte ein dunkelrotes Auto auf. Ein Aveline, Model 210. Das Auto fuhr bedrohlich dicht auf. Die Motorradfahrerin beschleunigte. Der Wagen wechselte auf die linke Spur und gab ebenfalls Gas. Die Straße neigte sich in eine lange Kurve. Der Wagen hatte nun das Motorrad eingeholt und fuhr neben

der Fahrerin. Das Beifahrerfenster des Wagens öffnete sich durch Knopfdruck. Der Wagen geriet leicht aus der Spur und kam der Motorradfahrerin gefährlich nah. Vielleicht hatte die Person hinter dem Steuer des Avelines zu tief ins Glas geschaut. Sie erreichten die Mitte der Kurve. Die Zweiradfahrerin sah unentwegt in das geöffnete Fenster. Der Mann auf dem Beifahrersitz lachte und sah der Motorradfahrerin entgegen. Dann verfiel das Lachen auf seinem Gesicht und verwandelte sich in einen bedrückten, verängstigten Ausdruck. Die Fahrerin des Motorrades hatte blitzschnell eine Handfeuerwaffe aus ihrer Kunstlederjacke gezückt und richtete sie auf das Auto. Der Fahrer lachte und bemerkte nicht, wie sein Beifahrer ihn dazu drängte schnell wegzufahren. Zwei Schüsse durchbrachen die Stille der Nacht. Das Auto schlenkerte und rammte die Leitplanke. Dann geriet es vollkommen vom Kurs ab und versperrte die gesamte Straße. Ein zweites Auto rammte die Vorderseite und der rote Aveline drehte sich leicht. Das Motorrad war mit seiner Besitzerin längst entkommen.

Verdeckte Ermittlung „Es gibt keinen Gott. Es gibt nur jene, die an Höheres glauben. Es gibt keine Ehre. Es gibt nur jene, die sie verteidigen. Es gibt keine Rache. Es gibt nur jene, die zum Schutze der Gesellschaft weggesperrt werden. Es gibt den Glauben an falsche Tatsachen. Er spielt keine Rolle. Es gibt die Wissenschaft. Es gibt die Physik. Es gibt die Gesetze. Wir glauben an das, was wir beweisen können. Wir sagen die Wahrheit. Wir bewahren das Wissen. Wir leben in einer materiellen Welt.“ - Paragraph 1 - Kodex der Selvir 21. Januar 2017 (Samstag) 05:24 Uhr Steckbrief 542: Offiziell: Name: Noah Anderson Geburtsdatum: 17.9.1987 Geburtsort: United States of America - Georgia Atlanta Alter: 29 Jahre Beruf: Staatsanwalt Augenfarbe: Blau Haarfarbe: Braun Größe: 1,83 Meter Inoffiziell: Lieblingsfarbe: Blau

Beziehungsstatus: Single – Versucht Chloe Lux für sich zu gewinnen Hobbys: Fußball (gucken), mit Chloe treffen Gefühlslage: Beschissen Grund: Er wurde direkt an den Tatort bestellt Die Sonne spiegelte sich in den schwarzen Fenstern der Hochhäuser von Phoenix. In der vergangenen Nacht wurde in Arizona ein Doppelmord begangen. Die Polizei war bereits vor Ort. Es war noch früh. Noah Anderson traf am Tatort ein. Er trug einen einfarbigen Coldenmans-Anzug, eine Uhr aus dem Hause Georgia, eine blaue Coldenmans-Krawatte und dazu passende, schwarze Schuhe. Er war unbewaffnet. In seiner rechten Hand hielt er einen Aluminiumkoffer: Darin waren sein Laptop, Zettel und Papier und einige Unterlagen zu einem anderen Fall. Er trug sein U-Phone, Model XTC mit sich. Einer der Polizisten stand kaugummikauend und mit Sonnenbrille in der Nähe des Avelines. Er bemerkte Noah und ging auf ihn zu. Steckbrief 543: Name: Jack Willson Geburtsdatum: 3.4.1990 Geburtsort: Deutschland - Hamburg Alter: 26 Jahre Beruf: Polizist - Inspektor Augenfarbe: Blau

Haarfarbe: Blond Größe: 1,78 Meter „Morgen, Noah!“, hallte es über die abgesperrte Fahrspur. „Guten Morgen, Willson.“ „Einen guten Morgen würde ich das nicht nennen.“ Der Polizist führte den Staatsanwalt um das zerstörte Auto herum. Zwei abgedeckte Körper ließen nichts Gutes erahnen. Noah stellte seinen Koffer ab, kniete sich neben eines der Opfer und öffnete den Reißverschluss. Ein starker, rauchiger Geruch, in dem eine ungewöhnliche, kaum wahrnehmbare süße Note lag, schlug ihm ins Gesicht. Noah hustete. „Zwei Kopfschüsse. Laut der Rechtsmedizinerin sind sie vor etwa zwei bis drei Stunden gestorben. Sie wurden anscheinend während der Fahrt getötet. Dann hat ein Southlay ihren Wagen gerammt. Der Southlay wurde bereits weggefahren. Die Kugeln werden noch gesucht. Das kann noch dauern.“ Noah zog den Reißverschluss wieder zu. „Wurden sie schon identifiziert?“ „Noch nicht. Das Nummernschild ist auf einen gewissen Alexander Sam Underberg registriert. Der saß aber nicht im Wagen. Das konnten wir anhand des Fotos auf seinem Führerschein ausschließen. Wir suchen ihn gerade. Leider gibt es kaum Zeugen. Die Frau aus dem Southlay steht immer noch

unter Schock und wurde ins Krankenhaus gefahren.“ „Und warum bin ich dann hier?“, fragte Noah. „Ich habe dich rufen lassen.“ Steckbrief 544: Name: Jean Blake Geburtsdatum: 24.11.1963 Geburtsort: Venezuela - Caracas Alter: 53 Jahre Beruf: Polizist - Officer Augenfarbe: Braun Haarfarbe: Schwarzgrau Größe: 1,63 Meter Ein älterer, farbiger Mann in Zivilkleidung, aber mit einer Polizeimütze ausgestattet, die den Rang eines Officers kundgab, ging auf Noah zu. Noah zog die Augenbrauen hoch und schüttelte die ausgestreckte Hand. „Offizier Blake, immer eine Freude, Sie wiederzusehen.“ „Ich wünschte, es gäbe einen erfreulicheren Grund für unser Treffen.“ „Könnten Sie mir vielleicht beantworten, warum Sie mich zu so früher Stunde hierher bestellen?“ „Sicher doch. Hör mal, Noah.“ Der kleine Mann streckte seine Hand nach oben und legte sie auf Noahs Schulter. Sie gingen ein Stück die Straße entlang.

„Du hast uns doch schon oft in verzwickten Fällen weitergeholfen. Du hast dich doch immer schon für Rätsel und dergleichen interessiert und ich weiß noch, wie du damals als kleiner Detektiv in unseren Rängen mitermittelt hast.“ „Als kleiner – Was? Damals war ich dreizehn und hatte ein zweiwöchiges Praktikum. Das ist fünfzehn Jahre her!“ „Ich weiß, ich weiß. Wie die Zeit vergeht. Aber auch danach hast du uns das ein oder andere Mal weitergeholfen. Ich dachte...“ Sie blieben stehen. Officer Blake nahm seine Hand von Noahs Schulter, als der sich umdrehte und dem älteren Mann von oben in die Augen sah. „Ich bin Staatsanwalt. Kein Detektiv! Ich glaube, Sie verwechseln mich da mit jemanden.“ Noah wandte sich ab und ging über den Tatort zurück zu seinem Auto. Er würde in sein Büro fahren, nein; er würde erst einmal nach Hause fahren, sich wieder ins Bett legen, in drei Stunden in sein Büro fahren und sich dort um den Fall kümmern. Gemütlich vom Schreibtisch aus. Eingriff? Jetzt! Ping! Was war das? Noahs Handy. Das Geräusch einer erhaltenen SMS hörte Noah nicht allzu oft. Er zog das schwarz glänzende Gerät aus seiner Hosentasche und fuhr gespannt mit dem Zeigefinger über den dunklen Bildschirm. Der Bildschirm leuchtete auf und begrüßte seinen Besitzer mit der Nachricht: „Sie haben eine neue Nachricht.“ Wer

das wohl war? Es stand keine Nummer dabei. Vielleicht war es ja... aber sie würde doch sicher noch schlafen, oder nicht? Vielleicht konnte sie nicht schlafen und wünschte sich, dass Noah vorbeikam. Genug der Tagträume. Noah öffnete die SMS. Ein kleiner Text kam zum Vorschein: „Bleiben Sie stehen.“ Noah blieb stehen. Gleichzeitig las er weiter. „Die beiden Opfer sind Mack Swarn und Adam Parker. Beide waren Wissenschaftler. Details sind für den Augenblick unwichtig. Stellen Sie die zwei Kugeln sicher. Eine liegt in dem Park neben dem Spielplatz, die andere in dem letztes Jahr bankrottgegangenen Hotel. Dort ist niemand anwesend. Der Schlüssel liegt unter einem Topf, in dem Hortensien gepflanzt sind, neben der Hintertür. Finden Sie die Kugeln und übergeben Sie sie der Polizei. Erzählen sie niemandem von dieser Nachricht. Löschen Sie sie jetzt!“ Noah sah sich zu allen Seiten um. Willson sah ihn durch seine Sonnenbrille an. Noah schaute auffällig nach, ob er ein Handy in der Hand hielt. Das wäre nicht der erste dumme Witz von ihm gewesen, doch Willson inspizierte gerade den Aveline.

Noah blickte über die Leitplanke an der Straßenseite und sah unter sich eine verrostete Rutsche. Er sah über den heruntergekommenen Spielplatz und auf das Gebäude hinter dem Park. Er konnte das Schild von hier aus lesen, obwohl es ein wenig verblichen war: „Bistro & Hotel“ Was zum? Er sah wieder auf die Nachricht. Wer war das? Absender unterdrückt. Er würde die Nachricht ganz sicher nicht löschen! Er würde irgendwann in den nächsten Tagen in die Polizeizentrale gehen und Jefferson darum bitten, den Absender herauszufinden. Das wäre eine Kleinigkeit für den Computerexperten. Ping! „Sie haben eine neue Nachricht.“ Noah klickte energisch auf „Lesen!“ Seine Augen wurden beim Lesen unwillkürlich schmaler und misstrauischer. „Wenn Sie die Nachrichten nicht löschen, muss ich es tun. Führen Sie meine weiteren Anweisungen sofort aus. Es ist zu Ihrem Besten.“ Seine Stirn legte sich in ärgerliche Falten. Was für ein dummer Witz. War es etwa Blake? Nein, soweit würde er nie gehen. Aber wer sonst? Plötzlich machte sich sein Handy selbständig: „Diese Nachricht wirklich löschen?“ Noah riss die Finger von dem Display. Jetzt hätte er fast aus Versehen die einzige Spur zu dem Täter, der ihn mit SMS belästigte, zerstört. Er drückte auf „Abbrechen!“ Das Handy reagierte

nicht. Er drückte noch einmal. Das graue „OK“Feld neben dem „Abbrechen“ wechselte in ein Blau, welches immer bei ausgewählten Aktionen angezeigt wurde. „Nachricht gelöscht.“ „Scheiße!“, fluchte Noah laut. Das war kein Zufall. Der Bildschirm zeigte dem entnervten Noah, wie die erste Nachricht ausgewählt und ebenfalls gelöscht wurde. Entgeistert sah Noah auf die Mitteilung: „Nachricht gelöscht.“ Mit wem hatte er es hier zu tun? Irgendeinem Amateur-Hacker, der ihn ärgern wollte? Hatte Blake jemanden auf ihn angesetzt, damit er an den Ermittlungen mitarbeitete? Noah sah immer noch entgeistert auf sein Handy. Und was jetzt? Sollte er einfach nach Hause fahren? Sollte er sein Handy wegwerfen? Oder sollte er die Anweisungen ausführen? Er stieg in sein Auto und fuhr von der Hochstraße ab. Hinter der Abfahrt musste er sich entscheiden: Entweder auf die Hauptstraße Richtung Zuhause oder aber in die entgegengesetzte Richtung zum Parkplatz des Hotels. Er setzte den Blinker. Jetzt war seine Neugier geweckt. Er stellte seinen Carun auf dem leeren, kleinen Parkplatz ab und stieg aus. Vor ihm lag der Park mit dem Spielplatz, über ihm die Hochstraße und hinter ihm das Hotel. Er ging auf den Park zu. Es war kein richtiger Park: Zwei merkwürdig geformte Grünflächen, drei kleine Bäume, zwei Bänke und der Spielplatz, der nur noch aus der rostigen spiralförmigen Rutsche, zwei Schaukeln, von denen eine nur noch an einem Seil hing, und zwei

kleinen Wippen bestand. Er setzte sich auf eine Bank und sah sich die Umgebung an. Das Gras war wild und lang gewachsen. Eine Kugel sah er nicht. Ping! Er riss sein Handy aus der Tasche und aktivierte den Bildschirm. „Lesen!“ „Was tun Sie da? Fangen Sie an zu suchen! Nach meinen Berechnungen muss die Kugel in einem Umfeld von sechzehn Metern um Sie herumliegen. Löschen Sie die Nachricht jetzt!“ Irritiert sah Noah auf die SMS. Dann blickte er sich erschrocken um. Er konnte ihn sehen? Das ging zu weit! Sechzehn Meter Umfeld? Das umfasste beinahe den gesamten Park und einen Teil des Spielplatzes. Aber wenn er ihn sehen konnte, dann konnte er ihn vielleicht auch hören! „Wer sind Sie?“, schrie Noah den kleinsten Baum an. Der Baum gab keine Antwort. Dafür aber sein Handy: Ping! „Sie haben eine...“ „Lesen!“ „Ich bin... ein Freund. Wenn Sie meine Nachrichten nicht löschen, tue ich es. Suchen Sie nun die Kugeln.“ Zwei Sekunden, nachdem Noah die Nachricht zu Ende gelesen hatte und für einen kurzen Moment seine Umgebung ausgespäht hatte, erschien die Nachricht: „Alle Nachrichten gelöscht.“

Es half nichts. So groß das widersprechende Gefühl, nicht auf die Befehle eines fremden Hackers einzugehen auch war: Ein altes und gut vertrautes Gefühl beflügelte ihn, nach der Kugel zu suchen. Er ging den gesamten Platz systematisch ab. Er durchwühlte das hohe Gras, sah sich die Bäume genau an und wühlte ein wenig im Sand, der als Untergrund für den Spielplatz herhielt. Nichts, nichts und dann: Ein Kaugummi. Nichts! Deprimiert und ein klein wenig aus der Puste ließ sich Noah auf die andere Bank fallen. Kurz nachdem er zum Sitzen kam, ertönte wieder das Geräusch aus seiner Tasche. „Suchen Sie weiter.“ Verärgert schaute sich Noah um. Er konnte keine Kamera sehen. „Ich bin Staatsanwalt, verdammt, und kein Spürhund! Und außerdem führe ich keine Befehle von Ihnen aus. Sie sind nicht mein Freund! Sie sind ein Fremder!“ Es dauerte einen kurzen Moment: Ping! „Reden sie bitte langsamer.“ Aha! Erwischt! Ein triumphierendes Gefühl baute sich in Noah auf. Sein Überwacher konnte ihn nicht hören: Er konnte nur seine Lippen lesen. Eine beeindruckende Fähigkeit. „Ich-weiß,-dass-sie-mich-nur-sehen-können“, sprach Noah sehr langsam und mit deutlichen Lippenbewegungen.

Mit seinen Augen suchte er dabei den Platz nach Kameras ab. Ping! Er sah wieder auf sein Handy: „Richtig. Suchen Sie nun die Kugeln.“ Verärgert darüber, dass sein Gegenspieler nicht auf seine Blöße einging, ließ Noah das Handy in seine Anzugtasche fallen und drehte sich um. Er ging auf den kleinen Baum vor sich zu und betrachtete ihn von den Wurzeln bis zur Krone. Ping! „Die Kugel befindet sich in einem Radius von dreieinhalb Metern um den Baum vor Ihnen. Ihre Uhr hat soeben Licht reflektiert, wobei Sie nicht in Richtung Sonne gerichtet war. Die Kugel muss das Licht reflektiert haben.“ Beeindruckt sah sich Noah erneut um. Dann blickte er auf den schmalen Stamm vor sich und überlegte. Wenn die Kugel das Sonnenlicht reflektiert haben sollte und sich das Licht in der Uhr gespiegelt hatte, was wiederum die Kamera erwischt haben sollte, dann musste die Kamera in Richtung Baum liegen! Noah ging einige Schritte zur Seite und lugte neben dem Blätterdach hervor. Nichts! Das Hotel zu seiner Rechten, der Spielplatz und die Hochstraße hinter ihm. Und vor ihm: Nichts. Der morgenblasse Himmel lächelte ihn neckisch an. Satelliten? Eher unwahrscheinlich. Die Kamera könnte auch auf dem Boden oder auf der kleinen

Mauer, die den Park von der Straße abtrennte, befestigt sein. Außerdem war Noah nicht ganz von seinem Plan überzeugt. Sein Beobachter von seinem scheinbar schon. Noah sah wieder zum Baum und zu dem grünbewachsenen Boden unter ihm. So eine verrückte Theorie, die Position einer Kugel anhand von reflektiertem Licht herausfinden zu wollen. Während Noah gedankenversunken auf das schimmernde Etwas zuging, rechnete er im Kopf die niedrige Wahrscheinlichkeit aus, die Kugeln tatsächlich finden zu können. Dann stand er direkt über dem kleinen Funkeln, welches ihn plötzlich aus seinen Gedanken riss. Er zog den silbernen Gegenstand aus dem kalten Erdboden und sah ihn sich ungläubig in seiner Handfläche an: Ein spitzes, silbernes Projektil. Er nahm es zwischen die Finger und drehte es. Die Kugel ging am Ende des zylinderförmigen Teils in eine kurze Spirale über. Ansonsten nichts Auffälliges. Ping! „Stecken sie die Kugel in einen luftdicht verschlossenen Raum und suchen sie die zweite.“ Unglaublich. Er hatte Recht gehabt. Aber wo um alles in der Welt sollte Noah nun einen luftdicht verschlossenen Raum herkriegen? Im Labor gab es einen Raum, aus dem die Luft herausgesaugt werden konnte. Es hatte immer wieder mal Versuche in Vakuum gegeben, die die Fälle vorangetrieben hatten, doch es würde beinahe zwei Stunden dauern, bis Noah das Labor erreicht hätte. Ping!

„In Ihrer Innentasche befindet sich ein Plastikbeutel. Benutzen Sie diesen.“ Noah kramte verlegen die kleine Plastiktüte aus seiner Innentasche hervor. Hatte er gerade etwa laut gedacht? Er öffnete den Verschluss, schüttete die letzten zwei Bonbons in seine leere Hand, warf sie gleich weiter in seinen Mund und ließ dann die Kugel in die Tüte fallen. Er strich über den Verschluss und steckte die Tüte wieder ein. Jetzt fehlte noch eine Kugel. Noah ging über den Parkplatz zu dem alten Gebäude. Vor ihm stand eine Tür am Ende dreier Stufen. Er ging auf sie zu und drückte die Klinke herunter. Abgeschlossen. Wie sollte er dort reinkommen? Wollte er überhaupt dort reinkommen? Das war Hausfriedensbruch, auch wenn das Gebäude unbewohnt und verlassen war. Ping! „Besitzen sie ein Kurzzeitgedächtnis oder nicht? Der Schlüssel liegt unter den Hortensien neben der Hintertür!“ Noah drehte sich empört von der Haustür weg und schlich an der Hauswand entlang. Hinter dem Haus kämpfte er sich durch den ungepflegten Garten – wenn man ihn überhaupt noch als solchen bezeichnen konnte – und gelang schließlich an die Hintertür. Er hob den Topf mit den Hortensien an und stellte ihn beiseite. Unter dem Krug kam ein

kleiner, rostiger Schlüssel zum Vorschein. Wie verantwortungslos, seine Schlüssel unter Pflanzen, Steinen oder Fußmatten zu verstecken. Da könnte ja jeder einbrechen. (Obwohl es bei einer solchen Ruine wahrscheinlich auch keinen Unterschied mehr machte). Noah trat ein und hielt sich die Hand vor die Nase, um sich vor dem beißenden Gestank zu schützen. Hinter der Theke der Rezeption thronte ein verschimmelter Obstteller. „Und wo soll die zweite Kugel sein?“, sprach Noah laut in den Raum, während er ins nächste Zimmer flüchtete. Keine Antwort. Kein Ping. Also gab es keine Kameras im Haus. Beruhigend, aber dafür gab es auch keine Hinweise. Noah durchstöberte das Gästezimmer, öffnete das Fenster und untersuchte die Außenwände nach Einschusslöchern. Nichts, nichts und Vogeldreck. Während Noah versuchte, den Würgereiz zu unterdrücken, spurtete er ins nächste Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Anscheinend war er in der Küche gelandet. Hier roch die Luft nur wenig angenehmer. Das Fenster über dem Herd war zerbrochen. Bei dem Gedanken an Jugendliche, die die Fenster leerstehender Gebäude mit Steinen einschlugen, verflüchtigte sich der Erfolgsgedanke von Noah, dass die gesuchte Kugel dafür verantwortlich sein könnte. Er ging um die Kochinsel herum. Hinter dem Fenster lag zwischen Scherben tatsächlich ein Stein. Daneben tropfte aus einer Schublade eine chemisch-künstliche Flüssigkeit. In einem sicheren Abstand sah sich

Noah die Pfütze auf dem Boden an. Er öffnete die Schublade, worauf noch mehr von der Brühe herausfloss. Noah wurde leicht schwindelig. In der Schublade standen mehrere kaputte Reinigungsverpackungen, deren Inhalt sich miteinander vermischte. Er untersuchte die Schublade. Wenn die Reinigungsmittel immer noch auf die Pfütze am Boden tropften, dann war diese frisch. Er steckte seinen Finger durch ein kleines Loch in dem dreckigen Schubladenbrett. Das könnte hinkommen. Die Kugel hatte die Hauswand durchbrochen, dann die Reinigungsmittel auslaufen lassen und war anschließend durch die Schublade heraus und – Noah schaute in die Richtung, die das Loch vorgab – gegen die Spülmaschine auf der anderen Seite geflogen. Die Kugel steckte in dem verstaubten Metall fest. Noah suchte nach einem Messer. Er fand einen Löffel. Ungeschickt hantierte er mit dem Griff des Löffels in dem Loch herum und versuchte, die Kugel herauszukratzen. Es funktionierte nicht. Noah öffnete die Spülmaschine, blickte angewidert auf das dreckige Geschirr im Inneren und trat einige Male gegen die Innenseite des Metalls. Das alte Gerät gab dem zweiten Tritt nach und verformte sich, worauf die Kugel herausfiel. Noah hob sie auf und sah sie sich siegessicher an. Dann steckte er sie zu der zweiten Kugel. Kein Zweifel, die Kugeln sahen exakt gleich aus und wurden schlussfolgernd von derselben Waffe und wahrscheinlich auch von

derselben Person abgefeuert. Noah trat aus dem Haus heraus und atmete tief durch. Ping! „Haben Sie sie?“ Er hielt den Plastikbeutel triumphierend empor. „Übergeben Sie sie der Polizei. Ich komme wahrscheinlich noch auf Sie zurück. Danke.“ Auf mich zurückkommen? Auch wenn der kleine Exkurs die Ermittlungen weiterbringen würde und wenn er gleich vor den Augen der Polizisten würde glänzen können, fragte Noah sich, ob er wirklich noch einmal von diesem merkwürdigen Hacker kontaktiert werden wollte. „Und das haben Sie tatsächlich ganz allein herausgefunden?“ „Natürlich, wer hätte mir denn bitte helfen sollen?“ „Wirklich außergewöhnlich! Damit haben Sie der Spurenkommission einiges an Arbeit abgenommen. Ich wusste, es war die richtige Entscheidung, Sie hierher zu bestellen.“ Officer Blake lächelte Noah freundlich an und klopfte ihm auf die Schulter. Jack blinzelte durch die Gläser seiner Sonnenbrille und begutachtete die zwei Kugeln in der Plastiktüte, die er ins Licht hielt. „Wir werden die erst mal ins Labor bringen.“

„Ganz recht, Jack. Der Fall fängt gerade erst an! Wir kennen immer noch nicht die Identität der Opfer, aber das soll nicht Ihre Sorge sein, Noah. Sie haben uns schon sehr geholfen.“ „Nicht der Rede wert.“ Noah sah auf seine Georgia-Uhr. „Ich muss los!“, verabschiedete er sich und düste in seinem Auto davon.