2.2012

Leben und leben lassen

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Es lebe der Unterschied! Ein Plädoyer für die Vielfalt

Das kfm-Positionspapier zum Thema Homosexualität Spannung kann auch Gutes bewirken

Ich bin schwul Betroffene berichten und kommen zu unterschiedlichen Konsequenzen

Editorial & Inhaltsverzeichnis

kfm-Positionslicht

Liebe Leserinnen und Leser,

Leben und leben lassen

ein schon lange umstrittenes, aber zuvor eher auf Sparflamme diskutiertes Thema hat in den letzten Monaten für viel Diskussionsstoff gesorgt. Die Verhandlungen über die Übernahme des 2010 neu beschlossenen Pfarrerdienstgesetzes in den Rechtsraum der württembergischen Landeskirche gerieten zu einer Auseinandersetzung vor allem um das Thema der Homosexualität: Dürfen homosexuell empfindende Pfarrerinnen und Pfarrer mit ihren gleichgeschlechtlichen Partner/innen im Pfarrhaus wohnen?

Unterschiedlichkeiten wahrnehmen und aushalten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 3

Auch uns von Kirche für morgen hat dieses Thema stark in Beschlag genommen. Es gab vielerlei Diskussionen, ein von kfm verabschiedetes Positionspapier zu dieser Frage (siehe gegenüberliegende Seite), und nun gibt es eine Zitronenfalter-Ausgabe rund um das Thema Lebensformen. Unser Ziel ist es, in dieser Frage den Blick zu weiten hin zu grundsätzlichen Fragen nach Vielfalt und Einheit in der Christenheit. Bei der Frage des Umgangs mit dem Thema Homosexualität war es uns wichtig, einen Bibelwissenschaftler zu Wort kommen zu lassen. Auch wer die theologischen Entscheidungen Prof. Marco Frenschkowskis nicht vollständig mittragen kann, wird in seinem Artikel manche erhellenden Informationen finden (S.4ff). Weil wir der Meinung sind, dass eine unterschiedliche Beurteilung zur Frage praktizierter Homosexualität nicht zu Trennungen führen muss und darf, lassen wir Vertreter beider Positionen zu Wort kommen. Auch homosexuell empfindende Mitchristen aus beiden Richtungen äußern sich in unserem Heft. Wichtig im Gespräch mit den verschiedenen Richtungen bleibt – darüber sind wir uns einig – dass alle in den Blick genommenen Paarbeziehungen durch gegenseitige Treue gekennzeichnet sind. So hoffen wir, Spannendes und Klärendes zu diesem Thema beitragen zu können. Und wir wünschen uns von Herzen, dass diejenigen, die unter uns Ausgrenzungen erlebt haben, immer selbstverständlicher die gleiche Wertschätzung erfahren, die uns allen von Gott entgegenkommt.

Kfm-Position zum Umgang mit Homosexualität

Homosexualität: Der Beitrag der Exegese

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Prof. Marco Frenschkowski, Leipzig

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Lieb haben kommt vor Recht haben! . . . . . . . . Seite 7 Konsequenzen aus der kfm-Position zum Thema

Als schwules Paar im Pfarrhaus . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 8 Ein Bericht aus Österreich

„Ich will enthaltsam leben!“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 9 Gedanken eines homosexuell Empfindenden

Pro & Contra: Praktizierte Homosexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 10 Allein – zu zweit – mit vielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 12 Eine Odyssee durch verschiedene Lebensformen

Kann Kirche rocken? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 14 Elisabethengemeinde Basel – eine offene Citykirche

Es lebe der Unterschied! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 15 Ein Plädoyer für die Vielfalt

Vielfalt der Lebensformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 16 Berichte von Christ/innen aus ganz unterschiedlichen Lebenssituationen

Kfm-intern Verantwortungen in der Kirche besser verteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 19 Bericht aus der Synodalarbeit

Zu guter Letzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 20 Impressum Der Zitronenfalter wird herausgegeben von Kirche für morgen e.V., Am Auchtberg 1, 72202 Nagold Fon: (0700) 36 69 36 69, Fax: (07071) 959 35 60 [email protected], www.kirchefuermorgen.de Erscheinungsweise: 3 x jährlich. Bestellung (auch weitere Exemplare) bei der Geschäftsstelle. Die Zusendung ist kostenlos. Bankverbindung: EKK Stuttgart, BLZ 520 604 10, Konto 419 435 Wir danken allen, die durch ihre Spende die kostenlose Weitergabe des Zitronenfalters ermöglichen. Redaktionsteam: Marc Stippich, Steinenbronn (ViSdP); Claudia Bieneck, Malmsheim; Pina Gräber-Haag, Gronau; Markus Haag, Gronau; Tabea Hieber, Markgröningen; Dr. Heiko Hörnicke, Stuttgart; Thomas Hoffmann-Dieterich, Haigerloch; Werner Lindner, Winnenden; Helmut Maile, Fellbach; Gerhard Müller, Sigmaringen; Johannes Stahl, Göppingen; Karlfriedrich Schaller, Tübingen; Holger Weiss, Göppingen. Layout: AlberDESIGN, Filderstadt Druck: Druck + Medien Zipperlen GmbH, Dornstadt Versand: Tobias und Magdalene Zipperlen, Weissach

Marc Stippich, Redaktionsleiter des Zitronenfalter

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Redaktionsadresse: [email protected] und über die Geschäftsstelle Anzeigenpreise: [email protected], FAX: 07195-979759 Anzeigenschluss für die nächste Nummer: 19. 10. 2012 Bildnachweis Titel: ©misterQM/photocase.com

Unterschiedlichkeiten wahrnehmen und aushalten In einem längeren Prozess haben wir uns bei Kirche für morgen mit dem Thema Homosexualität beschäftigt. Wir hatten einen runden Tisch mit Betroffenen aus unterschiedlichen Perspektiven und Lebensweisen. Es gab ausführliche Diskussionen und Gespräche zwischen Synodalen und Leitungskreismitgliedern. Aus diesen Gesprächen ist folgende Position zum Umgang mit Homosexualität entstanden:  Es gibt bei Kirche für morgen zum Umgang mit gelebter Homosexualität unterschiedliche Positionen. Es gibt sowohl Menschen, die gelebte Homosexualität aufgrund des Zeugnisses der Heiligen Schrift ablehnen, als auch welche, die dies aufgrund des biblischen Zeugnisses für möglich halten.  Die Position zum Thema Homosexualität ist bei Kirche für morgen nicht Status confessionis, d.h. wir verstehen dies als eine ethische Fragestellung, bei der Christen in unserer Kirche und bei Kirche für morgen zu unterschiedlichen Positionen kommen können, obwohl wir uns zu dem gleichen Herrn bekennen.  Wir anerkennen wechselseitig, dass die jeweils andere Position ihre Entscheidung in dieser Frage im ernsthaften Ringen mit der Heiligen Schrift theologisch verantwortlich getroffen hat und akzeptieren uns deshalb als Geschwister auch mit unterschiedlichen Erkenntnissen in dieser Frage.  Wir leiden einerseits darunter, dass wir keine gemeinsame Position finden konnten, gleichzeitig sehen wir es als Chance für unsere Landeskirche. Die Aufgabe der Zukunft für unsere Kirche wird nämlich sein – ähnlich wie bei der Frage des Essens von Götzenopferfleisch in der ersten Christenheit – hier die Unterschiedlichkeit auszuhalten und einen Weg zu finden, der unterschiedliche Positionen toleriert, sodass dadurch die Einheit der Gemeinde gewahrt bleibt.  Wir nehmen wahr, dass es Menschen in unserer Kirche gibt, die sich wünschen auch mit ihrer gelebten Homosexualität in der Kirche akzeptiert und geachtet zu sein, egal ob sie Haupt- oder Ehrenamtliche, Pfarrer/innen oder anders Angestellte in unserer Landeskirche sind. Wir nehmen auch wahr, dass es in unserer Kirche Menschen gibt, die unter ihrer Homosexualität leiden und

sich eine Veränderung ihrer Prägung wünschen oder Veränderung erfahren haben. Beiden wollen wir den Raum für kompetente seelsorgerliche Beratung eröffnen. Wir unterstützen deshalb, dass z.B. Gruppen wie Wüstenstrom e.V. und Zwischenraum e.V. als Beratungsangebote im Handbuch für Kirchengemeinderäte genannt werden.  Kirche für morgen hat sich schon immer für die Eigenverantwortung von Gemeinden stark gemacht. Deshalb sind wir auch dafür, dass jede Gemeinde die freie Entscheidung über ein Pro oder Contra zu einem schwulen Pfarrer/ einer lesbischen Pfarrerin in ihrem Pfarrhaus haben kann.  Eine homosexuelle Partnerschaft kann nicht gleichgesetzt werden mit der Ehe von Mann und Frau, die in der Bibel als Schöpfungsordnung bezeugt wird. Wenn es eine Segnung von Homosexuellen geben sollte, dann ist sie nicht dasselbe wie eine kirchliche Trauung.  Wir gehen bei einem homosexuellen Paar auch von einem gegenseitigen Treueversprechen mit Verantwortungsübernahme aus. Eine öffentlich ausgesprochene Verbindlichkeit (eingetragene Lebenspartnerschaft) zu Treue und Verantwortlichkeit muss bei homo- und heterosexuellen Partnerschaften vorliegen.  Wir lehnen jegliche kämpferische Intoleranz ab – sowohl mancher Schwulenund Lesbenverbände als auch mancher vermeintlich "rechtgläubiger Scharfmacher".  Wir sind uns bewusst, dass wir – insbesondere auch in Fragen der Sexualität – der Gnade Gottes bedürfen und unser Wissen – auch in dieser Frage – Stückwerk ist. Wir leben von der Vergebung.

Jede Gemeinde soll die freie Entscheidung über ein Pro oder Contra zu einem schwulen Pfarrer oder einer lesbischen Pfarrerin in ihrem Pfarrhaus haben können.

Wir lehnen jegliche kämpferische Intoleranz ab.

Vom Leitungskreis in seiner Sitzung am 21.1.2012 beschlossen, auf der Mitgliederversammlung am 25.2.2012 mit großer Mehrheit verabschiedet.

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Homosexualität – Der Beitrag der Exegese Gerade wer die biblischen Texte in ihrer Umwelt ernst nimmt, kann nicht einfach alles nachsprechen. Für Marco Frenschkowski hilft Exegese (die Kunst des genauen Lesens) auch bei den Fragen um das Thema „Homosexualität“, Kurzschlüssigkeiten zu vermeiden und zu differenzierten Urteilen zu kommen.

Blickt man sich in den christlichen Kirchen zu diesem Thema um, begegnen immer wieder zwei Stimmen. Die erste Stimme sagt: „Die Bibel ist gegen Homosexualität. Also sind Christen auch dagegen….“ Die andere Stimme: „Homosexualität ist eine normale, gleichwertige Form der Liebe. Die biblischen Aussagen entstammen einem fernen kulturellen Kontext und können für die Gegenwart nicht relevant sein.“ Ja, wenn das Leben so einfach wäre wie diese beiden Positionen… Die exegetischen Wissenschaften können zu diesen Fragen insofern beitragen, als sie helfen, die biblischen Texte präzise wahrzunehmen und nicht zu karikieren.

1. Alttestamentliches zur Sache

... ein archaisches Tabusystem, welches wir nicht einfach in die Gegenwart übertragen können.

Den alttestamentlichen Standpunkt zum Thema vertritt heute ausnahmslos niemand. Manche Christen denken vielleicht, mit einer Skepsis gegenüber der homosexuellen Szene und gegen die neueren gesellschaftlichen Umwertungen einfach eine traditionelle biblische Position fortsetzen zu können. Homosexualität sei entweder „Krankheit“ oder „Sünde“, und entsprechend sei ihr freundlich mit Therapie oder mit Seelsorge zu begegnen. Die alttestamentlichen Passagen Lev. 20, 1–22 (auch 18, 1–24) jedoch sehen in ihr ein todeswürdiges Vergehen. Das ist etwas ganz anderes, und niemand in der christlichen Szene heute vertritt diese Position.

Tabu und archaisches Recht Wie aber konnte es in einer (begrenzten) Schicht alttestamentlicher Gesetzestexte zu einer solchen Auffassung kommen? Im Kontext einer massiven Abwehr heidnischer Kulte und ihrer religiösen

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Praxis (etwa des Kinderopfers und der Wahrsagung) wird auch bestimmten sexuellen Delikten der Tod angedroht, so dem Inzest, der Homosexualität und dem geschlechtlichen Umgang mit Tieren. Homosexualität gilt in diesem altorientalischen Rechtssystem als ein Vergehen gegen die kultische Reinheit des Landes. Wie altertümlich das Rechtsempfinden in diesen Texten ist, sehen wir daran, dass im Fall der Zoophilie, also des sexuellen Kontaktes mit einem Tier (in der bäuerlichen Welt nicht gar so absurd, wie es auf uns wirkt), auch das Tier hingerichtet wird. Direkt neben der Homosexualität kommt der Umgang mit einer Frau während ihrer Menstruation zur Sprache: Beide gelten als „Gräuel“. Wir merken sofort, dass wir es hier mit einem archaischen Tabusystem zu tun haben, welches wir völlig selbstverständlich nicht einfach in die Gegenwart übertragen können. Wer heute sagen möchte, dass Homosexualität für Gott etwas Scheußliches sei, muss das Gleiche vom körperlichen Kontakt mit der menstruierenden Frau sagen – denn das steht zwei Verse weiter. Wir merken: so kann es nicht gehen. Die archaische Rechtsposition des alttestamentlichen Buches Leviticus vertritt heute niemand.

Kein Gesetzbuch für die Gegenwart Freilich handelt nach christlicher Überzeugung Gott auch in den damaligen rechtlichen Vorgängen – nämlich durch die humanisierende Bewegung, die in diesem Rechtssystem insgesamt geschieht. So wird etwa die Blutrache im Alten Testament nicht verboten – das hätte niemand verstehen können – aber sie wird begrenzt: Auge um Auge, Zahn und Zahn. Ähnliches geschieht in den diversen Sexualgesetzen. Sie sind durchdrungen von einem Pathos der Unterscheidung, das sich primär auf alles richtet, was mit „Götzen“ zu tun hat.

Mit dieser Einsicht in den antiken kulturellen Kontext wird das Alte Testament nicht etwa gleichgültig. Es ist Dokument zentraler, humanisierender Gotteserfahrungen Israels. Aber es ist kein Gesetzbuch für die Gegenwart, wie das für andere Bereiche des alttestamentlichen Rechtes wie die Sklaverei auch gilt.

2. Homosexualität im Neuen Testament Wir kennen zwar keine Worte Jesu zum Thema, aber das nicht minder extreme Tabu der Menstruation hat er bekanntlich programmatisch durchbrochen (Geschichte von der „blutflüssigen Frau“, Mk. 5). Der wichtigste neutestamentliche Text zur Sache steht Röm. 1, 18–32. Homosexualität ist hier „gegen die Natur“ (griech. physis). Paulus sieht Homosexualität dabei nicht etwa als individuelle Sünde, sondern als Symptom einer gefallenen Welt. Weil Menschen falsche Götter verehren, habe Gott sie dahingegeben, Unnatürliches zu tun. Dazu sucht er ein Beispiel, und dabei fällt ihm die Homosexualität ein, die in seiner griechisch-hellenistischen Umwelt weithin toleriert, aber im Judentum abgelehnt wird. Homosexualität sei eine Verfallserscheinung, weil nicht nach der Natur. Mit diesem Beispiel hat er sachlich unrecht, wie wir sehr deutlich sagen müssen – ohne dass seine Hauptaussage dabei Schaden leidet.

Natur oder Kultur? Mittlerweile wissen wir vieles über Homosexualität in der Natur (bei vielen Arten ist sie verbreiteter als beim Menschen) und auch über ihre Biologie (z. B. sind jüngere Geschwister signifikant häufiger homosexuell als ältere, auch wenn sie getrennt aufwachsen, und Weibchen in Populationen mit relativ vielen homosexuellen Männchen sind fruchtbarer, bekommen also mehr Kinder). Paulus argumentiert ähnlich auch 1. Kor. 11, 14 mit der „Natur“: Er hält es für „unnatürlich“, wenn eine Frau kurze oder ein Mann längere Haare hat. Paulus weiß ein bestimmtes Faktum nicht: Haarmoden sind keine Sache der Natur, sondern der Kultur. Für ihn ist das, was er aus seiner jüdischen Erziehung kennt, die Norm, das Natürliche.

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Lieb haben kommt vor Recht haben! Was die differenzierte Position von Kirche für morgen zum Umgang mit gelebter Homosexualität in Kirche und Gemeinden bedeutet, beschreibt Friedemann Stöffler, Vorsitzender von Kirche für morgen.

Auch für die neutestamentlichen Aussagen gilt,

Für Paulus ist es „unnatürlich“, wenn eine Frau kurze Haare hat – und ebenso ist es die Homosexualität. In beiden Fällen hat er sachlich unrecht. Um Offenbarung oder Evangelium geht es in beiden Fällen nicht, nur um unglücklich gewählte Beispiele.

Christinnen und Christen entwickeln heute selbst eine Ethik der Verantwortlichkeit im Rahmen ihrer vorgegebenen sexuellen Orientierung.

Bei Paulus und in der Paulusschule kommt das Thema außerdem noch 1. Kor. 6, 9 und 1. Tim. 1, 10 in den Blick; aber da geht es um Päderastie, genauer die in der griechischen Welt oft eigenartig verklärte Beziehung eines erwachsenen Mannes zu einem heranwachsenden Knaben.

Moderne bedeutet Diversifikation. Vor 200 Jahren gab es einige Dutzende Berufe. Heute sind es Tausende. Es ist ein anthropologisches Faktum der Moderne, dass auch Sexualität und Genderorientierung sich differenzieren. In Wahrheit gibt es viele Geschlechter, und bei Lichte besehen war es immer schon so.

dass wir sie Ethik der Verantwortlichkeit ernstnehmen, Auch für die neutestamentlichen Aussaauch wenn wir sie nicht einfach nachsprechen,

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Wir wissen heute mehr über die Biologie und Kultur von Geschlechtsrollen bzw. Gender als die Antike, und damit muss auch die ethische Frage neu geprüft werden.

gen gilt, dass wir sie ernstnehmen, auch wenn wir sie nicht einfach nachsprechen, sondern an ihrem argumentativen Ort betrachten. Hilfreich ist wieder der Vergleich mit der Sklaverei, die das Neue Testament ungebrochen voraussetzt. Erst im 18. und 19. Jhdt. haben Christen verstanden, dass die Sklaverei zwar in der Antike die Regel, aber doch mit dem Geist des Evangeliums nicht vereinbar ist. Ähnlich ist die Tabuisierung und Diffamierung der Homosexualität ein Aspekt antiker jüdischer und christlicher Kultur. Wir wissen aber mehr über die Biologie und Kultur von Geschlechtsrollen bzw. Gender als die Antike, und damit muss auch die ethische Frage neu geprüft werden. Homosexuelle

3. Und die Zukunft?

Und als Christinnen und Christen? Vor hundertfünfzig Jahren wurde amerikanischen Christen bewusst, dass Sklaverei zwar mit dem Buchstaben, aber nicht mit dem Geist des Evangeliums vereinbar ist. Für Aristoteles war auch die Trennung in Sklaven und Freie einst eine Sache der „Natur“. Hier haben wir dazugelernt. So wird es sich wohl auch in Sachen Homosexualität ergeben.

Prof. Dr. Marco Frenschkowski ist Theologe und Religionswissenschaftler und z. Zt. Direktor des Institutes für Neues Testament an der Universität Leipzig. Er war viele Jahre Pfarrer der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau.

Es gibt Fragen – und dazu gehört für uns bei Kirche für morgen die Frage der gelebten Homosexualität – da werden wir uns nicht einig werden, solange wir auch beten, diskutieren, gemeinsam Bibeltexte lesen und interpretieren. Viel lieber wäre es uns, wir fänden eine gemeinsame Position und sagen: Das ist es, so will es Gott! Jede und jeder von uns hat eine Position zur gelebten Homosexualität, aber in einem offenen, schmerzhaften Prozess mussten wir anerkennen, dass wir dazu keine gemeinsame Haltung finden konnten, der alle zustimmen.

Toleranz der Unterschiedlichkeit Aber genau da könnte die Stärke der Position von Kirche für morgen liegen. Es gibt auch innerhalb der synodalen Gesprächskreise und in den Gemeinden vor Ort jeweils unterschiedliche Haltungen zu diesem bedrängenden und menschlich so existenziell vorhandenen Problem. Von manchen wird dies dann totgeschwiegen, weil nicht sein kann, was nicht sein darf – und Menschen werden gezwungen, ihre Lebensweise zu vertuschen oder zu verheimlichen. Unser Versuch besteht darin, genau dies zur Sprache zu bringen. Wir verurteilen uns nicht gegenseitig auf der einen Seite als Fundamentalisten, gesetzlich und engstirnig – und auf der anderen Seite als „liberal“, unbiblisch, gar unchristlich, sondern wir tolerieren uns in aller Unterschiedlichkeit (vgl. Römer 3, 20: „Durch das Halten des Gesetzes wird niemand gerecht!“).

nicht heilsnotwendig Wenn ich sehe, in wie vielen Kirchen und Gemeinden diese Frage zu Spaltungen geführt hat, wie viel Energie in den Streit über diese Frage investiert wird, dann ist die Position von Kirche für morgen wegweisend für Gemeinden, die Gesprächskreise und die Kirche. Sie ist letztlich genau das, was der Apostel Paulus zum Kriterium macht in seinem Brief an

die zerstrittene Gemeinde in Korinth: Was dient der Auferbauung der Gemeinde (1. Kor 12)? Wie können Christen mit unterschiedlichen Positionen hier zusammenleben? Damals stritt man um den Verzehr des Götzenopferfleisches oder um die Beschneidung. Beide Probleme sind nicht heilsnotwendig und dürfen deshalb kein Grund für die Aufkündigung der Gemeinschaft werden. Sich nicht einigen zu können bleibt ärgerlich, weil wir alles gern klar, rein und richtig haben wollen. Aber einander aushalten in solch einem bewegenden, persönlichen Konflikt mit all den unterschiedlichen Positionen, das ist der Weg der kreuzförmigen Liebe. Diesen nicht einfachen, jedoch – und dies ist unsere Überzeugung – von Gottes Geist begleiteten und gesegneten Weg wollen wir miteinander gehen. Niemand von uns ist im Besitz der Wahrheit. Der „Ich bin“ ist der Weg und die Wahrheit und das Leben (Joh 14,6)! Er ist der Grund, der uns gegenseitig trägt und zusammenhält.

Einander aushalten in solch einem bewegenden, persönlichen Konflikt mit all den unterschiedlichen Positionen, das ist der Weg der kreuzförmigen Liebe.

Friedemann Stöffler ist Vorsitzender von Kirche für morgen e.V.

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Als schwules Paar im Pfarrhaus

„Ich will enthaltsam leben!“

Die Evangelische Kirche in Österreich lässt seit Jahren zu, dass homosexuelle Pfarrer/innen mit ihren Partner/innen im Pfarrhaus wohnen. Peter Pröglhöf ist Schuldekan – aber auch „Pfarrmann“ in Hallein.

Michael, 27 Jahre alt*, homosexuell empfindend, beschreibt seinen Weg, mit seinen homosexuellen Gefühlen umzugehen. Er hat Kontakt zu „wüstenstrom“, einer Organisation, die sich an Menschen richtet, die Veränderung für ihre homosexuelle Veranlagung wünschen.

Was die Menschen in unseren Gemeinden wirklich schätzen ... ist Authentizität.

In diesen Tagen geht mir der Tod einer lieben alten Bekannten nahe. Sie war Gemeindevertreterin in Saalfelden, jener kleinen evangelischen Gemeinde im Salzburger Land, in der ich früher Pfarrer war. Als Mitte der 90er Jahre die Diskussion über Homosexualität in der Evangelischen Kirche in Österreich im Gange war und das Fernsehen einen Beitrag über den Lernweg dieser Gemeinde mit ihrem schwulen Pfarrer brachte, sagte sie vor laufender Kamera: Als sie von meiner Homosexualität erfahren habe, sei sie sehr geschockt gewesen, denn es gebe ja keine einzige Stelle in der Bibel, die dazu positiv wäre. Aber dann sei ihr auch von Gott her klar geworden, dass wir ja nicht das Recht haben, Menschen zu verurteilen. Gott schaue uns in die Herzen und wisse, wie wir denken und fühlen. Sie war eine im besten Sinne fromme Frau, und sie hat mir eine tiefe Erfahrung vermittelt: Was es heißt, sich dem Urteil Gottes anzuvertrauen, der den Sünder rechtfertigt – an einem ganz konkreten Beispiel, ihrem Umgang mit mir.

Aber in der Bibel steht doch … Ich gehe in Bezug auf die Bibel einen Schritt weiter als die alte Dame. Nach meiner Überzeugung gibt es nicht nur keine Stelle in der Bibel, die sich positiv zu dem äußert, was wir unter Homosexualität verstehen, sondern es gibt keine Stelle in der Bibel, die sich überhaupt zu dem äußert, was wir unter einer homosexuellen Partnerschaft verstehen. Die biblischen Autoren kennen Homosexualität aus dem Um-

feld der Prostitution an heidnischen Kultorten (AT) oder aus dem Gefälle zwischen erwachsenen Männern und ihren Lustknaben (NT), aber nicht als in Liebe und gegenseitiger Achtung gelebte Partnerschaft. Gott sei Dank redet die Bibel aber auch von mir. Sie redet von mir als dem durch Christus gerechtfertigten Gottlosen. Auch für mich gilt: Ich werde nicht durch das Einhalten irgendwelcher Vorschriften – auch nicht des Leitbildes von Ehe und Familie im Pfarrhaus! – vor Gott bestehen, sondern durch den Glauben. Auch ich darf darauf vertrauen: Jesus ist für mich gestorben, damit ich als ein Befreiter leben kann.

Was Gemeinden schätzen Mein Lebenspartner ist Pfarrer, und ich lebe gern im Pfarrhaus. Und meine Erfahrung in all den Jahren ist: Was die Menschen in unseren Gemeinden wirklich schätzen an ihren Pfarrerinnen und Pfarrern, ist Authentizität: Sie sollen Menschen sein, die sich nicht hinter irgendwelchen Masken verstecken, sondern denen man etwas abspürt von der Kraft, die der Glaube an Jesus Christus schenkt.

Mag. Peter Pröglhöf, Hallein (Land Salzburg) ist Fachinspektor für den evangelischen Religionsunterricht an allen Schularten in Salzburg, Nordtirol und Vorarlberg. Er lebt seit über 20 Jahren in Partnerschaft mit Pfarrer Dr. Peter Gabriel.

Ich habe in den letzten Jahren viel über meine Homosexualität nachgedacht und bin schließlich zu dem Schluss gekommen: Ich will sie selbst dann nicht ausleben, wenn sich nichts an meinem Begehren ändert.

Der Drang nach Idealisierung Als ich vor einigen Jahren begann über meine homosexuellen Gefühle nachzudenken, musste ich feststellen, dass ich in homosexuellen Kontakten nie den anderen Mann als Gegenüber gesucht habe, sondern allein seine Bewunderung für mich. D.h. in meinen Gefühlen und Phantasien idealisiere ich mir den anderen Mann zurecht, der mich erlösen soll. Sobald der Mann irgendwelche Schwächen hat, schwindet die Idealisierung und ich muss den anderen wegstoßen und will nichts mehr mit ihm zu tun haben.

Wunden der Vergangenheit Ich weiß, dass der Drang zu meiner homosexuellen Inszenierung mit einem emotionalen Missbrauch in meiner Kindheit zusammenhängt. Damals wurde ich sehr beschämt, und seitdem kann ich Nähe und Bestätigung außerhalb der Sexualität nicht mehr entspannt erleben. Weil ich das alles über meine Homosexualität weiß, kann ich in ihr nichts Gesundes und Heiles sehen, das ich in einer Partnerschaft ausleben will.

bild aus. Gleichzeitig ist mein Leib dann auch nicht Tempel des Heiligen Geistes.

Enthaltsam leben Ich sehe mein Leben im Zusammenhang mit Matthäus 19. Dort weist Jesus darauf hin, dass es nur zwei Formen des geschlechtlichen Lebens geben kann: Das der Ehe oder das der Enthaltsamkeit. Die Enthaltsamen weisen mit ihrem ganzen Leben auf das Kommen des Herrn hin. Und das will auch ich tun, indem ich auf homosexuelle Praxis verzichte. Gerade aber weil ich um meine tiefe Verwundung weiß, kann ich einen solchen Weg nicht alleine gehen. Daher lebe ich heute in enger Gemeinschaft mit anderen Männern, bei denen ich lerne, Nähe außerhalb von Sexualität anzunehmen und über meine Ängste und die Scham, die mich täglich begleitet, zu sprechen. Vielleicht brauche ich all das ein Leben lang. Wenn ich Gott dadurch ehre, will ich diesen Weg gern gehen!

Wer mehr über „wüstenstrom“ erfahren will, wird im Netz fündig unter www. wuestenstrom.de. Ein persönlicher Bericht von Markus Hoffmann, dem Gründer von „wüstenstrom“, findet sich unter www. kirchefuermorgen.de/ zitronenfalter-2012-2. Dort ist außerdem die Erklärung eingestellt, die "wüstenstrom" beim Runden Tisch zum Thema Homosexualität vorgetragen hat, der am 30. Mai 2011 von kfm in Herrenberg organisiert wurde.

*Der Verfasser will anonym bleiben. Er ist der Redaktion bekannt. Name und Alter sind anonymisiert.

Biblische Zusammenhänge

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In der Bibel lese ich, dass Gott sein Ebenbild, den Menschen, in der Einheit von Mann und Frau geschaffen hat. In dieser leiblichen Einheit sieht Gott etwas Besonderes. Und Paulus sagt, dass unser Leib ein Tempel des Heiligen Geistes sein soll. Lebe ich meine Homosexualität aus, dann drücke ich in der Gemeinschaft mit einem anderen Mann nicht das eine Eben-

© Klaus-Peter Adler - Fotolia.com

Vor einigen Jahren hat sich eine Initiative von evangelikal geprägten homosexuell empfindenden Christen gegründet, die sich in ihrem anders Sein und anders Leben als von Gott angenommen und gesegnet verstehen. Zwischenraum e.V. existiert in mehreren Städten in Deutschland, u.a. auch in Stuttgart. Unter www.kirchefuermorgen.de/zitronenfalter-2012-2 wird die Bewegung von Stéphane Schmid, einem Mitglied, beschrieben. Außerdem findet sich dort die Erklärung der Gruppe Zwischenraum, die sie beim Runden Tisch zum Thema Homosexualität vorgetragen hat, der am 30. Mai 2011 von kfm in Herrenberg organisiert worden ist. Im Netz findet man sie unter www.zwischenraum.net.

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&

Pro

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Praktizierte Homosexualität

Zu diesem Thema scheiden sich in kirchlichen Kreisen die Geister wie kaum sonst. Wir haben zwei Pfarrer gefragt, ob homosexuell empfindende Menschen ihrer Meinung

Pro Mit welcher Begründung grenzen wir Homosexuelle aus, statt sie anzunehmen? Ich versuche meinem Herzen zu folgen – und dem Evangelium. Lev 20,13: Wenn jemand bei einem Manne liegt wie bei einer Frau, so haben sie eine Gräueltat begangen und sollen des Todes sterben. So steht es geschrieben. Dein Wort, Gott. Samt Todesstrafe. Also gilt es! Aber ich versteh’s nicht…

Kann echte Liebe verkehrt sein? Ich will aber verstehen, sonst ist mein Glaube in Gefahr, willkürlich und fanatisch zu werden. Also Gott, warum soll ein Mann nicht bei einem Mann liegen, wie bei einer Frau? Wenn es beide wollen? Wenn sie sich an die Regeln halten, die auch für Heterosexuelle gelten? Wenn sie den anderen lieben und achten? Haben sie es sich denn ausgesucht, homosexuell zu sein? Die, welche ich kenne, jedenfalls nicht! Angesichts von Habgier, Geiz und Schuld auch unter Christen, warum solltest Du ausgerechnet Sünde nennen, wenn zwei Menschen sich lieben mit Leib und Seele? Wem schaden sie? Und mit welchem Recht dürfte ich mir anmaßen, ihnen vorzuschreiben, enthaltsam zu leben, auf Liebe und Intimität mit einem Partner zu verzichten? Ich, der ich selbst mit meiner Frau eine intime Partnerschaft lebe? Wider die Natur kann es nicht sein, denn Homosexualität gibt es auch im Tierreich. Und Menschen, die aufgrund einer Identitätsstörung gleichgeschlechtliche Partner suchen, können doch nicht zum Regelfall der Entstehung von Homosexualität gemacht werden. Homosexualität ist keine psychische Krankheit.

Der Weg Jesu Ich befinde mich in einem Dilemma, Gott: Deine Heilige Schrift äußert sich nur negativ zu Homosexualität. Einen schlüssigen Grund, Homosexualität als Sünde zu betrachten, habe ich aber nicht gefunden. Dafür einen Verbündeten. Deinen eigenen Sohn, diesen Rebell da aus Nazareth. Er stellt den Menschen in den Mittelpunkt und legt die Gesetze so aus, dass sie den Menschen dienen, und nicht umgekehrt. Er spricht jenen Deine Liebe zu, denen vorgeworfen wird, Sünder zu sein, weil sie „anders“ sind. „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat!“ Für mich ist das eindeutig. Annahme steht hier im Zentrum. Vor Dir hätte demnach nicht der ein Problem, der als Sünder ausgegrenzt wird, sondern der solches tut. Wenn ich schwul wäre. Was würde ich denken, was würde ich mir wünschen?

Vor Gott sein dürfen, wie man ist Ich würde denken: Ich bin so, weil Du, Gott, mich so gemacht und so gewollt hast. Warum sollte meine Liebe verkehrt sein, wenn der, dessen Wesen Liebe ist, mich so geschaffen hat? Ich würde mir wünschen, dass ich in meiner Kirche angenommen werde, wie Du mich annimmst, dass ich sein darf, der ich bin mit meinen Gaben und Grenzen. Nicht krank, abartig, heilungs- oder bekehrungsbedürftig, sondern Mitchrist – „simul iustus et peccator“1, wie alle hier.

Gerechter und Sünder zugleich.

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Steffen Maile, Pfarrer und Studienrat, ist verheiratet, hat 2 Kinder und wohnt in Straßberg.

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Contra

nach auf der Grundlage des christlichen Glaubens in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft leben können.

Contra

Aufgrund des Gesamtzeugnisses der Heiligen Schrift ist es meines Erachtens nicht möglich, praktizierte Homosexualität anders zu beurteilen als „praktizierte Sünde“. Der Weg aus der Sünde heraus aber ist immer der Weg der Umkehr.

Das Contra der Bibel Es geht nicht um Einzelaussagen der Bibel. Entscheidend ist vielmehr das Gesamte des biblischen Zeugnisses. Weder ein biblizistisches „Das steht aber wörtlich so da!“ noch ein liberal-biblizistisches „Jesus hat zur Homosexualität gar nichts gesagt!“ hilft uns weiter. Nein, es wird uns zugemutet, dass wir – systematisch denkend – nach einer Gesamtsicht der Heiligen Schrift fragen. Setzen wir uns also Luthers hermeneutische Brille auf und fragen: Was treibet Christum? Auf eine sexualethische Einzelfrage angesprochen (Mk 10,2–9) hat Jesus deutlich gemacht, was aus seiner Sicht grundsätzlich zu sexualethischen Fragen zu sagen ist. Er macht deutlich, dass das Gegenüber der Geschlechter und ihre wechselseitige Anziehung über alle historischen Wandlungen hinweg durchhaltende und durchgehaltene Urgegebenheiten Gottes sind. Die Ehe zwischen Mann und Frau ist somit der Maßstab für die Bewertung menschlichen Sexualverhaltens. Alles, was sich davon entfernt, entfernt sich vom Schöpferwillen.1

Und heute? Noch 1996 hat die EKD gesagt, dass es keine biblischen Aussagen gibt, die Homo­sexualität in eine positive Beziehung zum Willen Gottes setzen – im Gegenteil!2 Was hat sich seit 1996 geändert? Der Wille Gottes? Wohl kaum.

Der Theologieprofessor Wolfhart Pannenberg konstatierte bereits 1994 (und 2004 erneut), dass die biblischen Zeugnisse in ihrer scharfen Ablehnung von homosexuellem Verhalten eindeutig seien. Dieses bringe die Abkehr von Gott besonders eklatant zum Ausdruck. Die Aufgabe der Kirche sei es deshalb, die Betreffenden zur Umkehr (!) aufzurufen. Würde die Kirche homosexuelle Lebensgemeinschaften anerkennen, stünde sie nicht mehr auf dem Boden der Heiligen Schrift.3 Drei Jahre später gab Pannenberg aus Protest über die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an Herta Leistner, einer Vorkämpferin für die Rechte von Homosexuellen, sein eigenes Bundesverdienstkreuz zurück. Die Auszeichnung stehe im Widerspruch zu dem im Grundgesetz verankerten Schutz von Ehe und Familie, so Pannenberg. Darüber hinaus stehe das Engagement für Homosexualität im Widerspruch zur theologischen Lehre. So klar sagt das heute kaum jemand. Lieber werden solche grundlegenden Überzeugungen auf dem Altar des Zeitgeistes geopfert.

Was folgt daraus? Unsere Aufgabe als Christen ist es, den betroffenen Menschen mit der Liebe Jesu und einem seelsorgerlichen Herzen den Weg zurück zum Willen Gottes zu zeigen. Es gibt genügend Berichte und Zeugnisse von Menschen, die berichten, dass sie diesen Weg tatsächlich gehen konnten. Wer jedoch Sünde einfach als „Nicht-Sünde“ abtut, der verabschiedet sich von der Mitte der Schrift: dem heiligen und heilenden Willen unseres Herrn. Das Charisma der Ehelosigkeit ist eine Gott gegebene Ausnahme zu dieser Regel. 2 Mit Spannungen leben, S. 21. 3 Vgl. W. Pannenberg, Maßstäbe zur kirchlichen Urteilsbildung über Homosexualität, 1994 (erneut in: Beiträge zur Ethik, 2004) sowie http://de.wikipedia.org/wiki/Wolfhart_Pannenberg 1

Markus Haag ist Pfarrer und wohnt mit seiner sechsköpfigen Familie in Oberstenfeld-Gronau.

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Leben und leben lasen

Allein – zu zweit – mit vielen Hannes Windolf hat viel erlebt und gelernt. Er schildert uns seine Odyssee durch allerlei Lebensformen.

Die Ehe erscheint mir

und „In-derHorde-sein“, das waren die Pole, zwischen denen ich lange gewandert bin.

Kommune?

Allein, zu zweit, mit neun, zwölf oder dreißig Leuten, die längste Zeit mit nahezu hundert. In Horden habe ich meist gelebt. Mit zehn ging mein Vetter nach Münsterschwarzach, wollte Mönch werden. Das war’s. In mir explodierte ein Archetyp: Mönch! Ich war acht und hatte noch nie einen Mönch gesehen. Mein Vater schickte mich zu den Jesuiten ins Internat. Leben mit neunzig Leuten, schlafen zu vierzig. Ich war in meinem Element.

Ich wollte nicht länger über sozialistische Gesellschaftsformen diskutieren. Ich wollte sie leben. So entstand eine zwölfköpfige Kommune. Wir teilten alles miteinander: Arbeit (in der eigenen Schreinerei), Wohnen in den Räumen über der Werkstatt, das Geld (Lohn gab es nicht). Wir teilten die Klamotten, aber jeder hatte sein Zimmer, und Sexualität war Privatsache. Leben und Arbeiten im Kollektiv. Für mich ein Leben in einem permanenten Laboratorium, spannend, aufregend, sehr anstrengend. Meine vielleicht intensivste Zeit, die durch ökonomische Probleme ein schmerzvolles Ende fand.

Nicht so im Priesterseminar danach. Fast hundert waren's da, aber es fehlte die bunte jugendlich quirlige Vielfalt. Beim Psalmodieren im Chorgestühl des Paderborner Domes kam ich mir vor wie ein Chorherr aus uralten Zeiten. Als Priester dann, zum Zölibat verdonnert, in einer skurrilen Zweisamkeit mit einer hochbetagten Mesnerswitwe als Haushälterin, war mein eigentlicher Lebensraum inmitten der rebellischen Gemeindejugend und der Protestbewegung der 68-er. „Für-mich-sein“ und „In-der-Horde-sein“, das waren die Pole, zwischen denen ich lange gewandert bin.

Vom Priester zum Lebensabschnittsgefährten So war auch die Kleinstfamilie in einer winzigen Kölner Mansarde, für die ich mich nach meiner Priesterzeit entschied, nicht von langer Dauer. Zu eng, zu isoliert. Wir zogen mit zwei anderen Paaren und ihren Kindern zusammen. WG zu neunt. Die drei Kinder wuchsen wie Geschwister auf. Sehr schöne Form, die leider an der Instabilität der Ehen, auch meiner, zerbrach. Mein nächster Lebensraum: Single-WG mit zwölf Lehrern und Sozialarbeitern. Ein linkes Zentrum politischer Diskussionen und Aktivitäten, ein Taubenschlag, sehr lebendig, aber kein Raum für Kinder.

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Eremit Mich verschlug es in die Einsamkeit eines abgelegenen Eifeldorfes. Ich lebte dort – fast ohne Geld – von dem, was der Garten und die Natur drumherum hergab, redete mit den Kohlköpfen, den Hühnern, den Wolken und meditierte viel. Spirituell war das eine sehr reiche Zeit. Nur – am Ende doch zu einsam. Nein, der geborene Einsiedler war ich auch nicht. In Lüdenscheid gab es eine Lebensgemeinschaft, die mich rief, zunächst als Handwerker auf Zeit, es wurden zehn Jahre daraus. Hier gab es Singles, Kleinfamilien, Paare, Kinder. Die Meisten waren beruflich im Ort beschäftigt. Also viel mehr Privatheit. Und dann gab es auch immer Gäste auf Zeit, Menschen in psychischer Krise, die wir begleiteten. Die Kerngruppe war ziemlich stabil. Die Gemeinschaft gibt es noch heute.

Der Hafen der Ehe? Doch mich trieb es weiter. Ich wollte die Erfahrungen der Schreinerkommune verbinden mit der Tradition der Klöster. Feste Zeiten für gemeinsame Meditation und Gebet als Zentrum und Offenheit für jedwede religiöse Ausrichtung. Es fanden sich Gleichgesinnte, zwölf waren es bald.

die schwierigste Lebensform, wenn es darum geht, Freiheit und Bindung gleichermaßen zu leben.

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„Für-mich-sein“

Vom Familienkind zum Priester

Aber die Einigkeit des Anfangs schwand mehr und mehr. Ich hatte mit der Geschichtlichkeit menschlicher Prozesse nicht gerechnet und zog mich enttäuscht zurück. Dieses Scheitern war schmerzlich, ermöglichte aber zugleich die Bereitschaft, das Jagen nach Zielen zu lassen. Zu nehmen, was kommt. 53 war ich, als ich mich dann in voller Freiheit für das Leben mit der Frau entschieden habe, mit der ich nun seit 17 Jahren zusammen lebe.

Warum diese lange Odyssee? Ich wusste nicht, was meins war. Weder das Internat, noch der Zölibat, ja selbst die anschließende kurze Ehe waren letztlich frei gewählt. Woran die Ehe dann auch scheiterte. So machte ich mich auf die Suche nach meiner Lebensform. Wer bin ich? Ein einsamer Wolf? Ein Herdentier? Der Mönch aus meinen Kindertagen war nie ganz verschwunden. Und neben dem Mönch stand immer die Frau. Beide mit hoher Anziehungskraft. Ehe? Ausschließliche Bindung an einen Menschen – nicht vorstellbar. Das machte die Beziehungen zu Frauen schwierig. Liebe, frei und ungebunden, das wohl. So war ich immer auf der Flucht und immer in Sehnsucht. Immer in der Angst, in Bindung mein Ich zu verlieren. Dass ich am Ende wie Odysseus dann doch eine Heimat fand, empfinde ich als

große Gnade. Aber der Weg dahin hätte wohl nicht abgekürzt werden können. Ich musste viele Räume durchschreiten, und sie waren alle wertvolle Lehrmeister. Die Ehe erscheint mir die schwierigste Lebensform, wenn es darum geht, Freiheit und Bindung gleichermaßen zu leben. Wenn das gelingt, und nur dann, so meine Überzeugung, hat eine Ehe die Chance, dass beide reifen und ein Leben lang beieinander bleiben können. Aber was hält die anderen Lebensformen zusammen? Die hierarchiefreien Gemeinschaften, in denen ich lebte, hatten alle eines gemeinsam, das war das Herz sozusagen: Der Sonntagabend. Der war heilig, da gab es so gut wie keine Entschuldigung, denn am Sonntagabend saßen alle zusammen. Und dann ging es reihum, dass jeder den andern erzählte, wie es ihm geht, wie es ihm mit den anderen geht und was ihn im Augenblick umtreibt. Da wurde gestritten und versöhnt, geweint und gelacht, aus Fremdheit wurde Nähe. Ohne diese Sonntagabende (es war nun mal bei allen immer der Sonntag) hat ein gemeinsames Leben in der Gruppe keinen Bestand. Ich bin der festen Überzeugung: Wenn diese Praxis auch in Ehen geübt würde, gäbe es weit weniger Trennungen.

Hannes Windolf war jahrelang Leiter der ökumenischen Telefonseelsorge in Tübingen. Heute arbeitet er als Psychotherapeut in Ofterdingen.

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Leben und leben lassen

Leben und leben lassen

Kann Kirche rocken?

Es lebe der Unterschied!

Hansruedi Felix ist Gründer, Inspirator und erster Pfarrer von Elisabethen in Basel, der ersten von mittlerweile vier offenen Citykirchen in der Schweiz gewesen. Thomas Hofmann-Dieterich hat sich mit ihm unterhalten.

Gelebte Vielfalt und Wertschätzung dieser Vielfalt hat eine positive Auswirkung auf die Gesellschaft in Deutschland. Gibt es womöglich einen Zusammenhang zwischen dem Ja zur Vielfalt und dem glaubwürdigen Zeugnis der Christen?

Hansruedi Felix, wie kommt man auf die Idee, eine „offene Kirche“ zu gründen?

Dann begann ich von einer Kirche zu träumen... die auch von Montag bis Samstag für die Menschen geöffnet ist.

Eigentlich wollte ich gar nicht Pfarrer werden, aber dann begann ich von einer Kirche zu träumen, die mich anspricht; in der moderne Musik gespielt wird, und in der man auch tanzen darf wie in einer Disco. Eine Kirche, in der Heilerinnen Kranken die Hände auflegen oder in der Menschen in der Mittagspause zur Ruhe kommen. Eine Kirche, wo man einfach hingeht, um mit Freunden einen Kaffee oder ein Bier zu trinken; einer Kirche, die auch von Montag bis Samstag für die Menschen geöffnet ist. Gab es Vorbilder für diese Träume? Die Idee ist während einer besonderen Situation in mir geboren, nach vier Stunden war die ganze Idee da. Später habe ich erfahren, dass ein ähnliches Konzept schon sieben Jahre früher in St. James/ Piccadilly in London umgesetzt worden ist. Es war spannend, diese Kirche zu besuchen. Gab es in Basel Widerstände, oder haben Sie einfach offene Türen eingerannt?

Beides. Schnell gab es ein Team von 12 Heilerinnen, die jeden Donnerstag Kranken die Hände aufgelegt haben. Bald kamen Schwule und Lesben, um hier eigene Gottesdienste zu feiern. Das alles ging den konservativ Evangelikalen in Basel natürlich zu weit, sie waren nicht glücklich über diese Entwicklung. Auf der anderen Seite hat das bürgerliche Lager die Türen weit geöffnet. So hat die Merian-Stiftung Basel den Umbau von Elisabethen zu einer offenen Kirche finanziert. Und der Kirchenrat der reformierten Kirche hielt mir den Rücken frei. Konnten Sie in Elisabethen eigentlich als Pfarrer arbeiten, oder waren Sie eher Kultur- und Eventmanager? Die klassischen pfarramtlichen Tätigkeiten wie Konfirmandenarbeit, Schule und Predigt fanden nur wenig oder gar nicht statt, stattdessen stand Seelsorge, Teamleitung und Kulturmanagement im Vordergrund. Vor 9 Jahren habe ich mich dann entschlossen, nach St. Gallen zu gehen und dort ordentlicher Pfarrer in einer Repräsentationskirche zu werden. Ich wollte auch einmal wieder eine richtig schöne, lange Predigt halten können.

Hintergrundinfo Elisabethen und die „Lesbische und Schwule Basiskirche“ in Basel: Elisabethen wurde zur Heimat für Strömungen und Gruppen, die vorher in den Kirchen nicht vorkamen. So fand auch die ökumenische „Lesbische und Schwule Basiskirche“ in Basel, die 1991 gegründet wurde, ihre Heimat in Elisabethen. Die LSBK ist ein Verein mit 55 Mitgliedern. Als Gottesdienstgemeinschaft lädt die LSBK etwa sechsmal im Jahr alle Menschen zur Feier der Eucharistie oder des Abendmahls ein. Gedankenaustausch, Fürbitte und Danksagungen sind ebenfalls Bestandteil der LSBKGottesdienste.

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„ St rahl e n brechen vie l e aus ei n em Licht. Unser Licht heißt Christ us. St rahl e n brechen vie l e aus ei n em Licht, und wir sind eins durch ihn.“

Ausgerechnet ein Gärtnermeister kritisierte kürzlich ein bestimmtes Missionswerk als zu liberal. In seiner Ausstellungshalle waren die Alpenveilchen in atemberaubend vielen verschiedenen Farben zu bewundern. Eigenartig: bei den eigenen Produkten störte er sich nicht an der Vielfalt. Dieter Trautwein, EG 268 Und sicherlich wüsste er auf den Ratschlag eines Kunden, er solle schen Christseins, die den Grundstein doch künftig auf die grässlichen Lilatöne legte für die Partnerschaft zwischen dem bei seinen Blumen verzichten, eine pas- Kirchenbezirk Göppingen und dem Kirsende Antwort. chenbezirk Menchum/Kamerun. 33 Jahre besteht nun diese Direktpartnerschaft Ja, ich kenne die Unsicherheit, wenn ich schon und noch immer lernen beide Seinicht weiß, wie ich etwas einordnen soll. ten voneinander. Als ich vergangenes Jahr Ja, ich nähere mich dem Fremden eher in Kamerun war, habe ich gelernt, was Tovorsichtig. Vielfalt fordert uns heraus, leranz bedeutet. Ein kamerunischer Christ aber warum sollte sie uns Angst machen? ließ extra ein Tier rituell schächten, weil er Es ist nun einmal so: das Reich Gottes ist einen Muslim erwartete. Dieser Gast solleine bunte Blumenwiese. Immer, wenn du te bei der in Kamerun sehr wertvollen meinst, jetzt hast du den Überblick, Fleischbeilage nicht außen vor sein, sontaucht irgendwo eine neue Art auf. Das ist dern guten Gewissens mitessen können. gut so. Wo es Regeln gibt, darf es auch Wir hatten an diesem Abend gute GespräAusnahmen geben. Vielfalt ist göttlich. che und intensive Begegnungen. MenMonokulturen und Monopole dagegen schen von unterschiedlichen Kontinensind ausbeuterisch. Das Andere wird be- ten, aus unterschiedlichen Stämmen und kämpft aus Angst, es könnte den eigenen Religionen begegneten einander mit geEinfluss, Macht oder Wohlstand gefähr- genseitigem Respekt und Wertschätzung. den. Wo Vielfalt sein darf, ist die lebens- Ein kraftvolles christliches Zeugnis des feindliche Monokultur überwunden. Friedens in unserer von Misstrauen und Vorurteilen geprägten Welt. „Und die Erde ließ aufgehen Gras und Kraut […], ein jedes nach seiner Art, und Eine Kirche, die Vielfalt zulässt und lebt, Bäume […], ein jeder nach seiner Art. Und ist ein glaubwürdiges Spiegelbild der Gott sah, dass es gut war.“ (Gen 1,12) Be- göttlichen Liebe. Gottes lebensschaffenreits im biblischen Schöpfungsbericht der Geist ist schöpferisch und lebensdienbegegnet uns ein fortwährendes Lob der lich. Das fordert uns heraus zu Toleranz Vielfalt. Gottes Lebensodem „Ruach“ und verantwortlichem Umgang mit Seiner schafft Artenreichtum ohne Ende. Biodi- Schöpfung. versität umfasst die Vielfalt der Lebensräume, der Gemeinschaften, der Arten, der Kulturformen und der Individuen. Vielfalt will entdeckt werden. Es war Interesse an der Andersartigkeit afrikani-

Wo Vielfalt sein darf, ist die lebensfeindliche Monokultur überwunden.

Johannes Stahl, Pfarrer und Referent für Gemeinde- und Partnerschaftsarbeit bei der Basler Mission Deutscher Zweig (BMDZ), Stuttgart

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Leben und leben lassen

Leben und leben lassen

Familie in konzentrierter Form

Wir haben Christinnen und Christen in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen gefragt, ob sie uns schreiben können, wie es ihnen damit ergeht. Hier sind ihre Statements:

Küssen Ganz normal 1, 2, 3, 4, 5, 6 – Eins nach dem anderen, alle gesund und munter.

Zölibat als Versuch einer passenden Antwort auf Gottes verrückter Liebe.

Verliebt, verlobt, verheiratet, 1, 2, 3, 4, 5, 6 ... Es war für uns als junges Ehepaar ganz normal, dass wir Kinder wollten und wir sehen es als Geschenk, dass wir sie auch bekamen. Eins nach dem anderen, alle gesund und munter. Die Fragen kamen von außen: „Wie kann man nur angesichts der Überbevölkerung?“ Wir sind froh und dankbar, dass wir in einem freistehenden Zweifamilienhaus gemeinsam mit den Großeltern leben können und uns das Einkommen meines Mannes reicht. Es ist schön, wenn wir zu acht um den Esstisch versammelt sind, und seltsam, wenn nur zwei da sind. Eine bewusste Entscheidung in der Erziehung war, dass unsere Kinder möglichst selbstständig ihre Freunde und Vereine erreichen sollten. Das heißt, dass sie und ich zu Fuß im Wohngebiet unterwegs waren; später kamen die Fahrräder und der öffentliche Nahverkehr hinzu. Auch war es uns ganz besonders wichtig, dass wir miteinander in eine Kirche gehen können. Zu unserer großen Freude wurde bei der Taufe unseres 5. Kindes bekannt gegeben, dass ab sofort die Kinderkirche parallel zum Gottesdienst statt findet. Inzwischen wurden aus den Kinderkirchkindern die Jugendmitarbeiter unserer Stadtteilkirche.

Anneliese Maier, 51 Jahre, wohnt in Uhingen, ist verheiratet und hat 6 Kinder zwischen 15 und 26 Jahren.

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„Weil der Pfarrer keine Frau küssen darf, küsst er halt das Evangelium.“ So erklärte einst ein kleiner Junge mir und seinen verblüfften Eltern das priesterliche Zölibat. Die zölibatäre Lebensform des Priesters ist auf vielfältige Weise hinderlich geworden. Die Gemeinden ächzen unter dem Priestermangel. Eucharistiefeiern fallen vielerorts aus. Wieso schneidet dann die Leitung der Kirche „diesen alten Zopf“ nicht ab? Zumal das Zölibat in Verbindung mit dem Priestertum ein Rat der Bibel, aber nie ein Befehl gewesen ist. Vielleicht muss etwas irgendwie Verrücktes getan werden, damit man heute noch glaubt. Als Priester in Deutschland lebe ich nicht – wie die meisten Mitbrüder weltweit – in Armut und/oder Verfolgung. Ich habe ein Gehalt. Ich fahre Auto, bin krankenversichert und wenn ich auch erst mit siebzig in die Rente gehe, so ist diese auch sicher. Doch lohnt sich der Verzicht wirklich? Warum tue ich mir das an? Zölibat – der Versuch einer passenden Antwort auf Gottes verrückter Liebe. Verrückt in des Wortes wahrstem Sinn, weil ER vom Himmel ausrückt bis zum Kreuz und sich das alles antut, weil ER uns liebt/e, bis es wehtat/tut. Da und dafür muss doch einer den Jesus küssen.

Ludwig-Frank Mattes ist katholischer Pfarrer für die Gemeinden Remshalden und Beutelsbach-Schnait im Remstal.

Seit Mai 2005 lebe ich mit meinen drei Kindern in einer sogenannten Ein-ElternFamilie. Vor sieben Jahren mussten wir aus dem Pfarrhaus ausziehen und ein neues Leben beginnen. Der Verlust von innerer und äußerer Heimat war für uns alle eine Katastrophe; wir wurden plötzlich aus unserem sozialen und kirchlichen Lebenszusammenhang herausgerissen, ganz zu schweigen von den materiellen Einbußen.

Singles haben einen festen „Platz“ in unserer Lebensgemeinschaft im Wörnersberger Anker. Von Anfang an gab es Ehepaare/Familien und Singles. In meinen 25 Ankerjahren wurde ich meiner Einschätzung nach nie schief beäugt, weil ich noch keinen Mann gefunden habe und weil es doch so langsam an der Zeit wäre. Ich wurde gebraucht und geschätzt, so wie ich bin. Das machte es mir einfacher Single zu sein.

Meine drei pubertierenden Kinder reagierten körperlich und seelisch stark auf diese Trennung; ich selber geriet in eine tiefe Glaubenskrise. Zwischen voller Berufstätigkeit, Kindern, Haushalt und einem kleinen Rest Privatleben erlebte ich mich als Zeitjongleurin auf einem dünnen Seil ohne Netz und Boden. Familie in konzentrierter Form bedeutete für mich: meine ganze Aufmerksamkeit und Liebe auf meine Kinder zu richten, um wenigstens wieder eine Teil-Familie zu leben, in der es wieder gute Strukturen und religiöse Werte gibt. Hilfe und Rückenstärkung fanden wir in einem Treffpunkt für alleinerziehende Mütter und Väter. Aus meiner eigenen Betroffenheit heraus und auch aus Dankbarkeit darüber, dass Leben wieder gelingen kann, habe ich 2007 die Verantwortung in der Alleinerziehendenarbeit in unserem Kirchenbezirk übernommen. Ingrid Winkler ist 50 Jahre alt, hat 3 Kinder und ist Sozialarbeiterin, Erwachsenenbildnerin sowie Multiplikatorin für Kinder- und Jugendhospizarbeit.

Bin ich neidisch auf glückliche Paare? Sie bereiten mir kein Problem, denn ob ich mit dem Mann genauso glücklich wäre und er mit mir, ist nicht sicher. Als freiheitsliebender Mensch (deshalb auch keine Kommunität, sondern „nur“ eine Lebensgemeinschaft) und mit meiner eigenen Geschichte fiel es mir leichter, mein Leben als Single zu gestalten. Hier lebe ich in unterschiedlichen Arten von Beziehungen, habe aber auch die Freiheit und die Selbstverantwortung des Einzelnen. Nach meinen Gefühlen und Sehnsüchten gefragt nehme ich mir das Recht, diese als „privat“ zu bezeichnen. Ich halte es für keine gute Gewohnheit, Singles ständig danach zu fragen. Bettina Schaal ist Mitarbeiterin im Wörnersberger Anker (www.ankernetz.de), außerdem tritt sie als Kirchenclownin auf.

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Vielfalt der Lebensformen

Single in Gemeinschaft

Leben und leben lassen

kfm-intern

Alleinstehend mit Frauenfreundschaft Es ist gelungen

Für mich zählt bei der Partnersuche heute in erster Linie: Erlebe ich mich und eine Frau, uns durch offene Kommunikation zunehmend geistlich und seelisch als Gegenüber?

Ich entschied mich vor 31 Jahren für das „Modell Ehe“, war verliebt und dachte: Wir sind von Gott einander zugedacht. Ich erlebte Ehe wie ein Lebens-Haus. Ich betrat es verliebt und beschwingt und nahm meinen Glauben an Jesus Christus mit hinein. Nach und nach forderte jedes der vier Kinder seinen Raum, wir kamen als Paar ordentlich an unsere Grenzen: nicht genug Kraft, Verständnis, Liebe... Immer wieder hielten wir unsere leeren Hände gemeinsam im Gebet Gott hin und erlebten: es geht weiter, wir kriegen neue Kraft! Das „Ehe-Wohnzimmer“ war oft leer – vor lauter Aktivitäten. Wir planten Eheabende ein und lernten über Ehefrust und eigene Bedürfnisse zu reden. Und heute? Es kamen noch drei Schwiegerkinder und zwei Enkelkinder dazu, die aus- und eingehen. Die Aufgabe heißt jetzt: Das Haus umgestalten, gemütlich machen für uns zu zweit, Loslassen lernen und offen bleiben für die Überraschungen des Lebens. Und? Ist es gelungen, das mit dem „Liebe leben“? Ja klar, was soll es denn sonst sein, wenn ich in den Höhen und Tiefen des Alltags immer noch gerne mit Christian zusammenlebe!

Cornelia Kohler ist Systemische Familientherapeutin in eigener Praxis und lebt in Ostfildern bei Stuttgart. Sie ist Mitglied im Leitungskreis von Kirche für morgen.

Als 58jähriger Mann, nach dem Auszug meines studierenden Sohnes vor drei Jahren alleinstehend zu sein, ist trotz guten Männerbeziehungen nicht einfach. Die Sehnsucht nach einer Partnerbeziehung, nach gescheiterter Ehe und langer Fernbeziehung, ist nach wie vor groß. Die Suche in Chaträumen nach einer Frau war sehr lehrreich. Für mich zählt bei der Partnersuche heute in erster Linie: Erlebe ich mich und eine Frau, uns durch offene Kommunikation zunehmend geistlich und seelisch als Gegenüber? Was ich im World Wide Web nicht fand, begegnete mir plötzlich in meiner Kirchengemeinde: Eine 50-jährige Frau, deren Interessen und Einstellungen in hohem Masse deckungsgleich sind mit den meinigen. Während unserer 1 ½jährigen Freundschaft leben wir zwar keinen körperlichen, aber in 14tägigen Zwiegesprächen einen intensiven, offenen Austausch und fühlen uns durch gemeinsame Aktivitäten nicht mehr solo. Inzwischen leiten wir zwei Glaubenskurs-Kleingruppen, was jeder alleine so nicht tun könnte. Es ist ein Experiment mit offenem Ausgang, weil uns nicht nur persönliche Zuneigung miteinander verbindet, sondern auch Gefühle verarbeitet werden müssen. Die Frage ist, welches Zusammenspiel der Liebesarten unsere Freundschaft oder Partnerschaft dauerhaft tragen kann.

Holger Weiss, 58 Jahre, Dipl. Bauingenieur, hat zwei erwachsene Kinder und ist aktives Mitglied der Stadtkirchengemeinde Oberhofen in Göppingen.

Verantwortungen in der Kirche besser verteilen Was tut sich „Reformerisches“ in der Synode? Markus Haag hat unseren Synodalen Markus Brenner befragt. Markus, vor einigen Wochen kam im „Kirchenfernsehen“ ein Interview mit Dir. Was war der Anlass? Viele Synodale sind sehr unzufrieden über die Zusammenarbeit der kirchenleitenden Organe. Wir müssen deshalb gemeinsam bestehende Strukturen hinterfragen, bessere Lösungen finden und v.a. deren verbindliche Umsetzungen überwachen. Wir von kfm haben konkrete Vorstellungen, wie wir die Verantwortung für unsere Landeskirche besser verteilen könnten. Hast Du damit gerechnet, dass der Vorstoß einen solchen Wirbel verursacht? Ein klares „Jein“. Wenn man provoziert, muss man auch die Konsequenzen akzeptieren. Aber im Grunde haben wir nur das ausgesprochen, was viele Insider auch so sehen – nur getrauen sich die meisten nicht, es öffentlich zu sagen.

ist, soll auch das Recht haben, sich in kirchliche Entscheidungsprozesse einzubringen. Markus, nächstes Jahr sind wieder Wahlen. Du trittst ein weiteres Mal als Zitrone an. Was motiviert Dich dazu? Ich habe einfach das Gefühl: Einige Dinge sind angestoßen und auf den Weg gebracht. Es gibt ein Umdenken in Richtung einer Kirche für morgen, so wie ich sie mir vorstelle. Kfm-Themen sind nicht mehr exotisch, sondern zum großen Teil in den Köpfen und Herzen auch der anderen Verantwortungsträger angekommen – und damit auch mehrheitsfähig. Ich möchte, dass das Angefangene weitergeht. Der ausgestreute (Zitronen-)Same braucht noch ein wenig Pflege. Herzlichen Dank für dieses Gespräch.

Kfm will mündige und lebendige Gemeinden. Was konntet Ihr in der Synode in jüngster Zeit dafür tun? Als – noch – kleinster Gesprächskreis müssen wir bei unseren Anträgen immer auch auf Kompromisse eingehen. Unser Wunsch, dass sich in den Gemeinden immer mehr Beteiligungs- statt Betreuungsstrukturen entwickeln, wurde am deutlichsten mit dem veränderten Pfarrer-Besetzungsgesetz umgesetzt. Nun können die Entscheidungsträger vor Ort mehr Einfluss auf die Wahl ihres zukünftigen Pfarrers ausüben. Deinem und Eurem Engagement ist es zu verdanken, dass Jugendliche und junge Erwachsene eine deutlichere Stimme in der Kirchenpolitik bekommen haben. Was hat kfm dafür konkret getan? Unser Ziel war, die Jugend mehr mit in die Verantwortung zu nehmen. Wir sind froh, dass uns die Mehrheiten aller Gesprächskreise dabei unterstützt haben. Das Ergebnis: Vier engagierte junge Erwachsene bringen sich mit ihrer Sicht der Dinge in unserer synodalen Arbeit ein.

Markus Brenner ist Naturdesigner und als einer der wenigen echten „Laien“ seit 2007 als Synodaler von Kirche für morgen für den Wahlbezirk Bernhausen/Degerloch in der Landessynode. Er arbeitet und wohnt mit seiner Familie in Ostfildern.

Außerdem dürfen jetzt bei Kirchenwahlen ab 2013 schon 14-jährige Kirchenmitglieder mitwählen. Wer mit der Konfirmation voll religionsmündig

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Zu guter Letzt

Neue Zitronen braucht das Land! Zitronen erfrischen, sie haben Vitaminpower und lösen Kalk. So ist das auch mit Kfm. Kfm hat die kirchliche Landschaft und vor allem die Synode in den vergangenen Jahren frech und frisch mit konstruktiven Vorschlägen für die Zukunft enorm weiterentwickelt. Vieles haben wir angestoßen und vorangetrieben. Damit das so weiter geht, brauchen wir noch mehr Zitronenfrische! Wir wollen bei der Kirchenwahl 2013 in möglichst allen Wahlbezirken wählbar sein. Dafür brauchen wir Menschen, die Kfm aktiv unterstützen! Wie wäre es mit einer Mitgliedschaft? So unterstützen Sie Kfm direkt, bekommen alle Informationen frei Haus und haben die

Möglichkeit aktiv mitzugestalten. Wir freuen uns auch über vielerlei (weitere) Unterstützer und Freunde, die sich mit ihren Ideen und Fähigkeiten einbringen. Wenn sich in Ihnen nun ein kleines Zitrönchen regt, dann besuchen Sie unsere Homepage unter: www.kirchefuermorgen.de und finden Sie Ihren Platz bei uns! Wir freuen uns über Ihre Nachricht. Simone Heimann, Mitglied im Leitungskreis

Zitronen entdecken Zitronen

Manchmal ist es ja gar nicht so einfach mit der Zitronenfrische in unserer Kirche: Nicht wenige der Mitglieder von Kirche für morgen sind an ihrem Ort allein. Da wäre es doch ermutigend, einmal zu den Kirchtürmen der Nachbarorte zu schauen, ob sich nicht dort noch ein paar Zitronen finden lassen? Wir hatten jetzt auf Wahlbezirksebene ein zwar kleines, aber feines Treffen und im Vorfeld dazu einige gute Telefonate. Das hat mich persönlich ermutigt, die Kontakte unter den Kfm-Mitgliedern zu suchen und zu intensivieren. Diese Ermutigung möchte ich gerne als Anregung weitergeben in die Bezirke hinein. Oft geschieht das ja schon, dass sich Zitronen kennen und treffen! Gerade in der Vorbereitung auf die Kirchenwahlen ist es wichtig, zu sehen, wessen Herz noch für Kfm schlägt und die Anliegen von Kfm teilt. Also: Zitronen entdeckt Zitronen!!

Claudia Bieneck

Die wahre Frau Gauck oder das Ende der Scheinheiligkeit Wer ist denn nun eigentlich die Frau des Bundespräsidenten? Jene Frau, welche er 1959 heiratete, von der er bis heute nicht geschieden ist? Oder die Journalistin Daniela Schadt, mit welcher er seit 12 Jahren zusammenlebt? Zu Beruhigung der ganz Frommen im Lande (das sind die Menschen, die immer genau wissen, was richtig oder falsch ist): Der oberste Repräsentant der Bundesrepublik Deutschland hält das Gelöbnis eines lebenslangen Bundes für eine "selbstverständliche Verpflichtung!" Aber da ist doch die andere Frau… Und das noch bei einem (emeritierten) Pfarrer! Das sind ja dekadente, spätrömische Verhältnisse, wie unser Außenminister sagen würde; aber der ist ja selber… – Schwamm drüber! Früher galt das Pfarrhaus als Vorbild für die ganze Nation. Das war es zwar nie – aber unzählige Generationen mussten dran glauben. Noch heute steht die Lebensführung des Pfarrers (der Pfarrerin) unter besonderer Beobachtung – nicht so sehr von der Gemeinde, eher vom Oberkirchenrat. Joachim Gauck zeigt mit seiner von einer großen Mehrheit akzeptierten Lebensform, dass sich da etwas verändert hat. Nicht mehr der „Schein“ zählt, sondern die Aufrichtigkeit in einer Beziehung. Karlfriedrich Schaller