6.5. Satz von Gauss

6.5

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Satz von Gauss

Unter einem Vektorfeld F , definiert auf einer offenen Teilmenge D ⊂ Rn , versteht man eine Zuordnung, die jedem Punkt p ∈ D einen Vektor F (p) ∈ Rn zuordnet. Das Vektorfeld ist stetig bzw. differenzierbar, wenn diese Zuordnung stetig bzw. differenzierbar von p abh¨angt. 6.5.1 Definition Unter der Divergenz eines differenzierbaren Vektorfeldes F : D → Rn versteht man die Funktion div(F )(p) := Spur(dFp ) =

n X

∂j fj (p) f¨ ur p ∈ D,

j=1

wobei fj die Komponenten des Vektorfelds bezeichnen. Weil die Spur eine linearen Abbildung nicht von der Wahl der Koordinaten abh¨angt, ist auch die Definition der Divergenz davon unabh¨angig.   cx  6.5.2 Beispiele Ist F (x, y, z) = cy  (f¨ ur eine Konstante c ∈ R), dann ist cz   2 x + y2 div F (p) = 3c f¨ ur alle p ∈ R3 . Das Vektorfeld F (x, y, z) =  xy  hat die z sin(x) Divergenz div F (x, y, z) = 3x + sin(x). Den im letzten Kapitel behandelten Satz von Green k¨onnen wir jetzt, wie angek¨ undigt, mit dem Begriff der Divergenz neu umformulieren. In dieser Fassung werden wir den Satz dann anschliessend auf r¨aumliche Vektorfelder u ¨bertragen. 6.5.3 Satz Sei F : D ⊂ R2 → R2 ein stetig differenzierbares Vektorfeld und sei A ⊂ D ein Normalgebiet. F¨ ur jeden Punkt p ∈ ∂A bezeichne n(p) einen Einheitsvektor, der bei p auf ∂A senkrecht steht und nach aussen zeigt. Bezeichne schliesslich ds das Linienelement. Dann gilt: Z Z div F (x, y) dx dy = hF (p), n(p)i ds . A

∂A



 g(x, y) Beweis des Satzes. Sei F (x, y) = f¨ ur alle (x, y) ∈ D. Dann ist f (x, y) div F (x, y) = ∂x g(x, y) + ∂y f (x, y). Das Gebietsintegral u ¨ber div F stimmt also mit der linken Seite der Gleichung von Satz 6.4.2 u ¨berein (bis auf das Vorzeichen von f ). Schauen wir uns nun die rechte Seite genauer an. Nehmen wir an, der Rand des Gebietes A sei parametrisiert durch γ: [a, b] → D, wobei die Orientierungso gew¨ ahlt x(t) sei, dass das Innere von A immer links von γ(t) ˙ liege. Ist etwa γ(t) = f¨ ur y(t) alle t ∈ [a, b], so erhalten wir den ¨ausseren Normalenvektor n(γ(t)) durch Drehung

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Kapitel 6. Vektoranalysis

des Geschwindigkeitsvektors γ(t) ˙ um −90◦ und Normierung auf L¨ange 1. Das heisst also:   1 y(t) ˙ . n(γ(t)) = −x(t) ˙ ||γ(t)|| ˙ Daraus ergibt sich f¨ ur p = γ(t), wenn wir auch noch die eindimensionale Substitutionsregel verwenden: hF (p), n(p)i ds = hF (γ(t)), n(γ(t))i ||γ(t)|| ˙ dt = [g(x, y) y(t) ˙ − f (x, y) x(t)] ˙ dt = g(x, y) dy − f (x, y) dx . Dieser Ausdruck ist gerade der Integrand, der uns auf der rechten Seite der Gleichung von Satz 6.4.2 begegnet (wiederum bis auf das Vorzeichen von f ). Damit ist die Behauptung auf den Satz von Green zur¨ uckgef¨ uhrt. q.e.d. Sei jetzt K ein stetig differenzierbares Vektorfeld, definiert auf einer offenen Teilmenge D des 3-Raumes. Sei weiter A ein offenes Gebiet in R3 , das von einer orientierbaren, st¨ uckweise glatten kompakten Fl¨ache M = ∂A umschlossen wird. Als Orientierung der Fl¨ache w¨ahlen wir jeweils f¨ ur p ∈ M denjenigen Einheitsnormalenvektor n(p) ∈ Np (M), der vom Gebiet A aus nach aussen zeigt. Mit dF bezeichnen wir wie fr¨ uher das Fl¨achenelement, oder benutzen die in der Physik u ¨bliche Schreibweise dF~ (p) = ~n(p) dF (p) . Der Gausssche Integralsatz besagt nun folgendes: 6.5.4 Satz Z Z Z div K(x, y, z) dx dy dz = hK(p), n(p)i dF (p) = A

∂A

~ K(p) · dF~ (p) .

∂A

Beweis. F¨ ur den Beweis beschr¨anken wir uns auf den Fall, dass A in x-, y- und z-Richtung ein Normalgebiet ist. Analog zum zweidimensionalen Fall ist damit gemeint, dass etwa in z-Richtung das Gebiet A durch zwei Funktionsgraphen berandet wird: A = {(x, y, z) ∈ R3 | (x, y) ∈ U, α1 (x, y) < z < α2 (x, y)} , wobei U ⊂ R2 offen und α1 , α2 : U → R st¨ uckweise stetig differenzierbar seien. Sei jetzt f3 (x, y, z) die dritte Komponente des Vektorfeldes K und bezeichne n3 (p) die z-Komponente des ¨ausseren Normalenvektors an einen Punkt p ∈ ∂A. Wir zeigen nun: Z Z (∗) ∂z f3 (x, y, z) dx dy dz = f3 (p)n3 (p) dF (p) . A

∂A

Entsprechende Aussagen gelten auch f¨ ur die erste und zweite Komponente von K, und addiert man die drei Gleichungen zusammen, erh¨alt man die Behauptung. Beginnen wir zun¨achst mit der rechten Seite von (∗). Der Rand von A, dargestellt als z–Normalgebiet, besteht aus den zwei Funktionsgraphen von α1 und α2 und eventuell noch einem die R¨ander dieser Fl¨achen verbindenden Zylinder u ¨ ber U. Weil

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aber der ¨aussere Normalenvektor der Zylinderwand aber auf der z–Achse senkrecht steht, ist an solchen Punkten p die z-Komponente n3 (p) = 0. Die Zylinderwand tr¨agt also nichts zum Integral bei. Schauen wir uns jetzt Funktionsgraphen von α1 genauer an. Das Fl¨achenelement zu diesem Funktionsgraphen ist (wie bereits in Beispiel 6.3.3 berechnet) q dF = 1 + ∂x α1 (x, y)2 + ∂y α1 (x, y)2 dx dy . Weil diese Fl¨ache das Gebiet A von unten berandet, weist der ¨aussere Normalenvektor in negative z-Richtung, genauer ist   ∂x α1 (x, y) 1  ∂y α1 (x, y)  . n(p) = p 1 + ∂x α1 (x, y)2 + ∂y α1 (x, y)2 −1 Also ist n3 (p) dF (p) = −1 dx dy. Entsprechend erhalten wir f¨ ur den oberen Rand, den Funktionsgraphen von α2 q dF = 1 + ∂x α2 (x, y)2 + ∂y α2 (x, y)2 dx dy , und



 −∂x α2 (x, y) 1  −∂y α2 (x, y)  . n(p) = p 1 + ∂x α2 (x, y)2 + ∂y α2 (x, y)2 1

Hier ist jeweils n3 (p) dF (p) = +1 dx dy. Setzen wir dies in die rechte Seite von (∗) ein, finden wir Z f3 (x, y, α2 (x, y)) − f3 (x, y, α1 (x, y)) dx dy . U

Andererseits ist, weil A ein z–Normalgebiet ist: Z Z Z α2 (x,y) ∂z f3 (x, y, z) dx dy dz = ∂z f3 (x, y, z) dz dx dy = A

U

Z

α1 (x,y)

f3 (x, y, α2 (x, y)) − f3 (x, y, α1 (x, y)) dx dy .

U

Damit ist (∗) gezeigt.

q.e.d.

Hier nun zwei konkrete Beispiele.   c 6.5.5 Beispiel Sei K(x, y, z) =  0  und A = {(x, y, z) | y 2 + z 2 ≤ r 2 , a ≤ x ≤ b} 0 ein Zylinder (mit Innerem). Dann ist div K(x, y, z) = 0 f¨ ur alle (x, y, z) ∈ A, das Integral auf der linken Seite verschwindet also. Der Rand von A besteht aus drei Teilen, der Zylinderwand W und den Scheiben S1 = {(a, y, z) | y 2 + z 2 ≤ r 2 } und S2 = {(b, y, z) | y 2 + z 2 ≤ r 2 }. F¨ ur p ∈ W gilt jeweils n(p) ⊥ K(p), also liefert W

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Kapitel 6. Vektoranalysis

hier keinen Beitrag. F¨ ur p ∈ S1 ist n(p) = (−1, 0, 0) und daher hK(p), n(p)i = −c. Entsprechend ist f¨ ur p ∈ S2 der ¨aussere Normalenvektor n(p) = (1, 0, 0) und daher hK(p), n(p)i = c. Setzen wir dies ein, erhalten wir Z hK(p), n(p)i dF (p) = c(πr 2 − πr 2 ) = 0 . ∂A

6.5.6 Beispiel SeijetztA = {(x, y, z) | x2 + y 2 + z 2 ≤ r 2 } eine Kugel von Radius cx r und K(x, y, z) =  cy  (c ∈ R). Dann ist div K(x, y, z) = 3c, also konstant. F¨ ur cz p = pr und daher einen Punkt p = (x, y, z) auf der Kugeloberfl¨ache M ist n(p) = ||p|| hK(p), n(p)i = cr. Die Aussage des Gaussschen Integralsatzes lautet also in diesem Fall: Z div K(x, y, z) d3(x, y, z) = 3c Volumen(A) = cr Fl¨acheninhalt(M) . A

Und tats¨achlich gilt ja f¨ ur die Kugel A von Radius r Volumen(A) =

4π 3 1 r = r Fl¨acheninhalt(M) . 3 3

Fassen wir das Vektorfeld als die Momentaufnahme einer Str¨omung auf, so dass K(p) jeweils die R Geschwindigkeit der Str¨omung an dieser Stelle angibt, dann misst das Integral ∂A hK(p), n(p)i dF (p), wieviel Str¨omung insgesamt durch den Rand des Gebietes nach aussen abfliesst (bzw. bei negativem Vorzeichen hineinfliesst). In Beispiel 6.5.5 oben fliesst beispielsweise gleichviel Str¨omung von der linken Seite in den Zylinder hinein, wie auf der rechten Seite aus dem Zylinder wieder austritt. Der Satz von Gauss liefert folgende Integraldefinition der Divergenz: 6.5.7 Folgerung Ist p ein innerer Punkt von D und bezeichnet (Bn )n∈N eine Folge von Kugeln um p in D, deren Radien rn gegen 0 konvergieren, dann ist: Z Z 1 1 ~ div K(p) = lim hK(p), n(p)i dF (p) = lim K(p)· dF~ (p) . n→∞ Vol(Bn ) ∂B n→∞ Vol(Bn ) ∂B n n Beweis. Weil die Divergenz von K eine stetige Funktion ist, gibt es nach dem Integralmittelwertsatz zu jeder Kugel Bn einen Punkt ξn ∈ Bn mit Z Z 3 d3 (x, y, z) = div K(ξn ) Vol(Bn ) . div K(x, y, z) d (x, y, z) = div K(ξn ) Bn

Bn

Nach dem Satz von Gauss ist also 1 div K(ξn ) = Vol(Bn )

Z

∂Bn

hK(p), n(p)i dF (p) .

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Lassen wir nun n gegen unendlich gehen, konvergiert ξn gegen p und es folgt die Behauptung. q.e.d. Also gibt die Divergenz im Punkt p an, wieviel Str¨omung pro Volumeneinheit von p ausgeht (oder dort hineinfliesst, je nach Vorzeichen). Man spricht deshalb auch von der Quelldichte bei p. Beschreibt K die Str¨omung einer inkompressiblen Fl¨ ussigkeit, so kann es keine Quellen oder Senken geben und die Divergenz an jeder Stelle ist gleich Null. Hier noch eine physikalische Anwendung des Satzes von Gauss: Ein fester K¨orper A ⊂ R3 konstanter Dichte ρ > 0 sei in Wasser eingetaucht. Die Wasseroberfl¨ache liege bei z = 0. Nehmen wir an, ∂A sei eine glatte Fl¨ache. Bezeichne ausserdem Vol(A) das Volumen von A und g die Erdbeschleunigung. Die Gesamtauftriebskraft, verursacht durch das den K¨orper umgebende Wasser, ist gegeben durch Z K := ρg z n(p) dF (p) . ∂A

Dann gilt das archimedische Prinzip: 

 0 . 0 K= ρg Vol(A)

Die resultierende Kraft zeigt also in z-Richtung und ist proportional zum Volumen des K¨orpers. Beweis. Die Auftriebskraft K ist definiert als ein vektorwertiges Integral, anders gesagt, die drei Komponenten f1 , f2 , f3 der Kraft K in x, y, und z-Richtung sind definiert durch Z Z fj := ρg z nj (p) dF (p) = ρg z nj (p) dF (p) , ∂A

∂A

wobei nj (p) die j-te Komponente des Einheitsnormalenvektors n(p) an der Stelle p ∈ ∂A angibt. Zu zeigen ist also: Z Z Z z n1 (p) dF (p) = z n2 (p) dF (p) = 0 und z n3 (p) dF (p) = Vol(A) . ∂A

∂A

∂A

F¨ ur das Vektorfeld K1 (x, y, z) = (z, 0, 0)R gilt (div K1 )(x, y, z) = ∂x z = 0. Also liefert der Gausssche Integralsatz hierR0 = ∂A zn1 (p) dF (p) . Entsprechend erh¨alt ur das dritte Vektorfeld man f¨ ur K2 (x, y, z) = (0, z, 0): 0 = ∂A zn2 (p) dF (p) . F¨ K3 (x, y, z) = (0, 0, z) schliesslich gilt (div K3 )(x, y, z) = ∂z z = 1. Der Gausssche Integralsatz lautet in diesem Fall: Z Z 1 dxdydz = Vol(A) = zn3 (p) dF (p) . A

Damit ist alles gezeigt.

∂A

q.e.d.