Die 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker

Peter Eötvös zum 70. Die 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker Mittwoch 2. April 2014 20:00 Bitte beachten Sie: Ihr Husten stört Besucher und Kü...
Author: Katrin Kurzmann
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Peter Eötvös zum 70.

Die 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker Mittwoch 2. April 2014 20:00

Bitte beachten Sie: Ihr Husten stört Besucher und Künstler. Wir halten daher für Sie an den Garderoben Ricola-Kräuterbonbons bereit und händigen Ihnen Stofftaschentücher des Hauses Franz Sauer aus. Sollten Sie elektronische Geräte, insbesondere Handys, bei sich haben: Bitte schalten Sie diese zur Vermeidung akustischer Störungen aus. Wir bitten um Ihr Verständnis, dass Bild- und Tonaufnahmen aus urheberrechtlichen Gründen nicht gestattet sind. Wenn Sie einmal zu spät zum Konzert kommen sollten, bitten wir Sie um Verständnis, dass wir Sie nicht sofort einlassen können. Wir bemühen uns, Ihnen so schnell wie möglich Zugang zum Konzertsaal zu gewähren. Ihre Plätze können Sie spätestens in der Pause einnehmen. Bitte warten Sie den Schlussapplaus ab, bevor Sie den Konzertsaal verlassen. Es ist eine schöne und respektvolle Geste gegenüber den Künstlern und den anderen Gästen. Mit dem Kauf der Eintrittskarte erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihr Bild möglicherweise im Fernsehen oder in anderen Medien ausgestrahlt oder veröffentlicht wird.

Peter Eötvös zum 70.

Die 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker Ludwig Quandt Bruno Delepelaire Nikolaus Römisch Stephan Koncz Christoph Igelbrink Olaf Maninger Martin Menking Knut Weber Rachel Helleur David Riniker Solène Kermarrec Martin Löhr

Mittwoch 2. April 2014 20:00 Pause gegen 20:55 Ende gegen 22:00

PROGRAMM

Johann Sebastian Bach 1685 – 1750 / Valter Despalj *1947 Brandenburgisches Konzert Nr. 6 B-Dur BWV 1051 für zwei Violen, zwei Viole da gamba, Violoncello, Violone und Basso continuo Arrangiert für Violoncello-Ensemble von Valter Despalj [ohne Satzbezeichnung] Adagio, ma non tanto Allegro Robert Schumann 1810 – 1856 / Ludwig Quandt *1961 Waldscenen. Neun Clavierstücke op. 82 (1848/49) Auszüge arrangiert für zwölf Violoncelli von Ludwig Quandt Eintritt Jäger auf der Lauer Einsame Blumen Verrufene Stelle Jagdlied Abschied Peter Eötvös *1944 Dodici (2014) für zwölf Violoncelli Kompositionsauftrag der KölnMusik Uraufführung Pause

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Brett Dean *1961 Twelve angry men (1996) für zwölf Violoncelli Marijn Simons *1982 Dances for 12 op. 71 (2012) für zwölf Violoncelli It’s raining skyscrapers Cow in the jungle Disco pigeons Decanonicum Duke Ellington 1899 – 1974 / Juan Tizol 1900 – 1984 Caravan (1936) Arrangiert von Wilhelm Kaiser-Lindemann

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ZUM KONZERT

Zwölf Freunde müsst ihr sein Wer sich auf der Internetseite der längst berühmtesten Streicher-Mannschaft der Welt umschaut, wird unter dem Stichwort »Repertoire« schnell verblüfft sein, was man seit dem Gründungsjahr 1972 nicht alles gespielt hat. Da stehen unzählige Werke von namhaftesten Komponisten zu Buche, die im Auftrag der 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker entstanden sind. Angefangen bei Boris Blacher und Iannis Xenakis über Wolfgang Rihm bis hin zu Arvo Pärt und Markus Stockhausen (hinzu kommen drei heute aufgeführte Stücke). Auch die Flut von Arrangements spricht Bände über den musikalisch offenen Geist dieses 12-köpfigen, 24-händigen und 48-saitigen Kollektivs. So hat man genauso Soundtrack-Hymnen von Henry Mancini und Ennio Morricone gespielt wie Hilde Knefs »Für mich soll’s rote Rosen regnen«. Und neben Beatles und Astor Piazzolla gab es zwischendurch natürlich auch abendländische Hochkultur aus der (überarbeiteten) Feder von Beethoven, Debussy und Schostakowitsch. Was aber in den vergangenen 42 Jahren auf den Notenpulten der inzwischen schon dritten Generation der 12 Cellisten immer auch gestanden hat – die Komponisten und Arrangeure mussten stets das demokratische Gefüge des vollen Dutzends berücksichtigen, bei dem kein Unterschied zwischen dem 1. und dem 12. Cellisten gemacht wird. Jeder Cellist ist Solist und Teamplayer in einer Person. Wie wichtig dieses Selbstverständnis eines konkurrenzfreien Miteinanders für diese Cello-Gruppe ist, wurde auch dem kroatischen Cellisten und Arrangeur Valter Dešpalj bei seiner Fassung des 6. Brandenburgischen Konzerts von Johann Sebastian Bach deutlich. Bei der Version für sein eigenes Ensemble Cellomania hatte Dešpalj die solistischen Aufgaben ganz klassisch auf lediglich zwei Musiker verteilt. Für die 12 Cellisten musste er aber nun diese Version erneut gänzlich überarbeiten und dabei das Solo-Material auf alle zwölf Stimmen so verteilen, dass sich daraus raffiniert responsoriale Effekte ergeben. Allein schon von seiner Originalbesetzung her eignet sich dieses Brandenburgische Konzerte am idealsten für zwölf Cellis. Denn unter allen sechs, die Bach 1721 dem Marktgrafen Christian Ludwig von Brandenburg widmete, gibt es kein vergleichbares, 4

bei dem gerade die dunklen Streicherfarben auch melodisch so ausgekostet werden. Geschrieben wurde das dreisätzige Werk für zwei Solo-Bratschen, die sich bisweilen mit einem virtuos geführten Cello verbünden. Überhaupt dominieren hier auch dank der Gambenstimmen die tiefen Streicher. Ein großes Solo-Konzert, kammermusikalische Piècen im Volkston sowie der obligatorische Einsatz in Streichquartetten und Klaviertrios – das ist die durchaus ansehnliche Ausbeute an Werken, in denen Robert Schumann das Violoncello in Szene gesetzt hat. Auch Ludwig Quandt, seines Zeichens 1. Solo-Cellist der Berliner Philharmoniker und so etwas wie der Programmdirektor und Dramaturg der 12 Cellisten, ist mit diesem Repertoire-Angebot durchaus zufrieden. Dennoch vermutet Quandt, dass Schumann wohl noch mehr für dieses Instrument geschrieben hätte, wenn damals die wenigen Cellovirtuosen nicht nur auf die vordergründig virtuose Selbstdarstellung erpicht gewesen wären. 2012 richtete er nun auf Einladung des Düsseldorfer Schumannfests sechs der insgesamt neun Waldszenen op.  82 für die 12 Cellisten ein. Und wie Quandt bei der Arbeit an diesen in den Jahren 1848/49 komponierten Charakterstücken feststellte, sind viele dynamische Bezeichnungen in Schumanns Klaviermusik tatsächlich erst auf einem Streichinstrument adäquat zu verwirklichen. Quandt: »So scheint es, dass viele Klavierwerke eigentlich nur darauf gewartet haben, einmal von anderen Instrumenten gespielt zu werden …« Unter den neun Waldszenen findet sich mit Verrufene Stelle auch das einzige Stück, dem Schumann in der gedruckten Fassung ein Gedicht zur Seite stellte. Es stammt aus der Feder Friedrich Hebbbels und lautet: Die Blumen, so hoch sie wachsen, Sind blass hier, wie der Tod; Nur eine in der Mitte Steht da im dunkeln Roth. Die hat es nicht von der Sonne; Nie traf sie deren Gluth; Sie hat es von der Erde, Und die trank Menschenblut.

Ludwig Quandt ist aber nicht nur das Schumann-Arrangement zu verdanken. Er war es auch, der bereits 2011 an Peter Eötvös mit einem Kompositionswunsch herangetreten war. Damals 5

hatte man Eötvös als Dirigenten zu den Berliner Philharmonikern eingeladen, um mit ihm sein Cello Concerto Grosso für Violoncello und Orchester uraufzuführen. »Und bereits bei den Proben fragte man mich, ob ich nicht Lust hätte, daraus eine Version für zwölf Celli zu schreiben«, so Eötvös im Gespräch anlässlich der Weltpremiere von Dodici für zwölf Violoncelli. »Das musikalische Material des Konzerts, zwischen dem Solo-Cello und einer achtköpfigen Cello-Gruppe ist mit seinen Rückbezügen auf speziell transsylvanische Spieltechniken und charakteristische Melodiewendungen sehr reich. Die Umarbeitung des Cello-Konzerts lief daher wie geschmiert. Die fertige Partitur habe ich dann den Cellisten geschickt – wobei ursprünglich geplant war, dass Ludwig Quandt quasi den Solo-Part spielt und seine Kollegen ihm folgen. Doch Quandt meinte: ‚Nein, nein, Herr Eötvös – wir sind eine demokratische Gruppe. Könnten Sie das bitte so umschreiben, dass wir eine gleichmäßige Verteilung der Solo-Stimme haben?‘ Darauf hin habe ich es aber nicht nur noch mal überarbeitet. Gerade das für die 12 Cellisten typische Spielen im Halbkreis mit seinen Stereowirkungen hat die Stimmverteilung maßgeblich geprägt. Diese Halbkreisform ist in das Stück hineinkomponiert.« Dodici unterscheidet sich aber auch von seiner Struktur her. Im Gegensatz zum dreisätzigen Cello Concerto Grosso besteht das Werk aus einem Satz. Was die musikalische Haltung betrifft, knüpfte der 1944 in Székelyudvarhely (Transsilvanien) geborene und zuerst von Zoltán Kodály ausgebildete Eötvös doch stark an das vorausgegangene Werk an. »Der Ausgangspunkt war die transsilvanische, von Streichern gespielte Tanzmusik. Bei den einfachsten Aufführungen spielen ein Mann auf der Geige und eine Frau auf einer Art Cello zusammen. Dieses Instrument heißt Gardony, bei dem die Frau mit einem richtigen Holzstock auf die zumeist drei Saiten schlägt. Und während dadurch die Saiten gegen das Griffbrett geschlagen werden, zupft die linke Hand sie immer wieder an. Bekannt geworden ist diese Spieltechnik unter dem Namen »Bartók-Pizzicato«. Béla Bartók hat sie aber nicht erfunden, sondern in seinen Werke ständig eingesetzt.« Auch diese musikalischen Erinnerungen hat Peter Eötvös aus dem Cello Concerto Grosso herübergerettet und Dodici eingepflanzt. Doch jetzt ist der auf alle zwölf Stimmen »demokratisch« verteilte Cantus firmus genauso neu wie all die Dialoge, die für 6

Eötvös sehr maskulin wirken. Als ein »Männerstück« bezeichnet er daher auch Dodici. Aber keine Sorge – die beiden Damen unter den 12 Cellisten dürfen den Ton genauso maßgeblich angeben wie ihre Kollegen. Als der Australier Brett Dean 1996 sein Stück Twelve angry men schrieb, traf der Titel zumindest auf die damalige Besetzung zu. Denn es sollten noch einige Jahre vergehen, bis mit der Französin Solène Kermarrec endlich eine Kollegin die Männerphalanx durchbrechen sollte. Als Dean sein Werk für den 25. Ensemblegeburtstag 1997 schrieb, wusste er natürlich nur zu genau, wie die zwölf Musiker ›ticken‹. Immerhin war er zwischen 1985 und 1999 Bratscher bei den Berliner Philharmonikern, bevor er seine erfolgreiche Komponistenlaufbahn einschlug. Für Twelve angry men hat sich Dean vom gleichnamigen Kino-Gerichtsdrama inspirieren lassen, das unter dem deutschen Titel Die zwölf Geschworenen berühmt geworden ist. Und Dean schafft es jetzt tatsächlich, mit den zwölf Celli jene von Henry Fonda geleitete, hitzige JuryDebatte einzufangen, bei der es um die Schuld eines Puerto Ricaners, um Vorurteile und scheinbare Gewissheiten geht. Laut den 12 Cellisten sollte man übrigens gerade bei Twelve angry men Ludwig Quandt nicht aus den Augen lassen: »Sie haben eine reelle Chance, Zeuge einer kleinen artistischen Meisterleistung zu werden. Vermutlich aufgrund eines etwas scharfkantigen Steges pflegt Ludwigs A-Saite gerne im unpassenden Moment – etwa im Konzert – den Dienst zu quittieren: Ohne Vorwarnung reißt sie einfach durch. So geschehen vor 5000 Zuhörern im August 2000 bei den Londoner Proms in der Royal Albert Hall. Auf dem Programm: »Twelve angry men« von Brett Dean – da muss man schon mal richtig ärgerlich rangehen. Das Schicksal nimmt seinen Lauf: Mit leisem »Plopp« zerlegt sich Ludwigs A-Saite in zwei Teile, just an der Stelle, an der laut Notentext Ludwig sowieso eine Pause hat. Was jetzt folgt, geht so rasend schnell, dass selbst die Kollegen auf dem Podium nichts davon mitbekommen: Die Trümmer der alten Saite werden ausgefädelt und umweltgerecht entsorgt, die im Smoking verstaute Ersatzsaite wird mit geübtem Handgriff wie nebenbei hervorgeholt, am Saitenhalter eingehängt, über den Steg gezogen, flink und geschickt in den Wirbel eingefädelt, gespannt, und mit leisem Zupfen gestimmt. Gratulation: 29,1 7

Sekunden! Und der nächste Einsatz kam genau richtig und ganz selbstverständlich, als wäre nichts gewesen. Ludwig hatte keine Note verpasst. Auf der Südamerika-Tournee hatte er es allerdings in 28,4 Sekunden geschafft …« In jazzige Zonen brechen die 12 Cellisten schließlich mit den Dances for 12 von Marijn Simons sowie mit Duke Ellingtons ­Alltime-Standard Caravan auf. Zunächst aber begegnet man auch so manchen Kühen im Dschungel oder Disco-Tauben. Solche leicht verrückten Titel tragen die vier Sätze der Dances for 12 op. 71, die der Niederländer Simons 2012 geschrieben hat. Die ein Jahr später im Dortmunder Konzerthaus erstaufgeführten Dances for 12 spiegeln mit ihren charakteristischen Ostinati, polyrhythmischen Überlagerungen und jazzigen Elementen eine musikalisch undogmatische Haltung wider, die ganz nach dem Geschmack der zwölf Musiker ist. Klassik, Rock, Minimal Music und Jazz – in diesen Welten bewegt sich der 32-jährige Marijn Simons faszinierend leicht und zugleich hintergründig schillernd. Inzwischen werden seine Werke von Dirigenten wie Esa-Pekka Salonen und auch Peter Eötvös aufgeführt. Daneben hat sich Simons einen Namen als Geiger sowie als Gründer des nach ihm benannten Ensembles Simons gemacht. Zu den Evergreens auch im 12 Cellisten-Repertoire zählt selbstverständlich der Jazz-Standard Caravan, den Duke Ellington 1936 zusammen seinem puerto-ricanischen Bigband-Posaunisten Juan Tizol geschrieben hat. Und für den entsprechenden 12 Cellisten-Sound sollte der deutsche Komponist und Arrangeur Wilhelm Kaiser-Lindemann sorgen, der bis zu seinem Todesjahr 2010 schon fast zur Familie gehört. Denn wenn die 12 Cellisten wieder einmal ein neues Arrangement benötigten, lautete die Antwort: »Nehmen wir doch unseren Kaiser Wilhelm.« Doch was er seinen 12 Freunden auch immer von Giovanni Gabrieli über Elvis Presley bis eben zu Ellington auf den Leib maßschneidern sollte – unter ihren Händen bekamen die Stücke sofort ein solches Eigenleben, dass selbst Kaiser-Lindemann verblüfft war: »Hinterher hatte ich den Eindruck, dass nur noch die Hälfte von mir stammt.« Guido Fischer

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PORTRAIT

Peter Eötvös zum 70. Einer strikten Arbeitsteilung zwischen Instrumentalisten, Sängern, Komponisten, Dirigenten, Veranstaltern und Musikologen, wie sie im heutigen Umgang mit älterer Musik weitestgehend üblich ist, verweigert sich die neue Musik von jeher und hält an der universellen musikalischen Praxis in Personalunion fest, wie sie auch in früheren Jahrhunderten eine Selbstverständlichkeit war. Insbesondere die Doppelfunktion von Komponist und Dirigent – meistens noch begleitet von musiktheoretischen und -literarischen Betätigungen – ist in der neuen Musik keine Seltenheit. Allerdings wurde und wird eine solche Mehrfachbetätigung beargwöhnt und der »dirigierende Komponist« gegen den »komponierenden Dirigenten« in seiner ästhetischen Gültigkeit ausgespielt. Doch für die gleichermaßen schöpferisch wie nachschöpferisch Tätigen existiert dieses Dilemma nicht, außer dass es bei der Zeitorganisation schwer ins Gewicht fällt. Die fürs Komponieren notwendige Kontinuität wird immer wieder durch die praktische Dirigiertätigkeit und die damit verbundenen Reisen unterbrochen. Darüber klagte nicht nur schon ­Gustav Mahler, auch der 1944 geborene Komponist und Dirigent Peter Eötvös kennt dieses Problem: »Es ist eine Berufung, beides gleichzeitig zu sein. Man kann das nicht wählen. Das Hauptproblem hierbei ist, beides in der Zeit zu koordinieren. Die Komposition benötigt eine Kontinuität des schöpferischen Gedankens, aber sie ist immer durch die praktische Tätigkeit des Dirigenten unterbrochen. Die Kontinuität bleibt offen. Ich leide unter dieser Situation.« Bevor Peter Eötvös’ Karriere als Dirigent quasi mit einem Sprung ins kalte Wasser begann, hatte er von 1966 bis 1968 als Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes an der Kölner Musikhochschule Dirigieren bei Wolfgang von der Nahmer studiert. Anschließend war er bis 1976 Pianist und Schlagzeuger im Stockhausen-Ensemble und arbeitete von 1971 bis 1979 im Studio für Elektronische Musik des WDR Köln. Da er in dieser Zeit ein ausgezeichneter Kenner der Werke von Karlheinz Stock­hausen wurde, bat ihn Michael Gielen im Mai 1977, die Vorproben für eine Aufführung der Live-Version von Stockhausens ­Hymnen (1969) mit dem Radiosinfonie-Orchester Stuttgart zu leiten. Auf Wunsch 9

von Gielen – dieser leitete je eine Komposition von Luigi Nono und von Bernd Alois Zimmermann – dirigierte Eötvös schließlich auch die Aufführung der Hymnen im Pariser Champs-ElysèeTheater. Pierre Boulez, der das Konzert besuchte, lud Eötvös daraufhin ein, das Eröffnungskonzert am IRCAM im Oktober 1978 zu leiten. 1979 wurde er dann auf Veranlassung von Boulez zum musikalischen Leiter des 1976 gegründeten Ensemble intercontemporain berufen, mit dem er bis 1991 über 200 Kompositionen uraufführte. Zwischen 1985 und 1988 war Eötvös außerdem Hauptgastdirigent des BBC Symphony Orchestra London sowie von 1992 bis 1995 des Budapester Festivalorchesters. Zwischen 1994 und 2004 leitete er als Chefdirigent das Radio-Kammer­ orchester Hilversum. Darüber hinaus gastiert er mit nahezu allen namhaften Orchestern Europas sowie vor allem mit den auf die Musik des 20. Jahrhunderts spezialisierten Ensembles. Mit den Werken und Aufführungssituationen der zeitgenösischen Musik aufs Beste vertraut, hat es sich Eötvös seit einigen Jahren zur Aufgabe gemacht, jüngeren Dirigenten seine Erfahrungen weiterzugeben: »Ich [kann] die heutige Konzertsituation um mich herum nicht verantworten. Ich höre und sehe zwar gute Aufführungen, gute Dirigenten, gute Orchester, aber meistens nur mit Alter Musik; dann treffe ich eine jüngere Generation von Dirigenten, die von der Neuen Musik nichts kennen, also absolut nichts kennen. Daher ist für mich die pädagogische Verantwortung wirklich das nächste große Thema.« Deshalb gründete er 1991 das Internationale Eötvös-Institut, eine Stiftung zur Förderung junger Dirigenten. Diese freiwillig auferlegte Bürde versah Eötvös neben seinen Professuren am Internationalen Bartók-Seminar im ungarischen Szombathely, wo er zwischen 1985 und 1996 die Dirigenten-Meisterklasse geleitet hat, und an der Karlsruher wie an der Kölner Musikhochschule, wo er außerdem viele Jahre lehrte. Und bis heute engagiert sich Peter Eötvös mit seinem Internationalen Eötvös-Institut um die Verbesserung der Neue-Musik-Praxis. Die Institutsarbeit besteht aus aktiven und passiven Seminaren und Kursen. Bei den passiven besuchen die Studierenden die von Eötvös geleiteten Proben, wenn er – wo auch immer – eine seltene oder eine komplexe zeitgenössische Komposition einstudiert. Im Anschluss daran 10

werden die Proben und die Interpretationsansätze diskutiert, zusätzlich zum diskursiven Ansatz haben die Studierenden so auch die beste Chance, die europäische Orchesterkultur kennenzulernen, eine Chance, die die Hochschulen bislang nicht vermitteln können. Der aktive Sektor des Instituts zeigte und zeigt sich bei verschiedenen Konzerten und Festivals, darunter – besonders eindrucksvoll und erfolgreich – der Auftritt bei den Donaueschinger Musiktagen 1996, wo auf Anregung von Eötvös erstmals in der Geschichte des 1921 gegründeten Festivals sehr junge Dirigenten im Abschlusskonzert das SWR-Sinfonieorchester BadenBaden und Freiburg dirigierten. Als hervorragender Kenner nicht nur der Orchesterpraxis, sondern des gesamten Musikbetriebs ist Peter Eötvös oft ein strenger Kritiker desselben. Dabei verschont er die heutigen, aus dem 19. Jahrhundert herrührenden Orchesterstrukturen genauso wenig wie die Strukturen der neuen Musikszene, die für ihn ebenfalls die Kultur des 19. Jahrhunderts weiterträgt, indem sie das bürgerliche Kulturleben zu erhalten sucht. Auch die Omnipräsenz des Chefdirigenten ist ihm eine Erscheinungsform, die den heutigen Musikbedingungen nicht mehr entspricht. Und so wie er sich das Orchester der Zukunft als freies Ensemble vorstellt, das je nach den musikalischen Erfordernissen 11

zusammengestellt wird – ähnlich den »basisdemokratischen« Strukturen des Ensemble Modern, oder auch anderen Ensembles dieser Richtung –, so plädiert er bei den Dirigentenpositionen fürs Rotieren, um größere Vielfalt und Farbigkeit in den Aufführungsbetrieb zu bekommen, aber auch um durch die Preisgabe starrer Strukturen eine höhere Aufführungsqualität zu garantieren. Gerade die heutige Aufführungspraxis ist Eötvös ein Dorn im Auge: »Sie sieht noch so aus wie vor 150 Jahren. Ich meine jetzt nicht nur den Frack als solches, sondern auch die Art des Auftretens, die Erscheinung des Dirigenten, den Applaus, das Dirigieren, Verbeugen und Begrüßen, das ist absolut altmodisch. Was heute adäquat ist, sind z. B. Pop-Veranstaltungen. Diese sind zeitgemäß ausgestattet, werden aufwendig beleuchtet, haben eine andere Bühnenform, interessantere Klänge, interessantere Erscheinungsformen. Die Leute kleiden sich, zeigen sich, verteilen sich auf der Bühne, so dass die junge Generation selbstverständlich mehr Interesse daran hat als an Mozart. Es ist eine Repräsentationsform, die mit den neuen Möglichkeiten automatisch geändert werden müsste.« Harsche Kritik erteilt Eötvös auch der Ausbildung an den Hochschulen, die amorph und anachronistisch ist. So sollten Musiker auch in den Bereichen Theater, Pantomime, Sprechen, Tanz etc. ausgebildet werden, um den Anforderungen der heutigen Musik entsprechen zu können, aber auch um durch ihre künstlerische Vielfalt ihre materielle Zukunft zu sichern. Parallel zu all diesen Aktivitäten als Dirigent, als Pädagoge, als Beobachter und als Kritiker des Musikbetriebs war und ist Peter Eötvös stets auch Komponist. Und den Wunsch, Musik zu erfinden, hatte Eötvös schon als Vierjähriger. Aus musikalischem Elternhaus kommend – die Mutter war eine sehr bekannte Klavierlehrerin in Ungarn –, besuchte er eine spezielle Musikschule in Miskolc (im Norden Ungarns), lernte, was an Musikschulen zu lernen war, und komponierte unablässig. Eine Begegnung mit György Ligeti, der in den 1950er Jahren in Ungarn auch Musikschulinspektor war, blieb beiden unvergesslich; Eötvös spielte und sang Ligeti damals seine Vertonung einer Ballade von János Arany vor. Als 14-Jähriger bestand Eötvös die Aufnahmeprüfung an der Budapester Musikakademie und studierte auf Anraten von 12

Zoltán Kodály Komposition bei János Viski und Klavier bei Ernő Szegedi. Über Szegedi lernte er Werke von Olivier Messiaen kennen. Als Viski zwei Jahre später starb, wurde Ferenc Szabó sein Kompositionslehrer, der – so Eötvös – »ihm aber nicht die Augen für Neues öffnete, ihm aber auch keine Hindernisse in den Weg legte«. Eötvös erhielt 1965 sein Diplom und kam 1966 nach Köln, um dort Orchesterleitung zu studieren, lernte Stockhausen kennen und empfing von ihm wichtige Anregungen für die eigene Arbeit; ein offizieller Stockhausen-Schüler war er allerdings nie, dafür aber mehrere Jahre Mitglied in dessen Ensemble. Neben Stockhausen erhielt Eötvös vor allem aus der Musik Béla Bartóks, die für ihn persönlich, wie er sagt, »die absolute Muttersprache der Musik« darstellt, zentrale Impulse für das eigene Schaffen, und auch der Jazz spielt für ihn wegen seiner Unmittelbarkeit eine große Rolle – Miles Davis gilt ihm als einer der großen Komponisten unseres Jahrhunderts. Überhaupt würde Eötvös, wenn er neu beginnen würde, musikalisch eher Jazzmusiker in Richtung Popmusik sein wollen. Ein wichtiges und für seine Ästhetik folgenschweres Erlebnis waren Eötvös’ Erfahrungen mit Film und Theater. Als 16-Jähriger sollte er erstmals eine Filmbegleitmusik für ein Projekt an der Budapester Filmhochschule improvisieren, was ihm gut gelang, woraufhin er eine Bühnenmusik nach der anderen schrieb. Nach dem Diplom hörte er schließlich ganz auf, sinfonische Musik für den Konzertsaal zu schreiben. 1995 bekannte Eötvös: »Mein ganzes Leben ist eigentlich eine einzige Liebe zum Theater. […] Alles, was ich mache, hat eine sehr starke Beziehung zum Theater. Ich glaube, was mir immer vorschwebt, ist, eine Art Theater mit Hilfe der Musik zu realisieren. Ich möchte, dass beim Zuhörer durch einen akustischen Empfang die gleiche Vision erzeugt wird, als wäre er im Theater. Für mich ist es eine wunderbare Vorstellung, eine Zukunftsvision, dass wir Sichtbares hörbar oder Hörbares sichtbar machen.« Das Theater (einschließlich des Musiktheaters aller Sparten) als Gesamtheit aller darstellerischen Künste mit seinen Strukturen des Bildhaften, Dialogischen, Körperlichen und der mehr oder weniger narrativen Handlungsebenen bildet den Ausgangsaspekt für Eötvös’ kompositorische Ideen. Allerdings manifestieren 13

sich diese Überlegungen nicht – wie vielleicht zu erwarten wäre – in der Produktion von musiktheatralischen Werken – von denen er vor allem in letzten Jahren zahlreiche bedeutende Stücke geschaffen hat – oder in den Kammermusiken, in denen den Aufführenden bisweilen szenische Aktionen abverlangt werden. Es ist vielmehr das Theatralische selbst, was Eötvös in Musik umzusetzen versucht: Die theatralischen Elemente bestimmen unmittelbar die musikalische Faktur, ohne dass sie real sichtbar wären oder anders als rein musiksprachlich hörbar wären. Je nach Komposition können es die Verbalsprache – phonetisch wie semantisch, artikulatorisch, narrativ- wie dialogstrukturell – oder allgemeine Naturerfahrungen wie Wind, Steine, Licht oder (sozio-)kulturelle Bezüge sein, aus denen der spezifische Grundgestus analysiert und dann musikalisch gedeutet wird. Peter Eötvös, ob Dirigent oder Komponist, ist ein musikalischer Dolmetscher. Er übersetzt als Orchester- oder Ensembleleiter die Klangsprachen anderer aus deren Partituren mithilfe der Ausführenden für uns. Und als Komponist übersetzt er das Potential des Theaters in plastische, bisweilen gar magische Klänge. Die Musik des Peter Eötvös, ob kreativ oder re-kreativ, ist eine Kunst(fertigkeit) der Kommunikation. Stefan Fricke

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BIOGRAPHIE

Die 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker Die 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker zählen zu den prominenten Institutionen im internationalen Musikleben. 1972 hatte eine Rundfunkproduktion von Julius Klengels Hymnus für zwölf Violoncelli mit Mitgliedern der philharmonischen Cellogruppe den Anstoß zur Gründung eines Solisten-Ensembles dieser Stärke gegeben. In den 40 Jahren seines Bestehens hat das Ensemble kontinuierlich die nachrückenden jüngeren Kollegen aus den Reihen der Berliner Philharmoniker aufgenommen. Nach Boris Blacher, der die 12 Cellisten als erster zeitgenössischer Komponist mit einem Werk bedachte, schrieben bisher u. a. Jean Françaix, Iannis Xenakis, Günter Bialas, Wolfgang Rihm, Brett Dean, Wilhelm Kaiser-Lindemann, Frangis Ali-Sade, Christian Jost, Kaija Saariaho, Marijn Simons und Peter Eötvös Stücke für das Ensemble. 2004 brachte es außerdem gemeinsam mit den Berliner Philharmonikern Secret Land für Orchester und 12 Violoncelli von Tan Dun zur Uraufführung, die Sir Simon Rattle dirigierte. Auch im Bereich des Crossover war das Ensemble einer der Vorreiter: Seit fast 30 Jahren bereits arrangieren sie für sich Songs der Beatles, Gospels, Musicals, Jazz- oder 15

Filmmusikkompositionen und schaffen damit eine Programmvielfalt, die Publikum und Kritiker immer wieder aufs Neue begeistert. Über seine Konzertauftritte hinaus hat sich das Ensemble immer wieder mit Benefizveranstaltungen für Menschen in Not engagiert und wirkte stets auch als musikalischer Botschafter Berlins: Es spielte für den amerikanischen Präsidenten bei der KSZEKonferenz in Budapest, begleitete den ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum Staatsbesuch nach Schweden und war mehrfach Gast des japanischen Kaiserpaares. Die 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker waren zuletzt im Dezember 2012 bei uns zu hören.

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Foto: Mats Bäcker

Donnerstag 10. April 2014 20:00

Trio Zimmermann

Frank Peter Zimmermann Violine Antoine Tamestit Viola Christian Poltéra Violoncello

Ludwig van Beethoven Trio für Violine, Viola und Violoncello Es-Dur op. 3 Anton Webern Satz für Streichtrio »Ruhig fließend« Wolfgang Amadeus Mozart Divertimento (Streichtrio) Es-Dur KV 563 für Violine, Viola und Violoncello

2007 konnte Frank Peter Zimmermann einen lang gehegten Traum verwirklichen: Er gründete sein eigenes Streichtrio. Alle drei Musiker sind renommierte Solisten, gehen aber mit großer Freude in jeder Saison auch als Trio auf Tournee. Das im Konzert am 10. April auf dem Programm stehende Trio von Ludwig van Beethoven haben sie gerade auch als CD-Aufnahme eingespielt.

KölnMusik-Vorschau

April

MI

09 20:00

FR

04

Daniil Trifonov Klavier Igor Strawinsky Serenade in A

20:00

Emerson String Quartet Philip Setzer Violine Eugene Drucker Violine Lawrence Dutton Viola Paul Watkins Violoncello

Claude Debussy Reflets dans l’eau aus: Images I L 110 Mouvement aus: Images I L 110

Béla Bartók Streichquartett Nr. 2 a-Moll op. 17 Sz 67

Maurice Ravel Miroirs Robert Schumann 12 Études symphoniques op. 13 für Klavier (1. Fassung 1837)

Streichquartett Nr. 6 D-Dur Sz 114 Felix Mendelssohn Bartholdy Streichquartett f-Moll op. 80

Nachholtermin für das am 02.10.2013 ausgefallene Konzert. Karten behalten ihre Gültigkeit.

Quartetto 4

19:00 Einführung in das Konzert

SO

06

SA

16:00

12

Johannette Zomer Sopran Elbipolis Barockorchester Hamburg

20:00

Kimmo Pohjonen Akkordeon, Komposition Minna Tervamäki Tanz, Choreographie Tuomas Norvio Sounddesign Antti Kuivalainen Lichtdesign

Werke von Johann Christian Schiefferdecker, Georg Philipp Telemann, Georg Friedrich Händel und Johann Sebastian Bach

Bright Shadow

14:00 Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud Blickwechsel Musik und Malerei: »Barocke Welten«

David Bowie und das Kronos Quartett, mit dem er auch sein aktuelles Album »Uniko« einspielte, sind die wohl größten Fans des Akkordeonisten Kimmo Pohjonen, der mit ganzem Körpereinsatz seine musikalischen Bahnen von Rock über Folk bis Techno zieht. In seinem neuesten MultimediaProjekt »Bright Shadow« setzt der Finne Pohjonen sogar zu atemberaubenden Luftsprüngen an – als Tanzpartner der finnischen Primaballerina und Choreografin Minna Tervamäki.

Sonntags um vier 4

MO

07 20:00

Grigory Sokolov Klavier Frédéric Chopin Sonate für Klavier h-Moll op. 58 und ausgewählte Mazurken

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Foto: Heike Fischer

Sonntag 13. April 2014 20:00

Robert Schumann Ouvertüre, Scherzo und Finale op. 52 Konzert für Klavier und Orchester a-Moll op. 54 Konzert für Violine und Orchester d-Moll WoO 1 Konzert für Violoncello und Orchester a-Moll op. 129

Pablo HerasCasado Dirigent Isabelle Faust Violine Jean-Guihen Queyras Violoncello Alexander Melnikov Klavier Freiburger Barockorchester Der Andalusier Pablo Heras-Casado bewundert das Freiburger Barockorchester, das seinerseits von seinem kreativen, erfolgreich zwischen allen Musik-Epochen wandelnden Gastdirigenten profitiert, mit dem es nicht nur konzertiert, sondern im letzten Jahr auch zwei Schubert-Sinfonien eingespielt hat. Im Konzert am 13. April steht dessen Zeitgenosse Robert Schumann auf dem Programm. Um 19 Uhr hält Oliver Binder eine Einführung.

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Herausgeber: KölnMusik GmbH Louwrens Langevoort Intendant der Kölner Philharmonie und Geschäftsführer der KölnMusik GmbH Postfach 102163, 50461 Köln ­koelner-­philharmonie.de

Redaktion: Sebastian Loelgen Corporate Design: hauser lacour kommunikationsgestaltung GmbH Textnachweis: Die Texte von Guido Fischer und Stefan Fricke sind Original­­­beiträge für dieses Heft. Fotonachweise: Matthias Baus S. 11; Stephan Röhl S. 15 Gesamtherstellung: adHOC ­Printproduktion GmbH

Foto: Klaus Rudolph

Grigory Sokolov spielt Chopin

koelner-philharmonie.de 0221 280 280

Montag 07.04.2014 20:00

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