DER REIZ DER LEERE. Ein Dorf mitten in Deutschland und

R AUM DER REIZ DER LEERE Deutschland ist eines der am dichtesten bevölkerten Länder Europas – was spricht gegen mehr Platz für die Menschen? Ein Vors...
Author: Gerrit Kästner
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DER REIZ DER LEERE Deutschland ist eines der am dichtesten bevölkerten Länder Europas – was spricht gegen mehr Platz für die Menschen? Ein Vorschlag für verlassene Regionen: Wildnis statt Wirtschaftsförderung.

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in Dorf mitten in Deutschland und doch am Ende der Welt: Balow im südwestmecklenburgischen Landkreis Ludwigslust, dicht an der Grenze zu Brandenburg. Der Flecken liegt, amtlich klassifiziert, in einem „besonders strukturschwachen ländlichen Raum“. Die Landstraße, die zu dem Ort führt, ist nur zur Hälfte asphaltiert, bei Gegenverkehr muss man auf das sandige Bankett ausweichen. „Alle drei Zufahrtsstraßen“, schrieb die Lokalzeitung, „haben Vor-Wende-Niveau.“ Und falls sich jemand mit dem Gedanken tragen sollte, wegen irgendwelcher Naturschönheiten nach Balow zu ziehen, wird er in einer Wohnungsanzeige mit frappierender Ehrlichkeit gewarnt: Der Ort verfüge über „keine Seen oder andere touristische Magnete“. Ringsherum ist nur karge Landschaft mit Feldern, auf denen Raps und Getreide angebaut werden. 110

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Eine Boomregion sieht anders aus. Und doch verspricht sich Balow, allen demografischen Unkenrufen zum Trotz, eine gute Zukunft. Während die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern in Scharen das Land gen Westen verlassen, ist die Einwohnerzahl von Balow, derzeit 355, seit 1990 erstaunlich konstant geblieben. Dabei hätten die Balower günstige Fluchtmöglichkeiten: Über die nahe Autobahn A 24 könnten sie in eineinhalb Stunden in Hamburg oder Berlin sein. Verblüffend ist vor allem der hohe Anteil von Kindern und Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung: 70 Bewohner, also rund 20 Prozent und damit deutlich mehr als im Rest Mecklenburg-Vorpommerns (Durchschnitt: 17,6 Prozent), sind unter 20 Jahre alt. Davon, dass Balow ein „Dorf für Kinder“ (Eigenwerbung) ist, zeugen beispielsweise fünf Spielplätze, zwei Sport-

anlagen, eine Kindertagesstätte und eine Grundschule. Die Arbeitslosenquote in Balow ist mit weniger als 10 Prozent etwa halb so hoch wie im Landesmittel – obwohl es im Ort ein einziges Unternehmen gibt, das Arbeitsplätze bietet. Nur eine Handvoll Balower sind bei dem Hersteller von Metallpaletten für Automobilwerke beschäftigt, 90 Prozent der Erwerbstätigen pendeln zu auswärtigen Arbeitsstellen. Das Geheimnis von Balow ist das Engagement seiner Bürger. Mehr als 200, fast zwei Drittel aller Einwohner vom Baby bis zum Greis, sind Mitglieder im örtlichen Sportverein, 74 zählt der Sozialverband „Volkssolidarität“, 60 betätigen sich bei den „Plattsnackers“, einer Laienspielschar. Mit aller Macht stemmt sich Balow gegen den allgemeinen Trend der Überalterung und des Bevölkerungsschwunds. Die

Windkraftpark in der Uckermark

PAUL LANGROCK / ZENIT (O.); MANFRED WITT / VISUM (U.)

agile Bürgermeisterin Kriemhild Kant freut sich: „Bei uns funktioniert das Miteinander der Generationen.“ Balow ist eines von fünf Dörfern in Mecklenburg-Vorpommern, die von den zuständigen Landwirtschaftsämtern für das Projekt „Das aktive und soziale Dorf“ ausgewählt wurden. Wissenschaftler der Universität Rostock und der Fachhochschule Neubrandenburg versuchen zu ergründen, was die Ursachen für die positive Entwicklung sind, damit daraus Lehren auch für andere Gemeinden in dem schwindsüchtigen Land gezogen werden können. Die Transferzahlungen von West nach Ost, insgesamt über eine Billion Euro seit 1990, haben zwar „die Infrastruktur auf ein phantastisches Level gehoben“, sagt die Rostocker Soziologin Claudia Neu, 39. Aber das viele Geld habe nicht verhindern können, dass vor allem die besser Ausgebildeten und junge Frauen „aus Hoffnungslosigkeit weggehen“, weil sie keine berufliche Perspektive im Land sehen – zurück bleiben vielerorts die Alten und wenig qualifizierte arbeitslose Jugendliche. 2,3 Millionen Menschen, vor allem Jüngere, haben das Gebiet der ehemaligen DDR seit 1991 verlassen, 1,37 Millionen sind in umgekehrter Richtung gezogen. „Mittlerweile“, erläutert Steffen Kröhnert vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, „fehlt also ein so großer Teil der jüngeren Generation, dass der

Osten weiter schrumpfen muss. Die potentiellen Eltern für eine stabile Bevölkerung fehlen.“ Das führt zu einer bizarren Konsequenz: Der Staat, der sich nicht zuletzt durch den Aufbau Ost überschuldet hat, demontiert die gerade hochgepäppelte Infrastruktur wieder – und „die demografische Komponente“, hat Claudia Neu beobachtet, „kommt ihm da gerade recht“: „Nun kann er argumentieren, dass da sowieso bald keiner mehr lebt, also macht es nichts aus, wenn man auch noch die letzte Telefonzelle abschafft.“ Die Abwärtsspirale dreht sich scheinbar unaufhaltsam. Der Rückzug des Staates, sagen die wissenschaftlichen Begleiter des Aktiv-Dorf-Projekts, biete den Bewohnern jedoch „größere Handlungsspielräume für eigene Initiativen“. „Bürgerschaftliches Engagement ist kein Allheilmittel“, weiß Claudia Neu, „es kann keine Arbeitsplätze herzaubern, aber es schafft Lebensqualität.“ Dazu brauche es „gesellschaftliche Anerkennung“ und „Raum, wo sich die Menschen treffen können“. Die Balower zum Beispiel haben einen ehemaligen Pferdestall zu einem schmucken „Kultur- und Kommunikationszentrum“ umgebaut und hinter der Grundschule eine „Kulturarena“ mit Freilichtbühne errichtet. Vor allem der Erhalt der Grundschule ist existentiell wichtig. 140 Kinder, zu einem großen Teil aus sechs umliegenden

Soziologin Neu

„Rhetorik des Verlusts“

Gemeinden, werden hier unterrichtet. Claudia Neu weiß um die Bedeutung der Bildungsstätte: „Wenn eine Schule geschlossen wird, dann ist der Ort tot. Familien mit Kindern gehen weg, und niemand zieht mehr hin.“ Deshalb hat auch die Schulleiterin Rosemarie Casties im vorpommerschen Leopoldshagen (rund 800 Einwohner) alles darangesetzt, die dortige Dorfschule zu bewahren, obwohl die Schülerzahlen seit 2001 nicht mehr für die vom Schweriner Bildungsministerium vorgeschriebene Klassenstärke – 20 pro Klasse – reichten. Selbst mit Kindern aus zwei Nachbargemeinden kommen nur ein Dutzend Erstklässler zusammen. Die resolute Rektorin setzte ein neues Schulmodell durch, das einst auf dem Lande gang und gäbe war, aber jetzt verpönt 8 /2 0 0 6 S P I E G E L S P E C I A L

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Stadtbild von Schwedt: Als sozialistische Retortenstadt einst aus dem Boden gestampft

ist: Gemeinschaftsunterricht aller vier Schülerzahlen lassen sich nach BerechJahrgangsklassen, nur in Deutsch und Ma- nungen der Beratungsfirma Prognos die thematik werden die 55 Schüler nach Al- staatlichen Ausgaben für Schulbildung in tersstufen aufgeteilt. Deutschland bis zum Jahr 2020 um rund Die Lernerfolge der Leopoldshagener 80 Milliarden Euro reduzieren. Zwergschule – offizielle Bezeichnung: Die Bosch-Studie geht davon aus, dass „Kleine Schule auf dem Lande“ – kön- zu diesem Zeitpunkt zwei Millionen Kinnen sich sehen lassen. „Seit wir eine Klei- der und Jugendliche weniger zur Schule ne Schule sind, haben es sehr viele Kinder gehen werden als heute – gegenüber 2005 aufs Gymnasium geschafft“, sagt Schul- ein Minus von 17 Prozent. Am stärksten leiterin Casties. Bis 2011 darf sie mit drei verringern sich die Schülerzahlen in BranKolleginnen erst einmal weitermachen. denburg (minus 35 Prozent), MecklenDer Kindermangel scheint unweiger- burg-Vorpommern (minus 30 Prozent) und lich zum Schulsterben zu führen: Inner- im Saarland (minus 28 Prozent). halb eines Jahrzehnts halbierte sich die SchülWENIGER SCHÜLER BEDEUTEN erzahl in MecklenburgVorpommern nahezu, AUCH WENIGER KOSTEN. sie sank von 290 000 auf knapp 160 000. Und seit 1992 wurden von 970 Schulen 300 geDadurch fallen automatisch auch wenischlossen. ger Kosten im Schulsystem an. Die ErsparÜber solche Statistiken wird viel und nis bezeichnen die Experten als „demolaut lamentiert. Die demografische Ent- grafische Rendite“. Das Geld, mahnen die wicklung in Deutschland werde „meist in Autoren, dürfe allerdings nicht in den ihren Risiken für soziale Sicherung und öffentlichen Haushalten versickern. VielWohlstand diskutiert“, schreiben die Au- mehr solle „vor dem Hintergrund steigentoren einer im Juli veröffentlichten Studie der Qualifikationsanforderungen an künfder Robert-Bosch-Stiftung. Die mit der tige Erwerbstätige sowie des schlechten Schrumpfung „verbundenen Chancen“ Abschneidens deutscher Schüler in den hingegen würden „ignoriert“. Dabei eröff- Pisa-Vergleichstests“ die Bildungsqualität ne der Schwund „erhebliche finanzielle an deutschen Schulen verbessert werden. Spielräume“ zum Beispiel im BildungsKurzsichtig sei es, als Reaktion auf die wesen. Denn durch den Rückgang der geringere Schülerzahl unter Beibehaltung 112

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ANDREAS MEICHSNER / VISUM

der Klassenstärken Lehrerstellen zu streichen und Schulen zu schließen. Pisa-Sieger Finnland habe vorgemacht, dass die demografische Rendite Zinsen trägt, wenn mit dem eingesparten Geld das Bildungsangebot verbessert wird. Die Studie warnt davor, sich zu einer Milchmädchenrechnung verleiten zu lassen: „Eine anderweitige Verwendung der im Schulbereich freiwerdenden Mittel würde die öffentlichen Haushalte längerfristig nur scheinbar entlasten.“ Wenn nämlich im internationalen Wettbewerb Arbeitsplätze in Deutschland aufgrund mangelnder Qualifikation nicht erhalten werden könnten, drohten höhere Sozialausgaben. Zudem fielen die Produktivität der Erwerbstätigen, ihr Einkommen und damit die Steuereinnahmen ohne die dringend erforderlichen Bildungsreformen dauerhaft niedriger aus. Bundespräsident Horst Köhler mahnte in seiner „Berliner Rede“ im September ebenfalls, das eingesparte Geld für „neue Gestaltungsmöglichkeiten“ in der Bildung zu nutzen: „Machen wir was daraus!“ Ein ordentlicher Ruck, der das Land aufrüttelt, wäre schon nötig: Positive Aspekte des Schrumpfens werden meist kaum wahrgenommen, die Schattenseiten hingegen umso stärker konturiert. Die Tristesse ist schon tausendmal beschrieben worden: wie sich Abrissbagger mit ihren stählernen Teleskoparmen

Kinder auf dem Sportplatz in Balow: „Bürgerschaftliches Engagement schafft Lebensqualität“

und Hydraulik-Zangen in die Betonwände von Plattenbauten verbeißen, Trümmerstücke herausbrechen und zermalmen und wie Lastwagen den Schutt abtransportieren. Die Wohnungen – derzeit 1,3 Millionen in Ostdeutschland – stehen leer, weil die Mieter weggezogen sind. Irgendwohin, wo sie Arbeit gefunden haben, die es am bisherigen Wohnort nicht mehr gibt. Es war jedoch nicht, wie oft angenommen wird, eine Flucht aus der „Platte“. Der Leerstand betrifft mindestens ebenso die Alt- und Innenstädte. Die Leipziger Stadtplaner folgen deshalb dem Leitbild der „perforierten Stadt“: Als Erstes werden die Häuser beseitigt, in denen die wenigsten Mieter leben – egal, ob es sich um einen Wohnblock am Stadtrand oder um ein verfallendes Gebäude im Zentrum handelt. Wo die Abrissbirne hässliche Wunden geschlagen hat, werden in den Lücken zwischen den übriggebliebenen Häusern Parks und Gärten angelegt – die Stadt wird grüner. Matthias Koziol jedoch, Professor für Stadttechnik an der TU Cottbus, rät von solcher Vorgehensweise prinzipiell ab und plädiert für kompakte Siedlungsstrukturen: „Nur in Städten, die vom Rand nach innen schrumpfen, lassen sich auch Verund Entsorgungsnetze von den Enden her rückbauen.“

MANFRED WITT / VISUM

schen Retortenstädte, die von der DDRRegierung einst aus dem Boden gestampft worden waren und jetzt wieder auf Normalmaß schrumpfen – zum Beispiel Schwedt an der Oder. 1960 wurde in der damals beschaulichen Kleinstadt ein petrochemisches Kombinat angesiedelt, für die aus allen Teilen der Republik abkommandierten Arbeiter errichteten Baubrigaden rasch Wohnblocks aus Betonfertigteilen. Von Anfang der sechziger bis Ende der achtziger Jahre wuchs die Stadt von 6700 auf mehr als 50 000 Einwohner. Mit dem Ende der DDR fielen 6000 der „ES IST NICHT SO WICHTIG, OB EIN PAAR 8000 Arbeitsplätze weg, viele Einwohner verHÄUSER LEERSTEHEN.“ ließen die Stadt wieder. 1999 wurde die erste drängten die Wohnungsunternehmen den „Platte“ abgerissen, Ende 2006 werden Staat, erstmals nicht Wohnungsbau, son- 5000 Wohnungen verschwunden sein. „Für uns ist der Schrumpfungsprozess dern Wohnungsbeseitigung zu fördern. Nachdem eine Kommission in ostdeut- keine Katastrophe“, versichert Schwedts schen Städten eine Million verlassener Bürgermeister Jürgen Polzehl, „die AlWohnungen ermittelt hatte, beschloss die ternative wären tote Augen“ – ausgeBundesregierung im Jahr 2001 eilends höhlte Betonruinen mit eingeschlagenen ein Programm „Stadtumbau Ost“. Des- Fenstern. Polzehl, in den Medien bisweilen als sen Ziel ist es, mit einem Zuschuss von 2,5 Milliarden Euro bis 2009 insgesamt 350000 „Plattmacher“ apostrophiert, sieht sich Wohnungen „vom Markt zu nehmen“. selbst eher als „Plattenspieler“: Er lässt, wie manche Kollegen in anderen Städ130 000 wurden inzwischen abgerissen. Am härtesten betroffen vom Einwoh- ten auch, die oberen Etagen von Platnerschwund sind vor allem jene sozialisti- tenbauten kappen und die einst monotoDas ist wichtig, weil jeder abgetragene Block im Stadtzentrum schwerwiegende Folgen für das unterirdische Rohrleitungsund Kanalsystem hat: Trinkwasser steht, wegen geringerer Abnehmerzahl und weiterer Wege, länger im Rohr – mit dem Risiko, dass sich Keime ansiedeln; und wenn weniger Menschen zur Toilette gehen, müssen die Siele mit Frischwasser durchgespült werden, damit es nicht zum Himmel stinkt. Leerstehende Häuser setzen den gesamten Wohnungsmarkt unter Druck, aufgrund des Überangebots verfällt der Wert des Wohnungsbestands. Deshalb

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BALLUNGSRÄUME

Flensburg Kiel Rostock

SchleswigHolstein

Bevölkerungsprognose 2020 für Deutschland

MecklenburgVorpommern

Hamburg Schwerin Bremen

Veränderung gegenüber 2004 in Prozent

Niedersachsen Berlin

Hannover

Brandenburg

Magdeburg

Nordrhein-Westfalen Düsseldorf

Sachsen-Anhalt

Dortmund

Leipzig Kassel

Sachsen Erfurt

Dresden

Jena

Köln

Thüringen

Hessen

– 15 u. weniger –14,9 bis –10 – 9,9 bis – 5 – 4,9 bis 0 0,1 bis 5 5,1 bis 10 10,1 bis 15 mehr als 15

Frankfurt

ReinlandPfalz

Mainz

Würzburg

Saarland Saarbrücken

Nürnberg

Bayern

Karlsruhe Stuttgart

Quelle: Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, Modellrechnung auf Basis von 439 Kreisen und Städten

BadenWürttemberg München

Freiburg

Bevölkerungsdichte in Europa

482

22

17 FINNLAND

SCHWEDEN

Einwohner 2004 je km2 244

31

344

125 DÄNEMARK

58 IRLAND*

231

GROSSBRITANNIEN*

NIEDERLANDE DEUTSCHLAND BELGIEN

175

110 114 PORTUGAL

FRANKREICH*

83

53 LITAUEN

122

POLEN

132

110

TSCHECHIEN LUX.

99

ÖSTERREICH

SLOWAKEI

109

SLOWENIEN 99

84 GRIECHENLAND*

ITALIEN

114

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UNGARN

197

SPANIEN*

* 2003, Quelle: Eurostat

ESTLAND

37 LETTLAND

MALTA: 1272

ZYPERN: 130

nen Wohnsilos (DDR-Jargon: „Arbeiterschließfächer“) zu kleinen Stadtvillen zurechtstutzen. Pionier einer solch sanften Sanierung war der Architekt Stefan Forster aus Frankfurt am Main. Im thüringischen Leinefelde verwandelte er eine öde Plattenbausiedlung in eine bunte Gartenstadt: Forster ließ Teile der Gebäude entfernen, so dass aus einem eintönigen Betonklotz eine Reihe aus acht properen Wohnvillen entstand, die nur noch durch das ursprüngliche Kellergeschoss miteinander verbunden sind. Der Berliner Architekt Ulrich Peickert leitet in Stendal das Projekt „Von der erodierenden Großsiedlung zur solaren Gartenstadt“. Er findet die alten Plattenbauten „zum Wegwerfen zu schade“. Bei einem Symposium präsentierte Peickert die Idee, ein weitgehend verlassenes Viertel in Stendal-Süd in eine 120 000 Quadratmeter große Solaranlage umzuwandeln. „Das sind ideale Tragekonstruktionen“, sagt er. „Wir werden Fassaden, Dächer, Giebel und Loggien mit Paneelen bestücken und Solar-Kraftwerke daraus machen.“ „Dieses Stadtschrumpfungs-Thema“, ärgert sich Jürg Sulzer, Städtebauprofessor an der TU Dresden und Leiter des Kompetenzzentrums Revitalisierender Städtebau in Görlitz, „ich kann es bald nicht mehr hören.“ Sulzer, ein gebürtiger Schweizer, hält es für „nicht so wichtig, ob ein paar Häuser leerstehen“. Wichtig sei nur, „dass sie nicht zusammenfallen, dass Fassaden, Dächer und Wasserrinnen gesichert sind, dass die Straßenzüge, das die Stadt prägende Ensemble, erhalten bleiben“. Das 2004 gegründete Kompetenzzentrum, eine Außenstelle der TU Dresden, verfolgt das Ziel, Städte, die einerseits in den vergangenen Jahren oft aufwendig restauriert wurden, andererseits aber unter stetig sinkenden Einwohnerzahlen leiden, neu zu beleben. Das Kompetenzzentrum liegt mitten in seinem Forschungsfeld. Görlitz an der Neiße, die die Grenze zu Polen bildet, ist ein Kleinod mit großartiger historischer Bausubstanz aus fünf Jahrhunderten. Aber Görlitz hält auch schon lange einen Spitzenplatz unter den vom Exodus geplagten ostdeutschen Städten. Die Zahl betrieblicher Arbeitsplätze fiel von 17 500 auf 2300, seit Jahren liegt die Arbeitslosenquote stabil über 20 Prozent, von einst 85 000 Einwohnern sind rund 60 000 übriggeblieben. Im Jahr 2000, als die mit Renaissance, Barock und Jugendstil reich bestückte Altstadt fast fertig saniert war, erreichte der Wohnungsleerstand einen absoluten Rekord: 48 Prozent. Inzwischen sind 350 Millionen Euro in die Sanierungsgebiete geflossen – und es zeichnet sich ein sachter Wandel ab: Einige pensionierte Bildungs-

R AUM Baubürgermeister (ab November Oberbürgermeister) Stefan Skora eine Studie des Berlin-Instituts. „Aber davon zu sprechen, dass die sogenannten Verlierer nicht planen können, weil sie sich im freien Fall befinden“, wehrt sich Skora, „das ist Schreibtischwissen, nicht das Leben.“ Es sei „schmerzhaft“, wenn wissenschaftliche Studien den „Absturz in die völlige Bedeutungslosigkeit“ vorhersagten und der alternden Gesellschaft „alle Zukunftsperspektiven absprechen“. Es entstünden „andere Anforderungen an das urbane Leben“, sagt Skora trotzig, „doch muss das schlechter sein?“ Man sollte ja auch die Kirche im Dorf lassen. Selbst wenn der Aderlass so wei-

bevölkert. Was wäre so schlimm, wenn man sich nicht ständig auf die Füße tritt? Die zur Hysterie neigende deutsche Debatte um die angeblich heraufziehende demografische Katastrophe könnte sich auch mit einem Blick auf die USA oder Großbritannien entspannen. Ökologisch orientierte Organisationen wie der britische Optimum Population Trust (OPT) oder die amerikanische Negative Population Growth (NPG) sehen das größte Zukunftsproblem gerade darin, dass die Bevölkerungen ihrer Länder wachsen. Zur Jahrhundertmitte rechnet das amerikanische Census Bureau mit über 400 Millionen US-Einwohnern gegenüber 288 Millionen heute – und schon dies bezeichnet NPG-Präsident Donald Mann als „enorm überbevölkert“: Die Hälfte reiche für gleichbleibenden Wohlstand auch. Ebenso hielte es der OPT für optimal, wenn es nur halb so viele Briten gäbe – 30 statt 60 Millionen, und die vermehren sich vermutlich bis 2050 auf 77 Millionen. Und der OPT schätzt, dass in West- und Mitteleuropa auch bei einer umweltschonenderen Lebensweise nur rund 300 Millionen Menschen leben können, ohne die Umwelt zu zerstören – gegenüber 445 Millionen heute. Eine allmähliche Bevölkerungsabnahme sei also dringend geboten, die Perspektive einer rückläufigen Bevölkerungszahl demnach positiv zu bewerten. Die Natur gewönne schon, wenn sich die Städte nicht weiter in ihr Umland ausdehnten. Jahrzehntelang wurde in Deutschland die Abwanderung von Stadtbewohnern mit Zersiedelungssubventionen wie Eigenheimzulage und Pendlerpauschale gefördert. Noch immer werden täglich etwa 115 Hektar freies Land verbaut – und das wird auch mindestens ein weiteres Jahrzehnt so bleiben. Denn während einerseits Wohnraum vernichtet wird, gibt es für viele Jahre auch noch Bedarf an Neubauten. Die Einwohnerzahl in Deutschland wird bis 2020 nur geringfügig abnehmen – aber die Zahl der Haushalte vor allem durch Singles und kinderlose Paare noch um etwa drei Prozent steigen. „Zusätzlich“, weiß Stefan Siedentop vom Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung in Dresden, „gibt es die Tendenz, dass mit der Alterung der Gesellschaft immer mehr Fläche verbraucht wird. Die alten Leute bleiben in ihren Wohnungen“ – obwohl gerade die EinfaPETER BIALOBRZESKI / LAIF

touristen, die von dem Stadtensemble fasziniert waren, haben sich angesiedelt. Aber ein „Pensionopolis“, eine Rentnerstadt, die Görlitz früher schon einmal war, dürfe „nur ein Baustein der Stadtentwicklung sein“, sagt Sulzer. Der Stadtplaner schwelgt in der Vorstellung, dass Görlitz „das kulturelle Zentrum in einer Region mit 1,5 Millionen Polen, Deutschen und Tschechen“ werden könnte. Und dass von den jungen Leuten, die an der Hochschule studieren, etwas abstrahlt: „Unser Hauptthema ist es, eine Stadt für die nächste Generation zu schaffen.“ Deshalb, postuliert Sulzer, sollte auch nicht mehr von Stadtschrumpfung, von

Renovierter Plattenbau in Hoyerswerda: „Absturz in die Bedeutungslosigkeit“?

„Shrinking Cities“ geredet werden, wie der Titel einer Ausstellung lautete, die in den vergangenen Jahren in Berlin, Leipzig und Halle-Neustadt gezeigt wurde. Wenn es denn eines englischen Begriffs bedürfe, meint der Stadtplaner, „wäre doch eher von ,Waiting Cities‘ zu sprechen, von Städten also, die warten, die noch schlummern, bis ihre verborgenen Werte neu entdeckt werden“. Ostdeutsche Städte benötigten einfach „etwas mehr Zeit und Behutsamkeit im Stadtumbau“, der „nicht zum Einzelthema von Wohnungswirtschaft und Demografie degradiert“ werden dürfe. Hoyerswerda im Nordosten Sachsens ist „die am stärksten unter der Abwanderung leidende Stadt Deutschlands“, bestätigt

tergeht, wie er von Pessimisten prophezeit wird, bleibt Deutschland ein Industriestaat mit hoher Bevölkerungsdichte. Derzeit drängeln sich durchschnittlich 231 Menschen auf einem Quadratkilometer – mehr als in fast allen anderen europäischen Staaten, nur in Belgien, den Niederlanden und Großbritannien geht es noch enger zu. In Frankreich leben 110 Bürger auf einem Quadratkilometer, in Dänemark teilen sich 127 Menschen diese Fläche, in Polen 125. Schon gar nicht mit deutschen Verhältnissen zu vergleichen sind die Weiten Finnlands mit 17 oder Norwegens mit 15 Einwohnern je Quadratkilometer – daneben erscheinen selbst Brandenburg (87) und Mecklenburg-Vorpommern (74) stark

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J. H. DARCHINGER

milienhäuser in den Vorortsiedlungen für und des Saarlands, wo zu lange die ster- scher Unfug. Fördergelder können ansie „nicht nur zu groß, sondern auch für bende Steinkohlenbranche gefördert und derswo mehr Wirkung entfalten.“ „Wir müssen die Oasen bewässern und ihre Bedürfnisse völlig unpassend“ seien. der Umstieg in moderne Industrien vernicht die Wüste, wo das Wasser ungenutzt Immerhin ist die Stadtflucht, wie Sie- passt wurde. Nicht etwa eine abgewickelte ostdeut- versickert“, rät der Rostocker Wirtschaftsdentop festgestellt hat, in Ostdeutschland bereits weitgehend gestoppt, in West- sche Kombinatslandschaft oder eine ost- wissenschaftler Gerald Braun. Selbst Millionen-Subventionen konnten deutschland wenigstens gebremst. „Die elbische Einöde ist „der rentnerreichste Tendenz der Leute geht eindeutig in die Großraum Deutschlands“, wie Reiner in den vergangenen 16 Jahren nicht nenStadt zurück“, sagt auch Helmut Holz- Klingholz vom Berlin-Institut feststellt, nenswert Industriebetriebe in die entapfel, Professor für Verkehrsplanung in sondern das Ruhrgebiet. Dort würden legenen Randregionen Ostdeutschlands Kassel, der erforscht hat, wie die Deut- 2020 vermutlich eine halbe Million weni- locken – es zog die Unternehmen immer schen künftig leben wollen: in Vierteln, ger Menschen leben als noch im Jahr 2000. in die bereits prosperierenden Ballungs„Die einzige deutsche Region, die sich räume um Berlin, Dresden, Leipzig, Jena. wo „möglichst alle Notwendigkeiten des Übers Land verstreut wird es nur einialltäglichen Lebens in der Nähe der Woh- dem Abwärtstrend aus eigener demogranung erledigt werden können“, also Ar- fischer Kraft entziehen kann“, so Kling- ge „Inseln der Stabilität“ geben, ist Stefbeitsplätze, Geschäfte und Kneipen mög- holz, „liegt nicht weit entfernt vom Kri- fen Kröhnert vom Berlin-Institut übersenzentrum Ruhrgebiet“: Im Großraum zeugt. Ob die Attraktivität einer Region lichst nahe bei der Wohnung liegen. „Bei einem Bevölkerungsrückgang und einhergehender Überalterung dürften wir eigentlich überhaupt nicht mehr auf der grünen Wiese bauen“, fordert der international renommierte Frankfurter Architekt Albert Speer: „Wir haben genügend Fläche in den Städten.“ Für viele Regionen bedeuten die innerdeutschen Völkerwanderungen nur eine Rückkehr zu einem Zustand, wie er früher einmal bestanden hatte, bevor staatlich gelenkte Umsiedlungen die Einwohnerzahlen aufblähten. Klaus-Michael Rothe von der Industrie- und Handelskammer in Schwerin rechnet vor, dass Mecklenburg-Vorpommern im Jahr 2030 wieder so viele Einwohner haben werde wie 1939 – bevor die Nachkriegsflüchtlinge kamen und die DDR-Führung Werktätige aus Sachsen in den Norden schickte. Landflucht in die Ballungsräume sei ein normaler Vorgang, mit den zu erwartenden Einwohnerzahlen „finden wir vielleicht einStahlwerk in Duisburg (1958): Verlierer nicht nur im Osten fach zu unserer Kragenweite zurück“, meint er. Der Trend zu den Städten schlägt frei- Cloppenburg-Vechta-Borken, einem länd- erhalten oder gesteigert werden kann, das lich eine Schneise quer durch Deutsch- lich geprägten Gebiet, werden bundes- „wird auch von Personen abhängen. Dort, land, teilt die Nation in Gewinner und weit die meisten Kinder geboren (siehe wo es einen rührigen Landrat, eine aktive Bürgerschaft gibt, wird das eher gelingen Seite 120). Verlierer, in arme und reiche Gegenden. Aus dem Fehler der Vergangenheit, mit als dort, wo die Menschen nur auf den Verlierer gibt es nicht nur im Osten. Auch im Westen wird sich die Binnen- viel Steuergeld todgeweihte Industrie- Staat hoffen“. Der Landkreis Mecklenburg-Strelitz wanderung zu den Wachstumsregionen zweige am Leben erhalten und flächenverstärken, periphere Landschaften wer- deckend für alle Bürger gleiche Lebens- zum Beispiel „gehört nicht zu den marden sich auch in den alten Bundesländern bedingungen schaffen zu wollen, haben kanten Wirtschaftsstandorten Deutschlands“, räumt Landrätin Kathrin Knuth, einige Politiker gelernt. entvölkern. Man müsse „den Wandel gestalten“, 34, unumwunden ein. Doch die gelernte Im strukturschwachen Hunsrück etwa gibt es schon etliche Dörfer, in denen seit betont Wolfgang Tiefensee (SPD), Ver- Sparkassen-Fachwirtin, vor vier Jahren als Jahren kein Kind mehr geboren wurde, kehrsminister und Ostbeauftragter der jüngste Kreischefin Deutschlands gewählt, in denen Schulen und Läden geschlossen Bundesregierung. Subventionen seien da „legt Wert darauf, dass gepowert wird“, wurden und wo kein Bus mehr fährt. Ähn- sinnvoll, wo es positive wirtschaftliche und sieht ihre „Aufgabe darin, Optimislich sieht es im Harz, in Nordhessen oder Entwicklungen gibt. Aber: „Der Versuch, mus zu verbreiten“. Wenigstens kann der Landkreis in der Oberfranken aus, ebenso in den klassi- etwa aus der Uckermark ein zweites Ruhrschen Industrierevieren des Ruhrgebiets gebiet machen zu wollen, wäre ökonomi- Mecklenburgischen Seenplatte zu einem 116

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strieller Kerne werden sich die Bewohner allerdings darauf einstellen müssen, dass sich ihr Leben drastisch verändert. Natürlich sei es „bitter für die Leute gerade in strukturschwachen Gebieten, wenn sich eine reichhaltige Infrastruktur eben nicht überall gleichermaßen finanzieren lässt“, räumt Joachim Ragnitz vom Institut für Wirtschaftsforschung in Halle (Saale) ein. „Aber ich fürchte, wir werden erkennen müssen, dass eine regionale Ausdifferenzierung nicht vermeidbar ist.“ Nun ist Phantasie gefragt. Dezentrale Bürgerbüros, in denen verschiedene Dienstleistungen wie Post, Bank, Verwaltung und Einzelhandel gebündelt sind, könnten einen Mindeststandard an kom-

das Angebot des öffentlichen Personennahverkehrs ausgedünnt – mit einschneidenden Folgen für die Mobilität der Menschen. Nach einer Studie des Verkehrswissenschaftlers Hartmut Topp von der TU Kaiserslautern werden bis zur Jahrhundertmitte die Fahrgastzahlen bei Bus und Bahn bundesweit um rund ein Drittel sinken. In ländlichen Regionen, prognostiziert Andreas Knie, Professor am Wissenschaftszentrum Berlin, wird der Verkehr sogar bereits bis zum Jahr 2020 um 50 Prozent zurückgehen. „Ganze Landstriche könnten künftig vom öffentlichen Verkehr entkoppelt sein“, sagt Topp voraus. Die bisher üblichen Busse mit 40 und mehr Sitzen werde es in den Schwundregionen nicht mehr geben. „Kleinteiliger und flexibler“ müssten die Unternehmen arbeiten, Sammeltaxis einsetzen. Seit April 2005 dreht vom nordbrandenburgischen Gransee aus ein „Bürgerbus“ fünfmal am Tag seine 40 Kilometer langen Rundtouren durch die umliegenden Dörfer. Zwölf Fahrgäste haben in dem VW-Transporter Platz, am Steuer sitzen ehrenamtliche Fahrer – auch dies ein Beispiel, wie bürgerschaftliches Engagement demografisch verursachte Lücken füllt. Eine reguläre Buslinie mit tariflich bezahltem Personal lohnt sich für den regionalen Verkehrsverbund nicht mehr. Der große Schulbus fährt nur je einmal frühmorgens, mittags und am Nachmittag nach Schulschluss. Deshalb chauffieren Rentner und Arbeitslose die zumeist älteren Fahrgäste, die auf diese Weise bequem Arztbesuche und Einkäufe erledigen können. Die Bürgerbus-Idee stammt ursprünglich aus England. Seit etwa 20 Jahren gibt es auch in Deutschland Bürgerbus-Vereine, vor allem in Nordrhein-Westfalen. Das Granseer Vorbild hat in Brandenburg inzwischen Nachahmer gefunden: Seit Anfang September ist auch rund um Belzig im Hohen Fläming ein Bürgerbus unterwegs. In diesen Gegenden, immerhin nahe am Berliner Speckgürtel, geht es noch halbwegs lebendig zu. Was aber soll mit jenen Landstrichen geschehen, wo sich schon heute Fuchs und Hase gute Nacht sagen? „In dünnbesiedelten Regionen wie etwa der Uckermark“, sagt der Hallenser Wirtschaftsforscher Ragnitz nüchtern, „werLATZ + PARTNER

großen Teil ganz gut vom Tourismus leben. Aber auch diese Wirtschaftssparte muss gepflegt und gegen Konkurrenz in der Nachbarschaft abgesichert werden. Knuths Ziel ist es, die durchschnittliche Verweildauer der Besucher von derzeit dreieinhalb Tagen zu verdoppeln. Deshalb muss den Gästen für einen aktiven Familienurlaub und auch für Regentage etwas geboten werden – besonders wichtig ist Knuth, das eigene Landestheater in Neustrelitz und den Regionalflughafen Trollenhagen trotz üppigen Zuschussbedarfs zu erhalten. Knuth knüpft auch internationale Kontakte, um ihre ländliche Region ins Gespräch und ins Geschäft zu bringen. Im

Landschaftspark Duisburg-Nord: „Rentnerreichster Großraum“

März war sie mit einer Delegation beim US-amerikanischen Generalkonsul Duane C. Butcher in Hamburg, um für den Standort zu werben und Wirtschaftspartner zu gewinnen. Und die aus Mirow im Landkreis stammende Prinzessin Sophie Charlotte von Mecklenburg-Strelitz, die 1761 mit 17 Jahren den englischen König Georg III. heiratete, wird ebenfalls vermarktet: Die historischen Bande boten der quirligen Landrätin willkommene Gelegenheit, mit der Kommunikationschefin der Queen in Korrespondenz zu treten – in der Hoffnung, dass traditionsbewusste Briten ins Land der königlichen Ahne fahren. In den dünnbesiedelten Gebieten abseits touristischer Highlights und indu-

munalen und sozialen Dienstleistungen sicherstellen. Wenn Ämter abgeschafft oder zusammengelegt werden, kann der persönliche Service durch moderne Kommunikationstechnik ersetzt werden. Die elektronische Verwaltung ermöglicht, von zu Hause aus Anträge zu stellen oder an einer Wahl teilzunehmen. Alte und Kranke, die mit dem Computer nicht zurechtkommen, können von mobilen Gemeindepflegern besucht werden, die mittels mitgebrachtem Laptop per Internet Bestellungen aufgeben und Online-Formulare bearbeiten. Vor allem Busse und Bahnen werden nicht mehr überall und zu allen Zeiten fahren. Wo weniger Kunden sind, wird auch

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R AUM den ganze Dörfer von der Landkarte verschwinden.“ Die Debatte um den Bevölkerungsschwund sei „bisher immer von einer Rhetorik des Verlusts und des Niedergangs geprägt“, bedauert die Soziologin Claudia Neu. Sie will „dieses Untergangsszenario durchbrechen“ und nach neuen „Lösungen für die Herausforderungen suchen, welche die Schrumpfung mit sich bringt“. Die Wissenschaftlerin schlägt deshalb vor: „Wagen wir die Wildnis!“ Wölfe, vor hundert Jahren in Deutschland ausgerottet, sind ja bereits aus Polen eingewandert und vor allem im südlichen Brandenburg heimisch geworden. In der Lausitz wurde wiederholt Nachwuchs geboren, inzwischen leben dort etwa zwei Bielefeld hat als erste und bislang einzige Stadt Dutzend dieser Wildtiere. Neu empfiehlt, den „Luxus der Leere“ in Deutschland eine Demografie-Beauftragte. zu entdecken, wie der Berliner Architekturkritiker Wolfgang Kil in einem Buchtitel diesen Zustand genannt hat (siehe Seiit Bevölkerungsschwund muss Bie- anhand statistischer Daten weiß, vorwiete 126). Menschenleere Landschaften, so lefeld fürs Erste nicht rechnen. Im gend „gutsituierter Mittelstand“, der gern Neu, müssten ja „nicht nur Furcht einGegenteil: Der Demografie-Papst die Einkaufsmöglichkeiten und Kulturflößen“, sondern könnten „auch reizvoll Herwig Birg, der an der örtlichen Univer- angebote der Regionalmetropole nutzt. sein“. Es gehe nicht darum, riesige Gebie- sität bis zu seiner Emeritierung vor zwei „Früher“, räumt Susanne Tatje ein, „hätte aufzugeben und der Verwilderung Jahren lehrte, hat prognostiziert, dass die te ich gesagt, selbstverständlich muss man preiszugeben, sondern „Rückbau und Re- ostwestfälische Großstadt, derzeit 333 000 die Stadtbahn ausbauen.“ naturierung zuzulassen“. Vielleicht wür- Einwohner, bis 2015 sogar noch wächst. Inzwischen ist sie skeptischer. Raumden einzelne Wildnisinseln sogar TourisTrotzdem sorgt die Stadt für ihre Zu- planer sagen vorher, dass die Menschen ten anlocken und so neue Arbeitsplätze kunft vor wie keine andere in Deutsch- generell und die Alten im Besonderen schaffen. land: Im Rathaus wirkt seit 2004 die erste künftig aus den Speckgürteln in die In„Statt weiterhin Milliardenbeträge in – und immer noch einzige – kommunale nenstädte ziehen. Brauchen also, fragt ergebnislose Wirtschaftsförderung zu ste- „Projektbeauftragte für die demografische sich die Demografie-Beauftragte, die Eicken“, die „in den letzten Jahren kaum Entwicklungsplanung“. genheimbewohner von Theesen „in einibeschäftigungswirksame Erfolge gebracht“ Die Soziologin Susanne Tatje, 53, soll gen Jahren, wenn deren Kinder aus dem habe, sei es an der „Zeit, über Alter- der Verwaltung helfen, Wohnungsbau und Haus sind, noch eine Stadtbahnanbinnativen nachzudenken“, betont die So- Verkehrsinfrastruktur, Bildung und Ge- dung?“ Die Frage ist bislang nicht entziologin. sundheitswesen, Kinderbetreuung und Al- schieden. Ein Vorbild sieht Neu beispielsweise tenhilfe auf künftige Erfordernisse auszuViele kommunalpolitische Entscheiim Nationalpark Unteres Odertal, einem richten. Denn auch in Bielefeld steigt der dungen lassen sich aber nicht aufschieüber 100 Quadratkilometer großen Natur- Altersdurchschnitt, und nach 2015, hat De- ben. Das Risiko, am künftigen Bedarf vorreservat zwischen Hohensaaten und Stet- mograf Birg errechnet, nimmt die Ein- beizuplanen, ist groß. Dann berät Tatje tin, dem sich auf polnischer Seite ein 60 wohnerzahl auch hier ab. Im Jahr 2050 mit den zuständigen Dezernaten, wie die Quadratkilometer großer Landschafts- könnte sie bei 280 000 liegen. Stadt zielgenau handeln und Fehlkalkulaschutzpark anschließt. In den Auwäldern Vielleicht kommt es so, und manches tionen vermeiden kann. Oder, wie sie es und Feuchtwiesen hat sich eine für Mittel- Schulgebäude oder Schwimmbad ist dann salopp ausdrückt: „Wenn ich den Deckel europa ungewöhnliche eines Marmeladenglases falsch ansetze, Artenvielfalt von Tieren bekomme ich es nie zugeschraubt.“ „ES WÄRE UNKLUG, SCHON HEUTE und Pflanzen angesieSusanne Tatje plädiert, wenn möglich, delt, vor allem für seinen für flexible Lösungen, die den EntwickINFRASTRUKTUREN ABZUBAUEN.“ Vogelreichtum ist das lungen angepasst werden können und Untere Odertal berühmt. Alternativen offenhalten. Aber nicht Allerdings schwelt seit Jahren ein überflüssig. Dennoch hält es Susanne Tat- nur deshalb favorisiert sie die UnterbrinKonflikt vor allem mit Bauern, die das je für „unklug, schon heute Infrastruktu- gung von Kindergärten und Altenheimen seit Jahrhunderten bewirtschaftete Land ren abzubauen, nur weil eventuell nach unter einem Dach – so dass je nach Benicht einfach der Natur überlassen wollen. 2015 die Einwohnerzahlen zurückgehen“ darf der Raumanteil der einen oder der Die brandenburgische Landesregierung – es könnte ja sein, dass die Entwicklung anderen Generation vergrößert werden will deshalb die restriktiven Nutzungs- auch anders verläuft. kann. regelungen für Anwohner und Besucher Die Stadt kann sich aber auch keine So eine Doppelnutzung hätte auch den lockern. teuren Fehlinvestitionen leisten, wenn die Vorteil direkter Begegnung von Alt und „Die unmittelbare und unberührte Na- Schrumpfung schon vorhersehbar ist. Bei- Jung, wie Tatje sie selbst erfahren hat. Ihr tur“, weiß Claudia Neu, „gehört zwar spielsweise muss geklärt werden, ob die Vater hatte nach einem Schlaganfall einst zu den Sehnsuchtsträumen des moder- Straßenbahnlinie bis in den Stadtteil Thee- mehrere Jahre in einem Altenpflegeheim nen Menschen – doch vor der eigenen sen verlängert werden soll. gelebt. Dorthin kamen regelmäßig Kinder Haustür will sie niemand haben.“ In Theesen, sechs Kilometer von Biele- aus einem Kindergarten, und bei den felds Zentrum entfernt, wohnt, wie Tatje Besuchen der Kleinen, erinnert sich Tatje Norbert F. Pötzl

DIE ZUKUNFTSPLANERIN

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