Auswirkungen der Implementierung von Bildungsstandards auf die Entwicklung

DACH-Seminar November 2011, Itingen (Bericht der Schweizer Delegation, EDK 2011) Marco Adamina & Beat Mayer Auswirkungen der Implementierung von Bil...
Author: Gundi Heintze
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DACH-Seminar November 2011, Itingen (Bericht der Schweizer Delegation, EDK 2011)

Marco Adamina & Beat Mayer

Auswirkungen der Implementierung von Bildungsstandards auf die Entwicklung von Lehrmitteln 1. Ausgangslage und Einführung Die Implementierung von Bildungsstandards1 steht in einem erweiterten Verständnis der Frage danach, was Schülerinnen und Schüler wissen und können sollen und wie die Kompetenzen der Lernenden bestmöglich gefördert werden. Die Frage ist nicht neu, sie steht immer wieder zur bildungspolitischen und wissenschaftlichen Debatte. Dabei spielen das aktuelle Bildungsverständnis, die Erwartungen der Gesellschaft und die Ansprüche der Arbeitswelt an die Schule eine Rolle. Ein Aspekt der Diskussion über die Implementierung von Bildungsstandards betrifft die Funktion, die Form und den Einsatz von Lehrmitteln im Unterricht. Viele Entwicklungsarbeiten der letzten Jahre stehen in einem engen Bezug zu den Ergebnissen der internationalen Schulleistungsmessungen (TIMMS, PISA u.a.), der Lehr- und Lernforschung und der fachdidaktischen Forschung. In der bildungspolitischen Debatte stehen die Entwicklung und Implementierung von Bildungsstandards, die darauf abgestützte Überarbeitung der Lehrpläne und die Installierung eines Bildungsmonitorings im Vordergrund. Daraus ergeben sich Folgerungen für die Entwicklung von Lehrmitteln, wobei in diesem Zusammenhang auch der Einsatz neuer Informations- und Kommunikationstechniken eine wichtige Rolle spielt. Um die Auswirkungen der Implementierung von Bildungsstandards auf die Entwicklung von Lehrmitteln ausleuchten zu können, wird vorerst die Bedeutung von Lehrmitteln im Unterrichtsalltag dargestellt (2). Dann wird erläutert, wie in der Schweiz Lehrmittel entwickelt und wie Entscheide für den Einsatz und die Verwendung von Lehrmitteln im Unterricht getroffen werden (3). Im 4. Teil wird dargelegt, von welchem Verständnis der Kompetenzorientierung mit Bezug zu den Bildungsstandards heute ausgegangen wird und welche Implikationen sich                                                              1  Die Schweizerische Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) hat im Juni 2011 nationale Bildungsziele (Bildungsstandards) in Form von „Grundkompetenzen“ für die Bereiche Schulsprache, Fremdsprachen, Mathematik und Naturwissenschaften verabschiedet (vgl. http://www.edk.ch/dyn/12930.php). Wir verwenden im vorliegenden Artikel zur besseren Lesbarkeit die Begriffe ‚Bildungsstandards‘ und ‚Grundkompetenzen‘ (gemäss der Bezeichnung der EDK) synonym.

   

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für die Entwicklung von Unterricht und für die Lehrmittel ergeben. An zwei Beispielen werden aktuelle Ansätze der Lehrmittelentwicklung im deutschsprachigen Teil der Schweiz beleuchtet (5). Abschliessend werden Desiderata für die Entwicklungsarbeiten zu Lehrmitteln mit Bezug zur Implementation von Bildungsstandards zusammengestellt.

2. Bedeutung der Lehrmittel im Unterrichtsalltag Lehrmittel nehmen – durch deren Verwendung durch die Lehrerinnen und Lehrer – unmittelbar Einfluss auf die Gestaltung des Unterrichts. Dies im Gegensatz zum Lehrplan und auch zu Bildungsstandards, die zwar den politisch legitimierten Auftrag der Gesellschaft an die Schule verbindlich festlegen, sich aber kaum direkt, sondern eher vermittelt – durch Lehrmittel oder neu auch durch Testaufgaben – auf den Unterricht auswirken (sekundäre Lehrplanbindung: Künzli 1999, Künzli 2010). Lehrpersonen bereiten ihren Unterricht nicht in erster Linie mit dem Lehrplan vor und sie werden es künftig auch kaum mit den Bildungsstandards tun (vgl. Oelkers & Reusser 2008). Lehrerinnen und Lehrer orientieren sich bei der täglichen Unterrichtsvorbereitung vielmehr an Lehr- und Lernmitteln. Wenn sie den Lehrplan oder Bildungsstandards beiziehen, dann für die längerfristige Unterrichtsplanung, allenfalls unmittelbar nach Änderungen des Lehrplans oder der Bildungsstandards, zur Legitimation bei Diskussionen über ihren Unterricht oder zur Begründung von Anschaffungen den Schulträgern gegenüber. Aus der Optik des Lehrplans und der Bildungsstandards bzw. der für sie verantwortlichen Bildungsbehörden dienen Lehrmittel der Umsetzung dieser Grundlagen. Speziell im Zusammenhang mit Veränderungen, die im politisch legitimierten Lehrplan bzw. in den Bildungsstandards verankert werden, haben Lehrmittel die Funktion von Umsetzungsinstrumenten, indem sie die Lehrplanziele und –inhalte für den Unterricht konkretisieren und in ein den Lehrpersonen geläufiges Instrument transferieren. Insofern spielen Lehrmittel auch bei der Konkretisierung und Umsetzung der Bildungsstandards eine wichtige Rolle, wie noch zu zeigen sein wird (vgl. dazu auch Oelkers 2010). Elemente des Lehrplans oder der Bildungsstandards (Kompetenzen, Ziele, Inhalte) können auf verschiedene Art konkretisiert werden: Der Lehrplan wird in den Lehrmitteln nicht eindeutig und linear umgesetzt, es gibt bei der Konkretisierung vielmehr einen erheblichen Spielraum. So werden Autorinnen und Autoren von Lehrmitteln den Lehrplan und künftig auch die 2   

Bildungsstandards entsprechend ihrem Fach- und Lehr-/Lernverständnis interpretieren und bei der Entwicklung von Materialien und Aufgaben unterschiedlich konkretisieren. Ein weiterer Schritt der Umsetzung ergibt sich aus der Interpretation, Gewichtung und Auswahl der Aufgaben und Materialien für den Unterricht durch die Lehrpersonen und durch die Art und Weise, wie Lehrpersonen den Unterricht arrangieren. Bei der Umsetzung von Grundlagen aus Lehrplänen und Bildungsstandards für das Lernen im Unterrichtsalltag mittels Materialien aus Lehrmitteln wirken damit zwei „Filter“ auf entscheidende Weise: Die Autorinnen und Autoren bei der Entwicklung von Lehrmitteln und die Lehrpersonen beim Einsatz der Lehrmittel im Unterricht. Erst daraus ergeben sich die konkreten schulischen Lerngelegenheiten der Schülerinnen und Schüler. Die Entwicklung von Lehrmitteln wird von den Behörden weniger stark gesteuert, als dies beim Lehrplan der Fall ist. Der Entwicklungsprozess ist dynamischer und offener, was unter anderem dazu führt, dass Lehrmittel nicht einfach den Lehrplan sklavisch umsetzen, sondern in manchen Punkten über den Lehrplan hinausgehen und so Innovationen anstossen, die vielleicht künftig einmal behördlich sanktioniert und im Lehrplan verankert werden. Aus der Sicht der politischen Steuerung mag dies problematisch sein, für eine dynamische Unterrichtsentwicklung hat dieser Mechanismus durchaus Vorteile: Didaktische Innovationen können so durch Lehrmittel laufend in den Unterricht einfliessen.

3. Lehrmittelentwicklung und Lehrmittelentscheide in der Deutschschweiz Für die Bestimmung der Lehrmittel für die öffentlichen Volksschulen sind die Kantone zuständig. Jeder Kanton entscheidet somit autonom über die in den einzelnen Fächern zu verwendenden Lehrmittel. Diese Entscheide werden in der Regel von kantonalen Lehrmittelkommissionen vorbereitet und vom Erziehungsdirektor bzw. der Erziehungsdirektorin, in einzelnen Kantonen auch von der Gesamtregierung (Regierungsrat) oder von einem speziellen Bildungsrat gefällt. Die Kantone haben je eigene Regelungen zu den Lehrmitteln. Dabei wird den Lehrmitteln je nach Fach ein unterschiedlicher Status zugeschrieben; das Spektrum reicht von obligatorisch bzw. verbindlich bis zur freien Wahl durch die Schule. In den meisten Kantonen sind die Lehrmittel in den Fächern Deutsch, Französisch, Englisch und Mathematik obligatorisch; oft können die Schulen zwischen 2 oder 3 Lehrmitteln auswählen. In den übrigen Fächern sind 3   

Lehrmittel zu einzelnen Bereichen obligatorisch, der Rest ist empfohlen oder vollständig freigegeben. Insgesamt gibt es zwischen den Kantonen erhebliche Unterschiede bezüglich des Status der Lehrmittel (vgl. die Darstellung in der Broschüre der Interkantonalen Lehrmittelzentrale ilz, 2011). Die Kantone koordinieren ihre Lehrmittelentscheide sowie die Lehrmittelentwicklung und beschaffung auf freiwilliger Basis. Sie haben dazu 1973 die Interkantonale Lehrmittelzentrale ilz gegründet, bei der mit Ausnahme von drei kleineren Kantonen alle Deutschschweizer Kantone sowie das Fürstentum Liechtenstein mitarbeiten. Diese Zusammenarbeit ist unter anderem im Hinblick auf die Umsetzung des Lehrplans 21 und auf die Implementierung der nationalen Grundkompetenzen bedeutsam. Die Lehrmittelproduktion und der Vertrieb erfolgen durch private und staatliche Verlage. In allen Kantonen kommen sowohl Lehrmittel aus privaten wie aus öffentlichen Verlagen zum Einsatz. Die Konkurrenzsituation zwischen den Verlagen, die unterschiedlichen Bedürfnisse der Lehrerinnen und Lehrer, zum Teil auch die Unterschiede bei den kantonalen Lehrplänen sowie eine gewisse Heterogenität bei den Lehrmittelautorinnen und –autoren haben zu einem vielfältigen Lehrmittelangebot geführt. Welche Rolle Lehrmittel bei der Implementierung von Bildungsstandards übernehmen, hängt wesentlich von Entscheiden über die Entwicklung und Verbindlichkeit von Lehrmitteln durch die kantonalen Instanzen und Verlage ab sowie von der Koordination zwischen den Beteiligten. Als Ergänzung zu den vorgeschriebenen bzw. empfohlenen Lehrmitteln setzen viele Lehrpersonen zusätzliche Unterrichtsmaterialien ein. Eine recht grosse Tradition hat auch das Zusammenstellen von Unterlagen aus verschiedenen Lehrmitteln und – in einzelnen Fachbereichen – das Entwickeln eigener Materialien. Wie weit dabei Bezüge zum Lehrplan oder zu Bildungsstandards hergestellt werden, ist weitgehend von den Überzeugungen und vom schulfachbezogenen Verständnis der Lehrpersonen abhängig. Lernende informieren sich zunehmend auch selbstständig und mit Unterstützung der Eltern, recherchieren in Sachbüchern und im Internet und bearbeiten Aufgabensammlungen. Die Nutzung solcher zusätzlicher Angebote ist teilweise sozialschichtabhängig. Eine Kontrolle bezüglich der Übereinstimmung mit Lehrplänen oder Bildungsstandards gibt es nicht. Ein wichtiges Merkmal der Lehrmittelentwicklung in der Schweiz ist die starke personelle Vernetzung: Lehrmittelautorinnen und –autoren sind oft auch an Lehrplanentwicklungen beteiligt, sie sind Dozentinnen und Dozenten an Pädagogischen Hochschulen, in der Weiterbil4   

dung der Lehrpersonen tätig oder sie waren Mitglieder der wissenschaftlichen Konsortien zur Entwicklung der nationalen Bildungsstandards. Diese Vernetzungen können zwar zu unguten Vermischungen von Rollen und Funktionen führen; sie haben aber den Vorteil, dass die beschränkten personellen Ressourcen und das vorhandene Fachwissen effizient genutzt und die Wege zwischen den einzelnen Entwicklungsbereichen bzw. Projekten verkürzt werden und dadurch weniger Reibungsverluste entstehen. Diese Verknüpfungen führen dazu, dass Grundlagen- und Entwicklungsarbeiten oft von den gleichen Personen geleistet werden, was einerseits zu einer konsistenteren Entwicklung verschiedener Instrumente, andererseits aber auch zu einem grösseren Einfluss von einzelnen Personen und zu Abhängigkeiten führen kann. Lehrmittel der neuen Generation werden normalerweise in einem Verbund von Personen der Fachdidaktik und der Schulpraxis entwickelt. In dieser Zusammenarbeit werden fachdidaktische Grundlagen praxisnah aufbereitet, entworfene Materialien an ausgewählten Schulen in Unterrichtsarrangements eingesetzt und weiterentwickelt, anschliessend lehrmittelspezifisch aufbereitet und allenfalls in weiteren Schulen ein zweites Mal erprobt. Damit wird es vermehrt möglich, Verbindungen zwischen Theorie, Forschung und Praxis sowie zwischen Entwicklung, Erprobung und Umsetzung herzustellen und dabei auch Aspekte der Implementierung von Bildungsstandards mitzuberücksichtigen. Schliesslich ist darauf hinzuweisen, dass Entwicklungen oft nicht idealtypisch und kontinuierlich verlaufen. Wie bereits angetönt beeinflussen sich die verschiedenen Entwicklungsbereiche gegenseitig, was durch die beschriebenen personellen Vernetzungen begünstigt wird. So werden beispielsweise im Rahmen von Weiterbildungskursen neue Unterrichtskonzepte entwickelt, die dann in Form von Lehrmitteln konkretisiert und verbreitet werden und erst zu einem späteren Zeitpunkt in die Lehrpläne einfliessen. Dass dies aus der Optik des Primats des Lehrplans problematisch ist, wurde bereits erwähnt.

4. Implementierung der Bildungsstandards; der Beitrag der Lehrmittel Bildungsstandards, Kompetenzorientierung, Unterrichtsentwicklung Bildungsstandards beschreiben verbindliche (Mindest-)Erwartungen an das Wissen und Können der Lernenden. Sie basieren auf fachdidaktisch begründeten Kompetenzmodellen mit mehreren Kompetenzstufen, die durch (wenn immer möglich empirisch überprüfte) repräsentative Aufgabenbeispiele konkretisiert sind. Kompetenzmodelle und –raster dienen der Ver5   

ständigung über grundlegende Konzepte und Fähigkeiten in den Fachbereichen und legen durch die Stufung von Kompetenzen eine Grundlage für kumulatives Lernen. Sie schaffen damit ein Verständnis für die Entwicklung von Kompetenzen als Kern von Lernprozessen. Kompetenzorientiert unterrichten – wie dies mit Bezug zu Bildungsstandards heute verstanden wird (vgl. z.B. Baumert et al. 2010, Klieme & Rakoczy 2008, KMK & IQB 2010, Lersch 2010, Oelkers & Reusser 2008, Ziener 2008) – bedeutet, Lernen auf verstehendes Wissen und auf die Entwicklung von Fähigkeiten und Fertigkeiten auszurichten. Lernen wird dabei als aktiver, selbstgesteuerter, konstruktiver, dialogischer, situierter und reflexiver Prozess verstanden; handlungs- und anwendungsorientiertes Wissen und Können werden aufgebaut und weiterentwickelt. Diese Merkmale entsprechen weitgehend einem kognitivkonstruktivistischen Verständnis von Lernen und Unterricht (vgl. z.B. Möller 2010b). Nach Weinert (1998) sind dabei vier Kompetenzbereiche zu fördern: (1) der Erwerb intelligenten Wissens (vertikaler Lerntransfer), (2) der Erwerb situativer Strategien der Wissensnutzung (horizontaler Lerntransfer), (3) der Erwerb metakognitiver Kompetenzen (lateraler Lerntransfer) und (4) der Erwerb von Handlungs- und Wertorientierungen. Bei jedem Lernarrangement ist zu prüfen, was es zur Kompetenzentwicklung beiträgt. „Die wichtigste Frage ist nicht ‚Was haben wir durchgenommen?‘, sondern ‚Welche Vorstellungen, Fähigkeiten und Einstellungen sind entwickelt worden?‘„ (Blum et al. 2008, 15f). Für die Kompetenzentwicklung spielen die Lernvoraussetzungen und das Vorwissen der Schülerinnen und Schüler eine bedeutende Rolle; dies wirkt sich u.a. auf die Anlage und das Angebot von Lernumgebungen und Aufgaben in den Lehrmitteln aus. Diese Anforderungen an einen kompetenzorientierten Unterricht sind in der heutigen Schulpraxis erst teilweise erfüllt. Entsprechende Studien (Baumert & Köller 2000, Demuth et al. 2008, Prenzel et al. 2002, Seidel et al. 2002 bzw. 2007) zeigen unter anderem Folgendes: 

Unterricht ist oft zu wenig auf Verstehen und auf Wissensanwendung ausgerichtet.



Einseitige Methoden dominieren den Unterricht.



Neue Inhalte und Sachbezüge werden vorwiegend im fragend-erarbeitenden Unterricht eingeführt.



Schülerarbeitsphasen werden zum Teil wenig begleitet.



Es findet wenig Austausch von Ergebnissen statt.



Aufgaben sind stark auf Reproduktion und wenig auf das Übertragen und Anwenden oder auf argumentatives Begründen ausgerichtet. 6 

 



Es sind nur wenige Rückmeldungen über Lernprozesse und –ergebnisse feststellbar.



Es finden wenige Sequenzen mit Informationen zu Zielen und zum Verlauf des Lernprozesses statt.



Die Förderung von Fähigkeiten zu einem selbstgesteuerten und kooperativen Lernen wird häufig vernachlässigt.

Den Unterricht stärker auf die Förderung von Kompetenzen im Sinne der Bildungsstandards auszurichten, erfordert teilweise eine Neuausrichtung von Unterrichtskonzepten. „Auf die Kernfrage, wie sich gemessener Output in erfolgreichen Input und in verbesserte Lehr/Lernprozesse (rück)verwandeln lässt, gibt es keine testdiagnostischen, sondern nur didaktische Antworten, die nur geben kann, wer über erweiterte professionelle Kompetenzen verfügt.“ (Reusser 2007, 62). Die Implementierung von Bildungsstandards erfolgt nicht vor allem durch outputbezogene Tests, sondern durch die Gestaltung von Lernsituationen und – möglichkeiten im Unterricht. Sie betrifft sowohl das Lernen bzw. die Lernenden wie auch das Lehren (vgl. dazu Oelkers & Reusser 2008, 399ff). Kompetenzorientierung ist dabei nicht ein völlig neues Konzept von Unterricht, aber es werden neue Akzente gesetzt. Dieser Ausgangslage muss auch bei der Entwicklung von Lehrmitteln Rechnung getragen werden. Nur wenn es gelingt, mit der Konzeption und dem Materialangebot in den Lehrmitteln die Lehrpersonen anzusprechen, und nur wenn die Lehrpersonen überzeugt sind, dass diese Materialien für das Lernen nützlich und hilfreich sind, werden sie im Unterricht eingesetzt. Die Entwicklung von Lehrmitteln muss künftig verstärkt unter dieser Perspektive betrachtet werden. Zwischen den Erwartungen eines kompetenzorientierten, auf Bildungsstandards ausgerichteten Unterrichts einerseits und dem Unterrichtsalltag in vielen Klassen sowie den Konzepten und Überzeugungen von Lehrpersonen andererseits ergeben sich erhebliche Spannungsfelder. Diese Spannungsfelder sind eine Herausforderung für die Ausrichtung, Funktion, Entwicklung und Gestaltung von künftigen Lehr- und Lernmaterialien. Interessante Hinweise auf die Lehrmittelentwicklung für einen kompetenzorientierten Unterricht ergeben sich zudem aus den Diskussionen um eine erweiterte Aufgaben- und Beurteilungskultur. In verschiedenen Projekten zur Weiterentwicklung des Unterrichts in den Fachbereichen Mathematik und Naturwissenschaften (z.B. Sinus und Sinus-Transfer, siehe http://www.sinus-transfer.de/, oder Physik, Chemie, Biologie im Kontext) und im Zusammenhang mit der Umsetzung des Europäischen Referenzrahmens für Sprachen wurden entscheidende Entwicklungsarbeiten zu einer erweiterten Aufgabenkultur, zum situierten Lernen, zur Förderplanung und zum Begutachten und Beurteilen geleistet. „Gute fachliche Lernaufga7   

ben materialisieren jene Wissens- und Könnenskomponenten, lösen jene Denk- und Arbeitsprozesse aus und aktivieren jene analytischen und synthetischen Figuren des Problemlösens, Argumentierens, Betrachtens und Deutens, um die es in einem bestimmten Fach im Kern geht und die dessen intellektuelle Kultur ausmachen.“. (Oelkers & Reusser 2008, 408). Durch eine Ausrichtung von Aufgaben an grundlegenden Kompetenzen werden wichtige Impulse für das fachliche Lernen und die Unterrichtsentwicklung gegeben. Da Lernaufgaben weitgehend aus Lehr- und Lernmaterialien entnommen werden, ergeben sich aus den Ergebnissen und Erfahrungen der entsprechenden Projekte wichtige Folgerungen für die Entwicklung von Lehrmitteln. Lehrmittel als wirkungsvolle Instrumente Wie Oelkers und Reusser in ihrer Expertise zur Implementation von Bildungsstandards betonen, „benötigen Reformen (…) wirkungsvolle Instrumente zu ihrer Initiierung, Steuerung und nachhaltigen Umsetzung im Sinne eines Prozesses des (Um-)Lernens und des Wissenstransfers.“ (Oelkers & Reusser 2008, 303). Da bei der Implementation neben der Systemebene und der Ebene der Einzelschule vor allem auch die Unterrichtsebene relevant ist, gehören zu diesen Instrumenten wesentlich die Lehrmittel; sie spielen bei der Umsetzung von Bildungsstandards eine zentrale Rolle. Die von Oelkers und Reusser (2008, 304) formulierten Kriterien, die solche Instrumente zur Implementation von Bildungsstandards erfüllen müssen, sind bei den Lehrmitteln weitgehend gegeben, bzw. Lehrmittel können so gestaltet werden, dass sie diesen Ansprüchen optimal genügen. Die folgenden Merkmale lassen Lehrmittel für die Umsetzung von Bildungsstandards als besonders geeignet erscheinen: 

Lehrmittel sind grundsätzlich bezüglich ihres Gegenstandes offen.



Sie sind konkret und können anwendungsorientiert gestaltet werden.



Der Lernprozess der Schülerinnen und Schüler steht im Vordergrund.



Lehrmittel können einen systematischen Aufbau von Kompetenzen anregen und geben eine mögliche Grobstruktur des Unterrichts vor.



Sie sind den Lehrpersonen als Instrumente für die Planung und Gestaltung des Unterrichts bestens bekannt.



Sie können in grösseren Mengen produziert und flächendeckend eingesetzt werden.

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Lehrmittel bieten – soweit sie fachdidaktisch und stufenbezogen entsprechend abgestützt sind – den Lehrpersonen zudem fundiertes und adressatengerechtes Wissen und sie bereiten grundlegende Inhalte und Fähigkeiten fachdidaktisch konsistent auf. Damit geben sie den Lehrpersonen eine gewisse Sicherheit, im Unterricht „das Richtige“ zu tun. Die Ausrichtung auf eine gezielte Kompetenzentwicklung ist in neueren Lehrmitteln bereits deutlich feststellbar. Kennzeichnend sind zum Beispiel Merkmale wie 

die Orientierung an einem moderat konstruktivistischen Lehr-/Lernverständnis,



eine stärkere Betonung des aktiv-entdeckenden Lernens,



vielfältige Arbeitsaufträge und Übungsanlagen, die eine Differenzierung nach Leistungsansprüchen und Interessen unterstützen und das eigenständige Lernen fördern,



ein systematischer Aufbau von fachspezifischen Instrumenten und Arbeitstechniken,



integrierte oder ergänzende Diagnose- und Beurteilungsinstrumente und die Entwicklung einer Rückmeldekultur zwischen Lernenden und zwischen Lehrenden und Lernenden,



die Förderung der Sprachkompetenzen im Fachunterricht,



Unterstützung beim Umgang mit Informations- und Kommunikationstechnologien (ICT).

Lehrmittel sind also längst nicht mehr nur strukturierte Stoffsammlungen zu einem bestimmten Fach, vielmehr „kommt in neueren Lehrmitteln eine kognitiv-konstruktivistische Auffassung von Lernen und Lehren zum Ausdruck. Ihr liegt nicht nur ein mehrdimensionaler Kompetenz- und Wissensbegriff zugrunde, sondern sie unterstützt auch die Vermittlung von individuellen und sozialen Lernstrategien.“ (Criblez et al. 2009, 120)

5. Beispiele aus bestehenden Lehrmitteln Als Ergänzung und Illustration zu den bisherigen Überlegungen wird an zwei neueren Lehrmitteln erläutert, inwiefern diese bereits heute gute Voraussetzungen für die Implementierung von Bildungsstandards bieten. Gezeigt werden kann dabei vor allem, inwiefern die Kompetenzmodelle, die den Bildungsstandards zu Grunde liegen, in den Lehrmitteln zumindest ansatzweise bereits umgesetzt sind. Deutschlehrmittel „Die Sprachstarken“ Dieses neue Lehrmittel des Verlags Klett und Balmer (vgl. www.diesprachstarken.ch ) deckt den Bereich der Schulsprache Deutsch für das 2.-9. Schuljahr ab. Die Materialien für das 2.-6. 9   

Schuljahr sind bereits erschienen, die Lehrmittel für die Sekundarstufe I (7.-9. Schuljahr) sind in Arbeit. Das Lehrwerk besteht für jedes Schuljahr jeweils aus einem Sprachbuch und einem Arbeitsheft für die Schülerinnen und Schüler, einem Kommentarband mit CD-ROM für die Lehrpersonen sowie aus weiteren Materialien (Audio-CD, Karteikarten). Das Lehrmittel orientiert sich gemäss Angaben des Verlags an den Lehrplänen der Deutschschweizer Kantone und an den Bildungsstandards (obwohl die Bildungsstandards zum Erscheinungszeitpunkt des Lehrmittels weder fertig bearbeitet noch genehmigt und veröffentlicht waren). Ein Vergleich der Bildungsstandards bzw. Grundkompetenzen für die Schulsprache (EDK 2011a) zeigt, dass das Kompetenzmodell der Bildungsstandards nur bedingt mit der Struktur des Lehrmittels übereinstimmt. Die erste Dimension des Kompetenzmodells, also die 6 Kompetenzbereiche Hören, Lesen, Sprechen, Schreiben, Orthografie und Grammatik sind im Sprachbuch für die Schülerinnen und Schüler zwar abgedeckt, im Kommentarband für die Lehrpersonen aber anders miteinander verknüpft. Die zweite Dimension des Kompetenzmodells, nämlich die Handlungsaspekte Situieren, Planen, Realisieren, Evaluieren, Reparieren, sind im Lehrmittel vorhanden, aber nicht explizit gemacht. Ob alle Kompetenzen der Bildungsstandards im Lehrmittel abgedeckt und adäquat gewichtet sind, könnte nur eine detaillierte Analyse aller Materialien für sämtliche Schuljahre zeigen. Auf den ersten Blick fällt eine starke Gewichtung von Rechtschreibung und Grammatik im Arbeitsheft für die Schülerinnen und Schüler auf. Der Kommentarband enthält zahlreiche Überlegungen und Instrumente, die die Lehrpersonen darin unterstützen, die Kompetenzentwicklung der Schülerinnen und Schüler zu fördern und zu beurteilen. Im Kapitel „Beurteilen und Fördern“ werden das Beurteilungs- und das Lernverständnis sowie Beobachtungs- und Beurteilungsinstrumente für die einzelnen Sprachlernbereiche differenziert dargelegt. Fazit: Dieses neuere Sprachlehrmittel bietet bereits eine gute Grundlage für einen kompetenzorientierten Unterricht nach einem aktuellen fachdidaktischen Verständnis. Sobald der Lehrplan 21 mit den integrierten Bildungsstandards vorliegt, kann das Lehrwerk so überarbeitet werden, dass es die Umsetzung der Bildungsstandards optimal unterstützt.

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Lehrmittelreihe „Lernwelten Natur – Mensch – Mitwelt“ Die Lehrmittelreihe „Lernwelten Natur-Mensch-Mitwelt“ (vgl. www.nmm.ch) umfasst 14 themenbezogene Lehrmittel für alle Stufen der Primarschule (1.-6. Schuljahr) und 7 vorwiegend bereichsübergreifende Lehrmittel für die Sekundarstufe I (7.-9. Schuljahr). In einem Grundlagenband werden das Lehr- und Lernverständnis, das Fachverständnis sowie Impulse für das Lehren und Lernen in diesem Fachbereich dargestellt. Die Lehrmittelreihe wurde in erster Linie zur Umsetzung des Fachlehrplans Natur-Mensch-Mitwelt im Lehrplan für die Volksschule des Kantons Bern von 1995 entwickelt. Mit den Lehrmitteln sollten neue Impulse für die Unterrichtsentwicklung gesetzt werden. Die Lehrmittel entstanden zwischen 1998 und 2008. Die Entwicklungsarbeiten fielen damit in die Anfangszeit der Diskussion um Bildungsstandards und erfolgten vor der Publikation der HarmoS-Bildungsstandards für die Naturwissenschaften (Konsortium HarmoS Naturwissenschaften+ 2008). Unterlagen aus diesen Lehrmitteln wurden für die Konstruktion von Aufgabenbeispielen im Projekt Bildungsstandards verwendet. Das Konzept der Lehrmittelreihe orientiert sich an bereichsspezifischen Grundlagen wie der Konzeption von Science (und Social Science) Literacy (vgl. z.B. AAAS 2000), am Verständnis von Sachunterricht, wie er im Perspektivrahmen der GDSU (2002) aufgeführt wird, und an einem kognitiv-konstruierenden, Conceptual-Change fördernden Lern- und Unterrichtsverständnis (Adamina & Müller 2008, Möller 2010b). In den Lehrmitteln ist dies in der Auswahl von Materialien und in der Gestaltung von Lernaufgaben und Lernanlässen sichtbar. Spezielle Akzente werden im Wechselspiel zwischen Alltagsvorstellungen und Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler und der „Sachwelt“ sowie zwischen angeleitetem und eigenständigem Lernen gesetzt. Ansatzpunkte für Kritik ergeben sich aus der Fülle der Materialien und aus der Tatsache, dass für Lehrpersonen zu wenig zum Ausdruck kommt, was in den Lehrmitteln als grundlegend und was als erweiternd verstanden werden kann. Ein Vergleich der Grundkompetenzen für die Naturwissenschaften (EDK 2011b) zeigt, dass die Komponenten des Modells (Handlungsaspekte und Themenbereiche) weitgehend mit der Struktur der Lehrmittel übereinstimmen und Anregungen, wie sie in den Lerngelegenheiten zu den Grundkompetenzen angelegt sind, in den Materialien bereits aufgenommen und umgesetzt sind. In den Kommentaren für Lehrpersonen werden Kompetenzen im Sinne von Fähigkeiten und Fertigkeiten und der inhaltsbezogenen Konzepte erläutert, mit fachdidaktischen Grundlagen 11   

hinterlegt, mit Hinweisen auf die Umsetzung in den Themenheften konkretisiert und durch Anregungen für das eigenständige Lernen sowie für das Begutachten und Beurteilen im Unterricht erweitert. Erfahrungen zeigen aber, dass diese Hinweise z.T. als zu wenig praxisnah empfunden und für die Unterrichtsplanung und –umsetzung noch wenig genutzt werden. Fazit: Die Lehrmittel der Reihe „Lernwelten Natur-Mensch-Mitwelt“ bieten eine gute Grundlage und zahlreiche Impulse und Materialien für einen kompetenzorientierten Unterricht gemäss dem aktuellen fachdidaktischen Verständnis und für die Umsetzung der Grundkompetenzen Naturwissenschaften. Bei der Überarbeitung sind die Materialien allerdings noch fokussierter auf grundlegende Kompetenzen auszurichten, das kumulative Lernen ist mehr zu betonen und den Lehrenden und Lernenden müssen mehr Orientierungshilfen gegeben werden; möglicherweise ist das Materialangebot zu reduzieren. Lernaufgaben müssen stärker nach Gesichtspunkten der Differenzierungsmöglichkeiten mit gestuften Hilfen im Sinne von Scaffolds angelegt werden und insbesondere müssen mehr konkrete Hinweise zum Begutachten und Beurteilen gegeben werden.

6. Mögliche Perspektiven für die Entwicklungsarbeit im Bereich Lehrmittel Aus den bisherigen Ausführungen ergeben sich für die (Weiter-)Entwicklung von Lehrmitteln zur Implementierung der Bildungsstandards und der Unterrichtsentwicklung im Hinblick auf die Förderung und Entwicklung grundlegender Kompetenzen mehrere Perspektiven und Desiderata: 1. Abstützung auf Kompetenzmodelle. Lehrmittel stützen sich auf die Kompetenzmodelle ab, welche den Bildungsstandards in den einzelnen Fachbereichen zugrunde liegen. Den Lehrpersonen wird aufgezeigt, welche Konzepte und Möglichkeiten für die Entwicklung von Kompetenzen im Vordergrund stehen. Die Umsetzung der Bildungsstandards wird in Lerngelegenheiten und Aufgabenstellungen konkretisiert und den Lehrpersonen transparent gemacht. Damit wird das fachliche und fachdidaktische Wissen und Können der Lehrpersonen gestärkt (vgl. dazu z.B. Kunter et al. 2011). 2. Förderung der Kompetenzentwicklung. In den Lehrmitteln werden Möglichkeiten des kumulativen Lernens und der Stufung von Kompetenzen in den Fachbereichen aufgezeigt und mit Lernsituationen und Aufgaben konkretisiert. Die Lehrmittel enthalten Angebote für ver-

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schiedene Formen und Phasen des Lernprozesses, z.B. Lerngelegenheiten zum Erarbeiten, zum Üben, zum Übertragen und Anwenden. 3. Berücksichtigung der Lernvoraussetzungen. Kompetenzentwicklung wird in den Lehrmitteln als individuell-konstruktiver und dialogischer Prozess angelegt. In entsprechenden Lernsituationen und Aufgaben werden das Vorwissen und die Vorstellungen sowie die schulischen und ausserschulischen Erfahrungen der Lernenden aufgenommen. Der Heterogenität des Lernstandes der Schülerinnen und Schüler wird Rechnung getragen, indem Lernumgebungen und Aufgaben offen angelegt und mit Strukturhilfen für die Bearbeitung versehen werden, so dass eine Bearbeitung auf unterschiedlichen Wegen und mit unterschiedlicher Unterstützung möglich wird (vgl. dazu auch Punkt 5.3). Dabei müssen künftig mehr als bisher adäquate Lernmöglichkeiten für schwächere Schülerinnen und Schüler angeboten werden, damit die Kompetenzentwicklung im Sinne der Bildungsstandards möglich wird.

4. Unterstützung des selbstständigen Lernens. Lehrmittel haben eine wichtige Funktion bei der Erschliessung von Informationen. Dies bedingt, dass sie Unterstützung bieten für das eigenständige Erschliessen und Verarbeiten von Informationen sowie Einordnungshilfen und Übersichten, die dem Lernstand der Schülerinnen und Schüler angepasst sind und von diesen eigenständig weiterentwickelt werden können. Dazu gehören auch Darstellungen und Anregungen, die eine Verbindung von Alltagsvorstellungen und Sachwissen ermöglichen und die zum Verständnis von grundlegenden Konzepten („Big-Ideas“) in den Fachbereichen und zum Verständnis von gesellschaftlich relevanten Fragestellungen beitragen. 5. Aktivierende Lernaufgaben zur Förderung des eigenständigen Lernens. Lernaufgaben in den Lehrmitteln sind – mit Bezug zur aktuellen Diskussion einer erweiterten Aufgabenkultur – insbesondere auf die kognitive Aktivierung, das situierte Lernen und das eigenständige Lernen ausgerichtet. Dabei stehen drei Anliegen im Vordergrund: (5.1) Aufgabenstellungen ermöglichen eine aktiv-entdeckende Auseinandersetzung mit Sachen und Situationen und unterstützen Lern- und Denkprozesse. Dazu dienen z.B. Experimentier- und Erkundungsaufgaben, Bilder, Cartoons und Texte, narrative Anker oder historische Bezüge, die zu authentischen Frage- und Problemsituationen, zu einer Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Vorstellungen und zu Klärungen führen (vgl. dazu für die Mathematik z.B. Blum et al. 2008, bzw. für den naturwissenschaftlichen und geographischen Unterricht z.B. Beerenwinkel 2008, Möller 2010a, Reinfried et al. 2010).

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(5.2) Für die Schülerinnen und Schüler anschlussfähige, bedeutsame und interessante sowie gesellschaftlich relevante Kontexte bilden Ausgangspunkte für Lernaufgaben, anhand derer die Lernenden grundlegende Konzepte und Fähigkeiten entwickeln können. Damit kann die Aktivierung, Reflexion, Einordnung und Weiterentwicklung eigener Vorstellungen gefördert werden (vgl. dazu z.B. die Ergebnisse aus dem Projekt „Chemie im Kontext“, Demuth et al. 2008 oder Beerenwinkel & Parchmann 2010). (5.3) Aufgabenstellungen in Lehrmitteln sollen verschiedene Zugangsweisen, Lösungswege und Ergebnissicherungen ermöglichen. Um der Heterogenität der Schülerinnen und Schüler Rechnung zu tragen, sollten sich Lernmöglichkeiten und Aufgabenstellungen möglichst auf offene Ausgangssituationen und Fragestellungen beziehen und Hilfen für die inhaltliche Erschliessung und den Bearbeitungsprozesse enthalten, im Sinne von „Scaffolds“ (Lerngerüste) zum Anknüpfen, zum Strukturieren, Fokussieren, Etappieren von Lernprozessen u.a. (vgl. dazu z.B. das Konzept der Aufgabenstellungen mit gestuften Hilfen für den naturwissenschaftlichen Unterricht, Mogge & Stäudel 2008, Stäudel 2008, Wodzinski & Stäudel 2009). 6. Hilfestellungen zur Beurteilung. Lehrmittel enthalten konkrete Hilfestellungen zum Begutachten und Beurteilen von Kompetenzentwicklungen und zu Möglichkeiten von Rückmeldungen zum Lernprozess und zu Lernergebnissen mit Bezug zu den Kompetenzerwartungen (vgl. dazu z.B. Besser et al. 2010 für den Mathematikunterricht). Für eine produktive Lernkultur ist es wichtig, dass Lern- und Beurteilungssituationen getrennt werden. Zu entwickeln sind Testaufgaben und überschaubare Kriterienlisten, z.B. für die Beobachtung von Prozessen und die Beurteilung von Lernergebnissen, und dies sowohl für die Selbst- als auch für die Fremdeinschätzung. Ergänzt werden diese Angebote durch Anregungen und Unterlagen für die Reflexion von Lernprozessen und -ergebnissen (wie Lernjournale, Lernportfolios, Rückmeldungen in Lerntandems u.a.). Ein wichtiges Anliegen wird zudem künftig sein, Konzeptionen von Lehrmitteln und von Tests miteinander zu verknüpfen und – mit Bezug zu den Kompetenzmodellen und den Bildungsstandards – aufeinander abzustimmen. Aufgaben aus Testserien, die im Unterricht eingesetzt werden, können für einen produktiven Lernprozess, aber auch für den Einsatz von Lehrmitteln sehr wichtig sein. Sie geben Gelegenheit für ein Lernen in anderen Anwendungskontexten und für Vergleiche der Ergebnisse mit anderen Klassen oder mit grösseren Referenzgruppen. Damit ergeben sich Möglichkeiten, die eigenen Kompetenzen und die Kompetenzentwicklung einzuordnen und zu reflektieren, um Folgerungen für das weitere Lernen ziehen zu können. Dies ermöglicht zudem einen methodisch differenzierteren diagnostischen Prozess und – mit Bezug zum Vorwissen und den Fähigkeiten der Lernenden – eine adaptive 14   

Anlage von Lernarrangements, die durch verschiedene Aufgabenformate und durch entsprechende Scaffolds in Lehrmitteln unterstützt werden kann.

7. Begleitende Planungshilfen und Weiterbildung. Um die Lehrpersonen bei der Realisierung ihrer anspruchsvollen und zum Teil neuen Aufgaben zu unterstützen, müssen Lehrmittel konkrete Planungs-, Beobachtungs- und Strukturierungshilfen zur Verfügung stellen. Gezielte Weiterbildungen und die Begleitung von schulinternen Entwicklungsprojekten sind eine wichtige Komponente bei der Umsetzung von Lehrmitteln (vgl. z.B. Möller et al. 2009, Möller 2010a, allg. auch Oelkers & Reusser 2008, 358 ff). Die Initiierung und Umsetzung entsprechender Angebote und Arrangements stellen möglicherweise die grösste Herausforderung für die Implementierung der Bildungsstandards und für die Entwicklung von Lehrmitteln dar.

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30. August 2011, Marco Adamina & Beat Mayer

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