Zukunft der Jugendhilfe

Landesjugendamt und Westf. Schulen Zukunft der Jugendhilfe – Szenarien und Tendenzen zu ausgewählten Bevölkerungsgruppen – Expertise im Auftrag des L...
Author: Richard Böhm
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Landesjugendamt und Westf. Schulen

Zukunft der Jugendhilfe – Szenarien und Tendenzen zu ausgewählten Bevölkerungsgruppen – Expertise im Auftrag des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe Landesjugendamt

Autorin: Elke Bruckner Gesellschaft für Beratung sozialer Innovation und Informationstechnologie - GEBIT -

Druck: Landschaftsverband Westf.-Lippe Landesjugendamt Warendorfer Str. 25, 48133 Münster www.lja-wl.de

Corrensstr. 80, 48149 Münster Tel. 0251 / 857 1130 Fax 0251 / 857 1131 E-Mail [email protected] www.gebit-ms.de

Münster, Januar 2004

Expertise: Zukunft der Jugendhilfe –Szenarien und Tendenzen –

Inhalt

ZUKUNFT DER JUGENDHILFE – SZENARIEN UND TENDENZEN –..................................2 Anlass und Projektauftrag ........................................................................................................2 Zukunftsszenario I: Bevölkerungszusammensetzung unter veränderten demographischen Bedingungen ...........5 Zukunftsszenario II: Wirtschaft und Arbeitsmarkt unter veränderten demographischen Bedingungen ..................9 Zukunftsszenario III: Bildungsbeteiligung unter veränderten demographischen Bedingungen ...............................12 Zukunftsszenario IV: Integration unter veränderten demographischen Bedingungen .............................................15 Zukunftsszenario V: Jugend(hilfe) unter veränderten demographischen Bedingungen .........................................21 Fazit: Welche Anforderungen stellt der demographische Wandel an die Jugendhilfe? ..................30 LITERATUR ...........................................................................................................................33

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GEBIT, Münster – Januar 2004

Expertise: Zukunft der Jugendhilfe –Szenarien und Tendenzen –

Zukunft der Jugendhilfe – Szenarien und Tendenzen – Anlass und Projektauftrag Im Dezember 2003 hat das Landesjugendamt Westfalen-Lippe der GEBIT (Gesellschaft für soziale Beratung und Informationstechnologie, Münster) den Auftrag zu einer Expertise erteilt, der den Zusammenhang von demographischer Entwicklung, Armut und Migration aufzeigen soll. Hintergrund sind verschiedene Forschungsergebnisse und Entwicklungen. Hierzu gehört zum einen die bereits vom Landesjugendamt aufgegriffene Frage des demographischen Wandels und seiner Folgen für den Bereich der Jugendhilfe: Die Expertise „Auswirkungen des Bevölkerungsrückgangs auf die Kinder- und Jugendhilfe bis zum Jahr 2010 in Westfalen-Lippe“, die im Mai 2000 vorgelegt wurde, hat die Folgen des demographischen Wandels für die verschiedenen Arbeitsfelder der Jugendhilfe untersucht (Schilling 2000). Am stärksten betroffen von den Folgen der Bevölkerungsentwicklung ist nach dem Ergebnis der Expertise der Kindergartenbereich. Das Gutachten empfiehlt als eine Variante, die infolge der zukünftig geringeren Kinderzahl wegfallenden Plätze für 3- bis unter 6-Jährige umzuwandeln, um die Betreuungsquote für unter 3-Jährige sowie für Grundschulkinder zu erhöhen. Um die praktische Umsetzung dieser Expertise zu erproben, wurde im März 2001 das Modellprojekt „Jugendhilfestrategien 2010“ gestartet, das exemplarisch in vier Jugendamtsbereichen in Westfalen-Lippe1 Verfahren erproben soll, die eine systematische und fachlich begründete Planung ermöglichen. Im Dezember 2002 wurde der erste und im Februar 2004 der zweite Zwischenbericht zu diesem Modellprojekt vorgelegt. Der Endbericht wird voraussichtlich im vierten Quartal 2004 vorliegen. Das Thema demographischer Wandel und seine Folgen wird jedoch nicht nur im Bereich der Jugendhilfe diskutiert. Auch in der gegenwärtigen Reformdiskussion der sozialen Sicherungssysteme spielt es eine zentrale Rolle. Die Folgen des zu erwartenden Bevölkerungsrückgangs betreffen Altenhilfe, Arbeitsmarkt und Stadtentwicklung ebenso wie den Bildungsbereich und damit ganz verschiedene kommunale Politikfelder. Im Bildungsbereich ist eine verstärkt geführte Diskussion aufgrund der im Jahr 2000 erschienenen PISA-Ergebnisse2 festzustellen. Insbesondere der für Deutschland aufgezeigte enge Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Schulerfolg sowie zwischen Migrationshintergrund und Schulerfolg haben mittlerweile zu verschiedenen Neuerungen im Bildungsbereich geführt: Das Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" der Bundesregierung soll die Länder beim flächendeckenden Auf- und Ausbau des schulischen Ganztagsangebots unterstützen. In Nordrhein-Westfalen haben mit Beginn des Schuljahres 2003/2004 die ersten Offenen Ganztagsschulen ihren Betrieb aufgenommen. Dieses Angebot soll explizit in Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe entwickelt werden.

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Stadt Bielefeld, Stadt Kamen, Kreis Lippe und Kreis Coesfeld. Programme for International Student Assessment.

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Ebenfalls in Nordrhein-Westfalen wurden weitere Änderungen des Schulrechts vorgenommen, die explizit mit den Ergebnissen der PISA-Studie begründet werden und zum Ziel haben, im Bildungsbereich benachteiligte Gruppen gezielt zu fördern: Das Vorziehen der Schulanmeldung und vorschulische Sprachförderung soll insbesondere Migrantenkindern einen besseren Schulstart ermöglichen. Die Einführung der Schuleingangsphase soll schwächere Schüler/innen ebenso wie hoch Begabte gezielt fördern. Erweiterte Kompetenzen der Schulkonferenz, die nunmehr auch Erziehungsfragen umfassen, soll die Zusammenarbeit von Schule und Eltern stärken. Die Verpflichtung von Schulen und Schulaufsicht zu kontinuierlicher Qualitätsentwicklung und -sicherung soll die Qualität des Unterrichts fördern und sichern. Die „Bildungsvereinbarung NRW“, die zwischen dem Ministerium für Schule, Jugend und Kindern, den kommunalen Spitzenverbänden, den Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege und den Kirchen geschlossen wurde und am 1. August 2003 in Kraft trat, soll dazu beitragen, den Bildungsauftrag des Kindergartens weiterzuentwickeln. Dass sozialer Status nicht nur für den Bildungserfolg von wesentlicher Bedeutung ist, sondern auch für die Inanspruchnahme von Hilfen zur Erziehung eine wesentliche Rolle spielt, haben erneut die Ergebnisse des Forschungsprojekts „Verbesserte Zielorientierung im Bereich Hilfen zur Erziehung“ gezeigt, das im Auftrag des Landesjugendamtes Westfalen-Lippe von der GEBIT durchgeführt wurde (Bruckner, Langenohl und Meyer 2003). Es konnte u.a. nachweisen, dass der wichtigste Risikofaktor für die Inanspruchnahme von Hilfen zur Erziehung der Bezug von Sozialhilfe ist. Für eine Vielzahl von Problemlagen erwies sich der Sozialhilfebezug zudem ebenfalls als wichtigster Faktor. Demographischer Wandel und seine Folgen, von PISA aufgezeigte Mängel im Bildungswesen, die insbesondere Migranten und Kinder aus niedrigeren Sozialschichten benachteiligen sowie Befunde zur Problembelastung von Kindern und Jugendlichen in wirtschaftlich prekären Lebensverhältnissen bilden den Hintergrund für die folgenden Ausführungen. Um Prognosen über zukünftige Entwicklungen anzustellen, bedarf es gesicherter Daten sowohl über den heutigen Ist-Zustand und heute bereits in Gang gesetzte Trends als auch über Wirkungszusammenhänge, die eine Projektion in die Zukunft erlauben. Je größer der Zeitraum der Prognose, desto unsicherer werden jedoch auch die Aussagen einer so fundierten Prognose. Empirisch vergleichsweise gesicherte Daten, die eine Prognose erlauben, liegen im Bereich der Bevölkerungsentwicklung sowie z.T. auch im Bereich der ökonomischen Entwicklung vor. Auch Schillings Ausführungen zur Entwicklung der Kindergartenplätze (2000), die sich auf die Bevölkerungsentwicklung stützen, kann als empirisch vergleichsweise gesicherte Prognose betrachtet werden. Solche gesicherten Daten liegen jedoch nicht für alle hier behandelten Themenbereiche vor. So ist beispielsweise die Entwicklung von Hilfen zur Erziehung nicht nur – und wahrscheinlich nicht einmal in erster Linie – von der Größe der Zielgruppe abhängig, sondern von normativen Vorgaben darüber, welche Lebenskonstellationen von Kindern und Jugendlichen als problematisch betrachtet werden und welche professionellen Standards gesetzt werden. Ähnliches gilt für den Bereich der Integration. Selbst eine Prognose darüber, wie viele Menschen zukünftig zu integrieren sein werden, hängt wesentlich von normativen Vorgaben darüber ab, was unter Integration verstanden werden soll. Nicht zuletzt ist die Frage der Integration eine Frage der rechtlich erlaubten Zuwanderung – eine Frage, die z.Zt. im Rahmen der Debatte um ein Zuwanderungsgesetz heftig diskutiert – jedoch noch nicht entschieden ist. 3

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Zukunftsaussagen in Bereichen, in denen Wirkungszusammenhänge sehr komplex sind und das empirische Faktenwissen entsprechend beschränkt ist, sind nur in Form von Szenarien möglich. Im Rahmen von Szenarien werden „plausible Aussagen des Möglichen“ gemacht (Göschel 2003, S. 14). Ausgangspunkt ist dabei die Analyse der Ist-Situation, die Identifikation von Problemfeldern sowie die Analyse von Einflussfaktoren. Ziel der Szenarien ist es, auch bei relativ großer Unsicherheit möglichst realistische Entwicklungsmöglichkeiten bzw. – korridore aufzuzeigen. Da es sich bei den Fragestellungen dieser Expertise um Bereiche handelt, in denen solche komplexen Wirkungszusammenhänge vorliegen, werden im folgenden Zukunftsszenarien zu den verschiedenen Themenbereichen entwickelt. Im wesentlichen wird es sich dabei um Trendanalysen handeln: D.h. es wird aufgezeigt, welche Entwicklungen eintreten werden, wenn heute bereits festzustellende Trends weiter wirksam sein werden. Ausgangspunkt ist das Zukunftsszenario zur Bevölkerungszusammensetzung. In einem zweiten Szenario geht es um die Frage, welche Folgen in der Wirtschaft sowie auf dem Arbeitsmarkt zu erwarten sind, wenn die Trends der Bevölkerungsentwicklung anhalten. Das dritte Zukunftsszenario befasst sich mit dem Bildungsbereich. Welche Entwicklungen sind hier in Zukunft zu erwarten, wenn die heute vielfach diskutierten Probleme im Bildungsbereich auch bei der zu erwartenden Bevölkerungsentwicklung anhalten? Das vierte Zukunftsszenario betrachtet die Entwicklung der Integration von Zuwanderern bzw. der Bevölkerung mit Migrationshintergrund insgesamt. In einem fünften Szenario schließlich werden mögliche Entwicklungen im Jugendhilfebereich dargestellt. Schließlich wird in einem Gesamtszenario noch einmal zusammengefasst, welche Entwicklungen in den verschiedenen Bereichen zu erwarten sind bzw. in welchen Bereichen Maßnahmen ergriffen werden müssen, um negative Entwicklungen zu vermeiden und positive zu unterstützen. Grundlage für die Entwicklung der Szenarien bilden aktuelle Daten zu den verschiedenen Themenbereichen. Soweit solche Daten für Nordrhein-Westfalen bzw. für Westfalen-Lippe vorliegen, wird auf diese zurückgegriffen. Dies ist jedoch nicht für alle Bereiche der Fall. So bezieht sich beispielsweise das Zukunftsszenario zur Bevölkerungszusammensetzung in erster Linie auf die 10. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes von 2003, da für Nordrhein-Westfalen z.Zt. nur eine Bevölkerungsvorausberechnung von 2000 veröffentlicht vorliegt. Aktuelle Prognosen zur Erwerbstätigenentwicklung beziehen sich ebenfalls auf die Bundesrepublik insgesamt. Im Rahmen dieser Expertise ist es sowohl aus Zeitgründen wie auch aus Gründen der vorhandenen Datenbasis nicht möglich, die Entwicklungen differenziert nach Kommunen in Westfalen-Lippe darzustellen. Es geht vielmehr darum, allgemeine Entwicklungstendenzen aufzuzeigen und Problemfelder zu identifizieren, die kommunalen Handlungsbedarf deutlich machen.

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Zukunftsszenario I: Bevölkerungszusammensetzung unter veränderten demographischen Bedingungen Die Entwicklung der Bevölkerung ist im wesentlichen von drei Faktoren bestimmt: Von den Geburtenhäufigkeiten, der Lebenserwartung sowie den Wanderungen. Grundlage für die Bevölkerungsentwicklung und damit auch für entsprechende Prognosen ist jedoch zunächst die gegenwärtige Bevölkerungszusammensetzung nach Altersgruppen und Geschlecht. Ausgangspunkt für die Berechnung zukünftiger Geburtenhäufigkeiten ist die Anzahl der Frauen im Alter von 15 bis unter 49 Jahren, also der Anzahl der potenziellen Mütter. Der erste Unsicherheitsfaktor, der sich bei einer Bevölkerungsprognose ergibt, ist die Frage, wie viele Kinder diese Frauen im Durchschnitt bekommen werden. Dies ist von verschiedenen Faktoren abhängig. So wird gegenwärtig diskutiert, inwieweit verbesserte Möglichkeiten zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf die Geburtenrate eventuell erhöhen könnten. Zur Zeit werden im bundesdeutschen Durchschnitt pro Frau im gebärfähigen Alter 1,4 Kinder geboren. Diese Anzahl reicht jedoch nicht aus, um ihre Elterngeneration zu ersetzen. Dazu müssten im Durchschnitt 2,1 Kinder pro Frau geboren werden. Die Experten sind sich einig, dass es z.Zt. keine Anzeichen für eine solche Steigerung der Geburtenrate gibt (vgl. Statistisches Bundesamt 2003). Angesichts der bereits heute im internationalen Vergleich sehr niedrigen deutschen Geburtenrate, wird jedoch auch nicht von einem weiteren Sinken der Kinderzahl ausgegangen. Die 10. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes (2003) geht daher in ihren Annahmen weiterhin von einer Geburtenhäufigkeit von 1,4 Kinder pro Frau aus. Da bereits seit den 70er Jahren nicht genug Kinder geboren werden, um ihre Elterngeneration zu ersetzen, ist die Zahl der potenziellen Mütter schon heute zurückgegangen und sie wird zukünftig noch weiter sinken. Ein deutlicher Rückgang der Bevölkerung insgesamt ist daher vorprogrammiert.

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Ein weiterer wichtiger Faktor für die Entwicklung der Bevölkerung ist die Lebenserwartung. Sie liegt heute bei Neugeborenen um 30 Jahre höher als vor 100 Jahren. Im Jahr 2000 lag die Lebenserwartung von Mädchen bei fast 81, die von Jungen bei fast 75 Jahren. Es ist davon auszugehen, dass die Lebenserwartung weiter steigt – wenn auch sicher nicht mehr in einem so starken Ausmaß. Immerhin geht aber beispielsweise das Statistische Bundesamt in seiner 10. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung (2003) auch in seiner pessimistischsten Variante davon aus, dass die Lebenswartung von Mädchen bis 2050 auf 88 Jahre, die von Jungen auf fast 83 steigen könnte. Nimmt man diese beiden Entwicklungen – die der Geburten und die der Lebenserwartung – zusammen, bedeutet dies neben einem Rückgang der Bevölkerungszahl insgesamt auch eine Veränderung der Alterszusammensetzung: Der Anteil der jüngeren Altersgruppen an der Bevölkerung wird in Zukunft niedriger sein, der der Älteren höher. Der sogenannte Altersquotient, der angibt, wie viele Personen im erwerbsfähigen Alter von 15- bis unter 65 Jahren den Personen im Rentenalter gegenüberstehen, wird sich damit drastisch verändern: Auf 100 Personen im erwerbsfähigen Alter kommen immer mehr Personen im Rentenalter. Die Altersgruppen sind damit unterschiedlich stark vom Bevölkerungsrückgang betroffen. Auch wenn sich insgesamt ein Bevölkerungsrückgang ergibt, wird nicht nur der Anteil der Älteren an der Bevölkerung, sondern auch die absolute Zahl der Älteren zunehmen. Umgekehrt wird nicht nur der Anteil der Kinder und Jugendlichen, sondern auch ihre absolute Zahl abnehmen. Die Experten sind sich einig darüber, dass auch der dritte eingangs genannte Faktor, der die Bevölkerungszusammensetzung beeinflusst – nämlich die Zuwanderung – die Alterung der Bevölkerung nicht aufhalten kann. Dies macht eine Berechnung der Vereinten Nationen drastisch deutlich: Bis zum Jahr 2050 müssten in Deutschland 175 Millionen Personen zuwandern, damit der Altersquotient konstant bleibt (vgl. United Nations 2000). Zuwanderung kann die Alterung der Bevölkerung also höchstens verlangsamen. GEBIT, Münster – Januar 2004

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Wie hoch die Zuwanderung in Zukunft sein wird, ist allerdings der am wenigsten abzuschätzende Faktor in den Bevölkerungsvorausberechnungen. Zuwanderung ist abhängig von der Situation in den Herkunftsländern potenzieller Migranten, von der Situation im potenziellen Aufnahmeland wie nicht zuletzt von den gesetzlichen Regelungen, die im Hinblick auf die Aufnahme von Zuwanderern getroffen werden. Die Bevölkerungsvorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes wie auch des Landesamtes für Datenverarbeitung und Statistik Nordrhein-Westfalen, haben daher auch Varianten mit unterschiedlichem Zuwanderungsannahmen berechnet. Auch die Variante mit der höchsten Zuwanderungsrate führt allerdings angesichts anhaltend niedriger Geburtenraten und steigender Lebenserwartung zu einer Schrumpfung der Bevölkerung und zur Zunahme der höheren Altersgruppen.

Diese kurze Darstellung macht deutlich, dass der demographische Wandel in der Bundesrepublik nicht aufzuhalten ist. Dies zeigen sowohl die z.Zt. vorliegenden Prognosen des Statistischen Bundesamtes bis 2050 als auch die des Landesamtes für Datenverarbeitung und Statistik des Landes Nordrhein-Westfalen bis 2040. Zwar fällt die Veränderung der Bevölkerungszusammensetzung in einzelnen Bundesländern, einzelnen Regionen und einzelnen Kommunen z.T. recht unterschiedlich aus – sind die zukünftigen Veränderungen der Bevölkerungszusammensetzung doch von der Zusammensetzung der Bevölkerung heute abhängig. Dies zeigen die Bevölkerungsprognosen, die für Kreise und kreisfreie Städte vom Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung Nordrhein-Westfalen berechnet wurden. Für kreisangehörige Städte, für die solche Prognosen nicht routinemäßig erstellt werden, besteht die Möglichkeit, beim LDS Bevölkerungsvorausberechnungen erstellen zu lassen. Hiervon machen gerade im Bereich Westfalen-Lippe zunehmend mehr kreisangehörige Städte Gebrauch. Solche kommunalen Prognosen sind deshalb von Bedeutung, weil der Rückgang der Bevölkerung bzw. bestimmter Altersgruppen in den Städten und Gemeinden zu unterschiedlichen Zeitpunkten einsetzt und unterschiedlich stark ausfällt. Besonders wichtig ist dabei, dass die7

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se Prognosen möglichst kleinräumig erstellt werden, d.h. es müssen in den kreisfreien Städten insbesondere auch Prognosen für die einzelnen Stadtteile und in den Kreisen Prognosen für jede kreisangehörige Gemeinde erstellt werden.3 Dies sind wichtige Voraussetzungen, die es erst ermöglichen, die Infrastruktur vor Ort entsprechend anzupassen. Der demographische Wandel stellt neue Herausforderungen an eine vorausschauende kommunale Politik. Die Vorausberechnung der Bevölkerung liefert die Basisinformationen für politische Entscheidungen, die heute bereits in die Wege zu leiten sind. Das Modellprojekt „Jugendhilfestrategien 2010“ des Landesjugendamtes Westfalen-Lippe hat sich dieser Fragestellungen explizit angenommen. Obwohl das Thema demographischer Wandel heute meist (noch) im Kontext der Reform der sozialen Sicherungssysteme – und damit als gesamtgesellschaftliches und eher abstraktes Thema – diskutiert wird, werden die Folgen als erstes auf kommunaler Ebene sichtbar. Sie betreffen alle Lebensbereiche vor Ort: den örtlichen Wohnungsmarkt ebenso wie die kommunale Infrastruktur an Kindergärten, Schulen oder Schwimmbäder, aber auch die örtliche Wirtschaft, die sich auf ein geringeres und altersmäßig anders zusammengesetztes Arbeitskräftepotenzial einstellen muss. Bevölkerungszusammensetzung unter veränderten demographischen Bedingungen Der demographischen Wandel bedeutet sowohl einen Rückgang der Bevölkerungszahl insgesamt, als auch eine veränderte Zusammensetzung der Bevölkerung: Es wird mehr alte Menschen und weniger junge Menschen geben. Diese Entwicklung ist ein wichtiges Thema für die Kommunen, da von den Folgen dieser Entwicklung alle Politikfelder betroffen sind. Da der zukünftige demographische Wandel wesentlich von der heutigen Bevölkerungszusammensetzung bestimmt wird, ist es von großer Bedeutung, dass die Kommunen eigene Prognosen zur Verfügung haben, um die abzusehende Entwicklung vor Ort kennen zu lernen und entsprechende strategische Planungen einleiten zu können.

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Zu den Möglichkeiten und Problemen von Bevölkerungsprognosen für kreisangehörige Gemeinden siehe Einig 2003.

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Zukunftsszenario II: Wirtschaft und Arbeitsmarkt unter veränderten demographischen Bedingungen Der demographische Wandel stellt auch eine Herausforderung für Wirtschaft und Arbeitsmarkt dar, denn das zur Verfügung stehende Potenzial an Arbeitskräften entwickelt sich weitgehend parallel zur Bevölkerung: im Zuge des demographischen Wandels wird die absolute Zahl der verfügbaren Arbeitskräfte zurückgehen. So kommt z.B. eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (Fuchs und Thon 1999) zu dem Schluss, dass selbst bei einer Steigerung der Erwerbsbeteiligung bis 2040 ein Drittel weniger Arbeitskräfte zur Verfügung stehen werden als 1995 (Variante 3 in der Graphik). Auch wenn man eine jährliche Zuwanderung von 500.000 Personen ab dem Jahr 2000 zugrundelegt – was unwahrscheinlich ist –, wird das Erwerbspersonenpotenzial aufgrund der demographischen Entwicklung bis 2040 nur geringfügig über dem Niveau von 1995 liegen (Variante 6 in der Graphik). Projektion des Erwerbspersonenpotenzials in Gesamtdeutschland 1995 bis 2040 120

110 Variante 6

Variante 2: Untere Erwerbsquotenvariante

100 Index 1996 = 100%

Variante 1 : Konstante Erwerbsquoten aus 1995 (Ostdeutschland) bzw. 1996 (Westdeutschland)

Variante 3: Obere Erwerbsquotenvariante

90 Variante 5

80

Variante 4

70

Variante 3 Variante 2

Variante 4: Wanderungssaldo der ausländischen Bevölkerung 100.000 p.a. ab 2000 - obere Erwerbsquotenvariante Variante 5: Wanderungssaldo der ausländischen Bevölkerung 200.000 p.a. ab 2000 - obere Erwerbsquotenvariante Variante 6: Wanderungssaldo der ausländischen Bevölkerung 500.000 p.a. ab 2000 - obere Erwerbsquotenvariante Quelle: Fuchs und Thon 1999

Variante 1

60 1996

2000

2005

2010

2015

2020

2025

2030

2035

2040

Ebenso wie in der Bevölkerung insgesamt wird es zudem auch bei den Arbeitskräften zu einer Veränderung der Altersstruktur kommen: Das Durchschnittsalter der Beschäftigten wird steigen, der Anteil der jüngeren Arbeitnehmer/innen sinken, der der älteren zunehmen (vgl. Statistisches Bundesamt 2003).

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Ein Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials wäre unproblematisch, wenn man davon ausgehen könnte, dass auch der Arbeitskräftebedarf zurückgeht. Angesichts gegenwärtiger Arbeitslosigkeit liegt dieser Schluss zunächst nahe und man könnte auf den ersten Blick eine Entlastung des Arbeitsmarktes infolge des demographischen Wandels erwarten. Dies ist jedoch nicht der Fall. Studien wie z.B. die der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (2001) gehen eher von einem steigenden Arbeitskräftebedarf aus. Aber selbst wenn der Arbeitskräftebedarf lediglich gleich bleiben oder geringfügig sinken würde, ist bereits mittelfristig eine Steigerung der Erwerbsbeteiligung notwendig, damit genügend Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Hierzu werden verschiedene Möglichkeiten diskutiert. Zum einen ist schon heute eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit vorgesehen. Erwerbstätige sollen länger als dies heute der Fall ist, im Berufsleben bleiben. Hierzu ist es notwendig, die Möglichkeiten zum Erhalt der gesundheitlichen Voraussetzungen zu verbessern. Präventive Gesundheitsförderung und betrieblicher Arbeits- und Gesundheitsschutz müssen einen höheren Stellenwert erhalten. Schließlich muss jedoch auch ein Umdenken seitens Betriebe stattfinden: Die heute noch festzustellende, z.T. offene Altersdiskriminierung im Bereich der Einstellungspolitik (vgl. z.B. Bellmann et al. 2003) muss im eigenen Interesse der Unternehmen verändert werden. Als weitere wichtige Strategie zur Erhöhung der Erwerbstätigenquote ist die Steigerung der Zuwanderung. Ausländische Arbeitskräfte könnten das zur Verfügung stehende Potenzial erhöhen, wenn auch den Rückgang nicht völlig ausgleichen. Zudem stellt sich hier angesichts eines durchschnittlich niedrigen Qualifikationsniveaus ausländischer Arbeitnehmer/innen nicht nur die Frage der Integration in den Arbeitsmarkt, sondern auch die Frage der Integration in die Gesellschaft insgesamt. Hier bestehen bereits heute eine Anzahl ungelöster Probleme (siehe Zukunftsszenario IV).

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Schließlich wird auch die Erhöhung der Frauenerwerbsquote als Lösungsansatz für das knapper werdende Arbeitskräfteangebot diskutiert. Als wesentliche Voraussetzung hierfür müssen jedoch verbesserte Möglichkeiten für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf betrachtet werden. "Die verstärkte Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt ist nicht nur politisch gewollt, sondern mit zunehmendem Arbeitskräftemangel auch wirtschaftlich erforderlich", aber – so der Titel eines IAB-Werkstattberichts: "Die Betreuung der Kinder ist der Schlüssel" (Beckmann und Kurtz 2001). Von Bedeutung ist nicht nur die Anzahl der zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte, sondern auch deren Qualifikation. Politik und Wirtschaftsexperten sind sich einig, dass Deutschland als rohstoffarmes Land in der internationalen Konkurrenz nur als Hochtechnologiestandort bestehen kann. Hierzu werden vor allem hoch qualifizierte Fachkräfte benötigt. Arbeitsmarktexperten warnen jedoch davor, dass bereits 2015 ein Fachkräftemangel zu befürchten ist (vgl. z.B. Bund-Länder-Kommission Bildungsplanung und Forschungsförderung 2001). Für den Einzelnen bedeutet ein geringes Ausbildungsniveau zukünftig ein noch höheres Arbeitsmarktrisiko als dies bereits heute der Fall ist, denn der Anteil der einfachen Fachtätigkeiten sowie der Hilfstätigkeiten wird weiter abnehmen. Der qualifizierten Berufsausbildung kommt damit mehr denn je eine Schlüsselrolle zu. Überlegungen im Zuge der Hartz-Reformen, der geringqualifizierten Beschäftigung den Vorrang vor qualifizierter Ausbildung zu geben, sind daher langfristig kontraproduktiv. Gesamtwirtschaftlich bedeutet umgekehrt das Fehlen höher qualifizierter Arbeitskräfte ebenfalls ein erhebliches Risiko. Heute stellen Arbeitskräfte im mittleren Alter einen Großteil der Qualifizierten; wenn sie das Rentenalter erreichen, stehen schon aufgrund der demographischen Entwicklung und aufgrund einer Stagnation im Bildungsbereich immer weniger Jüngere zur Verfügung, die sie ersetzen können. Reinberg und Hummel (2003) vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung fordern daher eine „neue Bildungsexpansion..., die das vorhandene Bildungsreservoir ausschöpft und dazu beiträgt, Zukunft sicherer zu machen“ (vgl. auch Zukunftsszenario III). Damit dies gelingen kann, sind jedoch einige Hürden zu nehmen: Wenn Arbeitnehmer/innen länger arbeiten und ihre berufliche Kompetenz auch im höheren Alter genutzt und weiter entwickelt werden soll, müssen auch sie vermehrt Vorsorge im Sinne verstärkter Weiterbildungsanstrengungen unternehmen. Das Schlagwort des „lebenslangen Lernens“ erhält damit auch für Erwerbstätige im höheren Alter neue Bedeutung. Spätestens seit der PISA-Studie hat sich gezeigt, dass ein enger Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg besteht. Die Kinder von Zuwanderern gehören auch zu den Verlierern des deutschen Bildungssystems, ihre Förderung ist dringend notwendig (siehe auch Zukunftsszenario IV). Frauen bringen heute bereits die besten Voraussetzungen für eine qualifizierte Erwerbstätigkeit mit. Ihr Bildungsrückstand, der noch in den 60er und 70er Jahren zu beobachten war, hat sich mittlerweile in einen Bildungsvorsprung verwandelt. Nicht nur erwerben Frauen häufiger höhere Schulabschlüsse, sie haben im Durchschnitt auch bessere Noten und müssen seltener eine Klasse wiederholen. Im Studienjahr 2002 haben erstmals mehr Frauen als Männer ein Studium aufgenommen. Gerade Akademikerinnen werden zukünftig am Arbeitsmarkt gebraucht, gerade sie sind besonders erwerbsmotiviert (vgl. z.B. Beckmann und Kurtz 2001) – und gerade sie verzichten entweder ganz auf Kinder oder stellen angesichts fehlender qualifizierter Betreuungsmöglichkeiten ihre Erwerbsbeteiligung zurück. 11

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Wirtschaft und Arbeitsmarkt unter veränderten demographischen Bedingungen Die demographische Entwicklung bedeutet auch eine Abnahme der zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte sowie ein höheres Durchschnittsalter der Beschäftigten. Damit bereits mittelfristig genügend Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, muss die Erwerbsbeteiligung steigen. Hierzu bedarf es einer verlängerten Lebensarbeitszeit, der Zuwanderung sowie der erhöhten Erwerbsbeteiligung von Frauen. Von wesentlicher Bedeutung für die zukünftige Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft ist aber auch die Qualifikation der Arbeitskräfte: Benötigt werden vor allem hoch qualifizierte Arbeitnehmer/innen. Bildungsinvestitionen – insbesondere eine verstärkte Förderung von Kindern aus bildungsferner Schichten – sind daher von hervorragender Bedeutung. Ausbildung muss Vorrang vor geringqualifizierte Beschäftigung halten, um die Zukunftsfähigkeit für Jugendliche nachhaltig zu sichern.

Zukunftsszenario III: Bildungsbeteiligung unter veränderten demographischen Bedingungen Bildung stellt sowohl individuelles wie ein gesamtgesellschaftliches Kapital dar: Sie beeinflusst die Lebenschancen des Einzelnen wie die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und einzelner Kommunen. Die demographische wie die wirtschaftliche Entwicklung stellen neue Anforderungen an das Bildungswesen. Der Bildungsbereich ist dabei in zweierlei Weise von der demographischen Entwicklung betroffen: Zum einen beinhaltet der Rückgang der nachwachsenden Generation zwangsläufig auch einen Rückgang der Schülerzahlen. So zeigt die im Februar 2003 vorgelegte Schülerprognose des Landesamtes für Datenverarbeitung und Statistik für Nordrhein-Westfalen bis zum Schuljahr 2027/28, dass bereits ab dem Schuljahr 2008/2009 ein Rückgang der Schülerzahlen zu erwarten ist.4 Im Schuljahr 2014/2015 wird es ca. 9% weniger Schüler/innen an allgemeinbildenden Schulen geben, bis 2027/28 geht die Schülerzahl im Vergleich zum Schuljahr 2002/2003 in Nordrhein-Westfalen um ca. 13% zurück. Dieser Rückgang setzt für Primar-, Sekundarstufe I und II zeitversetzt ein. Während er im Primarbereich bereits begonnen haben dürfte und in der Sekundarstufe I unmittelbar bevorsteht, ist in der Sekundarstufe II erst ab dem Schuljahr 2018/2019 ein Rückgang der Schülerzahl zu erwarten. Im Schuljahr 2014/15 prognostiziert die Studie einen Rückgang der Grundschülerzahlen um fast 16% gegenüber 2002/2003 und einen Rückgang der Schülerzahlen in der Sekundarstufe I um 13%. Bis zum Ende des Prognosezeitraums ist dann zwar wieder ein leichter Anstieg der Schülerzahlen zu erwarten, bis 2027/28 werden jedoch immer noch 8,6% weniger Grundschüler erwartet als 2002/2003. Geht man von Klassen mit durchschnittlich 24 Schüler/innen und vierzügigen Grundschulen aus, steht dies für einen Wegfall von 2.821 Klassen oder 176 Schulen in Nordrhein-Westfalen.

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Grundlage dieser Schülerprognose ist die Basisvariante der „Bevölkerungsprognose Nordrhein-Westfalen 1999 bis 2015/2040“ des Landesamtes für Statistik und Datenverarbeitung Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2000. In der Basisvariante wird lediglich die natürliche Bevölkerungsentwicklung, d.h. Geburten- und Sterberate fortgeschrieben. Zuwanderung wird hier nicht berücksichtigt.

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Expertise: Zukunft der Jugendhilfe –Szenarien und Tendenzen –

Index 2002/2003 = 100%

Schülerprognose bis zum Schuljahr 2027/28 120

120

110

110

100

100

90

90

80

80

70

20 02 /03 20 03 /04 20 04 /05 20 05 /06 20 06 /07 20 07 /08 20 08 /09 20 09 /10 20 10 /11 20 11 /12 20 12 /13 20 13 /14 20 14 /15 20 15 /16 20 16 /17 20 17 /18 20 18 /19 20 19 /20 20 20 /21 20 21 /22 20 22 /23 20 23 /24 20 24 /25 20 25 /26 20 26 /27 20 27 /28

70

Schuljahr Primarstufe

Sekundarstufe II

Sekundarstufe I

Insgesamt

Quelle: LDS, Statistische Übersicht Nr. 338 vom 07.02.2003

Die Schülerprognose des LDS beschäftigt sich auch mit der zukünftig zu erwartenden Verteilung der Schulabschlüsse. Schreibt man die Quote der studienberechtigten Schulabgänger/innen (Fachhochschul- und Hochschulreife) von 1999 bis zum Schuljahr 2027/28 fort, werden zu diesem Zeitpunkt ca. 3% weniger Schulabgänger/innen eine solche Qualifikation erreicht haben. Die Fortschreibung der Schulabgänger/innen allgemeinbildender Schulen mit Hochschulreife ergibt bis zum Schuljahr 2027/28 sogar einen Rückgang um ca. 15%. Abgängerprognose bis zum Schuljahr 2027/28 130

130

Index 1998/99 = 100%

Schulabgänger allgemein- und berufsbildender Schulen mit Studienberechtigung (Fachhochschul- oder Hochschulreife) 120

120

110

110

100

100

90

Schulabgänger allgemeinbildender Schulen mit Hochschulreife

90

80

19 98 19 /99 99 20 /00 00 20 /01 01 20 /02 02 20 /03 03 20 /04 04 20 /05 05 20 /06 06 20 /07 07 20 /08 08 20 /09 09 20 /10 10 20 /11 11 20 /12 12 20 /13 13 20 /14 14 20 /15 15 20 /16 16 20 /17 17 20 /18 18 20 /19 19 20 /20 20 20 /21 21 20 /22 22 20 /23 23 20 /24 24 20 /25 25 20 /26 26 20 /27 27 /2 8

80

Schuljahr Quelle: LDS, Statistische Übersicht Nr. 338 vom 07.02.2003

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Expertise: Zukunft der Jugendhilfe –Szenarien und Tendenzen –

Allein aus Gründen des abzusehenden demographischen Wandels wird also bereits in naher Zukunft ein Mangel an gut ausgebildeten Arbeitskräften erwartet. Gleichzeitig ist abzusehen, dass die Qualifikationsanforderungen an die Arbeitskräfte weiter steigen werden. Die Investition in die Bildung der heutigen Kinder und Jugendlichen ist daher eine unabdingbare Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit der Kommunen wie der Gesellschaft insgesamt. Wie sich die Qualifikation der nachwachsenden Generation entwickeln wird, ist auch abhängig davon, wie es gelingt, heute festzustellende Benachteiligungen für bestimmte Gruppen im Schulsystem zu beseitigen. Die PISA-Studie hat gezeigt, dass das deutsche Bildungssystem es im internationalen Vergleich kaum vermag, Kinder mit Migrationshintergrund (siehe Zukunftsszenario IV) sowie Kinder aus benachteiligten sozialen Schichten ausreichend zu fördern: 40% der Kinder von un- und angelernten Arbeiter/innen in Deutschland sowie 50% der Kinder, deren Eltern beide zugewandert sind, verfügen z.B. lediglich über elementare Lesekompetenzen (vgl. Stanat et al. 2003). Zudem hat ein Kind aus der höchsten sozialen Schicht eine vier- bis sechsmal höhere Chance, ein Gymnasium zu besuchen als ein Arbeiterkind – bei gleicher Leistung (vgl. Stanat et al. 2003). Das soziale und kulturelle Kapital der Familien ist für Bildungsbeteiligung und Kompetenzerwerb von wesentlicher Bedeutung. Defizite in diesem Bereich können in der Schule nicht ausgeglichen werden (Tillmann und Meier 2003). Die IGLU-Studie hat nachgewiesen, dass auch in der Grundschule ein klarer Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Lernerfolg besteht (vgl. Bos et al. 2004). Schon heute ist jedoch festzustellen, dass der Anteil der bildungsfernen Schichten in der Grundschule zugenommen hat. So ist beispielsweise der Anteil der Kinder aus vollständigen Familien in der Primarstufe, deren Vater keine abgeschlossene Berufsausbildung hat, von 18,6% im Jahr 1986 auf 40,3% im Jahr 1998 gestiegen. Im gleichen Zeitraum ist der Anteil der Akademikerkinder von 17,8 auf 11,1% zurückgegangen (Weißhuhn 2003). Ursache hierfür sind unterschiedliche Geburtenraten in den verschiedenen Bildungsgruppen: So hatten im Jahr 2000 34% der 35- bis unter 40-Jährigen Frauen mit Hochschulabschluss (noch) keine Kinder. Bei den gleichaltrigen Frauen mit Hauptschulabschluss lag dieser Anteil lediglich bei 19%. Akademikerinnen – und übrigens auch Akademiker – bleiben also deutlich häufiger kinderlos (vgl. Grünheid 2003). Hält diese Entwicklung an, wird der Anteil der bildungsfernen Schichten in der Schule weiter anwachsen. Wenn es der Schule weiterhin nicht gelingt, gerade diese Kinder besser zu fördern als bisher, bedeutet dies, dass in Zukunft ein noch stärkerer Rückgang der Schulabgänger/innen mit Studienberechtigung zu erwarten ist, als dies ohnehin schon aufgrund der demographischen Entwicklung abzusehen ist. Heute ist die größte Gruppe der qualifizierten Arbeitskräfte im mittleren Alter. Um sie zu ersetzen, wenn sie aus dem Berufsleben ausscheiden, muss das Bildungsniveau der künftigen Schulabgänger/innen aber steigen. Dies kann jedoch nur gelingen, wenn auch die bildungsfernen Schichten in der Schule adäquat gefördert werden.

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Expertise: Zukunft der Jugendhilfe –Szenarien und Tendenzen –

Bildungsbeteiligung unter veränderten demographischen Bedingungen Aufgrund der demographischen Entwicklung gehen auch die Schülerzahlen zurück. Die Fortschreibung der Schulabgänger/innen mit Studienberechtigung in Nordrhein-Westfalen zeigt, dass auch diese Gruppe aufgrund der demographischen Entwicklung in Zukunft kleiner werden wird. Gleichzeitig ist festzustellen, dass bereits heute der Anteil der bildungsfernen Schichten in der Schule zunimmt, da Akademikerinnen deutlich häufiger kinderlos bleiben als Frauen mit Hauptschulabschluss. Gerade bildungsferne Schichten sind aber nach den PISA-Ergebnissen im deutschen Schulsystem besonders benachteiligt. Ihre Chancen, einen höheren Schulabschluss zu schaffen, sind deutlich geringer. Gelingt es nicht, diese Gruppe besser zu fördern, ist in Zukunft eine noch stärkere Abnahme der Studienberechtigten zu erwarten. Damit können aber die in wenigen Jahren aus dem Berufsleben ausscheidenden qualifizierten Arbeitskräfte nicht mehr ersetzt werden. Eine Steigerung dieses Anteils, der für die wirtschaftliche Entwicklung eigentlich notwendig wäre, ist erst recht nicht in Sicht.

Zukunftsszenario IV: Integration von Migranten unter veränderten demographischen Bedingungen Ein Szenario für die zukünftige Entwicklung von Migration und Integration ist besonders schwer zu entwerfen. Auf der einen Seite liegen zwar zahlreiche Studien zur Situation von Migranten in der deutschen Gesellschaft vor. Auf der anderen Seite gibt es aber keine gesicherten Informationen, die eine Prognose allein des zukünftigen Umfangs dieser Gruppe erlauben würden. Wie hoch die Zuwanderung in Zukunft sein wird, ist sowohl von der Situation in potenziellen Herkunftsländern als auch insbesondere von den rechtlichen Regelungen im Aufnahmeland Deutschland abhängig. Je nach rechtlichen Rahmenbedingungen kann die Zuwanderung aus dem Ausland stark abnehmen, stark zunehmen oder in ihrer Höhe gleich bleiben. Auch wenn z.B. die Unabhängige Kommission Zuwanderung in ihrem Bericht zu dem Schluss kommt, dass Deutschland Zuwanderung braucht, ist man sich durchaus nicht einig darüber, wie hoch die Zuwanderung sein sollte. Wie sich die Bevölkerung in Deutschland entwickelt, wenn man von unterschiedlichen Zahlen der Zuwanderung ausgeht, haben verschiedene Szenarien z.B. in der 10. Koordinierten Bevölkerungsprognose gezeigt (Statistisches Bundesamt 2003). Alle diesbezüglichen Szenarien machen deutlich, dass eine Alterung der Bevölkerung auch durch Zuwanderung nicht völlig aufgehalten, sondern im besten Falle verlangsamt werden kann. Dieser „Verjüngungseffekt“ aufgrund von Zuwanderung wird deutlich, wenn man Alterszusammensetzung der deutschen und ausländischen Bevölkerung in Nordrhein-Westfalen betrachtet: Die jüngeren Altersgruppen in der ausländischen Bevölkerung sind deutlich stärker besetzt, während der Anteil in den höheren Altersgruppen geringer ist als in der deutschen Bevölkerung.

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Expertise: Zukunft der Jugendhilfe –Szenarien und Tendenzen –

Anteile der Altersgruppen an der deutschen und ausländischen Bevölkerung Nordrhein-Westfalens zum 31.12.2002 38,6

40

Quelle: LDS

28,8 30

26,0

Prozent

21,4 19,2 20

13,8 11,6

10,8 10

5,9

7,2

6,0 2,1

5,9

2,6

0

unter 6 Jahren

6 bis unter 16 Jahren

16 bis unter 18 Jahren

18 bis unter 25 Jahren

Deutsche

25 bis unter 45 Jahren

45 bis unter 65 Jahren

65 Jahre und älter

Nichtdeutsche

Auch wenn eine Projektion der Zuwanderung nicht möglich ist, zeigt die heutige Situation der bereits Zugewanderten jedoch bereits einigen Handlungsbedarf auf. Welcher Handlungsbedarf konkret in Kommunen besteht, ist jedoch von verschiedenen Faktoren abhängig: Zum einen vom Ausländeranteil an der Bevölkerung insgesamt. Der Ausländeranteil in NordrheinWestfalen liegt zwar mit 11% Ende 2002 über dem bundesdeutschen Durchschnitt von 8,9%. Eine Betrachtung nach Kommunen zeigt aber auch beträchtliche Unterschiede. In städtischen Ballungsgebieten liegt der Anteil teilweise über 15%, in einzelnen Stadtteilen solcher Städte ist er z.T. doppelt so hoch. In ländlichen Gebieten Nordrhein-Westfalens liegt der Anteil teilweise aber auch deutlich unter dem bundesdeutschen Durchschnitt. Des weiteren ist es jedoch auch von Bedeutung, aus welchen Nationalitäten sich die ausländische Bevölkerung zusammensetzt. Auch hier bestehen deutliche Unterschiede. Schließlich ist zu beachten, dass mit dem Ausländeranteil an der Bevölkerung nur ein Teil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund erfasst wird. Spätaussiedler erhalten einen deutschen Pass; zahlreiche Ausländer haben nach der Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts im Jahr 2000 die Möglichkeit einer erleichterten Einbürgerung wahrgenommen. In Deutschland geborene Kinder von Ausländern erhalten seit dem Jahr 2000 unter bestimmten Umständen automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft.5 Ein nennenswerter Anteil der Wohnbevölkerung mit Migrationshintergrund „verschwindet“ damit in der amtlichen Statistik, die lediglich nach Staatsangehörigkeit unterscheidet. Auch wenn die Möglichkeit der Einbürgerung und damit die rechtliche Gleichstellung ein wichtiger Beitrag zur Integration von Zu-

5

Voraussetzung ist, dass ein Elternteil seit 8 Jahren rechtmäßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat sowie über eine Aufenthaltsberechtigung verfügt oder seit drei Jahren eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis besitzt. Kinder bis 10 Jahre, die vor dem Januar 2000 geboren wurden, konnten ebenfalls eingebürgert werden, wenn diese Voraussetzung bei ihrer Geburt vorlagen. Diese Änderungen des Staatsbürgerschaftsrechts schlagen sich auch in der amtlichen Statistik nieder. So wurden beispielsweise 1999 in Nordrhein-Westfalen 25.956Geburten nicht deutscher Kinder registriert; im Jahr waren es lediglich nur noch 13.843.

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wanderern in die deutsche Gesellschaft darstellt, ist die Frage der Integration damit jedoch noch nicht hinreichend beantwortet. Integration setzt vielmehr „die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“ voraus – so die Unabhängige Kommission Zuwanderung in ihrem Bericht (Bundesministerium des Inneren 2001). Diese Teilnahme ist jedoch vor allem abhängig vom Migrationshintergrund und nicht von der Staatsangehörigkeit wie zahlreiche sozialwissenschaftliche Studien – nicht zuletzt die PISA-Studie – gezeigt haben. Des weiteren ist zu bedenken, dass ein niedriger Ausländeranteil nicht notwendigerweise auch eine bessere Integration in die kommunale Gemeinschaft bedeutet und umgekehrt: Ein hoher Ausländeranteil steht nicht notwendigerweise für eine besonders schlechte Situation der Zugewanderten. So hat beispielsweise der Vergleich im Rahmen des Projektes „Kompass“ der Bertelsmann Stiftung6 gezeigt, dass in Dortmund mit einem vergleichsweise hohen Ausländeranteil von 12,8% Ende 2000 ausländische Schüler/innen vergleichsweise bessere Schulabschlüsse erwerben als in Kommunen mit einem deutlich niedrigeren Ausländeranteil. Während im landesweiten Durchschnitt 11,2% der ausländischen Schulabgänger/innen die Hochschulreife erworben haben, waren es in Dortmund 17,9%. Es ist daher von besonderer Bedeutung, die Situation der ausländischen Bevölkerung vor Ort in der einzelnen Kommune genau zu betrachten. Geht man von der Definition von Integration aus, wie sie die Unabhängige Kommission für Zuwanderung vorgelegt hat (s.o.), dann lassen sich jedoch heute generell einige Integrationsdefizite aufzeigen: Im Hinblick auf die Arbeitsmarktsituation der ausländischen Bevölkerung sind zunächst besonders hohe Arbeitslosenquoten festzustellen. So lag die Arbeitslosenquote insgesamt Ende 2003 in Nordrhein-Westfalen bei 10,9 %, die entsprechende Quote für die ausländischen abhängigen zivilen Beschäftigten jedoch bei 23,1%. Ursache für diese hohen Arbeitslosenquoten ist auch die spezifische Qualifikationsstruktur der ausländischen Arbeitnehmerschaft: Der Beschäftigungsschwerpunkt liegt nach wie vor im produzierenden Gewerbe und am unteren Ende der Berufshierarchie (vgl. z.B. Assenmacher 2001). Vom Strukturwandel der Wirtschaft hin zum Dienstleistungssektor, vor allem von der Entwicklung gut dotierter Berufe in diesem Bereich konnten Ausländer/innen kaum profitieren (vgl. z.B. von Loeffelholz 2001). Der Anteil der un- und angelernten Arbeiter ist besonders hoch. Der Anteil der Arbeitsplätze für diese Personengruppe nimmt jedoch seit Jahren ab und diese Entwicklung wird sich weiter fortsetzen. Auch die Sozialhilfequoten für die ausländische Bevölkerung sind deutlich erhöht: Im Rahmen der Kompass Studie der Bertelsmann Stiftung ergab sich im Mittel von 11 Kommunen eine mehr als dreimal so hohe Sozialhilfequote für die ausländische Bevölkerung als für die deutsche. Im Durchschnitt der 11 Kommunen hatten 3,1% der Deutschen Hilfe zum Lebensunterhalt erhalten, aber 11,1% der Ausländer/innen. Noch höhere Quoten ergeben sich für die Gruppe der ausländischen Kinder und Jugendlichen: Im Durchschnitt waren ca. 19 von 100 ausländischen Kindern und Jugendlichen auf den Bezug von Sozialhilfe angewiesen, aber nur 9 von 100 Deutschen unter 18 Jahren (vgl. Bertelsmann Stiftung 2003). Auch im Bildungsbereich schneiden Ausländer/innen deutlich schlechter ab: Von den Schulabgänger/innen in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2003 hatten 6,9% keinen Hauptschulabschluss; unter den ausländischen Schulabgänger/innen lag dieser Anteil mit

6

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Kommunales Projekt zum Aufbau einer strategischen Steuerung. GEBIT, Münster – Januar 2004

Expertise: Zukunft der Jugendhilfe –Szenarien und Tendenzen –

13,7% doppelt so hoch. 25,7% der Schulabgänger/innen hatten die Hochschulreife erworben, mit 11,2% aber nicht einmal halb so viele in der Gruppe der ausländischen Schulabgänger/innen. Schulabgänger allgemeinbildender Schulen in Nordrhein-Westfalen nach Abschluss 2003 Quelle: LDS

50

41,2 40

35,7

davon: Fachoberschulreife mit Qualifikation

19,3 27,0

15,9

25,7

Prozent

30

17,4

20

13,7 11,2 9,4 10

6,9

5,7 2,9

3,2

0

Hauptschulabschluß nach Jg. 09

Hauptschulabschluß nach Jg. 10

Fachoberschulreife

Abgänger insgesamt

Fachhochschulreife

Hochschulreife

ohne Abschluß

Ausländische Abgänger

Wie bereits im vorangegangenen Kapitel dargestellt, gelingt es dem deutschen Schulsystem kaum, Kinder aus bildungsfernen Schichten angemessen zu fördern. Ein weiterer Befund der PISA-Studie belegt den engen Zusammenhang von Schulerfolg und Migrationshintergrund. Im Gegensatz zur amtlichen Statistik, die lediglich zwischen Deutschen und Nicht-Deutschen differenziert, wurde in der PISA-Studie der tatsächliche Migrationshintergrund erfasst, und zwar anhand der Merkmale Geburtsland der Eltern und der Sprache, die in der Familie überwiegend gesprochen wird. Demnach haben 32,2% der 15-Jährigen Schüler/innen in Nordrhein-Westfalen mindestens ein Elternteil, das im Ausland geboren wurde; bei 19,8% sind beide Elternteile im Ausland geboren. Immerhin etwas mehr als zwei Drittel dieser Schüler/innen sind selbst nicht in Deutschland geboren. 70,9% von ihnen sprechen zu Hause nicht Deutsch (Stanat 2003). Die Internationale Grundschul-Leseuntersuchung (IGLU) kommt für nordrhein-westfälischen Grundschüler/innen in der 4. Klasse zu ähnlichen Ergebnissen: Von ihnen hatten 30,5% mindestens ein Elternteil, das im Ausland geboren wurde (Bos et al. 2004).

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Expertise: Zukunft der Jugendhilfe –Szenarien und Tendenzen –

15-Jährige mit Migrationshintergrund in Nordrhein-Westfalen Ergebnisse der PISA-Studie

80

Quelle: Stanat 2003

70,9

70

60

Prozent

50 36,8 40

32,1

32,2

30

22,5 19,8

20 8,6 10

0 Mind. ein Elternteil im Ausland geboren

Beide Elternteile im Ausland geboren

In Deutschland geboren

Zuwanderung vor Schulbeginn

Zuwanderung während Grundschulzeit

Zuwanderung In der Familie wird während nicht Deutsch Sekundarschulzeit gesprochen

Beide Elternteile im Ausland geboren

Die Ergebnisse der PISA- wie auch der IGLU-Studie zeigen für alle Bundesländer große Leistungsnachteile von Schüler/innen, deren Eltern beide im Ausland geboren sind. Nur in Nordrhein-Westfalen dagegen schneiden auch Schüler/innen, bei denen nur ein Elternteil im Ausland geboren ist, deutlich schlechter ab als Schüler/innen mit zwei in Deutschland geborenen Elternteilen. Wesentliche Ursache für diese Leistungsdefizite ist die fehlende Sprachkompetenz der Schüler/innen mit Migrationshintergrund: „Die Unterschiede in den Chancen der Bildungsbeteiligung verschwinden, wenn man die in PISA erhobene Lesekompetenz der Schülerinnen und Schüler kontrolliert. Vergleicht man also Jugendliche, die deutschsprachige Texte ähnlich gut lesen können, ist keine Benachteiligung von Kindern aus Zuwanderungsfamilien mehr zu beobachten. Demnach stellt für diese Gruppe die Beherrschung der Verkehrssprache die entscheidende Hürde in ihrer Bildungskarriere dar“ (Stanat et al. 2003, S. 57). Dieses Ergebnis zeigt, wie groß die Bedeutung der Sprachförderung von Schüler/innen mit Migrationshintergrund insbesondere in NordrheinWestfalen ist. Das Vorziehen der Schulanmeldung und vorschulische Sprachförderung insbesondere für Migrantenkindern in Nordrhein-Westfalen sind daher wichtige Schritte zur Verbesserung der Integrationschancen. Auch die PISA-Studie hat allerdings gezeigt, dass ein geringer Anteil von Schüler/innen mit Migrationshintergrund nicht notwendigerweise auch mit einem höheren Leistungsniveau dieser Schüler/innen einhergeht. Stanat (2003) vermutet, dass die Größe dieser Gruppe eventuell erst eine kritische Schwelle erreicht haben muss, bevor Schulen beginnen, gezielte Fördermaßnahmen einzusetzen. Dies scheint das eingangs dargestellte Beispiel von Dortmund zu bestätigen. Bedenkt man, dass die jüngeren Altersgruppen in der ausländischen Bevölkerung stärker besetzt sind als in der deutschen und somit in den nächsten Jahren besonders viele ausländische Jugendliche in den Ausbildungs- bzw. Arbeitsmarkt drängen werden, wird die Notwendigkeit einer Förderung ausländischer Kinder in der Schule noch einmal deutlich hervorgehoben. Scheitert das Projekt einer gleichberechtigten Bildungsbeteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund, bedeutet dies nicht nur erhebliche Folgekosten für die sozialen Siche19

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Expertise: Zukunft der Jugendhilfe –Szenarien und Tendenzen –

rungssysteme in Form von Arbeitslosen- und Sozialhilfekosten. Die Kosten einer Nichtintegration sind insgesamt als erheblich zu beziffern (vgl. von Loeffelholz 2001). Gleichzeitig wird auch das Ziel verfehlt, den zu erwartenden Fachkräftemangel durch Aktivierung bisher im Bildungssystem benachteiligter Gruppen abzuwenden. Auch im Hinblick auf die Wohnverhältnisse bestehen Unterschiede zwischen Deutschen und Zuwanderern: Nach wie vor leben Zuwanderer eher zu Miete und seltener in Wohneigentum als Deutsche. Hinsichtlich verfügbarer Wohnfläche, Wohnqualität und Wohnlage finden Ausländer schlechtere Bedingungen vor als Einheimische (vgl. z.B. Leggewie 2000). Zudem ist festzustellen, dass sich Zuwanderer häufig in Stadtquartieren konzentrieren, die hinsichtlich Wohnqualität und sozialem Status benachteiligt sind. Allerdings können in solchen Quartieren auch positive Integrationseffekte beobachtet werden, da insbesondere neu Zugewanderte hier auf ein vergleichsweise enges nachbarschaftliches Netzwerk zurückgreifen können, das Hilfestellungen bei der Eingliederung geben kann. Die Auswertung einer Befragung von über 9.000 Bürger/innen in den am Kompass Projekt beteiligten Städten und Kreisen zeigt für die Gruppe der Ausländer/innen jedoch auch eine geringere Zufriedenheit mit ihren Wohnverhältnissen. Dies betrifft alle Wohnformen; d.h. auch Ausländer/innen in Einfamilienhäusern sind seltener zufrieden als Deutsche in den gleichen Wohnverhältnissen. Die Umfrage zeigt, dass diese geringere Zufriedenheit in der geringeren Integration in die Nachbarschaft begründet ist: Befragte mit engen Beziehungen zu ihren Nachbarn sind zufriedener mit ihren Wohnverhältnissen. Ausländer/innen unterhalten jedoch deutlich seltener solche engen Beziehungen: Während 58% der deutschen Befragten angegeben haben, dass sie gemeinsam mit ihren Nachbarn feiern, sind es nur 40% der ausländischen Befragten. Dagegen wechseln 44% der Ausländer/innen, aber lediglich 30% der Deutschen mit ihren Nachbarn nur ein paar Worte. Ausländer/innen sind jedoch durchaus an engeren Kontakten zu ihren Nachbarn interessiert: Sechsmal so viele Ausländer/innen wie Deutsche, nämlich 30%, geben an, sie hätten gerne mehr Kontakte in der Nachbarschaft (vgl. Bruckner und Walther 2002). Die Zusammenstellung der Daten zu verschiedenen Aspekten der Lebenssituation von Ausländer/innen – die sich im übrigen durch Daten aus anderen Bereich wie z.B. dem Gesundheitsbereich noch erweitern ließe – macht deutlich: Von einer Integration im Sinne einer „gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“ (Bundesministerium des Inneren 2001), kann kaum die Rede sein. Vielmehr ist diese Bevölkerungsgruppe in weitaus stärkerem Maße von Armutslagen betroffen als dies für Deutsche der Fall ist. Dies dürfte im übrigen auch für die Gruppe der Deutschen mit Migrationshintergrund zutreffen, deren Situation mit Daten der amtlichen Statistik nicht beschrieben werden kann. Die Notwendigkeit von Maßnahmen zur Integrationsförderung dürfte dabei kaum abhängig sein vom Ausländeranteil an der Bevölkerung. Auch die Nicht-Integration eines relativ kleinen Anteils der Bevölkerung bringt für die Kommunen erhebliche Kosten mit sich. Sie stellt zudem eine Hypothek auf die Zukunft dar. Wie in anderen Bereichen sind auch hier individuelle und gesamtgesellschaftliche Folgen eng miteinander verknüpft. Gelungene Integration eröffnet dem einzelnen mehr Lebenschancen und leistet in den Kommunen einen wesentlichen Beitrag zum sozialen Zusammenhalt wie zur Sicherung des Standortes.

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Expertise: Zukunft der Jugendhilfe –Szenarien und Tendenzen –

Integration von Zuwanderern unter veränderten demographischen Bedingungen Eine Alterung der Bevölkerung kann durch Zuwanderung bestenfalls verlangsamt werden. Dies liegt daran, dass die jüngeren Altersgruppen in der ausländischen Bevölkerung stärker vertreten sind als die höheren Altersgruppen. Verschiedene Indikatoren zeigen deutliche Defizite im Bereich der Integration, wenn man eine gleichberechtigte Teilnahme am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Leben zugrundelegt. Überdurchschnittlich hohe Arbeitslosen- und Sozialhilfequoten der ausländischen Bevölkerung, schlechtere Wohnsituation und geringere Integration in die Nachbarschaft weisen in diese Richtung. Das niedrigere Bildungsniveau ausländischer Schulabgänger/innen bestätigen sowohl die Betrachtung der erreichten Bildungsabschlüsse als auch die Ergebnisse der PISAStudie. Letztere konnte zeigen, dass Schüler/innen mit Migrationshintergrund im deutschen Schulsystem besonders schlecht abschneiden, wenn beide Elternteile im Ausland geboren wurden. In Nordrhein-Westfalen ist – im Gegensatz zu anderen Bundesländern – ein geringerer Bildungserfolg auch dann festzustellen, wenn nur ein Elternteil im Ausland geboren wurde. Als wesentliche Ursache für dieses schlechtere Abschneiden wird die mangelhafte Sprachkompetenz der Schüler/innen mit Migrationshintergrund gesehen. Sprachförderung bereits vor dem Schulbesuch kommt daher besondere Bedeutung zu.

Zukunftsszenario V: Jugend(hilfe) unter veränderten demographischen Bedingungen Welche Folgen hat die abzusehende demographische Entwicklung auf die Situation von Kindern, Jugendlichen und ihrer Familien? Zunächst einmal wird es zukünftig weniger Kinder und Jugendliche geben. Ihr Anteil an der Bevölkerung wird insgesamt deutlich zurückgehen (vgl. Zukunftsszenario I). Sollte zudem die Tendenz anhalten, dass insbesondere höhere Status- und Bildungsschichten in der Bevölkerung kinderlos bleiben (Grünheid 2003), dürfte innerhalb dieser kleiner gewordenen Gruppe der Anteil der Kinder aus niedrigeren, bildungsferneren sozialen Schichten weiter zunehmen. Welche Herausforderung dies für das deutsche Bildungssystem darstellt, wurde bereits im Zukunftsszenario III dargestellt. Bildung ist jedoch auch ein gesetzlicher Auftrag von Kinderbetreuungseinrichtungen, die im Jugendhilfebereich angesiedelt sind. Überlegungen, wie dieser Bildungsauftrag im vorschulischen Bereich konkret umgesetzt werden soll, stecken bisher erst in den Anfängen. In Nordrhein-Westfalen hat die Landesregierung mit der „Bildungsvereinbarung NRW“, die zwischen Landesregierung, den kommunalen Spitzenverbänden, den Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege und den Kirchen geschlossen wurde und am 1. August 2003 in Kraft trat, eine Konkretisierung des Bildungsauftrages in Tageseinrichtungen in Angriff genommen. Hintergrund ist auch hier das schlechte Abschneiden Deutschlands in der internationalen PISA-Studie. Um diese Situation zu verbessern wird es nicht nur von den Autoren der Studie als notwendig angesehen, Kindertageseinrichtungen zukünftig stärker auch als Bildungseinrichtungen zu betrachten. Die Ansiedlung der Kinderbetreuung im Jugendhilfebereich und die bisher zu wenig Institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen den beiden Systemen Jugendhilfe und Schule hat sicherlich mit dazu beigetragen, dass der Bildungsauftrag von Kindertagesstätten zu wenig Beachtung fand. Eine vorschulische Förderung gerade der 21

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Expertise: Zukunft der Jugendhilfe –Szenarien und Tendenzen –

Problemgruppen ist angesichts ihrer Benachteiligung im Schulsystem jedoch eine wichtige Voraussetzung für eine nachhaltige Verbesserung ihrer Bildungschancen in Deutschland. Das erreichte Bildungs- und Ausbildungsniveau bestimmt wesentlich die zukünftigen Erwerbschancen. Ein Blick in die Arbeitslosen- und Sozialhilfestatistik zeigt, dass das Arbeitslosigkeitsrisiko wie auch das Risiko, auf Sozialhilfe angewiesen zu sein für Frauen und Männern mit niedrigen oder fehlenden Schulabschlüssen und/oder ohne abgeschlossene Berufsausbildung besonders hoch ist (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2001). Deren Kinder sind damit auch einem höheren Risiko ausgesetzt, in wirtschaftlich prekären oder zumindest angespannten Umständen aufzuwachsen. Bereits heute sind Kinder deutlich häufiger von Sozialhilfebezug betroffen als Erwachsene. In Nordrhein-Westfalen erhielten Ende 2002 insgesamt 2,5% der Bevölkerung Hilfe zum Lebensunterhalt. In den Altersgruppen der Kinder und Jugendlichen liegen die Sozialhilfequoten wesentlich höher: 83 von 1.000 unter 7-Jährigen und 64 von 1.000 7 bis unter 18-Jährigen waren Ende 2002 auf Sozialhilfe angewiesen. Für ausländische Kinder und Jugendliche liegen die entsprechenden Quoten noch einmal doppelt so hoch (vgl. Zukunftsszenario VI). Die Folgen sozialer Ungleichheit betreffen damit Kinder und Jugendliche – insbesondere in der Gruppe der Ausländer/innen – häufiger als andere Bevölkerungsgruppen. Sozialhilfequote: Anteil Empfänger von Hilfe zum Lebensunterhalt an der Bevölkerung am 31.12.2002 Quelle: LDS; Berechnungen GEBIT 10

8,3

6,4

8

Prozent

6 3,6

4

2

0 Insgesamt

unter 7 Jahren

7 bis unter 18 Jahre

Ursache für die höheren Sozialhilfequoten von Kindern und Jugendlichen ist der hohe Anteil allein Erziehender unter den Sozialhilfeempfänger/innen. Ca. ein Viertel der Sozialhilfebezieher/innen sind allein Erziehende; gleichzeitig sind auch ca. ein Viertel der allein Erziehenden auf Sozialhilfe angewiesen. Der größte Anteil hiervon wiederum sind Frauen: in Nordrhein-Westfalen lag ihr Anteil 2001 bei 86,2% (vgl. Landtag NordrheinWestfalen 2003). Sie sind es auch vor allem, die auf Sozialhilfe angewiesen sind: Während beispielsweise 1998 die Sozialhilfequote allein erziehender Frauen bei 25,4% lag, erhielten nur 6,2% der allein erziehenden Männer in Deutschland Hilfe zum Lebensunterhalt (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2001). Generell gilt, dass die Sozialhilfequoten von allein Erziehenden um so höher sind, je jünger die zu betreuenden GEBIT, Münster – Januar 2004

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Expertise: Zukunft der Jugendhilfe –Szenarien und Tendenzen –

Kinder sind. Dies spiegelt sich in den oben dargestellten Quoten für die beiden Altersgruppen der Kinder und Jugendlichen wider. Es ist davon auszugehen, dass die Anzahl allein Erziehender in Zukunft weiter zunehmen wird. Von 1996 bis 2001 ist der Anteil Haushalte allein Erziehender an allen Haushalten mit Kindern in Nordrhein-Westfalen von 11,4% auf 13,7% gestiegen. 2001 waren 47,8% der allein Erziehenden geschieden und 22,8% lebten getrennt von ihrem Ehepartner (vgl. Lenz und Bergmann 2003). Bedenkt man die weiterhin steigenden Scheidungszahlen, ist daher davon auszugehen, dass in Zukunft noch mehr Kinder bei nur einem Elternteil aufwachsen werden. Familien allein Erziehender stellen dabei nicht per se eine Problemgruppe dar. Je nach Bildungsstand sowie Anzahl und Alter der Kinder ist das Ausmaß der Erwerbstätigkeit und damit auch die wirtschaftliche Situation dieser Familien sehr unterschiedlich. Sie sollten daher keinesfalls ausschließlich aus defizitorientierter Perspektive betrachtet werden. So hat beispielsweise auch die PISA-Studie gezeigt, dass Kinder allein Erziehender keine schlechteren Schulleistungen erbringen als Kinder, die mit beiden Elternteilen zusammenleben (vgl. Tillmann und Meier 2003). Dennoch bleibt festzuhalten, dass allein Erziehende ein Risiko haben, in wirtschaftlich prekäre Lebenslagen geraten können. Die Herausforderung für die Jugendhilfe besteht darin, gerade diese Gruppen in ihrer alleinigen Erziehungsverantwortung zu unterstützen und zu stärken und ihnen durch die Bereitstellung von Kinderbetreuungsmöglichkeiten einen eigenständigen Lebensunterhalt zu ermöglichen, um Armutslagen und deren weitreichende Folgen zu vermeiden. Die im Durchschnitt schlechtere ökonomische Situation von allein Erziehenden, aber auch anderer Familientypen im Vergleich zu Haushalten ohne Kinder verdeutlicht die folgende Graphik zum Nettoäquivalenzeinkommen nach Haushaltstypen in Nordrhein-Westfalen (vgl. Lenz und Bergmann 2003). Ein Viertel der Haushalte von allein Erziehenden verfügt demnach über ein Nettoäquivalenzeinkommen von weniger als 500 €, nur knapp 5% verfügen über mehr als 1.500 €. Umgekehrt sieht das Verhältnis der beiden Einkommensgruppen bei den kinderlosen Haushalten aus: Hier verfügen etwas mehr als 5% über weniger als 500 € und etwas mehr als ein Viertel über mehr als 1.500 €. Verglichen damit, stellt sich auch die finanzielle Situation in Paarhaushalten mit Kindern im Durchschnitt wesentlich schlechter dar.

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GEBIT, Münster – Januar 2004

Expertise: Zukunft der Jugendhilfe –Szenarien und Tendenzen –

Nettoäquivalenzeinkommen nach Haushaltstypen in Nordrhein-Westfalen

30

26,9

Quelle: Lenz und Bergm ann 2003

24,3

Prozent

20

10,9

10,3 9,3

9,8

10

5,9

4,8

0

Haushalte allein Erziehender

Nicht eheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern

Nettoäquivalenzeinkom m en unter 500 €

Eheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern

Kinderlose Haushalte

Nettoäquivalenzeinkom m en über 1.500 €

Die stärkere Betroffenheit von Armutslagen in der Gruppe der Kinder und Jugendlichen bzw. ihrer Familien steht dabei nicht nur für materielle Defizite. Nach dem ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2001) bedeutet Kinderarmut, dass die für ein einfaches tägliches Leben erforderlichen Mittel unterschritten werden, es an unterstützenden Netzwerken für ihre soziale Integration mangelt, sie von den für die Entwicklung von Sozialkompetenz wichtigen Sozialbeziehungen abgeschnitten blieben, Bildungsmöglichkeiten für ihre intellektuelle und kulturelle Entwicklung fehlen, Kinder in Familien eher vernachlässigt werden und sie in den Familien eher dem Risiko von Gewalt ausgesetzt sind. Armut von Kindern bedeutet eine Einschränkung von Erfahrungs-, Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten, insbesondere dann, wenn belastende Faktoren kumulieren. Dies jedoch steht für eine soziale Benachteiligung dieser Kinder und Jugendlichen in den verschiedensten Bereichen. Bestätigt wurde diese Einschätzung auch von den Ergebnissen des im Auftrag des Landesjugendamtes Westfalen-Lippe durchgeführten Forschungsprojektes „Verbesserte Zielorientierung im Bereich Hilfen zur Erziehung“ (vgl. Bruckner, Langenohl und Meyer 2003). Im Rahmen dieses Forschungsprojektes waren Daten zu mehr als 800 Kindern und Jugendlichen erfasst worden, die bei Jugendämtern in Westfalen-Lippe Leistungen aus dem Bereich Hilfen zur Erziehung erhalten hatten. Die Auswertung der Daten zum familiären und sozialen Hintergrund dieser Fälle zeigte eine Überrepräsentation von Kindern allein Erziehender, von Sozialhilfeempfängern als auch von Kindern, die eine Hauptschule besuchen. 44% der Kinder und Jugendlichen, die Leistungen aus dem Bereich Hilfen zur Erziehung erhalten hatten, lebten bei einem allein erziehenden Elternteil. Jeweils knapp 30% lebten entweder mit beiden Elternteilen in einem Haushalt oder in der neuen Lebensgemeinschaft eines Elternteils. Im Vergleich dazu: im April 2001 lebten in Nordrhein-Westfalen 79,4% der GEBIT, Münster – Januar 2004

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Expertise: Zukunft der Jugendhilfe –Szenarien und Tendenzen –

Kinder in ehelichen Lebensgemeinschaften, 4% in nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften und 13,7% bei einem allein erziehenden Elternteil (vgl. Lenz und Bergmann 2003). Mehr als ein Drittel der 11- bis unter 14-Jährigen, die Hilfen zur Erziehung erhalten hatten, besuchten eine Hauptschule, in der nachfolgenden Altersgruppe waren es sogar etwas mehr als 40%. Im Vergleich: im Jahr 2000 besuchten 18,7% der Schüler/innen weiterführender Schulen in Nordrhein-Westfalen eine Hauptschule. Auch Schüler/innen aus Sonderschulen waren unter den Klienten des Jugendamtes überrepräsentiert.

Leistungsbezieher Hilfen zur Erziehung: Schulbesuch nach Altersgruppen 78,4

80 Quelle: Bruckner, Langenohl, Meyer 2003 70

60

Prozent

50 40,9

38,8

40

39,5

36,3

30

25,0 21,1

19,6

20

10 0,5

0 6 - unter 11 Jahre

11 - unter 14 Jahre Hauptschule

Sonderschule

14 - unter 18 Jahre Sonstiges

Schließlich waren auch die Bezieher von Sozialleistungen – insbesondere von Sozialhilfe – deutlich häufiger unter den Klienten des Bereichs Hilfen zur Erziehung vertreten als in der Bevölkerung insgesamt: 46 von 100 Kindern und Jugendlichen, die Hilfen zur Erziehung erhalten hatten, lebten in einer Familie oder Lebensgemeinschaft, die von Sozialleistungen (Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe oder Sozialhilfe) abhängig war. 41 von 100 dieser Kinder erhielten Sozialhilfe. Im Vergleich dazu: in der Bevölkerung Nordrhein-Westfalens waren Ende 2000 wie auch Ende 2002 ca. sieben von 100 unter 18-Jährigen von Sozialhilfe abhängig. Als wichtigster Faktor für den Bezug von Sozialleistungen erwies sich in einer tiefergehenden Analyse der Familientypus: Insbesondere allein Erziehende waren auf Sozialleistungen angewiesen; zwei Drittel erhielten mindestens eine der drei Sozialleistungen Sozialhilfe, Arbeitslosenhilfe oder Arbeitslosengeld – in der Mehrzahl der Fälle handelte es sich auch hier um den Bezug von Sozialhilfe. Auch in der Gruppe derjenigen, die in einer neuen Lebensgemeinschaft eines Elternteils oder in einer sonstigen Lebenskonstellation lebte, lag in 42% der Fälle Sozialleistungsbezug vor. Kinder, die mit beiden Elternteilen zusammen lebten, waren dagegen „nur“ zu etwas mehr als einem Fünftel (21,6%) Bezieher von Sozialleistungen. Auch dies liegt jedoch um ein Vielfaches über dem Landesdurchschnitt. Als weiterer wesentlicher Faktor für den Bezug von Sozialleistungen erwies sich das Alter der Kinder: Der höchste Anteil Sozialleistungsempfänger fand sich in der Gruppe der Kinder, die bei nur einem Elternteil lebten und unter 10 Jahre alt waren: 83% von ihnen erhielten So25

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zialleistungen. Der Anteil sinkt, wenn die Kinder das zehnte Lebensjahr erreicht hatten, auf 52,7%. Auch jüngere Kinder, die in einer neuen Lebensgemeinschaft eines Elternteils lebten, waren besonders häufig auf Sozialleistungen angewiesen: Kinder unter 8 Jahren, die in diesen Familienkonstellationen aufwuchsen, erhielten zu 68,4% Sozialleistungen, Kinder zwischen 8 und 15 Jahren nur noch zu 40,9% und Jugendliche ab 15 Jahren zu 28,8%. Leistungsbezieher Hilfen zur Erziehung: Sozialleistungsbezug und Lebenskonstellation des Kindes vor der Hilfe 67,0

Quelle: Bruckner, Langenohl, Meyer 2003

70

60

42,0

Prozent

50

40

30

21,9

20

10

0

ELTERN Weitere Differenzierung nach Kinderzahl : keine, 1 weiteres Kind: 21,6% 2 und mehr weitere Kinder: 31,7%

ALLEINERZIEHENDE Weitere Differenzierung nach Kindesalter: 0- unter 10 Jahre: 83% 10- unter 18 Jahre: 52,7%

ELTERNTEIL IN NEUER LEBENSGEMEINSCHAFT, SONSTIGE Weitere Differenzierung nach Kindesalter: 0- unter 8 Jahre: 68,4% 8- unter 15 Jahre: 40,9% 15- unter 18 Jahre: 28,8%

In der Gruppe der Kinder, die mit beiden Elternteilen zusammen lebten führte das Vorhandensein weiterer Kinder im Haushalt zu einer Erhöhung des Risikos: Lebten noch zwei oder mehr weitere Kinder im Haushalt, erhöhte sich der Anteil der Sozialleistungsbezieher von durchschnittlich 21,9% auf 31,7%. Diese Ergebnisse legen nahe, dass die Frage der Kinderbetreuung von zentraler Bedeutung für den Sozialleistungsbezug ist, insbesondere, wenn es sich um allein Erziehende handelt. Fehlen verlässliche Kinderbetreuungsmöglichkeiten, ist den Müttern eine Erwerbstätigkeit zur Sicherung des Familienunterhalts kaum möglich. Diese Problematik scheint nach den Ergebnissen nicht nur für Mütter mit Kindergartenkindern zuzutreffen, sondern auch bei Grundschulkindern vorzuliegen. Im Rahmen des Forschungsprojektes „Verbesserte Zielorientierung im Bereich Hilfen zur Erziehung“ wurden auch die Problemlagen der Kinder und Jugendlichen untersucht, die Hilfen zur Erziehung erhalten hatten. Hierbei zeigte sich, dass der Bezug von Sozialleistungen einer der wichtigsten Faktoren für das Vorliegen von Problemlagen ist: Bei acht von 13 unterschiedenen Problemkonstellationen erwies sich der Bezug von Sozialleistungen, d.h. von Sozialhilfe, Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe mit als Faktor, der das Vorliegen von Problemlagen begünstigte. In sechs dieser acht Problembereiche war es der erste und wichtigste differenzierende Faktor: So waren Kinder, die zu ihrem Unterhalt auf Sozialleistungen angewiesen waren, nach Angaben der Jugendamtsmitarbeiter/innen deutlich häufiger von finanziellen Problemen in ihrer Familie betroffen, lebten häufiger in ungeeigneten oder beengten Wohnverhältnissen und hatten häufiger Eltern mit einer Sucht- oder Straffälligkeitsproblematik. Gleichzeitig wurde bei ihnen auch häufiger Kindesmisshandlung GEBIT, Münster – Januar 2004

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oder Gewalterfahrung sowie Vernachlässigung festgestellt. So stellten die Mitarbeiter/innen der Jugendämter beispielsweise bei mehr als der Hälfte der Kinder und Jugendlichen, die auf Sozialleistungen angewiesen waren, Vernachlässigung fest, aber nur bei etwas mehr als einem Viertel der Kinder und Jugendlichen, die nicht auf solche Transferleistungen angewiesen waren. Fast die Hälfte der Kinder und Jugendlichen mit Sozialleistungsbezug hatten Gewalterfahrungen gemacht, aber „nur“ knapp ein Drittel der Kinder und Jugendlichen, die keine solchen Leistungen bezogen. Sicherlich bedeuten diese Ergebnisse nicht, dass Sozialleistungsbezug, insbesondere der Bezug von Sozialhilfe grundsätzlich mit Kindesvernachlässigung und Kindesmisshandlung einhergeht. Bei den vorliegenden Daten handelt es sich um eine Stichprobe von Kindern und Jugendlichen, die Hilfen zur Erziehung erhalten haben, und insofern bereits um eine Gruppe, die besonderen Problemlagen ausgesetzt ist. Dennoch verdeutlicht das Ergebnis, dass die Angewiesenheit auf soziale Transferleistungen nicht nur für materielle Einschränkungen steht, sondern weitergehende Folgen für die Lebensverhältnisse und -chancen von Kindern und Jugendlichen hat. Desgleichen wird deutlich, dass Sozialhilfebezug nicht nur unmittelbare Kosten im Sozialhilfebereich selbst nach sich zieht, sondern Folgekosten auch in anderen Bereichen entstehen. Sozialhilfebezug zu vermeiden, indem eine erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt unterstützt wird, birgt damit umgekehrt auch ein weiterreichendes Einsparpotenzial. Prävention im Sinne einer Verbesserung der Lebensverhältnisse von Kindern, Jugendlichen und ihrer Familien, muss daher möglichst früh ansetzen. Wenn Sozialhilfebezug vor allem Folge fehlender Bildungs- und Ausbildungsabschlüsse ist sowie insbesondere allein erziehende Mütter betrifft, die aufgrund fehlender Kinderbetreuungsmöglichkeiten keiner Erwerbstätigkeit nachgehen können, sind hier Punkte angesprochen, an denen Handlungsbedarf und Handlungsmöglichkeiten bestehen. Die Schaffung von Kinderbetreuungsplätzen wird derzeit unter unterschiedlichen Aspekten diskutiert. Einer dieser Gesichtspunkte ist es, durch den Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen mehr allein Erziehenden eine Erwerbstätigkeit zu ermöglichen, die ihnen und ihren Kindern einen eigenständigen Lebensunterhalt sichert. Damit könnten erhebliche Sozialhilfekosten gespart werden. Wie eine Expertise des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung für das Bundesfamilienministeriums (Spieß und Büchel 2002) nachweist, liegt allein das Einsparpotenzial an Sozialhilfeleistungen bei Ausbau der Betreuung für Vorschul- und Schulkinder in Deutschland bei insgesamt 1,5 Milliarden Euro im Jahr. Die Studie weist jedoch nicht nur Einsparungspotenziale im Bereich der Sozialhilfe nach, sondern auch Mehreinnahmemöglichkeiten im Bereich der Steuer sowie der Sozialversicherung: Können durch einen Ausbau der Betreuungsmöglichkeiten mehr Mütter einer Erwerbstätigkeit nachgehen, können Steuer- wie Sozialversicherungskassen mehr Einnahmen verbuchen. Nicht zuletzt weist die Studie nach, dass durch den Ausbau auch neue Arbeitsplätze in Kinderbetreuungseinrichtungen geschaffen werden, was ebenfalls vermehrte Steuer- und Sozialleistungseinnahmen zur Folge haben würde. Insgesamt kommt die Studie damit zu dem Schluss, dass ein Betreuungsausbau mehr bringt als er kostet. Eine weitere Studie der Prognos AG (2003), die ebenfalls im Auftrag des Bundesfamilienministeriums angefertigt wurde, weist anhand von Modellrechnungen nach, dass sich die Einführung familienfreundlicher Maßnahmen – wozu u.a. auch die Schaffung betrieblicher Kinderbetreuungsmöglichkeiten gehört – auch für Unternehmen betriebswirtschaftlich rechnet. Es sind jedoch nicht nur finanzielle Aspekte, unter denen das Thema Kinderbetreuung diskutiert wird. Das Vorhandensein von Kinderbetreuungsmöglichkeiten ist ein Schlüssel zur Ver27

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einbarkeit von Familie und Beruf. Angesichts des zukünftig steigenden Bedarfs an Arbeitskräften, der sich insbesondere aus dem demographischen Wandel ergibt (vgl. Zukunftsszenario II), ist eine Steigerung der Frauenerwerbsbeteiligung für die Konkurrenzfähigkeit des Wirtschaftsstandorts eine wesentliche Voraussetzung. Zur Zeit wird diskutiert, ob ein Ausbau ganztägiger Kinderbetreuungsmöglichkeiten nicht auch zu einer Erhöhung der Geburtenraten gerade in den Gruppen beitragen könnte, die heute immer häufiger auf Kinder verzichten, da die Opportunitätskosten für einen Verzicht auf Erwerbstätigkeit für sie besonders hoch sind (vgl. Rürup 2003). Da gerade Akademikerinnen auf dem zukünftigen Arbeitsmarkt gebraucht werden, ist der Ausbau der Kinderbetreuung von besonderer Bedeutung. Bei dem geforderten Ausbau der Kinderbetreuungsmöglichkeiten geht es jedoch nicht um eine rein quantitative Steigerung der Plätze. Aufgrund der demographischen Entwicklung ist vielmehr ein abnehmender Bedarf an klassischen Kindergartenplätzen für 3- bis unter 6-Jährige abzusehen. Der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz für diese Altersgruppe ist zum großen Teil erfüllt. Dies hat Schilling (2000) in seinem Gutachten für Westfalen-Lippe gezeigt. Auch er schlägt als eine Variante vor, die nicht mehr benötigten Plätze für die Kinder im Kindergartenalter in Betreuungsplätze für unter 3-Jährige umzuwandeln und das Ganztagsbetreuungsangebot für Kindergartenkinder auszubauen. Für beide Altersgruppen ist das Ganztagsbetreuungsangebot auch in Nordrhein-Westfalen gering. Im Jahr 2000 wurden in Westdeutschland 3,7% der Kinder im Krippenalter in entsprechenden Einrichtungen und 1,6% von Tagesmüttern betreut, 39,5% davon ganztags. Unter den Kindern im Kindergartenalter liegt die Versorgungsquote mit Ganztagsplätzen in Einrichtungen in Westdeutschland bei 18,4%. 5,9% der Kinder im Schulalter werden in Einrichtungen ganztags betreut (Büchel und Spieß 2002). Die heute in Westdeutschland vorherrschende „Halbtagsbetreuung“ für Kindergarten- und Schulkinder ermöglicht dabei auch eine Teilzeiterwerbstätigkeit nur eingeschränkt, da neben der reinen Arbeitszeit auch die Wege zum Arbeitsplatz Zeit in Anspruch nehmen. Diese Einschränkung gilt auch für das in den letzten Jahren stark ausgebaute Angebot der „Betreuung von 8 bis 13 Uhr“ (nicht nur) an nordrhein-westfälischen Grundschulen. Ein weiterer Punkt, der für einen Ausbau bzw. Umbau spricht, wurde bereits zu Beginn dieses Kapitels angesprochen: Die Notwendigkeit einer verstärkten Förderung von Kindern aus benachteiligten sozialen Schichten, insbesondere die Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund. Hierzu muss zum einen der Bildungsauftrag der Kinderbetreuungseinrichtungen konkretisiert und verstärkt umgesetzt werden. Wichtig ist es jedoch zunächst, insbesondere Kinder mit Migrationshintergrund möglichst frühzeitig in diese Einrichtungen aufzunehmen, um mit der Förderung auch zu einem frühestmöglichen Zeitpunkt beginnen zu können. Zwar bestehen heute zwischen deutschen und ausländischen Kindern kaum noch Unterschiede im Hinblick auf den Kindergartenbesuch. Ausländische Kinder kommen jedoch im Durchschnitt später in den Kindergarten als Deutsche, so dass sie ihn insgesamt kürzere Zeit besuchen. Jedes weitere Kindergartenjahr wirkt sich jedoch positiv auf die Sprachkompetenz aus. Es sollten daher Anstrengungen unternommen werden, auch ausländische Kinder bzw. Kinder mit Migrationshintergrund, möglichst frühzeitig für einen Kindergartenbesuch zu gewinnen, um ihre schulischen Startchancen zu erhöhen. Auch die in Nordrhein-Westfalen seit dem Schuljahr 2003/2004 eingeführte Offene Ganztagsschule wird unter den o.g. Aspekten diskutiert: Sie soll den Eltern – insbesondere Müttern – eine Erwerbstätigkeit in einem Umfang ermöglichen, die den Lebensunterhalt sichert, auch wenn die Familie auf nur ein Einkommen angewiesen ist. Gleichzeitig ist die Schaffung der Offenen Ganztagsschule auch eine Reaktion auf die PISA-Ergebnisse, d.h. sie wurde ausdrücklich eingerichtet, um Bildungsqualität und Chancengleichheit zu verbessern und die GEBIT, Münster – Januar 2004

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Förderung leistungsschwacher benachteiligter Kinder auszubauen. Inwieweit dies in den bisher geschaffenen Offenen Ganztagsschulen gelingt, kann noch nicht beurteilt werden. Die Offenheit betrifft zumindest zur Zeit nicht nur die Freiwilligkeit der Teilnahme an diesem Angebot, sondern auch die zugrundeliegenden Konzepte und erst recht die erzielten Wirkungen. Ausdrückliches Ziel der Einführung der Offenen Ganztagsschule ist es, die Zahl der betreuten Schüler insgesamt zu erhöhen und insbesondere Kinder aus benachteiligte Schichten zu erreichen. Bis zum Schuljahr 2006/2007 soll ein Viertel der Grundschüler an 75% der Grundschulen durch dieses Angebot erreicht werden. Zweifel bestehen insbesondere darüber, inwieweit es gelingen kann, den Bildungs- und Förderungsauftrag tatsächlich umzusetzen. Zusätzlich ist zu fragen, wie es gelingen kann, gerade benachteiligte Gruppen für das Angebot zu gewinnen, zumal wenn die Teilnahme gerade für einkommensschwache Gruppen deutlich teurer werden kann als heutige Betreuungsangebote, die nach dem GTK gefördert werden. Im Bereich vorschulischer Betreuungsangebote ist festzustellen, dass Kinder aus einkommensschwachen Familien in Kindertageseinrichtungen seltener ganztags betreut werden als Kinder höherer Schichten (vgl. Büchel und Spieß 2002). Wie der ins Blickfeld genommene Personenkreis – insbesondere unter dem Aspekt der Elternbeiträge – für das Angebot gewonnen werden kann, ist heute weitgehend offen. Gleichzeitig muss die Offene Ganztagsschule bei der Betreuung der Kinder am Nachmittag mit einem schlechteren Personalschlüssel auskommen als heute etablierte, aber in zu geringer Zahl vorgehaltene Betreuungsangebote für (Grund)Schüler in Horten oder Schulkinderhäusern. Auch diese geringere Strukturqualität lässt Zweifel darüber aufkommen, ob die angestrebten Ziele erreicht werden können. Wesentliche Neuerung des Konzeptes gegenüber den bisherigen Angebote der Schulkinderbetreuung stellt die festgeschriebene Kooperation zwischen Schule und Jugendhilfe dar. Die Realisierung des Angebotes soll in Zusammenarbeit von Lehrerinnen und anderen Professionen geschehen. Hierbei sind nicht nur die klassischen Kernbereiche der Jugendhilfe angesprochen, sondern auch örtliche Vereine, die sich mit ihren Angeboten nicht ausschließlich im Jugendhilfesystem verorten wie z.B. Sportvereine. Die Offene Ganztagsschule ist damit auch auf die Aktivierung des bürgerschaftlichen Engagements in den Kommunen angewiesen. Dies stellt eine Chance und ein Risiko zugleich dar. Chance insofern als damit prinzipiell eine Vielfalt von Angeboten im Rahmen der Offenen Ganztagsschule möglich wird und sich u.U. auch das Bewusstsein für eine „kommunale Verantwortungsgemeinschaft“ für die Förderung von Kindern und Jugendlichen entwickeln kann. Risiko insofern als das Angebot auf dauerhafte und verlässliche Kooperationen angewiesen ist, was die weitgehend auf ehrenamtlichen Engagement beruhende Arbeit der Vereine nicht in ausreichendem Maße garantieren kann. Zudem bleibt auch weitgehend offen, wie die Qualität des Angebots gesichert werden soll, wenn der angestrebten Vielfalt keine Qualitätsstandards zugrunde liegen.

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Fazit: Welche Anforderungen stellt der demographische Wandel an die Jugendhilfe? Das Jugendhilfesystem steht aufgrund des abzusehenden demographischen Wandels vor neuen Herausforderungen. Insgesamt wird der Umfang ihrer Zielgruppe kleiner werden. Bereits relativ kurzfristig trifft dies für die Altersgruppen bis zum Grundschulalter zu, mittelfristig wird auch die Anzahl der Jugendlichen abnehmen (vgl. Schilling 2000). Die Folgen für die verschiedenen Teilsysteme des Jugendhilfesystems treten also zeitlich versetzt ein. Die größten Herausforderungen für die Jugendhilfe ergeben sich jedoch nicht aus der zahlenmäßigen Verkleinerung ihrer Zielgruppe, sondern aus ihrer veränderten sozialen Zusammensetzung. Der Anteil von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund sowie aus Familien mit niedrigem Bildungsniveau wird steigen, angesichts steigender Scheidungsraten werden mehr Kinder bei nur einem Elternteil aufwachsen und damit einem größeren Risiko ausgesetzt sein, in wirtschaftlich prekären Lebenskonstellationen aufzuwachsen. Obwohl bereits kurzfristig mit einem Rückgang der Kinderzahlen in den jüngsten Altersgruppen zu rechnen ist, bedeutet dies keine „Entlastung“ für die Jugendhilfe. Dem abnehmenden Bedarf an klassischen Kindergartenplätzen steht die Notwendigkeit eines Ausbaus von Betreuungsangeboten für unter 3-Jährige sowie von Ganztagsbetreuungsangeboten für Kindergarten- und Schulkinder gegenüber. Gleichzeitig stellt Benachteiligung von Kindern aus bildungsfernen Schichten sowie von Kindern mit Migrationshintergrund auch die Jugendhilfe vor die Aufgabe, den Bildungsaspekt in ihrer Arbeit mit Vorschulkindern stärker zu betonen. Die Förderung benachteiligter Kinder muss zunehmend im Kindergarten unterstützt werden. Zudem wird an dieser Stelle auch die Notwendigkeit einer stärkeren Vernetzung und Kooperation zwischen dem der Jugendhilfe zugeordneten Bereich der Kinderbetreuung und dem Schulsystem deutlich. Auch die Betreuungsaufgaben, die sich in Nordrhein-Westfalen durch die Schulkinderbetreuung in der Offenen Ganztagsschule für die Jugendhilfe ergeben, erfordern die Erarbeitung neuer Kooperationsformen zwischen den beiden Systemen. Wie im Schulbereich, wo mit dem Schulrechtsänderungsgesetz in Nordrhein-Westfalen die kontinuierliche Qualitätsentwicklung und -sicherung normativ festgeschrieben wurde, wird auch im Bereich der Tagesbetreuung die Entwicklung und Anwendung von Qualitätsstandards zunehmend vorangetrieben – nicht zuletzt aufgrund der bereits genannten „Bildungsvereinbarung NRW“. Die engere Verzahnung von Schule und Jugendhilfe könnte sich hierbei für beide Seiten als hilfreich erweisen. Auch für den Bereich der Jugendarbeit stellen die zu erwartenden Entwicklungen eine Herausforderung dar. Wie Schilling (2000) gezeigt hat, betrifft dies zunächst auch hier den Umfang der Zielgruppe. Da die Jugendarbeit ältere Kinder und Jugendliche anspricht, macht sich der Bevölkerungsrückgang hier später bemerkbar als beispielsweise im Kindergartenoder der Grundschulbereich. Dennoch ist auch hier in Zukunft ein Rückgang zu erwarten. Weitaus größere Herausforderungen ergeben sich für die Jugendarbeit aus der veränderten sozialen Zusammensetzung ihrer Zielgruppe sowie aus den Veränderungen der Kindheit und Jugendphase selbst. Die Bedingungen und Anforderungen des Aufwachsens haben sich in den letzten Jahren erheblich gewandelt. Mit den Stichworten „Individualisierung von Lebensstilen“ und „Pluralisierung der Lebensführung“ werden neue Spielräume und Wahlmöglichkeiten auch für Kinder und Jugendliche beschrieben, die zugleich aber auch neue Risiken bergen. Die Wahrnehmung der neuen Handlungsspielräume stellt erhöhte Kompetenzanforderungen an den Einzelnen, nicht zuletzt deshalb, weil gleichzeitig eine „Inflation am ‚Wertehimmel’“ (Fritzsche 2000) festzustellen ist, die eine Orientierung GEBIT, Münster – Januar 2004

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erschwert. Diese fehlende Orientierung betrifft wiederum jene Gruppen besonders stark, die auch im Hinblick auf Bildungs- und Sozialstatus benachteiligt sind. Dies stellt neue Anforderungen an die präventive Aufgabe der Jugendarbeit. Es ist daher für die Jugendarbeit von besonderer Bedeutung, ihre Konzepte ständig zu überprüfen. Insbesondere gilt es zu prüfen, ob die heutigen Angebote die angestrebten Zielgruppen auch erreichen und inwieweit die Ziele der Arbeit mit diesen Gruppen auch erreicht werden. Angesichts beschränkter finanzieller Möglichkeiten müssen diese zielbezogener als bisher eingesetzt werden. Dies erfordert eine ständige Evaluation der eigenen Arbeit. Mit dem Wirksamkeitsdialog im Rahmen des Landesjugendplans Nordrhein-Westfalen werden bereits Schritte in diese Richtung unternommen (vgl. Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit Nordrhein-Westfalen 1999). Mittlerweile liegen hier seit 2002 und 2003 weitere Berichte vor.7 Von entscheidender Bedeutung wird aber das Gelingen einer Umsetzung des Wirksamkeitsdialoges auf der örtlichen Ebene sein. Die geschilderten Herausforderungen gelten in besonderer Weise für die Jugendsozialarbeit. Sie arbeitet an der Schnittstelle zwischen Jugendhilfe, Schule und Arbeitsmarkt und sieht ihre Zielgruppe explizit in der Gruppe der benachteiligten Jugendlichen. Angesichts der geschilderten wachsenden Anforderungen, die der Arbeitsmarkt an die zukünftigen Arbeitskräfte stellt (vgl. Zukunftsszenario II) und angesichts der geschilderten Probleme gerade benachteiligter Gruppen im Bildungssystem (vgl. Zukunftsszenario III), ergibt sich hier zukünftig ein besonders wichtiges Aufgabenfeld. Die gegenwärtigen Veränderungen der Arbeitsmarktpolitik, die im Umbau der Bundesanstalt für Arbeit zur Bundesagentur ihren äußeren Ausdruck findet, stellen für Jugendsozialarbeit eine große Unsicherheit dar. Klar ist jedoch, dass die Entwicklung in Richtung auf ein stärkeres Zusammenwachsen der Systeme Jugendhilfe und Arbeitsverwaltung hinausläuft. Dies bietet die Chance, diese beiden Systeme zum Vorteil der benachteiligten Jugendlichen stärker aufeinander abzustimmen und dadurch die Chancen für eine erfolgreiche Integration Benachteiligter zu erhöhen. Gleichzeitig besteht hier jedoch auch die Gefahr, dass eine Zentralisierung der Zuständigkeiten die konkreten Verhältnisse vor Ort aus dem Blick verliert und die Kompetenzen für eine bedarfsgerechte und individuelle Planung von Integrationsmöglichkeiten, die in der Jugendberufshilfe vorliegen, nicht mehr ausreichend berücksichtigt werden. Insbesondere wird jedoch befürchtet, dass mit der Umsetzung der „Hartz-Reformen“ die Zielsetzung einer Ausbildung in den Hintergrund tritt und gerade für benachteiligte Jugendliche der erzwungenen geringqualifizierten Beschäftigung der Vorzug gegeben wird. Damit wäre ihre dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt jedoch stark gefährdet, setzt diese doch eine möglichst qualifizierte Ausbildung voraus (vgl. Zukunftsszenario II). Die Jugendsozialarbeit steht jedoch daneben auch mit einem weiteren System in Beziehung, das für die Chancen von Jugendlichen von entscheidender Bedeutung ist, nämlich dem Bildungssystem. Auch hier gilt es also, die Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe auszubauen und zu stärken. Dies ist heute, gerade angesichts des unterschiedlichen professionellen Hintergrundes der Beteiligten und entsprechend unterschiedlichen Schwerpunkten der Arbeit, noch keine Selbstverständlichkeit. Eine gezielte und ganzheitliche Förderung gerade benachteiligter Gruppen setzt jedoch die Entwicklung einer solchen Kooperationskultur voraus. Wichtig für die Position der Jugendsozialarbeit ist es daher, die Entwicklung von Qualitätsstandards und einer kontinuierlichen Evaluation der Arbeit voranzutreiben, um ihre Konzepte 7

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vgl. Liebig 2002, Ministerium für Schule, Jugend und Kinder 2003b sowie Stötzel, Appel und Schumann 2002 und 2003. GEBIT, Münster – Januar 2004

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der spezifischen Situation ihrer Zielgruppen, aber auch den spezifischen Anforderungen des Bildungs- und Arbeitsmarktsystems anzupassen. Nur so kann Jugendberufshilfe ihre Aufgabe der beruflichen Integration benachteiligter Jugendlicher und damit auch eine wichtige Präventionsaufgabe im Jugendhilfesystem erfüllen. Qualitätsstandards und Evaluation sind auch ein Thema für den Bereich Hilfen zur Erziehung. Wie ein Blick in die Statistiken zeigt, werden beispielsweise Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund von diesen Hilfen nicht entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil und erst recht nicht entsprechend ihrer Problemlagen erreicht. Bisher ist es nicht gelungen, die bestehenden Zugangsbarrieren zu diesen Hilfen einzuebnen. Die Beschäftigung von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen mit Migrationshintergrund ist ein Schritt in die richtige Richtung, jedoch weder flächendeckend realisiert noch hinreichend (vgl. z.B. Filsinger 2002). Hiermit wird eine wichtige Zielgruppe benachteiligter Kinder und Jugendlicher durch das Jugendhilfesystem nicht erreicht. Dass dies notwendig wäre und Prävention bisher versagt, zeigt sich auch darin, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund zwar im Bereich Hilfen zur Erziehung unterrepräsentiert sind, in einem anderen Bereich der Jugendhilfe, nämlich der Jugendgerichtshilfe jedoch überrepräsentiert. Hier müssen neue Konzepte entwickelt werden, damit auch für diese Gruppe eine adäquate Unterstützung geleistet werden kann. Der „Gang“ durch die verschiedenen Teilbereiche der Jugendhilfe – Kindertagesbetreuung, Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit und Hilfen zur Erziehung – macht deutlich, dass die Herausforderungen des demographischen Wandels für sie nur zu bewältigen sind, wenn es den Beteiligten gelingt, im Interesse der Kinder, Jugendlichen und ihrer Familien neue Kooperationsformen mit denjenigen gesellschaftlichen Teilsystemen zu entwickeln, in denen Kinder und Jugendliche sich ebenfalls bewegen. Dies gilt insbesondere für den Bildungsbereich. Des weiteren muss die Entwicklung von Qualitätsstandards vorangetrieben und deren Einhaltung durch eine ständige Evaluation der Arbeit überprüfbar werden. Nur so kann es der Jugendhilfe gelingen, ihre Kompetenz auch bereichsübergreifend im Sinne ihrer Klienten einzusetzen. Wie die einzelnen Szenarien dieser Expertise gezeigt haben, gibt es zwischen einzelnen gesellschaftlichen Teilbereichen zahlreiche Verknüpfungen und Abhängigkeiten. Die Situation von Kindern, Jugendlichen und ihrer Familien wird wesentlich mit beeinflusst von der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung. Umgekehrt ist diese aber auch darauf angewiesen, dass es möglichst vielen gelingt, beispielsweise eine hohe berufliche Qualifikation zu erwerben: Dies trägt zu höherer Wirtschafts- und Steuerkraft und zu niedrigeren Transferleistungen bei und vermeidet gesellschaftliche Kosten wie sie z.B. für die Kriminalitätsbekämpfung anfallen. Gleichzeitig kann als gesellschaftlicher Ertrag dieser individuellen Erfolge auch ein größeres politisches und soziales Engagement und eine stärkerer sozialer Zusammenhalt erwartet werden (vgl. Kultusministerkonferenz 2003). Dieses Beispiel verdeutlicht, dass eine Verbesserung der Chancen von Kindern und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen nicht nur ein Interesse der Jugendhilfe, sondern der ganzen Kommune sein muss. Die Überwindung von Systemgrenzen – zwischen Jugendhilfe, Schule, Arbeits- und Sozialsystem – muss dabei ebenfalls vor Ort in der Kommune geschehen. Um dieses Ziel zu erreichen, ist nicht nur die (Jugendhilfe)Verwaltung, sondern sind alle kommunalen Akteure gefordert. Aufgabe der Jugendhilfe ist es, eine Anwaltsfunktion zu übernehmen, d.h. die Interessen ihrer Zielgruppen auch in anderen Beeichen zu vertreten und dort ihre spezifischen Kompetenzen einzubringen. Insofern muss sich Jugendhilfe als ein Teil kommunaler Steuerung verstehen und entsprechend handeln. GEBIT, Münster – Januar 2004

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Geht man davon aus, dass Maßnahmen, die eine Verbesserung der sozioökonomischen Situation von Kindern und Jugendlichen zum Ziel haben, „bei den Merkmalen, Belastungen, Handlungsspielräumen und Ressourcen in ihrer Lebenswelt ansetzen“ müssen (Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend 2002, S.144), dann verweist dies unmittelbar auf den kommunalen Zusammenhang. Ausgehend von einer Analyse der IstSituation vor Ort, muss es der Jugendhilfe gelingen, bereichsübergreifende und aufeinander abgestimmte Konzepte zu entwickeln. Ebenso wie Bildungs- und Jugendhilfesystem heute noch weitgehend nebeneinander arbeiten, ist dies allzu häufig auch für die verschiedenen Bereiche der Jugendhilfe selbst der Fall. Präventives Handeln erfordert jedoch einen ganzheitlichen und niederschwelligen Zugang. Dies bedeutet auch die Notwendigkeit einer nicht nur einzelfallbezogenen, sondern systematischen Zusammenarbeit der verschiedenen Teilbereiche wie Kindertagesbetreuung, Hilfen zur Erziehung, Jugendarbeit oder Jugendsozialarbeit.

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Expertise: Zukunft der Jugendhilfe –Szenarien und Tendenzen –

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GEBIT, Münster – Januar 2004