Naucks Erben Von der Gewerbeschule zum Naturwissenschaftlichen Gymnasium

Fichte-Gymnasium Krefeld Naucks Erben – Seite 1 von 16 Naucks Erben Von der Gewerbeschule zum Naturwissenschaftlichen Gymnasium Waltraud Fröchte Wer...
Author: Erich Haupt
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Fichte-Gymnasium Krefeld Naucks Erben – Seite 1 von 16

Naucks Erben

Von der Gewerbeschule zum Naturwissenschaftlichen Gymnasium Waltraud Fröchte Wer heute fragt, was „die Welt im Innersten zusammenhält“, erkundigt sich bei den Naturwissenschaften Physik, Chemie, Biologie, Meteorologie, auch Astronomie. Kein Zweifel: Naturwissenschaft und Technik prägen entscheidend unser Weltbild. Sie beeinflussen unser Menschenbild, unsere Zukunftsängste und –hoffnungen sowie unsere Wertvorstellungen. Aufgabe der Schule war es immer schon, den erreichten Wissensstand an die nächste Generation zu vermitteln, sie zu befähigen weiterzuforschen und sie bereit zu machen, Herausforderungen anzunehmen und gewissenhaft mit neuen technischen Möglichkeiten umzugehen. Nach wie vor ist Schule Ort der Menschenbildung und deshalb zugleich mehr und weniger als ein Wissenschaftsinstitut. Seit etwas mehr als 155 Jahren macht es sich das Fichte-Gymnasium zur Aufgabe, seine Schülerinnen und Schüler in die Welt von Biologie, Chemie und Physik einzuführen und ihnen naturwissenschaftliche Bildung zuteil werden zu lassen. Seit 150 Jahren widmet sich auch der Naturwissenschaftliche Verein der Aufgabe, ein breites Publikum für die Entwicklungen in Physik und Chemie, Meteorologie und Geologie, Biologie und Zoologie zu interessieren. Am Schnittpunkt beider Entwicklungen stand vor 150 Jahren Friedrich Ernst Nauck als herausragende Persönlichkeit in der Schule wie in der Stadt. So erscheint es interessant zu untersuchen, wie sich parallel zur Entwicklung des naturwissenschaftlichen Kränzchens „seine“ Gewerbeschule ihren Platz im Bereich der höheren Bildungsanstalten in den ersten 50 Jahren erkämpft und den Naturwissenschaften die ihnen gebührende Anerkennung erstritten hat. Der Stellenwert der Naturwissenschaften in der heutigen Gesellschaft Für die Gegenwart ist zuzugeben, dass die gesellschaftliche und vielleicht auch politische Wertschätzung der Naturwissenschaften und der naturwissenschaftlichen Bildung in Deutschland – im Vergleich mit anderen Staaten – weniger ausgeprägt ist. Physik gilt als schwierig und undurchschaubar, die Atomphysik wird skeptisch beurteilt. Negativschlagzeilen über die chemische Industrie verstärken Vorurteile gegenüber der Chemie als Wissenschaft, die Biowissenschaften müssen Einschränkungen von außen hinnehmen. Einer im 20. Jahrhundert vielleicht übertriebenen Wissenschafts- und Technikfreundlichkeit ist eine bedenkliche Skepsis gefolgt. Es kann nicht verwundern, wenn die Naturwissenschaften aufgrund dieser gesellschaftlichen Voreinstellung seit Jahren ein Sorgenkind des deutschen Bildungswesens sind und die Zahl der Studierenden in diesem Bereich seit den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts erheblich zurückgegangen ist. Nicht nur die Deutsche Physikalische Gesellschaft fürchtet, dass ein sich abzeichnender Mangel an qualifiziertem Nachwuchs in diesem Bereich negative Auswirkungen auf ein Land haben könnte, dessen Wohlstand auf dem Export hochwertiger Industrieprodukte und der Entwicklung neuer Technologien fußt. Produziert werden kann nur, wenn Ingenieure, Physiker, Chemiker und Biologen zuvor die notwendige Forschungs- und Entwicklungsarbeit geleistet haben. Die Krefelder Schulsituation in der Mitte des 19. Jahrhunderts Ähnliche Befürchtungen hegten 1849 Krefelder Unternehmer und die Mitglieder der Krefelder Handelskammer. Im Schreiben an den damaligen Oberbürgermeister Ondereyck erbaten sie am 17. August dringlich die Errichtung einer Gewerbeschule, da „in dem Masse, wie die Stadt an Ausdehnung und industrieller Bedeutung gewonnen hat, sich auch die Ansprüche an den Fabrik- und Handwerkerstand immer mehr gesteigert haben, sodass es zu einer unabweisbaren Pflicht wird, jedem Industriellen und Handwerker die Gelegenheit zu bieten, (…) sich (…) eine Ausbildung verschaffen zu können, welche es ihm möglich macht, mit den Anforderungen der Zeit gleichen Schritt zu halten.“1 Das Schreiben macht deutlich, dass es in Krefeld, einer aufstrebenden Stadt mit zunehmender Industrialisierung, an der Qualifizierung von Fachkräften mangelte und dass es

Fichte-Gymnasium Krefeld Naucks Erben – Seite 2 von 16 keine Schule für diesen modernen Bereich gab. Überhaupt war es um die schulische Situation einer Stadt mit 37 129 Einwohnern schlecht bestellt. In zwanzig Jahren hatte sich die Einwohnerzahl Krefelds fast verdoppelt, es existierte aber nur eine 1819 gegründete höhere Stadtschule, die zwar die sogenannten Realien in ihren Unterrichtsplan aufgenommen hatte - darunter verstand man vor allem Geschichte, Geographie, dann aber auch Naturbeschreibung (Biologie), Chemie und Physik – jedoch eine verstärkt naturwissenschaftliche Ausbildung mit dem Blick auf die gewerbliche Praxis nicht anbot. Die geforderte Gewerbeschule dagegen war eine Fachschule, eine Schule für alle Gewerbetreibende im weitesten Sinne des Wortes, für Kaufleute, Fabrikarbeiter, Mechaniker, Handwerker; allen diesen sollte die Schule das handwerkliche Können auf wissenschaftlicher Basis vermitteln. Im heutigen Sprachgebrauch würde man eine solche Schule eine FachOberschule nennen, in deren Mittelpunkt die Berufsqualifikation steht. Das französische Vorbild und die preußischen Reformen Längst hatten sich aus dem Ausland – vor allem aus England und Frankreich – Gedanken verbreitet, die zur Auseinandersetzung zwangen. Die Überzeugung vom Nutzen und der Notwendigkeit naturwissenschaftlich-technischer Bildung dürften die Krefelder Bürger nicht zuletzt aus dem Kontakt mit den französischen Eroberern in den Jahren1794 bis 1813 erlangt haben. In der École Polytechnique in Paris bildete der französische Staat in einer Art Vorschule seinen Ingenieursnachwuchs aus, der hier seine theoretischen Grundlagen in den Naturwissenschaften, der Mathematik und im technischen Zeichnen erhielt. Kein Geringerer als Lazare Carnot2 hatte 1794/95 die Schule gegründet, aus der Napoleon I. zunehmend den Nachwuchs seines hochspezialisierten und erfolgreichen Offizierskorps rekrutierte. In Preußen und Österreich wächst in dieser Zeit – nicht zuletzt durch die Niederlage gegen Napoleon – die Einsicht, wie wichtig die Realien für den militärischen wie den zivilen Bereich sind. 1810 arbeitet der Naturwissenschaftler und Ingenieur Johann Josef Prechtl (1778 – 1854) einen „Plan zu einem Polytechnischen Institut in Wien“ aus, in dem der Unterricht „nicht gelehrt sein (soll), d.h. die Wissenschaften sollen nicht als Selbstzweck dienen, sondern nur als notwendiges Mittel zur richtigen und sicheren Ausübung der verschiedenen hierher gehörigen Geschäfte des bürgerlichen Lebens“3. Wie Prechtl hier betont, ist das Streben nach realer Bildung ein bürgerliches. Franz Schnabel bringt es im Band „Erfahrungswissenschaften und Technik“ seiner „Deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert“ auf die kurze Formel: „Konstitution und Maschine“. Das bedeutet: Mit dem Streben nach naturwissenschaftlich-technischer Bildung ist eng der Wunsch nach verfassungsmäßig abgesicherter Teilhabe an der politischen Macht verbunden. Auch für das selbstbewusste Krefelder Bürgertum mag dies bei dem Wunsch nach besserer Schulbildung eine Rolle gespielt haben. Das Bewusstsein, gegenüber den Industrien Englands und Frankreichs in erheblichem Rückstand zu sein, und die Überzeugung, dass nur wissenschaftliche Bildung die industrielle Entwicklung nachhaltig fördern könne, führten dann 1820 im Preußischen Innenministerium zu dem Erlass zur Errichtung von Provinzial-Gewerbeschulen in jedem preußischen Regierungsbezirk, um die sich nun 30 Jahre später die Krefelder Politiker bemühten. Die Gründung der Provinzial-Gewerbeschule zu Crefeld Die Verhandlungen der Krefelder Stadträte mit dem Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeit dauerten mehrere Jahre. Die Stadtväter mussten schließlich zusagen, einen erheblichen Anteil der Kosten zu übernehmen. Am 5. Oktober 1851 konnte die Gewerbeschule zu Crefeld endlich die angemieteten Räume Ecke Louisenplatz/Louisenstraße beziehen. Diese Räumlichkeiten und ihre Ausstattung stehen auch noch aus heutiger Sicht für Fortschrittlichkeit und Modernität im Unterrichten. Auf die Schüler warteten ein Zeichensaal, ein Zimmer zur Aufbewahrung der Modelle für den Zeichenunterricht, ein Zimmer für die physikalische Sammlung, ein kleines chemisches Laboratorium mit abgesondertem Raum zum Aufstellen von Apparaten sowie zwei Schulsäle; Platz genug also für selbstständiges Arbeiten und Experimentieren.

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Zeugnis Heinrich von der Leyen Ein Zeugnis Heinrich von der Leyens aus dem Jahr 1861 für die I. (oberste) Klasse verdeutlicht die Ausrichtung der Königlichen Provinzial-Gewerbeschule auf das Fach Mathematik und die Naturwissenshaften sowie auf die technische Praxis. Es handelt sich um eines von vier Zeugnissen von der Leyens. Nach unserer Kenntnis sind dies die ältesten erhaltenen Zeugnisse und die einzigen aus der Zeit Naucks.

Fichte-Gymnasium Krefeld Naucks Erben – Seite 4 von 16 Die Schüler belegten einen zweijährigen Kurs, der sich im ersten Jahr mit dem theoretischen Unterricht und anschließend mit den praktischen Anwendungen befasste. Auf dem Stundenplan standen die Fächer Mathematik, Physik, Chemie, chemische Technologie, Mineralogie, Mechanik und Maschinenlehre, Baukonstruktionslehre sowie Zeichnen und Modellieren. Man sieht, es handelte sich um ein anspruchsvolles Programm, das wöchentlich in 36 Stunden abgehandelt wurde. Ein erfolgreicher Abschluss berechtigte zum Studium des Bergfaches und Bauwesens am Gewerbeinstitut in Berlin, der späteren Technischen Hochschule. Das erste Jahr Das Berliner Ministerium hatte es sich vorbehalten, die Direktorenstelle zu besetzen, und wies in preußischer Manier den bisherigen Direktor der Provinzial-Gewerbeschule zu Halberstadt, Hermann Crampe, knapp an, sich in Krefeld einzufinden. Dieser „Gestellungsbefehl“ wird wohl nicht der einzige Grund gewesen sein, warum Crampe sich in Krefeld nicht wohl fühlte. Die Hoffnungen der Initiatoren und der Stadt schienen sich nämlich zunächst nicht zu erfüllen. Der Zulauf an Schülern aus den benachbarten Teilen der Rheinprovinz blieb aus, obwohl die städtische Verwaltung in großer Zahl Anzeigen in den Kreisblättern, ja sogar in der Kölnischen Zeitung geschaltet hatte. Die schwierigen Verkehrsverhältnisse mögen u.a. ein Grund für den mangelnden Zulauf gewesen sein. Gefährlicher für den Bestand der Schule war die unverhältnismäßig große Zahl der Schüler, die wieder austraten. Von letztlich 14 Schülern des Jahres 1851 blieben 9 am Ende übrig. Das kann nicht verwundern, waren doch die in den ministeriellen Bestimmungen festgelegten Aufnahmebedingungen zu gering, die Ziele der Ausbildung dagegen zu hoch. In nur zwei Jahren sollten 14jährige Schüler in Mathematik z.B. Kenntnisse erreichen, die den Zielforderungen bei der Reifeprüfung der damaligen Gymnasien entsprachen, brachten aber als Vorbildung nur die einer Volksschule oder die der Quarta eines Gymnasiums mit. Alles, was man von ihnen beim Eintritt in die Schule verlangte, war, dass sie eine leserliche Handschrift hätten, ohne grobe orthographische Fehler schrieben und dass sie mit ganzen Zahlen und gewöhnlichen Brüchen geläufig rechnen könnten. Ein bisschen Übung im Zeichnen gehörte noch dazu. Solchen Schülern war es kaum möglich, den Anforderungen des auf ein Jahr beschränkten theoretischen Teils der Ausbildung zu entsprechen. Nach einem Jahr durfte Crampe in seine alte Stellung nach Halberstadt– wahrscheinlich sehr erleichtert – zurückkehren, nicht ohne den Ruf der Schule noch zusätzlich durch die öffentliche Erklärung zu belasten, dass Krefeld kein Standort für eine Gewerbeschule sei. Die Stellung der jungen Schule war geschädigt, das Vertrauen von Ministerium, Wirtschaft und Bevölkerung zur Anstalt in bedenklichem Maße gemindert. Der wahre „Vater“ der Gewerbeschule: Ernst Nauck In dieser schwierigen Situation übernahm Dr. Friedrich Ernst Nauck die Leitung der Schule, in die er gemeinsam mit Crampe 1851 als erster Lehrer eingetreten war. Geboren 1819 in Auerstedt, verlief Naucks Leben weder gradlinig noch einfach. Der Sohn eines früh verstorbenen Superintendenten gab zwar schon als Kind zu vielen Hoffnungen Anlass, trat 1832 mit 13 Jahren in das Domgymnaisum zu Naumburg ein, wurde aber bereits nach zwei Jahren „exclusirt“. Die Hintergründe dieser auch für diese Zeit drastischen Maßnahme – es finden sich nur wenige Vergleichsfälle – lassen sich durch die Protokolle der Lehrerkonferenz gut erhellen, die im Archiv der Vereinigten Domstifter zu Merseburg und Naumburg erhalten sind. Offensichtlich ist Nauck öfters auffällig geworden, was immer wieder entsprechende disziplinarische Maßnahmen nach sich gezogen hat. Jedenfalls bescheinigen ihm die Lehrer, dass er „überhaupt schon früher mehrfach durch seine Lügenhaftigkeit und sein indifferentes Benehmen Veranlassung zu Klagen und zu stärkeren Strafen“ Ursache gegeben habe. Bereits im April 1834 kam es zu einem Zwischenfall, bei dem die gesamte Tertia, die der Schüler Nauck besuchte, für einen Aufruhr sorgte und den Unterricht sabotierte. Ursache für seinen Ausschluss war aber ein Vorfall, der sich im Mai zutrug. Nauck wurde – nicht zum ersten Mal – im Karzer seines Vermieters – nie-

Fichte-Gymnasium Krefeld Naucks Erben – Seite 5 von 16 mand Geringeres als der Domprediger selbst – eingesperrt. Der Delinquent nutzte die Zeit dazu, an die Karzerwand „auf den Herrn Domprediger und andere Herren zielende freventliche Verse“ zu schmieren. Damit war für das Lehrerkollegium das Fass offensichtlich zum Überlaufen voll und sie nutzten die Gelegenheit, den unliebsamen Schüler endgültig zu entfernen. Sie konstatierten, dass er „moralisch völlig verdorben, also von einer Besserung nichts zu erwarten wäre“. Die Exclusion wurde zum 2. Juni ausgesprochen und sogar vom Domkapitel quittiert. Nauck seinerseits schrieb 25 Jahre später, dass er dem Domgymnasium „mit einem gründlichen Widerwillen vor der Schulpedanterie und der Philologie“4 den Rücken gekehrt habe.

Friedrich Ernst Nauck (1819 bis 1875)

Nicht nur diese Erfahrungen waren eine gute Voraussetzung dafür, ein hervorragender Pädagoge zu werden. Nauck durchlief jetzt das, was man heute den „zweiten Bildungsweg“ nennt. Er begann eine Buchdruckerlehre und betrieb gleichzeitig und mit früher nie gekanntem Eifer nach Feierabend bis weit in die Nacht das Studium der vorher so verhassten alten Sprachen sowie der Geschichte und Geographie. Eine schwere Augenentzündung zwang ihn, die Lehre abzubrechen. Während er noch in der Gefahr stand, sein Augenlicht zu verlieren, fasste er den Entschluss, Lehrer zu werden, und begründete dies später so: „Die Sünden, die an mir begangen wurden, gaben mir den Sporn, etwas Besseres für die Jugend zu werden.“ Und reuig fügt er hinzu: „Zugleich sollt die gedrückte und missachtete soziale Stellung des Lehrerstandes eine Sühne sein für das, was ich in früheren Jahren verfehlt und versäumt habe.“5 1838 bis 1840 besuchte Nauck das Lehrerseminar in Erfurt. Danach war der Weg in die pädagogische Tätigkeit frei, die er im Martinsstift in Erfurt begann, einer Anstalt für verwahrloste Kinder, in der er seine Aufmerksamkeit und Fürsorge besonders den Zigeunerkindern widmete, die er unter anderem zu unterrichten hatte. Erst die Versetzung an die Höhere Bürgerschule in Suhl (1841) lässt den jetzt 22Jährigen seine besondere Neigung und Begabung für die Naturwissenschaften entdecken. Angeregt durch die reiche Natur des Thüringer Waldes und durch einige dort ansässige Ärzte, verwandte er seine freie Zeit zu Studien in Botanik, Zoologie und in vergleichender Anatomie. Bei der Untersuchung der Metamorphose von Amphibien und Insekten machte er Entdeckungen, die den Preußischen Kultusminister Johann A. F. Eichhorn dazu veranlassten, ihm die Erlaubnis zu erteilen, sich im Herbst 1846 ohne Abitur an der Universität Berlin einzuschreiben und dort drei Jahre Physik, Chemie und Mineralogie zu studieren. In die Studienzeit, genauer in das Jahr 1847, fällt auch seine berühmt gewordene Untersuchung des Specksteinlagers von Göpfersgrün, deren Ergebnisse er in den „Poggendorff’schen Annalen“6 1848 veröffentlichte. Die in dieser Arbeit entwickelte Theorie eines

Fichte-Gymnasium Krefeld Naucks Erben – Seite 6 von 16 bisher völlig rätselhaften geologischen Umwandlungsprozesses fand bald die Anerkennung und Aufmerksamkeit von Alexander von Humboldt, der an Nauck schrieb: „Mit großem Interesse habe ich Ihre Arbeit über den Speckstein gelesen. Sie hat mir Aufklärung gegeben über ein Vorkommnis, welches ich an Ort und Stelle vor vielen Jahren so rätselhaft fand.“7 Im August 1849 schloss Nauck sein Studium mit dem Staatsexamen ab, das ihm die facultas docendi für alle Zweige der Naturwissenschaft einbrachte. Das sehr vorteilhafte Angebot, Direktor einer chemischen Fabrik im Fichtelgebirge zu werden, schlug er aus, weil er eine Lehrtätigkeit anstrebte, die er zunächst in einer provisorischen Anstellung an der Dorotheenstädtischen Realschule in Berlin fand. Ende 1849 erhielt er von der Philosophischen Fakultät Halle/Saale den philosophischen Doktorgrad aufgrund der inzwischen berühmt gewordenen Arbeit über den Speckstein und 1850 wurde er fest angestellt als Assistent für Physik und Chemie am Königlichen Gewerbeinstitut in Berlin. Als Nauck 1851 seine Tätigkeit in Krefeld aufnahm, erhielt die Gewerbeschule mit ihm also einen Lehrer und im Jahr darauf einen Direktor, der in besonderem Maße drei entscheidende Vorzüge mitbrachte: Er war ein Pädagoge aus Leidenschaft, ein hervorragender Wissenschaftler und ein lebenserfahrener Mann. Nauck wurde der eigentliche Gründer und Gestalter der Krefelder Gewerbeschule. Seine bemerkenswerte Fähigkeit, Wissenschaft und praxisbezogene Erkenntnisse verständlich zu vermitteln, erfüllte auf einzigartige Weise die Ansprüche einer Schule, die Theorie und Praxis lebens- und erwerbsbezogen verbinden wollte. Es wundert also nicht, dass die Schule schon 1853 staatlich anerkannt wurde, nachdem der erste Jahrgang die Entlassungsprüfung vor einer Königlich Preußischen Kommission erfolgreich abgelegt hatte. Was ein Gewerbeschüler bei Dr. Nauck lernen konnte Schulgeschichte wird rekonstruiert aus Akten, aus Lehrplänen, Stundentafeln, Prüfungsunterlagen, Zeugnissen, Statistiken. Wenig sagen diese Quellen aus über den Alltag von Lehrern und Schülern, über die Methoden der Wissensvermittlung, über die Wirkung von Unterrichtsstunden. Ganz aussichtslos scheint es zu fragen, wie ein Schüler zwischen 1855 und 1860 an der Gewerbeschule z. B. das Fach Physik erfahren hat und welche Kenntnisse ihm wirklich vermittelt wurden. Lehrpläne sind das eine, die Schulwirklichkeit das andere. Es ist ein außerordentlicher Glücksfall, dass sich im Stadtarchiv Krefeld im Nachlass der Emmy von der Leyen nicht nur die Zeugnisse ihres Schwiegervaters, des Königlichen Provinzial-Gewerbeschülers Heinrich von der Leyen (1844 - 1884), sondern auch drei Kladden erhalten haben, die uns etwas über den Lehrer Nauck und die Faszination sagen, die er auf seine Schüler ausgeübt hat. In gestochener Schrift und mit akribisch angefertigten Zeichnungen füllte der 15-, später 16jährige Heinrich Seite um Seite in seinen Heften „Physik“ und „Mechanik“ und gibt uns damit die Möglichkeit, Nauck „zuzuhören“ und seine Tafelbilder zu „sehen“. Die Unterrichtsmitschriften im Fach „Mechanik“ umfassen an die 200 Blatt. Der Schüler von der Leyen schrieb damit für sich ein eigenes Lehrbuch und wir können nachvollziehen, was und wie Nauck an der Provinzial-Gewerbeschule gelehrt hat. Die Einbände der Kladden zeigen keine Beschädigungen, die Seiten sind unversehrt und ohne Stockflecken. Diese Mitschriften müssen auch dem erwachsenen Heinrich von der Leyen sehr wichtig gewesen sein, bewahrt er sie doch bis zu seinem Tod sorgfältig auf, und auch seine Erben hielten diesen Nachlass für wichtig und archivierungswürdig.

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Eintragung „Electrische Telegraphie“ aus dem „Mechanik“-Heft Friedrich von der Leyens

„Gesammte Naturwissenschaften“ Bd. 1 (Essen 21860): Telegraphenschränkchen und Apparatentisch einer Telegraphenstation

Fichte-Gymnasium Krefeld Naucks Erben – Seite 8 von 16 In einem der Hefte von der Leyens findet sich ein dreiseitiger Eintrag über das Phänomen „Electrische Telegraphie“. Im ersten Band des berühmten Sammelwerkes „Die gesammten Naturwissenschaften. Für das Verständnis weiterer Kreise und auf wissenschaftlicher Grundlage bearbeitet von Dippe u.a.“, 1857 herausgegeben von Bädeker in Essen, stößt man bei dem Artikel „Elektrische Telegraphie, Galvanoplastik, Daguerreotypie und Photographie“ auf den Verfassernamen Dr. Ernst Nauck. Weitsichtig formuliert er in der Einleitung: „Raum und Zeit, welche bisher die einzelnen Menschen und die Völker trennten, werden durch die neueren Verkehrsmittel zum Verschwinden gebracht; die Menschheit ist im Begriff, sich zu einem Organismus zu gestalten. (…) Für Jeden, welcher auf Bildung Anspruch macht, ist es zur unerlässlichen Bedingung geworden, von den in neuester Zeit dem Dienste der Menschheit unterworfenen Kräften, die jetzt das Leben bewegen und umgestalten, eine mehr als oberflächliche Kenntniß zu besitzen.“8 Wie Nauck dem Anspruch seiner Schüler auf Bildung gerecht wird und wie er sie teilhaben lässt an der Revolutionierung der Kommunikationstechnik, zeigt ein Vergleich des 40seitigen Artikels und seiner Tafeln mit dem Schülerheft. Hier kann man feststellen, wie Nauck die neue Technik für den Schulgebrauch didaktisch reduziert hat, ohne den wissenschaftlichen Anspruch aufzugeben. Man kann sozusagen in die Werkstatt eines begnadeten Pädagogen schauen. Das hohe wissenschaftliche Niveau seiner Ausführungen wird zudem von keinem Geringeren als Alexander von Humboldt bestätigt, der in einem Brief an Bädeker schrieb: „(…) den trefflichen Artikel des Herrn Direktor Dr. Nauck in Crefeld über Telegraphie und Photographie habe ich fast Zeile für Zeile durchgelesen.“9 Im neuen Haus am Westwall Unter der Leitung Naucks erfüllten sich also die Erwartungen, die Handelskammer und Stadtväter in die Schule gesetzt hatten. Ansehen und Schülerzahl wuchsen ständig, so dass bereits 1854 der Rat dem Bau eines eigenen Schulgebäudes zustimmte und ein Grundstück am Westwall kaufte. Planung und Ausführung wurden in die Hände des Lehrers Gustav Hilbig gelegt, der wie Nauck bereits 1851 an die Gewerbeschule berufen worden war. Welche Bedeutung die Schule in den wenigen Jahren für Krefeld erhalten hatte, lässt sich am Baukörper wie an der Innenausstattung ablesen. Hilbig legte einen modernen, an Schinkel orientierten Entwurf mit einer klaren Rasterstruktur und unverputzter Ziegelfassade vor. Kordongesimse aus rotem Sandstein und die Bänderung durch andersfarbige Ziegel betonen die Horizontale. Der Eingangsbereich wird hervorgehoben durch vier Lisenen sowie einen Frontispitz mit Okulus. Flachbogenfenster und eine elegant geschwungene Ecke lockern die Strenge auf. Tritt man näher heran, dann entdeckt man die zurückhaltende und dennoch ästhetisch anspruchsvolle Dekoration der Fassade durch erhabenes und vorspringendes Ziegeldekor unterhalb der Fenster und vor allem durch die abgetreppten Friese, die als Kranzgesims unterhalb von Dach und Giebel auf gemauerten Konsolen ruhen. Gustav Hilbig zeigt mit dem Schulgebäude am Westwall, was die Architekturschüler und Bauhandwerker bei ihm lernen konnten.

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Fichte-Gymnasium, Westwallfassade des Hilbig-Baus von 1855

Die Innenausstattung war so fortschrittlich in ihrer Technik, wie es sich für eine Schule mit diesem Schwerpunkt gehörte: Zentralheizung, Gasbeleuchtung und elektrische Uhren zählten zu den Besonderheiten. Die „electrischen Uhren“ der Gewerbeschule wurden nach den Angaben Naucks gebaut, und er machte sie einer breiten Öffentlichkeit bekannt, indem er sie im bereits erwähnten ersten Band der „Gesammten Naturwissenschaften“ als Beispiel genau beschrieb und abbildete.

Electrische Uhr aus der Königlichen Provinzial-Gewerbeschule zu Crefeld, abgebildet in: „Gesammte Naturwissenschften Bd. 1

Am Westwall war ein Schulhaus entstanden, das zu seiner Zeit über die Grenzen der Rheinprovinz hinaus als Musterbau galt. Stolz führten es die städtischen Honoratioren dem preußischen Prinzen Wilhelm kurz vor der Fertigstellung im Juni 1855 vor. Die „Crefelder Zeitung“ vom 10. Juni weiß zu berichten, dass „seine Hoheit der Anblick des neuen kolossalen Gebäudes“ überraschte. 150 Jahre nach seiner Inbesitznahme durch Schüler dient es heute immer noch dem Fichte-Gymnasium als Schulgebäude. Seine Bausubstanz hat sich auch während des Brandes im Jahr 2003 als höchst solide erwiesen.

Fichte-Gymnasium Krefeld Naucks Erben – Seite 10 von 16 Im Jahr 1855 wurde in Ergänzung des Schulkonzepts zum ersten Mal eine Vorbereitungsklasse eingerichtet, der 1865 eine zweite, 1869 eine dritte folgten. Die Schüler erhielten nun in Religion, Deutsch, Französisch, Englisch, Geschichte und Erdkunde Unterricht, bevor sie in die zweijährigen Kurse der Gewerbeschule eintreten konnten. Der unzureichenden Vorbildung war dadurch abgeholfen, es änderte sich jedoch auch die Struktur der Schule. Die Vorschule bildete so etwas wie eine Unterstufe, die auf die eigentlichen Fachklassen, also die Oberstufe, vorbereitete. Als im Jahr 1862 die Bevölkerung Krefelds auf 51 445 gestiegen war, demnach in den letzten zehn Jahren um mehr als 10 000 Personen zugenommen hatte, als die Gewerbeschule mit der Vorbereitungsklasse 119 Schüler umfasste und für die beiden oberen Klassen mit bis zu 66 Schülern den höchsten jemals zu verzeichnenden Stand erreichte, erhielt Dr. Nauck einen Ruf nach Riga, um dort als Gründungsdirektor des neu zu errichtenden Polytechnikums zu wirken. Gefeiert und hoch geehrt verließ er Krefeld und die Gewerbeschule. Der Widerstreit der Bildungsideale: Kampf um die Anerkennung der realistischen Bildung Man sollte annehmen, dass die gefestigte und erfolgreiche Gewerbeschule in Krefeld nach Naucks Weggang bruchlos ihre glänzende Entwicklung hätte fortsetzen können. Doch dem war nicht so. Das lag zum einen an den Krefelder Verhältnissen. Waren die Vorbereitungsklassen zunächst segensreich, so wurden sie bald zu einer Gefahr für die Gewerbeschule. Diejenigen Familien, die eine bessere Bildung ihrer Söhne ohne die alten Sprachen suchten, betrachteten bereits die Vorbereitungsklasse als ausreichende höhere Schule, so dass viele Schüler gar nicht mehr auf die sich anschließenden Klassen der Gewerbeschule übergingen. Die Privatindustrie leistete sich außerdem nur in geringem Maße höher gebildete Techniker. Die Abgänger der Gewerbeschule waren für die heimische Industrie und den Handel schlicht zu hoch qualifiziert. Auf der anderen Seite aber waren lateinlose Schulen mit naturwissenschaftlichem Schwerpunkt gegenüber den Realgymnasien und Gymnasien Schwestern minderen Ranges. Seit den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts war die Aufnahme in eine Hochschule an das Reifezeugnis eines Gymnasiums gebunden, und nur ein Universitätsstudium öffnete die Türen zum höheren Staatsdienst. Die Reform des Gymnasiallehrplanes von 1856 drängte die Naturwissenschaften zurück, die Realgymnasien (auch Realschulen I. Ordnung genannt) lehrten nun das Lateinische von Sexta an und machten es zur wichtigsten Fremdsprache. Zwei Bildungskonzeptionen standen sich unversöhnlich gegenüber. Auf der einen Seite fand man die Verfechter der formalen Bildung, die die Kenntnis der alten Sprachen für unerlässlich hielten und in dem Aufstieg der Naturwissenschaften eine Gefahr für die abendländisch-christlichen Werte sahen. Man glaubte nicht an den Bildungswert z.B. der Biologie, sondern man fürchtete, dass gerade dieses Fach zugunsten eines krassen Materialismus religiösen Schaden stiften würde. Selbst für das Medizinstudium wurde die Bedeutung der Naturwissenschaften nicht zweifelsfrei anerkannt. Wichtiger erschienen immer noch die alten Sprachen. So bedauerte noch 1875 Friedrich Nietzsche in einem Brief an die Erziehungsbehörde in Basel, dass das Griechische für die Mediziner an Schweizer Schulen nicht zur Obligatorik gehöre. An den Schalthebeln der Macht in den Hochschulen und den zuständigen Ministerien in Preußen saßen Akademiker, die alle aus den Gymnasien hervorgegangen waren und die mit allen Mitteln an der durch die alten Sprachen vermittelten formalen Bildung als Voraussetzung für den Zugang zu den Universitäten festhielten. Der Widersinn solcher Beschränkungen wird deutlich, wenn man die Aufnahmen und Abgänge der Gewerbeschule zu Krefeld betrachtet. So mussten Schüler, die nach der Obersekunda vom Realgymnasium zur Gewerbeschule wechselten, die Schule z. T. wieder

Fichte-Gymnasium Krefeld Naucks Erben – Seite 11 von 16 verlassen, weil sie den Ansprüchen in den naturwissenschaftlichen Fächern nicht genügten. Das Reifezeugnis des Realgymnasiums hätte sie aber berechtigt, z.B. Chemie zu studieren. Der Fortschritt der Naturwissenschaften war jedoch nicht aufzuhalten. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts veränderten die Forschungsergebnisse von Darwin, Helmholtz, Liebig, Kekulé, Schwann, Bunsen und Kirchhoff nicht nur das Bild von der Welt, sondern auch den Alltag der Menschen. Die Kenntnis der modernen Fremdsprachen wurde nicht nur für den Kaufmann immer wichtiger, sondern war bald auch für die technischen Berufe unentbehrlich. Es wurde immer deutlicher, dass es für den raschen Fortschritt der Naturwissenschaften und die stürmischen Entwicklungen in der Industrie auf Seiten der höheren Schulen keine Entsprechung gab, auch nicht in den Gewerbeschulen, die der starke Bezug zu Beruf und Praxis an einer Weiterentwicklung hinderte.

Unterrichtsplan einer Königlichen Gewerbeschule 1874/75

In den Berliner Ministerien musste man schließlich zur Kenntnis nehmen, dass es neben den Gymnasien und Realgymnasien eine Schule „modernwissenschaftlichen Charakters“ mit dem Schwerpunkt auf realistischer Bildung und den modernen Sprachen geben sollte

Fichte-Gymnasium Krefeld Naucks Erben – Seite 12 von 16 und die Provinzial-Gewerbeschulen umgestaltet und aufgewertet werden mussten. Mit der Gewerbeschulreform von 1870 beginnt dann eine Zeit der Unruhe und des ministeriellen Experimentierens mit der Organisation und den Lehrplänen. Direktor Quossek, der 1901 die Schule führt, schreibt in der Festschrift zum 50jährigen Bestehen darüber: „Es war übrigens nur ein natürlicher Vorgang. Jede Einrichtung überlebt sich nach einer mehr oder weniger langen Zeit, und sie thut es umso rascher, je mehr sie ihrerseits von wechselnden Verhältnissen abhängt. (…) Für eine Schulform, die den Fortschritten der Wissenschaft, der Technik und des Lebens gerecht werden will, wäre es ein schlechter Ruhm, wenn sie ihre innere Einrichtung Jahrzehnte hindurch unverändert beibehielte.“10 Der Forderung nach Veränderung und Erneuerung unterwarfen sich die Gewerbeschulen, die auch Realschulen II. Ordnung hießen, nicht jedoch dem Primat der alten Sprachen. Am Latein schieden sich die Geister, auch die im Naturwissenschaftlichen Verein zu Krefeld. Nach dem Jahresbericht von 1866 kam es zu einer heftigen Kontroverse, als der Vorsitzende Dr. med. Ernst Heilmann am 7. Mai für die Realschulen ohne Latein eintrat. „Der Vortragende vertrat hier in klarer und bestimmter Weise die in neuester Zeit zur allgemeinen Anerkennung gelangte Meinung, daß die alten Sprachen zur Erreichung einer modernen Bildung nicht nötig wären, (…). Die klassische Bildung (…) wäre für manche Studien, (…), überflüssig und zeitraubend.“11 Die Entwicklung Deutschlands zum Nationalstaat und das erwachende Nationalbewusstsein kamen dem Gedanken der lateinlosen Schule ebenfalls zu Hilfe. So schreibt der Geschäftsausschuss für deutsche Schulreform im VDI 1888 an Otto von Bismarck, dass „heute nicht mehr die toten Sprachen und die alte Kultur, sondern die deutsche Sprache, die deutsche Literatur und die deutsche Geschichte zum Ausgang und Mittelpunkt einer deutschen nationalen höheren Bildung gemacht werden müssen“12. Der Kaiser greift ein Es spricht für die Kraft des realen Gedankens, dass er sich trotz aller Widerstände schließlich durchgesetzt hat. Und es ist in Krefeld wieder der Rat der Stadt, der die Gewerbeschule in ihrem Streben nach Erneuerung und nach Anerkennung unterstützt. Kommerzienrat von Heimendahl nimmt 1878 an einer der entscheidenden Konferenzen in Berlin teil, die schließlich auch dazu führte, dass die hiesige Gewerbeschule im Jahr 1879 zu einer wissenschaftlichen Lehranstalt mit neunjähriger Lehrdauer umgewandelt wurde. Die Stadt Krefeld verzichtete auf den weiteren Ausbau der gewerblichen Abteilungen, da inzwischen durch die Webeschule und die Färbereischule den gewerblichen Anforderungen des Handels und der Industrie genügend entsprochen wurde. Sie stimmte der Umwandlung der Gewerbeschule zu. Von nun an war die Schule deshalb auch dem Dienstaufsichtsbereich des Kultusministeriums unterstellt. Schon 1880 verlieh dieses Ministerium auf Grund der guten Reifeprüfungsergebnisse den Absolventen der Schule das Recht auf Zulassung zum Studium der technischen Fächer an den Universitäten. 1892 durfte sie sich Oberrealschule nennen, 1895 verließen die ersten Oberrealschulabiturienten die Schule. Den letzten Anstoß gab ihm Juni 1900 Kaiser Wilhelm II. mit der Einberufung einer weiteren Schulkonferenz. Wilhelm II. machte gern und häufig seinen Einfluss in Bildungsfragen geltend und forderte in seinen Reden, der deutschen Sprache und der deutschen Geschichte in den Schulen wesentlich mehr Raum zu geben. Zudem war er jeder neuen Technik gegenüber aufgeschlossen. Bekannt ist vor allem seine Vorliebe für Photographie und Kinematographie, deren Möglichkeiten zur Selbstdarstellung er geschickt nutzte. Zu recht sah er die wirtschaftliche Entwicklung des Deutschen Reiches in Abhängigkeit von der Weiterentwicklung der Technik. Nach seinem Willen verlautete schließlich aus dem Kultusministerium, „dass den Fortschritten der Naturwissenschaften, den Anforderungen unserer immer mehr aufblühenden Industrie und unseres immer mehr am Weltmarkt sich beteiligenden Handels auf unseren höheren Schulen nicht genug Rechnung getragen werde, und dass es gelte, diejenigen Lehranstalten, die sich der Pflege der hierzu erforderlichen Wissenschaften in erster Linie zur Aufgabe gesetzt hatten, zu fördern und ihnen die äussere Anerkennung nicht länger zu versagen.“13 Am 26. November 1900 ergeht dann aus Kiel der Kaiserliche Erlass, in dem es heißt: „Bezüglich der Berechtigungen ist

Fichte-Gymnasium Krefeld Naucks Erben – Seite 13 von 16 davon auszugehen, dass das Gymnasium, das Realgymnasium und die Oberrealschule in der Erziehung zur allgemeinen Geistesbildung als gleichwertig anzusehen sind (…)“. Und weiter: „Dementsprechend ist auf die Ausdehnung der Berechtigungen der realistischen Anstalten Bedacht zu nehmen. Damit ist zugleich der beste Weg gewiesen, das Ansehen und den Besuch dieser Anstalten zu fördern und so auf die grössere Verallgemeinerung des naturwissenschaftlichen Wissens hinzuwirken.“14 1901 – 50 Jahre nach ihrer Gründung – ist die Oberrealschule nun eine von drei höheren Schulformen und kann ihren Schülern den Zugang zur Universität eröffnen. Die reale Bildung ist kein Stiefkind mehr, sondern hat den ihr gebührenden Platz im Schulwesen eingenommen. Akribisch führt der Jahresbericht der Oberrealschule 1900 – 1901 die Berechtigungen auf, die ein Abiturient der Oberrealschule nun erhält. Am wichtigsten erscheint dem Chronisten die Zulassung zum Studium aller Fächer der Philosophischen Fakultät an den Universitäten und zur Zulassung zur Prüfung für das Lehramt an höheren Schulen ohne jede Einschränkung. Auch darf den Absolventen nicht länger mehr die Zulassung zur Promotion verwehrt werden. Was aus einem Gewerbeschüler werden kann Im Oktober 1926 feiert die Oberrealschule ihr 75jähriges Bestehen. Während der abendlichen Feier ergreift ein ehemaliger Schüler das Wort und erinnert sich: „Wir schrieben das Jahr 1870. Das Realgymnasium hatte ich bis zur Obersekunda absolviert, aber meine Vorliebe für die Naturwissenschaften verlangte ein anderes Arbeitsfeld, dem die Königliche Provinzial-Gewerbeschule (…) in reichem Maße Rechnung trug, und ich erfülle eine mir liebe Pflicht, wenn ich zu dieser Stunde und in diesem Kreise zum Ausdruck bringe, wie viel ich dieser Schule und ihren Lehrern verdanke; habe ich doch dort ein festes Fundament gelegt für meinen späteren Beruf und neben Chemie, Physik, Mineralogie und Mathematik zu meinem großen Nutzen Kenntnisse in der Mechanik, der Maschinen- und Baulehre und im technischen Zeichnen erworben.“15 Der 75jährige, der sich hier dankbar der Ausbildung an der Gewerbeschule erinnert, hat 1871 dort sein Abitur gemacht, im Jahr 1877 seine Fabrik gegründet, die 1926 längst weltweit als führendes chemisches Unternehmen galt und heute den Namen „Bayer“ trägt: Es ist Edmund ter Meer. Im Königreich Preußen konnte ein Schüler1871 in der Gewerbeschule zwar die notwendigen Grundlagen für eine beispiellose Unternehmerkarriere erlangen, ein preußischer Beamter im höheren Dienst aber hätte Edmund ter Meer mit diesem Abschluss nicht werden können. Soll man sagen: Gott sei Dank? Die Enttypisierung der Gymnasien durch die Oberstufenreform Betrachtet man die Stundentafel der Oberrealschule von 1901, dann erkennt man als Schwerpunkte die modernen Fremdsprachen - wobei Französisch mit 82 Stunden den höchsten Anteil im Vergleich zu allen anderen Fächern hat – und den Primat der Mathematik. Das Fach „Naturbeschreibung“ ringt noch um seine Aufnahme in die Oberstufe; bis 1925 wird es gegen die Vorbehalte und um seine Gleichberechtigung kämpfen. Physik und Chemie dagegen werden erst ab Obertertia bzw. Untersekunda unterrichtet. Man glaubt wohl, dem Anspruch dieser Fächer wären die jüngeren Schüler nicht gewachsen.

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Stundentafel der Oberrealschule von 1901

Die Stundentafel des Jahres 1926 zeigt unverändert diese Verteilung. Ab 1938 heißt die Oberrealschule „Fichte-Schule“, 1945 erhält sie den Titel eines Naturwissenschaftlichen Gymnasiums. Weiterhin liegt das Schwergewicht auf dem Fach Mathematik und den Naturwissenschaften. Neben Deutsch, Englisch und Mathematik bleibt in all diesen Jahren Physik obligatorisches schriftliches Abiturfach. Mit der Reform der gymnasialen Oberstufe und der Enttypisierung der höheren Schulen im Jahr 1973 darf das Fichte-Gymnasium das seit 1851 gepflegte naturwissenschaftliche Profil nicht mehr im Namen tragen; alle Gymnasien haben den Schülerinnen und Schülern ein breites Angebot an Fächern zur Wahl zu stellen, alle Gymnasien müssen „alles“ können. Bis zum Jahr 2007 folgen in schnellem Wechsel mehrere Reformen der neuen Ausbildungs- und Prüfungsordnung im Land Nordrhein-Westfalen. Eine weitgehende Umgestaltung der Sekundarstufe II und des Abiturs steht nun wieder einmal kurz bevor. Sie soll eine Stärkung der Naturwissenschaften bringen. Wollen wir das Beste hoffen, damit – so hieß es schon 1849 – unsere Schülerinnen und Schüler „mit den Anforderungen der Zeit gleichen Schritt“ halten können. Es wäre jedoch verfehlt, wenn man die naturwissenschaftliche Bildung allein vom Nützlichkeitsgedanken aus begründen würde. Schülerinnen und Schüler gewinnen in den Fächern Biologie, Chemie und Physik Einblicke in eine umfassende Ordnung der Natur und werden in besonderem Maße zur Sachlichkeit, zur Begriffsklarheit und zur kritischen Betrachtung erzogen. Im 21. Jahrhundert entlässt die Schule ihre Abiturienten zudem in der Hoffnung, dass sie durch die Belegung von Grundund Leistungskursen in den naturwissenschaftlichen Fächern gelernt haben, im Beruf wie

Fichte-Gymnasium Krefeld Naucks Erben – Seite 15 von 16 im Privatleben verantwortungsbewusst mit den neuen Möglichkeiten dieser Wissenschaften umzugehen.

Physikunterricht in einer Klasse 5 des Fichte-Gymnasiums

Anmerkungen 1

Zitiert nach: Jansen, Christian, 100 Jahre Fichteschule, a.a.O., S.15

2

Carnot, Lazare, (1753 – 1823), französischer Mathematiker, Ingenieur und Staatsmann; unter Napoleon I. zeitweise Kriegs- und Innenminister 3

Zitiert nach: Vorgeschichte der RWTH 2. Homepage des Vereins für regionale Technik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte: www.histech.org 4

Ernst Nauck wird zitiert nach den Aufzeichnungen seines Urenkels Wolfgang Nauck.

5

Ernst Nauck wird zitiert nach den Aufzeichnungen seines Urenkels Wolfgang Nauck.

6

Die „Poggendorff’schen Annalen“, eigentlich „Annalen für Physik und Chemie“, eine renommierte Fachzeitschrift, die ab 1824 von dem Physiker Johann Christian Poggendorff herausgegeben wurde und in der z. B. Kirchhoff publizierte. 7

Alexander von Humboldts Briefzitat findet sich in den Aufzeichnungen Wolfgang Naucks.

8

Dippe u.a., „Die gesammten Naturwissenschaften“, Bd.1, a.a.O., S. 355f

9

Alexander von Humboldts Briefzitat findet sich in den Aufzeichnungen Wolfgang Naucks.

10

Quossek, Karl, Festschrift zur Feier des 50-jährigen Bestehens, a.a.O., S.30

11

Festschrift des Naturwissenschaftlichen Vereins zu Krefeld. 1858 – 1908, Krefeld 1908, S. 17 12

Zitiert nach: Fertig, Ludwig (Hrsg.), Bildungsgang und Lebensplan Briefe über Erziehung von 1750 bis 1900, Darmstadt 1991, S. 281 13

Quossek, Karl, Festschrift zur Feier des 50-jährigen Bestehens, a.a.O., S. 77

14

Quossek, Karl, Festschrift zur Feier des 50-jährigen Bestehens, a.a.O., S. 77

15

Zitiert nach: Die Heimat 5, (1926), S. 310

Fichte-Gymnasium Krefeld Naucks Erben – Seite 16 von 16 Quellen- und Literaturverzeichnis Dem Beitrag liegen als Quellen – neben den seit 1873 erscheinenden Jahresberichten der Königlichen Provinzial-Gewerbeschule zu Krefeld und ihrer Nachfolger – die Festschriften von 1901 und 1951 zugrunde. Karl Quossek zeichnet in der Festschrift von 1901 die Entwicklung der Krefelder Gewerbeschule in allen Einzelheiten nach. Für die Darstellung der Studienzeit und der ersten Berufsjahre Naucks konnte dankenswerter Weise auf die Aufzeichnungen seiner Nachkommen zurückgegriffen werden. Frau Charlotte Kühl, Hamburg, gilt unser herzlicher Dank. 1. Dippe u.a., Die gesammten Naturwissenschaften. Für das Verständniß weiterer Kreise und auf wissenschaftlicher Basis bearbeitet. 1. Band, Essen 21860 2. Jansen, Christian, Hundert Jahre Städtisches Naturwissenschaftliches Gymnasium Fichteschule (Frühere Oberrealschule) Krefeld (1851 – 1951), Krefeld 1951 3. Lutz, Heinrich, Zwischen Habsburg und Preußen. Deutschland 1815 – 1866, Berlin 1994 4. Quossek, Karl, Festschrift zur Feier des 50-jährigen Bestehens der früheren Gewerbeschule jetzigen Oberrealschule zu Krefeld. I. Teil: Geschichte der Anstalt, Krefeld 1901 5.Schiersmann, Christiane, Zur Sozialgeschichte der preußischen ProvinzialGewerbeschule im 19. Jahrhundert, Weinheim 1979 Abbildungsverzeichnis Aus dem o.g. 1. Band der „Gesammten Naturwissenschaften“ stammen folgende Abbildungen: Telegraphenschränkchen (S. 371, Fig. 236) Apparatentisch einer Telegraphenstation (S. 385, Fig. 251) Electrische Uhr (S. 396, Fig. 256)

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