Deutschland Widerstand in der SBZ und DDR

2002 Ernst Eichengrün Deutschland 1945 –1990 Widerstand in der SBZ und DDR 1945 lag in allen Besatzungszonen die ganze Macht bei den Siegermächten. ...
Author: Clara Böhler
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2002

Ernst Eichengrün

Deutschland 1945 –1990 Widerstand in der SBZ und DDR 1945 lag in allen Besatzungszonen die ganze Macht bei den Siegermächten. Deutsche Demokraten machten sich daran, die wiedergewonnene Freiheit zu sichern, die demokratische Ordnung wieder herzustellen und ihre Abhängigkeit von der jeweiligen Besatzungsmacht allmählich zu lockern – auch in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), wo sich allerdings Allmacht und Willkür der Besatzung stärker bemerkbar machten. Aber auch hier war der Anfang hoffnungsvoll, konnten sich doch neben den Kommunisten auch die Sozialdemokraten, Christdemokraten und Liberalen erfolgreich organisieren. Sie wurden allerdings von den Sowjets auf gemeinsames Handeln eingeschworen. Die Sowjets gingen rigoroser als die anderen Alliierten daran, die Wurzeln des Nationalsozialismus zu beseitigen. Sie begnügten sich nicht mit der Absetzung der alten Führungskräfte, sondern gingen schrittweise daran, die Gesellschaft insgesamt – Politik, Wirtschaft, Justiz und Bildungswesen – grundlegend umzugestalten. Den Kommunisten ging es dabei aber keineswegs nur um die Beseitigung der Ursachen des Nationalsozialismus, sondern vor allem um die Sicherung der eigenen Macht. Das merkten bald immer mehr Bürger. Die deutschen Kommunisten und die sowjetische Besatzungsmacht arbeiteten Hand in Hand. Die wichtigsten Schaltstellen wurden von Kommunisten besetzt. Die SPD im Osten, an Mitgliedern stärker als die KPD (Kommunistische Partei Deutschlands), wurde durch immer stärkeren Druck 1946 zur Vereinigung mit den Kommunisten zur SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) gezwungen. Christliche Demokraten und Liberale gerieten unter Druck. Sie wurden benachteiligt und in ihrer Arbeit behindert. Oppositionelle Funktionäre wurden abgesetzt, die Parteien schließlich gleichgeschaltet. Die anfangs überparteiliche Jugendorganisation FDJ (Freie Deutsche Jugend) wurde früh auf die SED eingeschworen. Andere Jugendorganisationen waren nicht erlaubt. Von der demokratischen Fassade war bald nichts mehr übrig geblieben. Die SED wurde in wenigen Jahren zu einem Abbild der Partei Stalins, der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), umgebaut. Originär sozialdemokratische Positionen hatten in ihr keine Chance; wer sie dennoch vertrat, wurde aus Ämtern verdrängt, aus der SED ausgeschlossen, bedroht, verhaftet. „Sozialdemokratismus“ wurde zum Verbrechen erklärt. Etwa 5 000 Sozialdemokraten kamen in den Nachkriegsjahren ins Gefängnis oder gar in

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ehemalige Konzentrationslager, die von der sowjetischen Besatzungsmacht nach dem Krieg weitergeführt wurden. Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit wurden immer mehr eingeengt und schließlich ganz abgeschafft, Zeitungen aus dem Westen verboten, Kritik an Maßnahmen der Sowjets und der deutschen Kommunisten als antisowjetische Haltung gebrandmarkt und geahndet. Schon vor der Gründung der DDR 1949 war die absolute Vorherrschaft der Kommunisten etabliert. Dann begann der Kampf gegen die Kirchen. Der Staat wollte keine andere Weltanschauung dulden. Die „Junge Gemeinde“ der Evangelischen Kirche wurde diffamiert. Politisch aktive Pfarrer mussten fliehen. Der Religionsunterricht in den Schulen wurde abgeschafft. Unter starkem Druck musste die Evangelische Kirche, wenn sie für die stark schrumpfende Zahl ihrer Gläubigen weiter existieren wollte, bald ihre grundsätzliche Ablehnung gegenüber dem SED-Staat zurückstellen. Seelsorge und soziale Fürsorge bekamen Vorrang. Wer sich zu einer Religion bekannte, hatte es in der DDR immer schwer. Die Zulassung zur Oberstufe wurde erschwert bzw. verweigert. Das Abitur konnte oft nur auf Umwegen erlangt werden. Geradezu als gefährlich erwies es sich, den Anweisungen der SED-Funktionäre, und waren sie noch so widersinnig, zu widersprechen oder gar die kommunistische Herrschaft anzuzweifeln oder anzugreifen. Die Mehrheit der Bevölkerung war zwar gegen die Kommunisten, aber durch die brutalen Maßnahmen der ersten Zeit zunächst eingeschüchtert. Sie beugte sich widerwillig, in der Hoffnung, dass der Spuk bald vorüber sein würde. Einige wehrten sich, darunter besonders Jugendliche, vor allem Studenten, die sich einzeln oder in Gruppen gegen das Regime wandten. Die Strafen waren drakonisch, die Vernehmungen von Folterungen begleitet. Widerstand gegen die Staatsgewalt wurde nicht selten von sowjetischen Militärtribunalen mit 25 Jahren Zwangsarbeit in sowjetischen Lagern bestraft. Doch auch in der SBZ und der späteren DDR waren die Haftbedingungen durchweg unmenschlich und blieben es, als die Sowjets die Haftanstalten an die DDR-Behörden übergaben. Viele politische Häftlinge kamen um. Diese brutalen Maßnahmen schreckten immer mehr Menschen von politischer Aktivität ab. Die Folgen des Krieges, aber zunehmend auch die Unzulänglichkeiten der Planwirtschaft ließen die Wirtschaft der DDR in den 1950er Jahren immer noch kümmern, als im Westen schon das „Wirtschaftswunder“ eingesetzt hatte. Das verringerte die Akzeptanz des Regimes beträchtlich. Soziale Proteste gab es in den ersten Jahren immer wieder – spontane, punktuelle Streiks, die stets auch ein Politikum waren, weil sie den Anspruch der SED, das gesellschaftliche Interesse, somit auch Löhne und Arbeitsbedingungen, zu bestimmen, in Frage stellten. Betriebsräte waren schon früh abgeschafft, die Gewerkschaften gleichgeschaltet worden. SED, FDGB (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund) und FDJ waren in allen volkseigenen Betrieben und öffentlichen Einrichtungen präsent.

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1953 wurden die Arbeitsnormen erhöht. Die Arbeiter sollten mehr arbeiten, ohne mehr Lohn zu bekommen. Am 16. Juni 1953 gingen sie in Ost-Berlin und vielen anderen Städten dagegen auf die Straße. Ihre Demonstrationen entwickelten sich binnen weniger Stunden zu einem massenhaften politischen Aufstand gegen das SED-Regime. Am 17. Juni wurde die Bewegung größer; das Ende der SEDHerrschaft wäre gekommen, hätten sowjetische Truppen nicht mit Panzern militärisch eingegriffen. Der Aufstand zeigte den kommunistischen Führern, wie wenig Rückhalt ihre Politik, die sich auf die herrschende Staatsideologie, den Marxismus-Leninismus, berief, bei den Menschen, gerade bei den Arbeitern, hatte. Nach dem niedergeschlagenen Aufstand blieb Walter Ulbricht an der Macht. Die erhöhten Arbeitsnormen wurden zurückgenommen, die Diktatur jedoch weiter ausgebaut. Das SED-Regime kam von nun an der Arbeiterschaft mehr entgegen. Das alles erfolgte unter der zentralen Kontrolle der im Betrieb organisierten SEDOrgane, denen sich auch kaum ein Nichtkommunist zu entziehen vermochte. Politische Schulungen und Erziehungsmaßnahmen wurden verstärkt, um alle auf eine „sozialistische Menschengemeinschaft“ einzuschwören. Gleichzeitig drängte der Staat allmählich den Mittelstand, Handwerk und Gewerbe mehr und mehr ins Abseits, bis in den 1970er Jahren auch die letzten privaten Kleinbetriebe verstaatlicht wurden. Auch die mit starkem Druck verbundene Überführung der selbstständigen Bauern in Genossenschaften stieß auf weiten Widerstand und veranlasste viele zur Flucht. Wer es in der DDR nicht mehr aushielt, hatte bis 1961 diesen Ausweg: Er konnte in den Westen fliehen. Über 3 Millionen taten das: eine „Abstimmung mit den Füßen“ gegen politische und wirtschaftliche Unfreiheit. Doch der Bau der Berliner Mauer und die Abriegelung des gesamten DDR-Gebietes durch Grenzzaun und Todesstreifen setzte dem ein Ende. Anfangs gelangen noch viele Fluchtversuche, später immer weniger. Hunderte kamen dabei um. Schießbefehl und Selbstschussanlagen richteten sich gegen die eigenen Bürger, deren Arbeitskraft für den Erhalt der kommunistischen Macht überlebenswichtig war. Nach der Selbstabriegelung der DDR erfolgte allmählich eine Konsolidierung. Die Wirtschaft wuchs. Der Staat versuchte seine Untertanen durch soziale Leistungen ruhig zu stellen. Die Herrschaftstechnik verfeinerte sich: An Stelle des massenhaften Terrors der ersten Jahre traten immer mehr Verlockungen. Die wenigen Widerspenstigen wurden aber weiterhin zur Räson gebracht oder isoliert. Die Überwachung der Bürger wurde intensiviert. Die Anzahl der Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes (Stasi) und die der „inoffiziellen“ Mitarbeiter“ (IM) wuchs. In der SED bestimmte allein die Führung, das Politbüro, den Kurs. Abweichende Meinungen wurden unterdrückt und verfolgt, denn nach der Ideologie des Marxismus-Leninismus gibt es nur eine Wahrheit, die von der Führung im Interesse ihrer Machterhaltung ausgelegt wird. Freiheit besteht allein in der freiwilligen Unterordnung unter diese „Wahrheit“. Von den Menschenrechten wurden nur die sozialen Rechte akzeptiert. Die „bürgerlichen“ Freiheiten mussten dagegen zurückstehen, da sie angeblich in

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Widerspruch zu den sozialen standen. Der Wähler konnte auf der alternativlosen Einheitsliste nur mit ja oder nein stimmen. Wer sich dem Druck zur offenen Abstimmung entzog, machte sich verdächtig. Die SED mischte sich auch in alle gesellschaftlichen Bereiche ein und bemühte sich, diese zu reglementieren: Wirtschaft, Kultur, Bildung, Sport und Freizeit. Die Informationsfreiheit ließ sich jedoch nicht total abschaffen. Zeitungen und Zeitschriften wurden über die innerdeutsche Grenze geschmuggelt. Immer mehr Menschen hörten westliche Rundfunksender und empfingen das Westfernsehen. Vor allem die Jugend sollte für den Kommunismus gewonnen werden. Der Staat machte ihr umfangreiche Angebote, verlangte aber Loyalität. Bereits vom Kleinkindalter an in den Kinderkrippen und Kindergärten bemühte er sich, durch unablässige einseitige Einflussnahme die Jugend in seinem Sinne zu erziehen. Auf diese Weise sollte die „sozialistische Persönlichkeit“ geformt werden. Politische Indoktrination war in der Schule und auch an den Universitäten üblich. Das Fach „Staatsbürgerkunde“ sollte die Schüler nicht zur selbstständigen Urteilsbildung führen, sondern zur Loyalität erziehen. Disziplin und Gehorsam wurden groß geschrieben. An den Schulen ging es autoritär zu. Die Zulassung zur Oberstufe hing auch von einem konformen Verhalten ab. Schüler, die studieren wollten, mussten sich freiwillig länger zur Armee melden. Wehrdienstverweigerung wurde erst spät anerkannt, doch auch der Ersatzdienst musste als „Bausoldat“ in der Armee abgeleistet werden. Wer als Pazifist auch dies verweigerte, wurde für die Dauer des Wehrdienstes eingesperrt. Spontane Aktivitäten von Jugendlichen außerhalb der FDJ waren verdächtig und wurden von der Bürokratie erstickt. Durch die ständige Bevormundung und Reglementierung, durch das Eingreifen selbst bei geringsten Abweichungen von den vorgeschriebenen Verhaltensnormen, provozierte die SED oft tatsächlichen Widerstand. Immer mehr Jugendliche nahmen den Widerspruch zwischen erhabener Theorie und unzulänglicher Praxis als unangenehm wahr. Nachdem die Mauer den Weg in den Westen versperrt hatte und es so aussah, als werde die undurchdringliche Grenze noch Jahrzehnte bestehen, blieb den Deutschen in der DDR nichts anderes übrig, als sich auf unterschiedliche Weise mit dem System abzufinden. Nur eine Minderheit stand voll und ganz hinter dem Regime – auch nicht alle SED-Mitglieder. Immerhin ein Fünftel der Erwachsenen war in der SED. Die Mehrheit der Bürger konnte sich mit den gesellschaftlichen Zuständen in der DDR nach wie vor nicht anfreunden, auch wenn sie im Prinzip mit der sozialen Sicherheit und der verlässlichen Lebensplanung einverstanden war. Dafür war das Regime zu allgegenwärtig, zu repressiv, zu dogmatisch, zu unbeweglich. Pannen im Betrieb und Mängel in der Versorgung frustrierten und provozierten immer wieder Missmut. Viele zogen sich ins Private zurück. Man hoffte auf Reformen, war jedoch davon überzeugt, dass Änderungen nicht erzwungen werden konnten. Immer drohte das Eingreifen der Sowjets wie 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei.

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In der DDR konnte sich keine eigene nationale Identität entwickeln. Der ständige, zumeist sehnsüchtige Blick gen Westen verhinderte dies. Der Westen war in vielem Maßstab und Vorbild. Die meisten arrangierten sich – wenn auch oft widerwillig. Sie hielten Widerstand lange Zeit für illusorisch und wollten sich Aufstiegschancen nicht verbauen. Doch die vorenthaltene Reisefreiheit, das täglich dokumentierte Misstrauen der SED-Funktionäre in die Bürger, verbitterte alle. Die DDR-Führung hatte es um so leichter, sich durchzusetzen, weil sie sich auf die in vielen Generationen in Deutschland antrainierte Disziplin und Unterordnung gegenüber der Obrigkeit stützen konnte. Die enge Denk- und Lebensweise der Anführer entsprach alter kleinbürgerlicher Tradition. Der Zwang zur Anpassung und die Pflicht, dem ungeliebten System immer wieder Tribut zu zollen, ermüdete und ärgerte viele. Sie fühlten sich in ihrer Menschenwürde verletzt und verweigerten sich daher in unterschiedlichem Ausmaß den Ansprüchen des Staates. Eindeutige Gegner, die sich aus unterschiedlichen Motiven offen gegen das System stellten, waren eine Minderheit. Einige von ihnen resignierten. Der Versuch zu fliehen war jedoch strafbar und mit hoher Lebensgefahr verbunden. Es gab ca. 70 000 Verurteilungen wegen „Republikflucht“. Doch der Westen half. Er kaufte politische Häftlinge frei und zahlte für Familienzusammenführungen. Die DDR verkaufte ihre Bürger. Der Antrag auf Ausreise in den Westen zog unausweichlich eine Fülle von Schikanen nach sich. Zu den bewussten und offenen Regimegegnern gehörten die weltanschaulichen Dissidenten: Sie widersetzten sich dem verpflichtenden Marxismus-Leninismus. Die Evangelische Kirche bot einen gewissen Freiraum. Unter ihrem schützenden Dach konnte sich in gewissem Umfang Opposition artikulieren. Doch sie hatte es generell schwer, sich zu organisieren: Versammlungen waren genehmigungspflichtig, Bücher, Zeitungen und Zeitschriften, Flugblätter sowie Plakate unterlagen der Zensur. Für eine lückenlose Überwachung sorgte von Anfang an der Staatssicherheitsdienst, der überall, auch in den Kirchen, seine Spitzel hatte. Wer sich exponierte, wurde isoliert, drangsaliert, verunsichert, ausgebürgert. Daher blieb offene Opposition bis fast zum Ende der DDR nur eine Sache von wenigen. Die 1970er Jahre waren von Ambivalenz geprägt. Der Allmachtsanspruch der SED ließ sich im Laufe der Zeit nicht mehr vollständig durchsetzen. Das Hören von westlichen Rundfunksendern und das Einschalten des Westfernsehens wurden zwar nie legalisiert, jedoch nach und nach hingenommen. Auch westliche Lebensformen der Jugend mussten toleriert werden. Es entwickelte sich eine eigenständige Kultur- und Rockszene der DDR, die bis zu einem bestimmten Grad einem abweichenden Lebensgefühl Ausdruck geben durfte. Jedoch unterlag auch sie der Zensur. Kritische Songs, Filme, Theaterstücke und vor allem Bücher wurden in der DDR verboten. Künstler und Rockgruppen erhielten Auftrittsverbot. Manche Schriftsteller konnten ihre Bücher nur im Westen erscheinen lassen. Als der Liedermacher Wolf Biermann 1976 aus der DDR ausgewiesen wurde, solidarisierten sich Hunderte mit ihm. Der Staat reagierte hart. Vielen kritisch eingestellten Künstlern wurde daraufhin einfach die Arbeitsgrundlage entzogen.

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Sie wurden zum Verlassen der DDR gezwungen. Viele kehrten von Gastspielen im Westen nicht mehr zurück. Das gewachsene Selbstbewusstsein der Schriftsteller, Musiker, Maler und Theaterschaffenden führte zu einer immer größeren Vielfalt ihrer Ausdrucks- und Darstellungsformen. Dem konnte sich auch das SED-Regime nicht verschließen. Andererseits wurde in den 1970er Jahren den auflockernden Wirkungen der Entspannungspolitik mit agitatorischem Drill stärker der Kampf angesagt. Bereits im Frühjahr 1968 kamen in Prag die Reformkommunisten an die Macht. Sie wollten „einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Alte Hoffnungen keimten in der intellektuellen, marxistisch geprägten Opposition der SED wieder auf, die sich schon einmal, angestoßen von der Entstalinisierung in der Sowjetunion und von Liberalisierungstendenzen in Ungarn und Polen, geregt hatten. Der Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag im August 1968 stürzte sie in eine tiefe Verzweiflung, die in Unmut, Ablehnung, aber auch Resignation umschlug. Anders als bei dem frühen Widerstand ging es den Reformern ab den 1970er Jahren nicht um eine totale Abschaffung des Systems. Vor allem Friedensfragen und der Umweltschutz, Themen die in der Öffentlichkeit weitgehend tabuisiert waren, wurden von ihnen aufgegriffen. Was als Musikveranstaltung, Bluesmesse, Dichterlesung und Friedenswerkstatt unter dem Dach der evangelischen Kirche unter oppositionellen Gruppen begann, fand immer mehr öffentliche Beachtung. Angesichts der immer offenkundiger gewordenen wirtschaftlichen Stagnation und der strikten Weigerung der SED, die DDR auf den von Gorbatschow in der Sowjetunion initiierten Reformkurs zu bringen, merkte auch die Mehrheit der Bevölkerung, dass das DDR-System keine Zukunft hatte. Als zu den Kommunalwahlen im Frühjahr 1989 der übliche Auszählungsbetrug erstmals von der Opposition belegt und angeprangert wurde, begann die Situation zu eskalieren. Die innenpolitische Krise spitzte sich zu. Gleichzeitig änderten sich die außenpolitischen Rahmenbedingungen der DDR, als im Juni 1989 Gorbatschow in einer „Gemeinsamen Erklärung“ mit der Bundesregierung, das Recht eines jeden Staates, „das eigene politische und soziale System frei zu wählen“, bestätigte. Nach der Öffnung der Grenze zwischen Ungarn und Österreich versuchten im Frühjahr und Sommer 1989 tausende Menschen auf diesem Weg in den Westen zu gelangen. Nahezu 7 000 flüchteten in die Prager Botschaft der Bundesrepublik. In dieser Situation fand die bisher kleine Opposition großen Widerhall und wurde zum organisierten Kern des Massenprotestes. Lange Zeit hindurch gehörten zu den oppositionellen Gruppen nur wenige tausende DDR-Bürger. Sie gründeten jetzt offiziell Vereinigungen und traten mit ihren Forderungen an die Öffentlichkeit. Friedensgebete in der Berliner Gethsemane-Kirche, in der Leipziger Nikolaikirche sowie in zahlreichen anderen Kirchen der DDR weiteten sich im Herbst 1989 zu großen, öffentlichen Massenprotesten im ganzen Land aus. Aus Tausenden wurden in kurzer Zeit Hunderttausende. Leipzig wurde mit den Montagsdemonstrationen zum Brennpunkt.

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Gewaltlosigkeit hatte bei den Demonstranten oberste Priorität, um dem Staat keinen Anlass für ein gewaltsames Eingreifen zu geben. Der Parole „Wir wollen raus“, setzten die DDR-Reformer den Spruch „Wir bleiben hier“ entgegen. Forderungen nach der Abschaffung der DDR wurden immer lauter. Aus der Losung „Wir sind das Volk“ wurde bald „Wir sind ein Volk“. Gemeint war damit ein vereintes Deutschland. Dagegen war das Regime machtlos. So ist aus der gewachsenen Unzufriedenheit der Massen, den veränderten außenpolitischen Rahmenbedingungen und den Initialzündungen der Opposition aus einer Krise des Regimes spontan und unvorhersehbar eine Revolution geworden. Ohne jede Gewalt setzte sich das Volk durch und nahm sich einfach die Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Das SED-Politbüro unternahm im Herbst 1989 noch einige hilflose Versuche, mit Versprechungen das System zu retten. Erich Honecker wurde gestürzt. Aber auch die Nachfolger hatten bei der Bevölkerung jede Glaubwürdigkeit verloren. Als die geforderte Reisefreiheit nicht sofort und uneingeschränkt gewährt wurde, zwangen die Menschen die SED dazu, die Grenzen zu öffnen. Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer. Der SED war die Macht entwunden worden. Die in Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) umbenannte SED musste in freie Wahlen einwilligen, die im März 1990 stattfanden. Sie erreichte dabei nur 19 Prozent der Wählerstimmen und wurde in die Opposition verwiesen. Der Wille der DDR-Bürger zur deutschen Einheit fand in der deutschen Vereinigung am 3. Oktober 1990 schließlich seine Erfüllung.