Der Daoismus - Dem Leben seinen Lauf lassen

1 Manuskript radioWissen Der Daoismus - Dem Leben seinen Lauf lassen AUTORIN: Claudia Simone Dorchain REDAKTION: Bernhard Kastner ZITATOR Der Sinn,...
Author: Otto Engel
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Manuskript radioWissen

Der Daoismus - Dem Leben seinen Lauf lassen AUTORIN: Claudia Simone Dorchain REDAKTION: Bernhard Kastner

ZITATOR Der Sinn, der sich aussprechen lässt, ist nicht der ewige Sinn. Der Name, der sich nennen lässt, ist nicht der ewige Name. »Nichtsein« nenne ich den Anfang von Himmel und Erde. »Sein« nenne ich die Mutter der Einzelwesen. Darum führt die Richtung auf das Nichtsein zum Schauen des wunderbaren Wesens, die Richtung auf das Sein zum Schauen der räumlichen Begrenztheiten. Beides ist eins dem Ursprung nach und nur verschieden durch den Namen. In seiner Einheit heißt es das Geheimnis. Des Geheimnisses noch tieferes Geheimnis ist das Tor, durch das alle Wunder hervortreten. SPRECHER So beginnt das 'Tao-te-King', das berühmte chinesische Buch vom Sinn und Leben, das dem Sagen umwobenen Gelehrten Lao-Tse zugeordnet wird, der vor über zweitausend Jahren gelebt haben soll. Der so genannte 'Daoismus' ist eine einflussreiche religiösphilosophische Strömung und kennt das Tao-te-King als wichtigste Bezugsquelle seiner Lebenslehren, die sich von allgemeiner sozialer Ethik bis hin zu Ratschlägen zur Ernährung, Politik, Meditation und Medizin erstrecken. SPRECHERIN Wenn wir heute die Neuerscheinungen auf dem deutschsprachigen Buchmarkt sehen, finden wir jedoch nicht nur die klassische Übersetzung des Tao-te-King vom deutschen Missionar Richard Wilhelm, sondern Hunderte von Titeln über das 'Tao' oder das 'Dao'. Doch gerade diese Fülle an Angeboten verstellt oft das tiefere Verständnis. Viele Fragen eröffnen sich, angefangen mit etwas so Einfachem wie dem korrekten Namen. Heißt es eigentlich 'Daoismus' oder 'Taoismus', und bedeuten die Schreibweisen Unterschiedliches? O-TON 1 Das ist nicht mal ein semantischer Unterschied. Das ist völlig dasselbe; nur eine andere Schreibweise. Ähnlich wie „Circus“ und „Zirkus“. Die tatsächliche Aussprache liegt irgendwo in der Mitte zwischen D und T. SPRECHER Prof. Dr. Christian Soffel, Professor für Sinologie an der Universität Trier und stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Konfuzianischen Gesellschaft. SPRECHERIN Der Daoismus gilt als eine der drei großen religiös-philosophischen Strömungen Chinas, neben dem Konfuzianismus und dem Buddhismus. Wenn wir diese drei Strömungen betrachten, erkennen wir Gemeinsamkeiten in der Philosophie über das Sein und den Sinn des Lebens, aber auch Unterschiede. Worin bestehen denn die Unterschiede?

2 O-TON 2 Es gibt folgende Unterschiede zum Buddhismus: Daoismus ist anders als der Buddhismus, der aus Indien importiert worden ist„ eine echt chinesische Philosophie. Es gibt auch andere Unterschiede zum Buddhismus, zum Beispiel bei der äußeren Ausgestaltung, auch bei der Art und Weise; wie sich Daoisten kleiden und geben. Die Daoisten kann man an den langen Bärten und Haaren zum Beispiel erkennen. Auch die Essgewohnheiten sind anders; den Daoisten ist nicht untersagt, Fleisch zu essen. Es gibt aber philosophisch erstaunlich große Ähnlichkeiten der verschiedenen Ursprünge. Zum Beispiel ist ihnen gemeinsam der Bezug auf das Nichts. Meditation, Passivität, eine gewisse Weltabgewandtheit und auch eine bewusste Verwendung logischer Widersprüche. Im Vergleich zum Konfuzianismus ist zu sagen, dass der Daosimus sehr weltabgewandt ist, wohingegen der Konfuzianismus sehr praktisch und politisch orientiert ist. Der Konfuzianismus war deshalb in China fast durchgehend Staatsdoktrin. Trotzdem hat der Daoismus den Konfuzianismus immer sehr beeinflusst. SPRECHER Man könnte also den Daoismus als diejenige geistig-kulturelle Strömung bezeichnen, die am authentischsten für China ist und am wenigsten anderskulturelle Quellen aufweist, wobei trotz ihrer programmatischen Weltabgewandtheit auch eine Einflussnahme auf Politik und praktische Philosophie zu verspüren ist. SPRECHERIN Die Verbindung von Daoismus und praktischer Ethik erschließt sich schon beim ersten Lesen des 'Tao-te-King' – man bekommt den Eindruck, dass es hier um eine 'besonnene Mäßigkeit' geht, um eine Flucht vor Extremen, was wiederum nicht nur als Verhaltensanweisung zu verstehen ist, sondern viel über die Vorstellungen des Kosmos aussagt: ZITATOR Etwas festhalten wollen und dabei es überfüllen: das lohnt der Mühe nicht. Etwas handhaben wollen und dabei es immer scharf halten: das lässt sich nicht lange bewahren. Einen mit Gold und Edelsteinen gefüllten Saal kann niemand beschützen. Reich und vornehm und dazu hochmütig sein: das zieht von selbst das Unglück herbei. Ist das Werk vollbracht, dann sich zurückziehen: das ist des Himmels Sinn. SPRECHER Ist der Daoismus nun eine Religion, eine Philosophie, ein ethisches System, oder all das? O-TON 3 Der frühe Daoismus hat eher philosophische Züge und wird deshalb oft auch „philosophischer Daoismus“ genannt, später ab etwa dem 1./2. Jahrhundert nach Christus nahm er eher religiöse Besonderheiten an und viele nennen ihn deshalb religiösen Daoismus“, wobei dieser religiöse Daoismus jedoch weiterhin mit philosophische Elemente besitzt; aus diesem religiösen Daoismus entwickelten sich später Ideen zur Unsterblichkeitswerdung Das ging im Mittelalter soweit, dass man mit alchemischen Methoden versuchte, , Unsterblichkeitspillen herzustellen ; später wurden aus diesen religiösen Daoismus dann eine moderne Kulturform, die sich zum Beispiel zeigt in Atemtechniken, zum Beispiel dem Qigong, auch die chinesische Medizin ist da spürbar beeinflusst. Und das geht bis hin zu den Kampfkünsten. SPRECHER Der zentrale Begriff des Daoismus und zugleich sein Namensgeber ist das 'Dao', übersetzt der 'Weg', oder auch, in der Übersetzung von Richard Wilhelm, der 'Sinn'. Sinologen – Chinaforscher – halten den Begriff 'Dao' aber für unübersetzbar, da er zu tief in der chinesischen Philosophie verankert ist und für westliche Leser zu viele Assoziationen weckt, die nicht mit seinem ursprünglichen Sinn zu vereinen sind.

3 ZITATOR Das Dao ist aller Dinge Heimat, der guten Menschen Schatz, der nichtguten Menschen Schutz. O-TON 4 Der 'Weg' im Daoismus (auf Chinesisch genannt 'Dao' oder Tao ist das zentrale Konzept überhaupt, deswegen auch die Bezeichnung 'Daoismus'. Nach Laotse ist das Dao sehr schwer zu beschreiben. Es ist wohl aber so eine Art Naturgesetz, welches alle Dinge lenkt und gemäß dem sich alle Dinge wandeln. Wir Menschen sollten diesem natürlichen Dao dann folgen. Also nicht 'der Weg zu Gott' oder sonst irgendwo hin, sondern 'der Weg an sich'. Und man sieht, dass es im Daoismus nicht um einen Weg irgendwohin geht, zum Beispiel zu einem Weg zu Gott, sondern um einen Weg an sich. Das Dao. Das angebliche chinesische Sprichwort 'Der Weg ist das Ziel' findet sich wörtlich übrigens nicht in traditionellen chinesischen Quellen. Bei Laotse finden wir aber eine ähnliche Formulierung: Laozi sagt nur 'Eine Reise von 1.000 Meilen beginnt unter meinen Füßen' , das heißt mit einem Schritt. SPRECHER Das widerspricht so manchem Vorurteil. Viele Menschen in Deutschland glauben doch, der Sinnspruch 'Der Weg ist das Ziel' sei typisch für den Daoismus oder für fernöstliche Weisheitslehren im Allgemeinen, auch für Zen - dabei kommt er im Tao-te-King gar nicht vor. Es handelt sich also bei dem Dao um einen sehr komplexen Begriff, der gleichsam die Essenz eines Lebenden meint und keinesfalls mit der Verwendung im deutschen Sprachgebrauch identisch ist – der Weg als Strecke, als Zielführung. SPRECHERIN Der Weg ist, das Dao ist. Vielleicht möchte dieser Begriff andeuten, dass alles schon seine Vollendung in sich trägt – die man nicht erst suchen muss. Und womöglich erklärt genau dieser philosophische Grundgedanke, der zu einer Lebenshaltung werden kann, weshalb viele Europäer im Leben so getrieben sind und viele Asiaten die Gelassenheit leichter praktizieren können: ZITATOR Das Dao erzeugt. Das Leben nährt. Die Umgebung gestaltet. Die Einflüsse vollenden. Darum ehren alle Wesen das Dao und schätzen das Leben. Das Dao wird geehrt, das Leben wird geschätzt ohne äußere Ernennung, ganz von selbst. Also: das Dao erzeugt, das Leben nährt, lässt wachsen, pflegt, vollendet, hält, bedeckt und schirmt. SPRECHER Die Ursprünge des Tao-te-King verlieren sich im Dunkel der Geschichte, auch ist der Autor nicht mit Sicherheit feststellbar. Was wissen wir heute wirklich über Lao-Tse, den Sagen umwobenen Gelehrten, dem das Tao-te-King zugeschrieben wird? O-TON 5 Verschiedene Quellen, die etwa um 100 v. Chr. verfasst worden sind, stellen ihn als Lehrer von Konfuzius dar, wenn das stimmt, dann hätte er etwa im 6. Jh. gelebt; diese Belege sind aber sehr zweifelhaft. 'Lao-tse' ist eigentlich kein Name, sondern heißt 'Alter Meister'; deswegen kann es sein, dass verschiedene Weisheiten, die irgendwann mal irgendein 'alter Meister' geäußert hat, später dann einer konstruierten historischen Person namens 'Lao-Tse' zugeordnet wurden. SPRECHERIN Im Fall Lao-Tse sind die geschichtlichen Quellen nicht eindeutig; zwar scheint es eine Person mit dem Ehrentitel 'Lao-Tse' gegeben zu haben, der Kontakt mit Konfuzius nachgesagt wurde, doch das 6. Jahrhundert war von Grenzunruhen und Feudalfehden in China bestimmt, so dass Daten von Personen gerade aus dieser unruhigen Zeit

4 schwerlich einzuordnen sind. Selbst wenn es die Person Lao-Tse, so wie es die chinesische Legende will, tatsächlich gegeben hat, bliebe umstritten, ob wirklich alle Zitate, die ihr im 'Tao-te-King' zugesprochen werden, auch wirklich von ihr stammen. SPRECHER Letztendlich ist aber die Frage, ob es den Lehrmeister Lao-Tse in der Art, wie die Legende von ihm berichtet als Dozent von Konfuzius, wirklich gegeben hat, von nachrangiger Bedeutung für die eigentlich zeitlos gültigen Aussagen des Tao-te-king. Zur Geschichte und Herkunft des Tao-te-King wurde viel geforscht - Christian Soffel, Professor für Sinologie an der Universität Trier: O-TON 6 Es gibt sehr gute Textquellen, wir haben etliche Originalmanuskripte, zum Beispiel ein Fragment aus dem 3. Jh. v. Chr.; sogar ein vollständiges Manuskript von ca. 190 v. Chr.,das sehr kurze Kapitel enthält, welche in zwei Teile aufgeteilt werden. Der erste Teil geht über das Dao, den Weg, und der zweite Teil über das De, die Tugendkraft. Wegen seiner inhaltlichen Attraktivität und wohl auch wegen seiner Kürze ist das Tao-te-King der am häufigsten übersetzte chinesische Text überhaupt. Und in der daoistischen Tradition wird er als ein heiliges Buch verehrt. SPRECHERIN Auch und gerade wenn dieser Text häufig übersetzt wurde, gibt es Streit um Worte. Die zentralen Begriffe des Tao-te-King sind natürlich das Dao und das De. Man könnte diese Begriffe mit 'Weg' und 'Tugend' übersetzen, doch wie bereits gesagt, beinhaltet der Begriff Dao viel mehr als der deutsche Begriff Weg oder Strecke, auch mehr als den mystischen Weg zu Gott, und meint eher 'natürliches Weltgesetz' oder 'Naturnotwendigkeit'. Der Begriff 'De' hingegen wurde vom deutschen Übersetzer Richard Wilhelm als 'Leben' tradiert, da er den Begriff der Tugend zu moralisierend fand. Das Tao-te-King heißt also entweder 'Buch vom Weg und von der Tugend' oder 'Buch vom Sinn und vom Leben', was zwei unterschiedliche Perspektiven eröffnet. Tatsächlich gibt es viele moralische Aussagen im Tao-te-King, oder es findet eine Verbindung von kosmologischer Spekulation – wie ist überhaupt alles entstanden? – und ethischer Nutzanwendung – wie soll ich mich verhalten? – statt. ZITATOR Wenn auf Erden alle das Schöne als schön erkennen, so ist dadurch schon das Hässliche gesetzt. Wenn auf Erden alle das Gute als gut erkennen, so ist dadurch schon das Nichtgute gesetzt. Denn Sein und Nichtsein erzeugen einander. Schwer und Leicht vollenden einander. Lang und Kurz gestalten einander. Hoch und Tief verkehren einander. SPRECHER Was sind, kurz zusammengefasst, die philosophischen Hauptlehren des Tao-te-King, und inwiefern könnten sie auch für Europäer orientierend sein? O-TON 7 Zentral ist der „Weg“ (chinesische Dao/Tao), der nicht mit Worten beschrieben werden kann So steht es wörtlich am Anfang des Buches Tao-te-King). Es gibt noch weitere Grundüberzeugungen, die das Tao-te-King durchdringen, z.B. dass positive Begriffe das Gegenteil erzeugen – spricht man von „schön“, dann ergibt sich automatisch, dass es auch etwas Hässliches geben muss. Ein weiteres häufig auftretendes Denkmuster sind scheinbare Gegensätze, dass zum Beispiel das Weiche das Harte bezwingt. Praktisch bedeutet das, dass wir durch Nichttun handeln sollen. Das ist auch so ein häufiger Widerspruch. Interessanterweise finden wir

5 im Tao-te-King sogar eine kleine Schöpfungsgeschichte. Es heißt, dass aus dem Dao das Eins wird, aus der Eins die Zwei, und das führt schließlich zu den zehntausend Dingen. Es mag einen vielleicht überraschen, dass es im Tao-te-King nicht so sehr um persönliche Tugenden geht, sondern offenbar um die korrekte Staatsführung. Es ist ein Buch, welches Anweisungen gibt an den idealen Herrscher. SPRECHERIN Aus dem Begriff des Dao entwickelt sich also eine Kosmologie, eine Vorstellung über die Entstehung der Welt. Das Dao wird hier als kosmisches Prinzip angesehen, als Lebensgesetz, aus dem das erste Gegensatzpaar – yin und yang, nachgiebig und hart, weiblich und männlich – entstanden ist, und aus diesem ersten Gegensatzpaar alle anderen uns bekannten Erscheinungen. Interessant ist, dass diese Kosmologie sich weit verzweigt und bis in Ideen der Staatsführung hineinreicht, wobei ein humanistischer Staat mit Wohlstand und Frieden gefordert wird. Harmonie scheint ein Zentralbegriff zu sein, der oberhalb von kurzfristigen realpolitischen Erwägungen steht: Grundidee des Daoismus ist es, das Lebensgesetz zu respektieren. ZITATOR Das Dao erzeugt die Eins. Die Eins erzeugt die Zwei. Die Zwei erzeugt die Drei. Die Drei erzeugt alle Dinge. Alle Dinge haben im Rücken das Dunkle und streben nach dem Licht, und die strömende Kraft gibt ihnen Harmonie. SPRECHER Frühe Übersetzungen des Tao-te-King waren – ähnlich wie das Orakel I Ging – bis zum ersten Drittel des 20. Jahrhunderts vorrangig professionellen Sinologen vorbehalten, also Gegenstand einer innerakademischen Diskussion, an der die Allgemeinheit kaum teilhatte. Zwischen den beiden Weltkriegen wurde die Suche nach spiritueller Orientierung jedoch auch in der Allgemeinbevölkerung stärker und durch die wachsende Beliebtheit asiatischer Sinnsysteme wie Buddhismus und Konfuzianismus wurde auch der Daoismus im Westen bekannter. Einen richtigen Durchbruch in seiner Popularität erzielte die daoistische Lehre jedoch hierzulande erst im Zuge der 1968er Bewegung, vor allem durch die einflussreichen Werke des englischen Religionsphilosophen Alan Watts, der den Daoismus als Alternative für Europäer erkannte und im Zusammenhang mit dem Zen-Buddhismus propagierte. SPRECHERIN Welche daoistischen Praktiken gibt es, die uns heute im Westen faszinieren? O-TON 8 Aus dem Daoismus sind gleich mehrere Praktiken entstanden, die uns heute auch im Westen häufig begeistern. Wir haben zum Beispiel das Quigong, das ist eine Form von Atemtechnik, in der die Energie oder Luft eine große Rolle spielt. Dann die chinesische Medizin. Und es geht sogar hin zu den Kampfkünsten, die oftmals auf der daoistischen Philosophie beruhen. SPRECHER Was den Daoismus einzigartig macht, ist neben seinem Hauptwerk Tao-te-King auch seine reiche Betätigungskultur. Die Lehre vom Dao, diesem unübersetzbaren Begriff vom Naturprinzip, durchdringt als philosophisch-religiöse Essenz viele durchaus profan erscheinende Bereiche – wer weiß schon, dass sein Kampfkunstkurs im Sportstudio um die Ecke eigentlich auf hochkomplexen Spekulationen über die Entstehung des Weltalls basiert, dass sein Gang zum 'angesagten' Akupunkteur des Viertels eigentlich auf einem spirituellen Konzept von Lebenskraft gründet, das in den ältesten Quellen der chinesischen Kultur beschrieben wird? SPRECHERIN Wie einflussreich ist der Daoismus heute, im heutigen China, und woran bemerkt man den Einfluss?

6 O-TON 9 Zur Zeit gibt es eine Wiederbelebung der traditionellen Kultur, schon seit einigen Jahrzehnten Der Daoismus ist stark im Volksglauben verankert. Man sieht das an Tempeln, an Zeremonien, die durchgeführt werden, bis hin zu Versuchen in Wahrsagerei. Im quantitativen Vergleich ist der Daoismus im Verhältnis zum Konfuzianismus oder Buddhismus jedoch etwas weniger bedeutend. Für den Daoismus als Ganzes gilt dasselbe wie auch beim Yijing: das aus den daoistischen Quellen eine reichhaltige Ratgeber-Literatur entstanden ist, die auch der chinesischen Öffentlichkeit Möglichkeiten bieten will zur persönlichen Orientierung und zur Lebenshilfe. SPRECHER Während der Kulturrevolution von 1966-1976 unter Mao Zedong wurde verstärkt die marxistische Philosophie in China gelehrt und die eigentlich chinesischen Klassiker – LaoTse, Konfuzius, und viele andere – wurden aus den Buchhandlungen verdrängt. Seit etwa 30 Jahren gibt es jedoch, erst zögerlich, dann immer intensiver, einen Wiederaufgriff chinesischer Traditionen und der mit ihnen einhergehenden Philosophie, was auch zu einer Renaissance des Daoismus geführt hat. SPRECHERIN Es soll heute über 70 Millionen Daoisten in der Volksrepublik China, in Korea, Malaysia und Taiwan geben, doch die Schätzungen sind nicht sicher, zumal der Daoismus als gelebte Praxis weniger in der Öffentlichkeit in Erscheinung tritt als etwa Buddhismus und Konfuzianismus. Manche glauben, der Daoismus stelle eine Art historisches Reservoir dar, in dem Ansätze der ältesten chinesischen Philosophie archiviert sind – vergleichbar vielleicht mit der Philosophie der Antike in Europa, die unsere moderne Gesellschaft zwar inspiriert hat, heute jedoch eine untergeordnete Rolle spielt. Offen bleibt die Frage, ob die daoistische Tradition, so wie sie seit Jahrtausenden besteht, am Leben bleibt und welchen Einfluss der Daoismus zukünftig auf die sich rasant entwickelnden Millionenstädte in Asien haben wird. ZITATOR Meine Worte sind sehr leicht zu verstehen, sehr leicht auszuführen. Aber niemand auf Erden kann sie verstehen, kann sie ausführen. Die Worte haben einen Ahn. Die Taten haben einen Herrn. Weil man die nicht versteht, versteht man mich nicht. Eben dass ich so selten verstanden werde, darauf beruht mein Wert. Darum geht der Berufene im härenen Gewande; aber im Busen birgt er ein Juwel. SPRECHER „Leicht zu verstehen und leicht auszuführen“, wie der Autor des Klassikers meint, sind die vielfältigen Lehren des Dao, die dem Sagen umwobenen Gelehrten Lao-Tse in den 81 Kapiteln seines über zweitausend Jahre Buches zugeschrieben werden. sicher nicht immer. In diesen Worten schwingt eine verdeckte Bedeutung mit, die vielen eher mystischen Texten eigen ist. „Die Worte haben einen Ahn“ bedeutet, dass ein Weisheitsspruch nicht nach dem Buchstaben, sondern nach dem Sinn zu deuten ist. Dies gilt in ähnlicher Art für alle so genannten hermeneutischen Texte – Texte, deren Verständnis ein Vorwissen erfordert. Und so bleibt auch das Tao-te-King als Hauptbuch des Daoismus ein offenes Geheimnis, das an der Oberfläche zwar von Vielen, in seiner Tiefendimension aber nur von Wenigen erfasst wird. SPRECHERIN Der Daoismus wird mitunter poetisch als „die Seele Chinas“ bezeichnet – doch seine philosophischen und spirituellen Aussagen über das tugendhafte Leben sind nicht spezifisch chinesisch, sondern können auch interkulturell geltend gemacht werden. Das Dao gilt als Ursprung, Wandlungsform und Ziel allen Seins. Die Wandlung auch seiner Rezeption in China und im Westen bleibt seine Beständigkeit. - Ende -