Kinder der Zukunft - Zukunft der Kinder? Anmerkungen zu einer Pädagogik nach Wilhelm Reich (Meinem Lehrer, Univ.Prof.Dr. Richard Wisser, Worms, zum 72. Geburtstag am 5.1.1999 gewidmet.)

„Der Pädagoge hat nur eine Verpflichtung, seinen Beruf ohne Rücksicht auf die Mächte der Unterdrückung des Lebendigen kompromißlos auszuüben und nur das Wohl derer im Auge zu haben, die ihm anvertraut sind.“ (W. Reich, Die Funktion des Orgasmus, S. 26)

Als Wilhelm Reich am 3. November 1957 im Gefängnis an seinem gebrochenen Herzen starb, hinterließ er sein Vermögen dem Wilhelm-Reich-Infant-Trust-Fond. Er setzte damit der Nachwelt ein deutliches Zeichen, wie ernst es ihm war mit dem, was er in seinen Schriften immer wieder behauptet hatte: die wichtigste Aufgabe der Menschheit in den kommenden JAHRHUNDERTEN (!) bestehe darin, bei Säuglingen und Kindern durch geeignete Prophylaxemaßnahmen die Ausbreitung der emotionalen Pest zu verhindern. Die emotionale Pest sah Reich als die gravierendste Charakterdeformation, die in Form einer immer weiter um sich greifenden Epidemie das traurige Resultat der immer lebensfeindlicheren Zwangserziehung darstellt. Da Reich die Auffassung vertrat, ein einmal krumm gewachsener Baum könne nie wieder ganz gerade gerichtet werden, was als Metapher so zu verstehen ist, dass keine noch so erfolgreiche Psychotherapie im Erwachsenenalter die in der Kindheit erlittenen seelischen Verletzungen völlig zu heilen vermag, sah er in einer orgonomischen Pädagogik eine wesentlich wichtigere Aufgabe als in der weiteren Ausarbeitung orgonomischer Therapie. Folgerichtig gab Reich in den 1940er Jahren auf, weiter einzelne Patienten zu behandeln, weil er sich intensiv der orgonomischen Grundlagenforschung widmen wollte. Er konzentrierte sich dabei auf die Biophysik, die Klimaforschung, die Krebspathologien und deren Genese und die Kosmologie; es wird berichtet, dass er sich in seinem letzten Lebensjahr im Gefängnis mit Anti-SchwerkraftGleichungen beschäftigt habe. In diese Grundlagenforschung musste eine orgonomische Pädagogik eingebettet sein, besser: auf jener aufgebaut werden. Und während Reich sich im Laufe seines Lebens mit fast allen Kollegen, waren diese Psychoanalytiker, Mediziner, Biologen oder Physiker, heillos zerstritt, währte seine wohl innigste und tiefste Männerfreundschaft mit dem Pädagogen Alexander S. Neill (1883 - 1973) trotz mancher Missverständnisse über zwanzig Jahre lang bis zu Reichs Tod. Neill hat, und er gibt dies selbst oft genug in seinen Briefen zu, Reich an einigen Punkten seines Weges nicht verstanden oder ihm nicht folgen können, aber er setzte in seiner fälschlicherweise als antiautoritär bezeichneten Privatschule in Summerhill soviel an Reichianischer Theorie um, wie

er davon verstand, bis hin zu vegetotherapeutischer Behandlung seiner Schüler und der Anwendung von Orgonakkumulatoren an seiner Schule. Neill sah auch seine Grenzen und gestand diese Reich, der Ehrlichkeit über alles schätzte, aufrichtig ein. Es ist daher kaum erstaunlich, dass die beiden Männer sich gut verstanden und sich als Wissenschaftler bei dem beiderseitigen Interesse für das Arbeitsgebiet des jeweils anderen so viel zu sagen hatten. Umso erstaunlicher ist, dass vierzig Jahre nach Reichs Tod weltweit keine einzige mir bekannte Schule existiert, die den Namen Wilhelm Reichs trägt und seine brennenden pädagogischen Anliegen in konkreten Schulalltag umsetzt. Neills Schule in Summerhill ist ein Einzelfall geblieben und Summerhill ist trotz aller Nähe zu Reichianischer Theorie keine Reichianische Schule. Man kann sich an dieser Stelle aber fragen, ob sich nicht der Schulalltag an privaten und öffentlichen Schulen in den vierzig Jahren seit Reichs Tod so verändert hat, dass viele Anliegen Reichs nun umgesetzt sind. So ist der Unterricht heute viel praxisbezogener und freier als vor vier Jahrzehnten, als noch in den Gymnasien die Fächer Latein und Griechisch und als Methode der Frontalunterricht den pädagogischen Standard bestimmten. Machtmissbrauch und Gewaltstrafen seitens der Lehrer sind tabu, fast überall existieren schulpsychologische Dienste, findet durch Sozialarbeiter oder psychologisch ausgebildete Beratungslehrer an Schulen therapeutische Betreuung und insbesondere auch die von Reich so intensiv geforderte Neurosenprophylaxe statt. Man denke nur an die umfangreichen Maßnahmen und erlebnispädagogischen Projekte zur Sucht- und Gewaltprävention, die allerorts stattfinden und von denen man zu Reichs Zeiten nur träumen konnte. Die Schule scheint lebendiger geworden, zu einem Ort, an dem Gefühle sich frei äußern dürfen und ernst genommen werden, so ernst, dass darüber sogar wichtige Zeit für die Sicherung der Leistungsstandards und der Wissensvermittlung geopfert wird. Wie sonst wäre die Warnung des deutschen Bundespräsidenten Herzog in einer öffentlichen Rede zu erklären, die Schulen nicht zu, so wörtlich, „pädagogischen Kuschelecken“ verkommen zu lassen. Ist diese ironische Attacke eines Staatsoberhauptes nicht schon Indiz dafür, dass in den Schulen bereits geschieht und vorbereitet wird, was Politiker am meisten fürchten: die Untergrabung starrer staatlicher Strukturen und Autoritäten durch eine neue Erziehung, die statt verkopfter Paukerei nun die natürliche Lebensenergie der Jugendlichen in den Mittelpunkt stellt und sie ermutigt, ihre primären Bedürfnisse nach sozialer Wärme und zärtlichem Körperkontakt spontan selbst am Ort des wissenschaftlichen Lernens zu stillen, was in soziologischer oder pädagogischer Fachterminologie dann Förderung sozialer Kompetenz und emotionaler Intelligenz genannt wird? Findet also vielerorts schon Reich-Pädagogik statt, ohne dass man sie so nennt? Ich meine: nein! Ich werde im Schlussteil dieses Essays erörtern, wie nach meinem Verständnis Reichianische Pädagogik in ersten Ansätzen praktisch umgesetzt werden könnte. Im Kontrast dazu werde ich mein klares Nein auf die oben gestellte Frage begründen. Ich werde aufzeigen, welche Reichianischen Elemente in heutige pädagogische Praxis und Theorie Eingang gefunden haben. Dabei wird deutlich werden, dass der Kern der orgonomischen Forschungen und Erkenntnisse Reichs nach wie vor konsequent verleugnet, ja erbittert bekämpft wird und wir eben deshalb von einer Pädagogik für die Kinder der Zukunft, wie Reich sie sich vorstellte, weiter entfernt sind denn je. Im Hauptteil dieses Essays will ich das theoretische Fundament Reichianischer Pädagogik als Neurosenprophylaxe herausarbeiten, zuvor aber zeigen, wie Reich selbst zu seinen Lebzeiten pädagogisch gewirkt, nicht nur gedacht hat. Mit anderen

Worten: vorgestellt werden Reich als pädagogischer Praktiker im Detail, Reichs pädagogische Theorie in ihrem Kern, ihrer wesentlichen Essenz, und zum Schluss die Konsequenzen, die sich für einen Pädagogen heute ergeben, wenn er sich der im Motto zitierten Verpflichtung Reichs verpflichtet fühlt, damit Kinder überhaupt noch eine Zukunft haben.

REICH ALS PÄDAGOGISCHER PRAKTIKER

Der Philosoph und Pädagoge Jean Jaques Rousseau (1712 - 1778), einer der berühmtesten und fähigsten Denker der Aufklärung, schrieb den Erziehungsroman „Emile“, ein noch heute auf der Pflichtlektüreliste für angehende Lehrer ganz oben stehendes pädagogisches Standardwerk. Seine fünf Kinder gab er ins Waisenhaus. Mit den praktischen Erfordernissen eines Familienalltags mit fünf Kindern sah sich der Denker überfordert. In unserer theoriezentrierten Kultur quittiert man dieses praktische Versagen Rousseaus mit einer ironischen Bemerkung und diskutiert dann seine Theorien mit Eifer und Inbrunst, als ob sie sich nicht eben durch den Urheber derselben selbst diskreditiert hätten. Nach Reich jedoch hat in der von ihm angestrebten Arbeitsdemokratie nur derjenige ein Wort mitzureden, der sich auf seinem Arbeitsgebiet nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch bewährt hat. Reich zu Folge (Äther, Gott und Teufel, S. 167 ff.) muss sich insbesondere jeder Forscher neben der Frage nach seiner wissenschaftlichen Qualifikation die nach seiner „orgonomischen Potenz und Sensibilität“ gefallen lassen. Ein Pädagoge, der seine Kinder ins Waisenhaus abschiebt, stellt sich, milde gesagt, in ein sehr fragwürdiges Licht. Daher ist es nicht nur legitim, sondern notwendig, vor aller Diskussion um Reichs pädagogische Theorien die Frage nach seiner Bewährung als Vater und Lehrer aufzuwerfen. Leider habe ich noch nicht die Gelegenheit gefunden, Peter Reichs Beschreibung seines „Traumvaters“ zu lesen, aber Dr. Eva Reich zeichnet in ihrem 1989 in Berlin gehaltenen Vortrag: Meine Erinnerungen an W.R. (in: J.Fischer, Orgon und Dor, die Lebensenergie und ihre Gefährdung, Berlin 1995, S. 130 - 154) ein Bild ihres Vaters, das ihn menschlich sympathisch macht, und zwar nicht nur trotz, sondern auch wegen seiner offenkundigen Erziehungsfehler. So übersah, seiner Tochter zu Folge, Wilhelm Reich auf Grund seiner ideologischen Bindung an den Kommunismus in den zwanziger und dreissiger Jahren die real existierenden Bedürfnisse seiner Kinder. Ähnliche Fehler unterliefen ihm, wenn er mehr als Analytiker denn als Vater handelte. Dies beschreibt Eva Reich sehr anschaulich an einem Beispiel: wie ihr Vater ihren Glauben an Gott und ihre Zuflucht im Gebet, insbesondere in der Zeit, in der das Ehepaar Reich sich unter heftigen Streitereien trennte, als Onanieangst und beginnende Neurose interpretierte und sie entsprechend „behandelte“. Eva Reich nennt das „ganz arg, eine schlimme Geschichte“ (a.a.O. S. 138) und kreidet ihrem Vater an, dass er „seine Kinder nach den Theorien behandelt hat und nicht nach dem Instinkt“ (a.a.O. S 136). Dieser Satz sollte jeden Reichianer in Hinsicht auf die Rangfolge von Theorie, Instinkt und Erfahrung sehr nachdenklich stimmen und entsprechende Schlüsse

ziehen lassen, ebenso Eva Reichs Aussage, dass ihr Vater in seiner Begeisterung für das theoretische Wissen viel zu früh versuchte, seine Kinder mit politischen und psychoanalytischen Ideen vertraut zu machen, die sie als 4 - 10 Jährige gar nicht begreifen konnten. Andererseits beschreibt Eva Reich ihren Vater mit großer menschlichen Wärme dort, wo dieser nach Instinkt handelte und sich dann als sehr fortschrittlicher Vater erwies, der viel Zeit mit seinen Kindern verbrachte, mit ihnen herumalberte und sie mit den Tatsachen des Lebens auf ehrliche Weise vertraut machte. Auch berichtet sie, dass er als Mediziner und Psychotherapeut bei ärztlichen Untersuchungen von Müttern und deren Babys „sehr zart und menschlich“ war und dieses Vorbild so stark auf sie wirkte, dass sie unter diesem Eindruck beinahe Kinderärztin geworden wäre (a.a.O. S. 145). Einen Eindruck davon, wie Reich als pädagogischer und therapeutischer Praktiker in den zwanziger Jahren in Wien und 1930 - 1933 in Berlin in den von ihm gegründeten Sexualberatungsstellen wirkte, erhält man durch die kleine, 1929 in Wien publizierte Schrift „Sexualerregung und Sexualbefriedigung“. In deren Anhang beantwortet Reich fünfzig Fragen, wie sie ihm wohl täglich zu Themen wie Onanie, Geschlechtsverkehr der Jugend, Homosexualität, Sexualaufklärung an Schulen etc. gestellt wurden. Er antwortet in einfacher, klarer Sprache, die deutlich seine Achtung, seine Ehrlichkeit und sein Ein-fühlungsvermögen gerade im Umgang mit jugendlichen Fragestellern aufzeigen. Manche dieser Fragen werden siebzig Jahre später immer noch gestellt, heute allerdings an Dr. Sommer und sein Beratungsteam in der Jugendzeitschrift „Bravo“ oder ähnlichen Magazinen. Die heutigen Antworten auf Fragen wie „Ist es schädlich, knapp vor dem Samenerguss die Onanie zu unterbrechen?“ (Frage Nr. 8 in Reichs Schrift) unterscheiden sich kaum von denen, wie Reich sie ehedem gab. Viele Fragen, die damals wohl mit großer Scheu gestellt wurden, wie „Habe ich (20) das Recht, ein unberührtes Mädchen (17) zur Hingabe zu bewegen?“ (Frage Nr. 29) wirken heute überholt. Auch an dieser Stelle kann man sich fragen, ob Reichianische Beratungspraxis nach siebzig Jahren nicht viel tiefgreifender gewirkt hat als deren theoretisches Fundament, das in „Die Funktion des Orgasmus“ und „Der Einbruch der sexuellen Sexualmoral“ niedergelegt ist. Lassen wir diese Frage noch kurz ohne Antwort. Dass es aber Sexualberatung für Jugendliche heute in breitesten Umfang gibt, daran hat die Pionier-tätigkeit Reichs großen Anteil. Aber war das alles, was Reich für seine „Kinder der Zukunft“ erstrebte, dass sie früher und besser sexuell aufgeklärt werden? Ist das schon die „biologische Revolution“, die Reich herbeiführen wollte?

DER THEORETISCHE KERN REICHIANISCHER PÄDAGOGIK

Es existiert meines Wissens kein systematisches Grundlagenwerk Reichs zu einer orgonomischen Pädagogik, wie es für die Psychoanalyse Anna Freud (in Band V und VII der deutschen Gesamtausgabe ihrer Werke, Frankfurt/Main 1989) vorgelegt hat. Ich vermag an dieser Stelle nicht zu erklären, warum dies so ist, denn Reich maß der Pädagogik allergrößten Stellenwert bei. Umfangreiche, aber unsystematische und stets in einen anderen Kontext eingebundene Bemerkungen zur Pädagogik finden sich in Reichs spätem Werk „Der Christusmord“ von 1953 (1997 beim 2001-Verlag Frankfurt/Main mit einem Kommentar und einem

Sachregister von P. Gäng und U. Hausmann in einer sehr schönen Ausgabe wieder aufgelegt, nachdem es jahrelang vergriffen war), sowie in dem von Beverly R. Placzek herausgegebenen Briefwechsel zwischen Wilhelm Reich und Alexander Neill (Zeugnisse einer Freundschaft, Frankfurt/Main 1989). Im Kern indes hat Reich meines Erachtens den Ausgangspunkt und die Zielrichtung einer orgonomischen Pädagogik im Kapitel VII mit dem Titel „Eine missglückte biologische Revolution“ in „Die Funktion des Orgasmus“ ausgearbeitet (Dt. Ausgabe bei KiWi, Köln 1969, S. 167 - 215). Mit Bezug auf dieses Kapitel mag ich die Leser der Bukumatula an dieser Stelle bitten, in diesem Monat der Geburtsstunde Reichianischer Pädagogik zu gedenken: sie erblickte in den Abendstunden des 12.12.1929 im ersten Obergeschoss des Hauses Bergstraße 19 im IX. Wiener Bezirk das Licht der Welt. Vor dem inneren Kreis der Schüler des Begründers der Psychoanalyse, Sigmund Freud, in dessen Wohnung und in dessen Anwesenheit hielt Reich an diesem Abend seinen Vortrag mit dem Titel „Über Neurosenprophylaxe“. Er stellte darin vier Fragen:

1) Wohin führt das Zuendedenken der psychoanalytischen Theorie und Therapie? 2) Ist es möglich, noch länger bei den Neurosen einzelner Menschen zu verharren? 3) Wie ist der Platz beschaffen, den die psychoanalytische Bewegung im gesellschaftlichen Getriebe einzunehmen hat? 4) Weshalb erzeugt die Gesellschaft die Massen der Neurosen?

Reichs Antworten auf diese vier Fragen führen konsequent zu einer pädagogischen Theorie, von der Reich damals noch dachte, es werde eine psychoanalytische Pädagogik sein. Er sollte indes an diesem Abend erfahren, dass die Psychoanalyse dabei war, sich mit den Mächten der Unterdrückung des Lebendigen anzufreunden, in Gestalt eines psychoanalytischen Sekundanten, den Sigmund Freud an jenem Abend vorstellte: den Todestrieb. Zuvor jedoch zu Reichs Antworten. Sie lauten, sinngemäß und auf die Zielrichtung dieses Essays bezogen, wie folgt: Ad 1: schon für das Jahr 1929, zu einem Zeitpunkt also, zu dem die Psychoanalyse als Therapieform noch keine vierzig Jahre bestand, sah Reich auf Grund des enormen Zulaufs zu seinen sexualpolitischen Versammlungen und Sexualberatungsstellen, sowie auf Grund der ihm dort vorgetragenen Fragen und Probleme, siebzig Prozent der Bevölkerung als dringend behandlungsbedürftig an. Er sah deutlich, dass bei diesen 70% „Stadtneurotikern“ es sich um wirklich

psychisch mehr oder minder kranke Individuen handelte, denen mit einer einmaligen Beratung nicht gedient war. Er sah, dass nicht nur einige Dutzend neurotischer Klein- und Großbürger, wie sie Professor Freuds Praxis bevölkerten, einer Psychotherapie bedurften, sondern zigtausende Frauen und Männer aller Bevölkerungsschichten, dass man also von einem „gesunden Volksempfinden“ oder einem zwar materiell beeinträchtigten, aber ansonsten seine Triebe frei auslebenden Proletariat, das von der viktorianischen Moral und ihrer Heuchelei nicht angekränkelt war, nicht sprechen konnte. Bei der langwierigen Behandlungsform der Psychoanalyse und der noch geringen Anzahl ausgebildeter Analytiker bestand auch nicht der Hauch einer Aussicht, dieser Massenneurose in Form von analytischen Einzeltherapien Herr zu werden. Daraus folgerte Reich, ad 2: dass die Psychoanalyse nicht länger bei der Erforschung von Einzelphänomenen psychischer Erkrankungen und bei der Einzeltherapie stehen bleiben dürfe. Deshalb durfte ad 3: die Psychoanalyse nicht auf ihren ursprünglichen Ausgangspunkt, die medizinische Neurologie und Psychiatrie beschränkt bleiben. Sie müsse, so Reich, als Wissenschaft in die Grenzgebiete anderer Wissenschaften eindringen und diese mit ihren Erkenntnissen und Schlussfolgerungen vertraut machen. Reich dachte hierbei in erster Linie an die Soziologie und an die Pädagogik. Da es sich bei der von ihm diagnostizierten Massenneurose um ein soziologisches Phänomen handelte, bestand ad 4: Reichs Forderung an die Psychoanalyse als Wissenschaft darin, die gesellschaftlichen Faktoren der Entstehung kollektiver Neurosen herauszuarbeiten und, sofern möglich, eine Theorie zu entwickeln, wie nicht nur durch Individualtherapie, sondern eine großflächige Prophylaxe einer zunehmenden Erkrankung der Gesellschaft entgegengesteuert werden könnte. Im Kern skizzierte Reich dann in seinem Vortrag, was er drei Jahre später in seinem Buch „Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral“ in Breite ausführen und wofür er, wieder ein Jahr später, in „Massenpsychologie des Faschismus“ ein Beispiel geben sollte: nämlich welche Elemente der Synthese aus sogenannter christlich-abendländischer Kultur und bürgerlich-kapitalistischer Zivilisation die Massenneurose erzeugen und wie sich diese Neurose in politischen Formen ausdrücken kann. Auf Grund seiner Lektüre der Forschungen des Anthropologen B. Malinowski über das Geschlechtsleben der Trobriander in der Südsee sah Reich schon 1929, dass die von ihm festgestellte Massenneurose durchaus kein weltweites und insbesondere kein welthistorisches, sondern ein typisch westliches Phänomen waren, ein Produkt aus Sexualunterdrückung und Sexualverdrängung, die umso stärker werden musste, als die Arbeitsbedingungen einer mehr und mehr mechanisierten Gesellschaft immer stärkere Anpassung des Menschen an die technisierten Lebensbedingungen der auf Leistungsdruck und Erfolgszwang beruhenden spätbürgerlich-liberalen Gesellschaft forderten. Das unheilvolle Zusammenwirken von sexualfeindlichen Moralvorstellungen und lustfeindlichen Zivilisationsbedingun- gen, die die Denkund die Handlungsunselbständigkeit des Menschen fördern, wodurch sie indes für die Wirtschaft „funktionsfähiger“ werden, sah Reich als soziologische Kausalfaktoren der Genese einer kranken Gesellschaft. In „Massenpsychologie de Faschismus“ wies er dann schlüssig nach, wie der atavistische Appell an unterdrückte sexuelle und emotionale Sehnsüchte des Menschen von faschistischen „Rettern“ und „Führern“ machtpolitisch ausgenutzt werden konnte. Da es gesellschaftliche Faktoren waren, die Reich als Auslöser der Massenneurose ausmachte, war es nur logisch, sie auch auf gesellschaftlicher

Ebene zu bekämpfen. Ein gesellschaftliches Wesen aber wird der Mensch auf Grund seiner Sozialisation, sprich seiner Erziehung, und diese ist in unserer abendländischen Kultur schon seit Jahrhunderten keine Privatsache mehr, sondern sie ist gesellschaftlich reglementiert, dies etwa seit dem 16. Jahrhundert. Hätte Wilhelm Reich die Studie des Soziologen Max Weber aus dem Jahr 1905 mit dem Titel „Asketischer Protestantismus und kapitalistischer Geist“ gekannt, er hätte seine These von der gesamtgesellschaftlichen Fehlentwicklung in der Neuzeit noch eindrucksvoller untermauern können. Zeigt Weber doch auf, dass calvinistischer Puritanismus, kapitalistisches Denken, Leistungsdruck und allgemeine Schulpflicht eine verhängnisvolle Kausalreihe bilden. Es ist eines der vielen Paradoxa der abendländischen Geistesgeschichte, dass ein vermeintlicher Fortschritt, nämlich die Aufklärung - die Emanzipation der Menschen von der mystisch-katholischen Bilderwelt des Mittelalters und den durch sie produzierten Ängsten -, dass der Kampf gegen das Analphabetentum breiter Volksschichten einherging mit einer neuen Knechtschaft: der Unterjochung der Triebe unter calvinistische Askese, des Körpers unter den Kopf, der kreativen Tätigkeit unter den Erfolgszwang, das Lernen unter den Leistungsdruck. In allen zivilisierten Staaten existiert heute eine Schulpflicht, existieren Lehrpläne, Zensuren und Schulordnungen, werden Menschen als Lehrer nur dann zugelassen, wenn sie einen staatlich reglementierten Ausbildungsgang mit einem Staatsexamen abgeschlossen haben. Ob der examinierte Lehrer sich eine umfassende Geistes- und Herzensbildung jenseits des Fachwissens angeeignet hat, ob er gar weise ist, ob er über persönliche Autorität jenseits von wohlklingenden Titeln wie „Oberstudienrat“ verfügt, das wird nicht hinterfragt. Unsere Lehrpläne zielen auf den Erwerb möglichst vieler kognitiver Kenntnisse, man lernt „ochsen“, sich den „Stoff einzubleuen“. Ob man die Stochastik im praktischen Alltag zum Ausfüllen der Lottoscheine je wird brauchen können oder ob man wirklich einen Nutzen davon hat, die Regierungsdaten aller Habsburger nebst ihrer Todesursachen aufzählen zu können, bleibt fragwürdig, aber ungefragt. Die Zensuren und die zwangsweise Unterordnung unter Leistungserwartungen machen Jugendliche in der kreativsten Phase ihres Lebens stumpfsinnig und in der idealistischsten Phase ihres Lebens, der Pubertät, der Phase beginnender Selbstbestimmung ihres Denken und Handelns, gefügig. Die Operation mit der Angst vor dem Abgleiten in eine staatlich produzierte Massenarbeitslosigkeit tut das ihre. All dies dient dazu, den Eigenwillen der Jugendlichen zu brechen. Philosophen und Pädagogen redeten diesem Erziehungsziel, das Alice Miller in ihrem Buch „Am Anfang war Erziehung“ als „schwarze Pädagogik“ charakterisiert hat, jahrhundertelang das Wort. Nur zwei von vielen Beispielen mögen dies illustrieren. Platon (427 - 347 v. Chr.) empfahl, Kinder ab sieben Jahren aus dem individuellen Umkreis ihrer Familien zu entfernen, sie einer uniformen Lagererziehung zu unterziehen und schließlich sogar Heirat und Geschlechtsverkehr staatlich zu regulieren (Politeia 457 c ff.). Hegel (1770 - 1831), Vollender des sogenannten „deutschen Idealismus“, forderte von der Erziehung ausdrücklich die Brechung des kindlichen Eigenwillens, „damit das bloß Sinnliche und Natürliche ausgerottet“ werde, wobei man „nicht glauben darf, bloß mit Güte auszukommen“ (Grundlinien der Philosophie des Rechts § 174 Zusatz). Erziehern wird mit solchen Ideologien und Theorien das pädagogische Rüstzeug zur Untermauerung eines Nichts an persönlicher Autorität mitgegeben, die umstrahlt wird von der beamteten Staatsaura mit „jeder Menge Minuszeichen im Kugelschreiber“, wie mein

ehemaliger Physiklehrer seine Machtmittel so treffend beschrieb. Einfühlungsvermögen in die jugendliche Seele, psychologische Kenntnisse oder gar ein gerüttelt Maß Selbsterfahrung, ein Nachweis über ausreichende Fähigkeiten, die eigenen Lebensprobleme halbwegs sinnvoll lösen zu können, ist für Lehramtsanwärter weder im ersten noch im zweiten Ausbildungsgang vorgesehen. Dies war zu Reichs Zeiten so, dies ist noch heute so. Und hier liegen die Wurzeln der pädagogischen Misere. Diese ist jedoch nach Reich die Ursache der soziologischen Fehlentwicklung einer mehr und mehr psychopathischen Gesellschaft. Es ist ein Glücksfall, wenn ein Lehrer sich die Erinnerung an die eigene seelische Zerrissenheit seiner Jugend bewahrt hat ohne den Hass zu verspüren, eigene Verletzungen an der ihm anvertrauten Jugend ausagieren zu müssen, der deshalb nach Instinkt und Erfahrung, nicht nach der Theorie zu handeln vermag und somit wirklich das Wohl der ihm anvertrauten Jugendlichen zu achten und zu hegen versteht. Der Normalfall ist jedoch ein anderer. Reich beschreibt ihn in Form einer flammenden Anklage in seiner „Rede an den kleinen Mann“ (S. 61 ff.) an einem Beispiel, das ihm offensichtlich deutlich vor Augen stand, dem Beispiel der „fassförmigen“, orgonomisch völlig verpanzerten Lehrerin. Der Gerechtigkeit halber mag ich hinzufügen, dass das, was Reich hier über die „fassförmige Lehrerin“ schreibt, genauso gut auf die sonnengebräunten und anabolikabepackten, ebenso aber völlig verpanzerten Muskelmänner zutrifft, die heute vorzugsweise als Sportlehrer jugendliche Lebendigkeit ersticken. Reich schreibt: „...Erziehung heißt..., wenn man sie ernst nimmt, die Sexualität der Kinder korrekt handhaben. Um die Sexualität der Kinder korrekt zu handhaben, muss man selbst erlebt haben, was Liebe ist. (Hervorhebung von Reich, A.d.V.). Du aber bist dick und fassförmig, ungelenk und körperlich abstoßend. Dies allein genügt, dich jeden liebreizenden, lebendigen Körper hassen, tief und bitter hassen zu lassen. Nicht, dass du unförmig und fassförmig bist, mache ich dir zum Vorwurf; nicht, dass du nie Liebe genossen hast...; nicht, dass du die Liebe in den Kindern nicht begreifst, ist dir zum Vorwurf zu machen. Aber dass du aus deiner Not, aus deinem zerstörten, fassförmigen Körper, deiner Unschönheit, deinem Mangel an Grazie, aus deiner Unfähigkeit zur Liebe eine Tugend machst und mit bitterem Hass die Liebe in den Kindern erstickst, wenn du zufällig an einer `modernen´ Schule wirkst, dies ist dein Verbrechen...; dass du dich nicht bescheiden in eine kleine Ecke dieses Lebens zurückziehst, sondern diesem Leben deine Hässlichkeit, deine Falschheit, deinen bitteren Hass aufzwingen willst, der sich hinter deinem verlogenen Lächeln verbirgt!“ Reichs Worte sind deutlich genug: das von ihm korrekt als „Verbrechen“ bezeichnete Handeln findet tagtäglich in Klassenräumen statt. Entsprechend muss hier die Prophylaxe einsetzen. Es muss verstanden werden, wie die orgonomische Verpanzerung, wie die emotionale Pest entsteht und es muss verhindert werden, dass emotional pestilente Lehrer und Lehrerinnen Kindern ihren Hass auf das Leben unter dem Deckmantel von moderner Erziehung aufzwingen wollen - und dazu staatlich lizensiert werden. Das richtige Verständnis dieser beiden Faktoren bildet den Ausgangspunkt Reichianischer Pädagogik als Neurosenprophylaxe. Der Blick zurück ermöglicht erst pädagogisch richtiges Handeln nach vorn, für die „Kinder der Zukunft“, die frei und ungepanzert heranwachsen sollen. Aber hier, wo wir nun im Kern der Pädagogik nach Wilhelm Reich angelangt sind, verspüren wir auch die Sprengkraft dieses Atomkerns. Am Kreuzweg vom analytischen Blick zurück und vom orgonomischen Blick nach vorn beginnt auch der Scheideweg von Psychoanalyse und Orgonomie, von Reich und Freud.

DIE „KERNSPALTUNG“

Jedes Individuum kommt ungepanzert und voller Lebenslust zur Welt. Die Verpanzerung und damit die systematische Abtötung des lebendigen Kerns des Individuums beginnt erst mit der neurotischen Erziehung durch Eltern, Lehrer und andere Autoritätspersonen der Gesellschaft. Um unseren Lebenskern herum bauen diese Erzieher die Schicht des Freudschen Unbewussten und machen es damit erst zum Unterbewussten, so Reich in seinem VII. Kapitel von „Die Funktion des Orgasmus“. Um unseren biologischen Kern, der aus Lebenslust und Glückssehnsucht besteht, formieren sich unsere vielfältigen Gefühle, die wir indes, ebenso wie unseren Lebenskern, zu unterdrücken, zu verdrängen, in Schach zu halten lernen. Lebenskern und Gefühlsleben werden unterbewusst, weil unsere Kultur mit ihren mystischen, d.h. religiös-moralischen, und ihren mechanischen, d.h. soziologisch-ökonomischen Traditionen dies erfordern. In anderen Kulturen, wie etwa bei den Trobriandern, wird diese Forderung nach Triebverzicht und Gefühlsunterdrückung nicht erhoben, entsprechend fehlen in dieser Kultur auch, wie Malinowski und Reich nachgewiesen haben, die Charakteristika der neurotischen Gesellschaftsstörung, wie sie in unserer westlichen Welt vorliegt. In Schach gehalten und vom Schachmatt bedroht, wird unsere Lebenslust, unsere Unabhängigkeit sowie unser Gefühlsreichtum durch jenen Firnis normierten Sozialverhaltens, das wir als Höflichkeit, Anstand, zivilisierte Manieren bezeichnen und worauf wir stolz sind. Diese dritte Schicht regelkonformen, kultivierten Verhaltens wird uns als gesellschaftliches Über-Ich anerzogen. Wer es in der Ausgestaltung dieser dritten Schicht um die Gefühlsschicht und den Lebenskern herum zur Perfektion bringt, gilt als wohlerzogen. Wir werden erzogen, Leistung zu bringen und zu fragen, was uns ein bestimmtes Verhalten in bestimmten Situationen bringt; ob uns Leistung und unser Verhalten um unsere Menschlichkeit bringen, ob wir uns durch Leistung und angepasstes Verhalten vielleicht letztlich systematisch umbringen, das gilt als äußerst unbequeme Frage, die dem, der sie denkt, kaum gedankt wird. Wir lernen, zu funktionieren, Chefs in den „Hintern“ zu kriechen und danach die Ellenbogen zu gebrauchen, weil man, so Tucholsky, im Berliner Dialekt, „so rasch vajißt, wie man ruff, wie man ruff, wie man ruff-jekommen ist.“ Wir bilden uns und bilden uns fort, um mit gesellschaftlichen Entwicklungen Schritt zu halten und bleiben stecken in den Verwicklungen unserer ungelebten individuellen Gefühle und im Gestrüpp unserer Sehnsüchte. Wir lernen, zu lernen und dabei cool zu bleiben, machen locker unseren Schnitt und schneiden uns dabei ins eigene Fleisch. Wir lernen, uns bei Lehrern und anderen Zensurengebern lieb Kind zu machen und verprügeln unsere lieben Kinder, weil wir nicht wissen, wohin sonst mit dem Frust und den Aggressionen. Wir lernen als Jugendliche an langen Schulvormittagen unsere Sexualität in Literaturanalysen auf Klausurpapier zu sublimieren oder in Darstellungen von dominant-rezessiven Erbgängen an Schiefertafeln, um als Erwachsene nach erbrachter Tagesleistung mit dem Sublimationsakt rezessiv im Rausch des Hochprozentigen zu enden oder im Studio bei der Domina mit Schaftstiefeln. Dies sind die Auswirkungen einer Pädagogik, die aus Angst vor den Kräften des Lebendigen, die sich so schwer mit technischer Organisation und angemaßten Autoritätsstrukturen vertragen, systematisch das Lebendige unter der ätzenden Tünche der kulturellen Sozialisation erstickt. Denn unter der dritten Schicht sterben die Gefühle und

zuletzt auch unser biologisch-psychologischer Lebenskern ab, wir gehen für den Rest unseres Lebens als Scheintote durch die Welt, wenn dieses Werk der Sozialisation gelingt. Die Forderung, die Reich aus dieser Situationsanalyse zieht und an den orgonomisch orientierten Pädagogen richtet, habe ich als Motto diesem Essay vorangestellt. Mit seiner soziologischen Analyse und den pädagogischen Konsequenzen, die Reich daraus für den „Platz der psychoanalytischen Bewegung im gesellschaftlichen Getriebe“ zog, brachte er sich an jenem Abend des 12.12.1929 in einen schweren Konflikt mit Sigmund Freud, der letztendlich zum Bruch mit ihm führte. Denn Freud selbst war damals mitten darin, der Psychoanalyse einen kulturbildenden Platz „im gesellschaftlichen Getriebe“ zuzuweisen, allerdings durchaus nicht den des Sandes in demselben. Auch für Freud war Psychoanalyse spätestens seit seinem Gradiva-Aufsatz von 1907, allerspätestens seit „Totem und Tabu“ von 1912 mehr als eine medizinische Therapieform. Psychoanalyse als Wissenschaft war für Freud ein Welterklärungsmodell, das in seinem revolutionären Charakter, so betont er am Ende der XVIII. Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse, dem Kopernikanischen oder dem Darwinschen in nichts nachstand. In seinem 1927 erschienenen Buch „Die Zukunft einer Illusion“ erhob Freud den Anspruch, die Psychoanalyse habe als wissenschaftliches Welterklärungsmodell sogar die Kraft, das mythologischreligiöse Weltbild ablösen zu können, ohne freilich den metaphysischen Trost der Religion zu spenden. Zum Zeitpunkt von Reichs Vortrag arbeitete Freud an seinem 1930 erschienenen Buch „Das Unbehagen in der Kultur“. In diesem Werk behauptet Freud, ausgehend von dem Gegensatz zwischen dem Lust- und dem Realitätsprinzip, die Existenz eines eigenständigen, dem Lebens- oder Sexualtrieb dualistisch entgegengesetzten Destruktions- oder Todestriebes. Er benannte diese beiden Triebe nach Gestalten aus der griechischen Mythologie als Eros und Thanatos. Freud sah die gesellschaftliche Lage pessimistisch. Darin glich er Reich, nicht aber in den Konsequenzen, die sich aus dieser Sicht ergeben konnten. Freud gab die Forderung des Lebens nach Glück auf und forderte die Anpassung an das Realitätsprinzip, und zwar das bürgerlich-westeuropäische Realitätsprinzip von 1930. Reich hingegen forderte, die gesellschaftliche Realität so zu verändern, dass sie wieder Lebensglück ermöglicht. Freud forderte vom Ich des bewussten Menschen, sein Triebleben mit den Anforderungen des kulturell-moralischen Über-Ichs und der Realität der Gesellschaft zu versöhnen. Unter den herrschenden Umständen schien es ihm Glücks genug, das neurotische Elend in „normales Unglück“ zu verwandeln. Dabei sah er ganz klar die zunehmende, kollektive Selbstzerstörung der Menschheit. Indem er an diesem Punkt nicht konsequente Rebellion gegen die „Mächte der Unterdrückung des Lebendigen“ forderte, wie Reich dies tat, sondern versuchte, mit diesen Mitteln zu „kollaborieren“, um „Schlimmeres zu verhüten“, nämlich die mittlerweile erlangte wissenschaftliche Reputation der Psychoanalyse nicht zu gefährden, verließ Freud die Radikalität seines ursprünglichen Forschungsansatzes der sexuellen Ätiologie aller Neurosen. Freud betonte, seine Theorie vom Todestrieb sei eine reine Arbeitshypothese. Er hatte jahrzehntelang die Sexualität, die Liebe, das Leben in den Mittelpunkt seiner wissenschaftlichen Aufmerksamkeit gestellt und tapfer gegen alle Versuche verteidigt, den Blick der Psychoanalytiker von diesem Mittelpunkt abzuwenden; er hatte dafür den Bruch mit Adler und Jung und den Fortbestand der psychoanalytischen Vereinigung riskiert. Und nun demontierte Freud das Zentrum seiner Lehre selbst, indem er ohne Not der menschlichen

Zestörungswut die Stellung einer eigenständigen Kraft zuwies, die der Lebenskraft ebenbürtig sein sollte. Es ist kaum ermessbar, was Freud damit tat: er formulierte das Welterklärungsmodell namens Psychoanalyse von einem holistischen in ein dualistisches um. Ein ähnlicher Vorgang von ähnlicher Tragweite lässt sich meines Erachtens nur in der antiken griechischen Philosophie beobachten. Ging Platon ursprünglich davon aus, das Böse sei nichts als ein Mangel an Gutem, so schuf er in seinem Höhlengleichnis mit seiner scharfen Trennung zwischen der Welt der Ideen und der Welt der Dinge einen Dualismus, in welchem das Böse mit einem Mal als eigenständige Kraft dasteht. Der Interpretationsunterschied ist fundamental: einen Mangel an Gutem kann man gegen Null verkleinern, gegen ein Böses an sich kann man nur ankämpfen oder sich mit ihm arrangieren. Mangel an Gutem ist eine Quantität, Böses „an sich“ eine neue Qualität. Ähnlich steht es mit Eros und Thanatos. Für Reich war Destruktivität nichts als ein Mangel, besser: eine Stauung an frei, lebendig und liebevoll gelebter Sexualität, aber keine eigenständige Triebkraft. Hass war für ihn nichts als gefrorene Liebe, die durch orgonomische Therapie wieder aufgetaut, zum Schmelzen und zum freien Sich-Verströmen gebracht werden kann. Im Blick auch auf die pädagogischen Konsequenzen weigerte sich Reich, Freuds neuem Dualismus zu folgen. Denn eine Pädagogik, die davon ausgeht, dass Eros und Thanatos gleichwertige und damit gleich gültige, also auch gleichgültige Triebkräfte sind, wird folgende drei Möglichkeiten haben: Destruktivität erbittert, notfalls mit Gegengewalt, bekämpfen und in Schach halten zu müssen, oder, zweitens, sich mit ihr zu arrangieren, das heißt sie abzumildern und, notfalls mit Suchtstoffen oder Medikamenten, zu betäuben, oder, drittens, im Laissez faire zu enden, weil Destruktivität ja ebenso egal wertvoll oder wertlos ist wie die Lebenslust. Destruktivität und Perversion können dann nicht mehr so begriffen werden wie im holistischen orgonomischen Weltbild Reichs, das entsprechend auch nicht drei, sondern nur eine pädagogische Verfahrensweise zulässt: Destruktion und Selbstdestruktion als fehlgeleitete, gehemmte Sexualität zu erkennen und zu heilen, sprich: in gesunde, ausgreifende Kreativität umzuleiten, nachdem die hemmenden Faktoren so gut als möglich beseitigt sind. Indem Reich mit seiner Haltung den Bruch mit der Psychoanalyse provozierte, rettete er, welch ein Paradox, für die Kinder der Zukunft die Genialität der ursprünglichen Entdeckung Freuds, der ungeheuren Kraft des Eros, sowie das Bild von der Genialität und Tapferkeit des Menschen Sigmund Freud, der diesen Eros allein über Jahrzehnte gegen den erbitterten Widerstand nicht nur seiner medizinischen Fachkollegen, sondern einer ganzen Gesellschaftsordnung aus den Fesseln jahrhundertealter bigotter Moralbegriffe befreite. Freud schließt seine pessimistischen Ausführungen über seine Arbeitshypothese, die alle seine Schüler aber sofort begierig aufnahmen, um eine kleine Wahrheit aus ihr zu machen, die Wahrheit vom Todestrieb, dem Thanatos, der nun an allem Schuld ist, mit einer Bemerkung, die dem „Unbehagen in der Kultur“ doch noch ein Happy End zu verschaffen bestrebt ist: er hoffe, Eros, der Lebenstrieb, werde eine Anstrengung unternehmen, um die Selbstzerstörung der Menschheit aufzuhalten. Er sah nicht oder wollte nicht sehen, dass Reich es war, der im Namen des Eros diese Anstrengung unternahm, die ihm selbst alles andere als ein Happy End bescherte. Und diese Anstrengung war eine pädagogische, wie ja überhaupt das Wesen der Pädagogik, so schon Platon (Symposion 206 b ff.), in nichts anderem besteht als - Erotik.

KONKRETE ELEMENTE EINER ORGONOMISCHEN PÄDAGOGIK

Ich denke, es ist, nachdem ich nun ausführlich über den theoretischen Kern Reichianischer Pädagogik und deren Sprengkraft gesprochen habe, klar geworden, dass siebzig Jahre nach seinem Vortrag und vierzig Jahre nach seinem Tod nichts von dem umgesetzt ist, worum es ihm wirklich ging. Denn trotz aller schulpsychologischen Dienste und trotz aller Lehrerfortbildungen bleibt die große Mehrheit der Lehrerinnen und Lehrer „fassförmig“, jetzt nicht im körperlichen Sinne gemeint: Fässer voller Komplexe, deren Inhalt samt Form die Schüler überrollen, wie die bösen Buben von Korinth, die bekanntlich nach solcher Prozedur, in diesem Fall Erziehung genannt, geistig und seelisch „platt gewalzt wie Kuchen sind“. Mittels jener unbegrenzten Menge von Minuszeichen in ihren Kulis üben sie Macht über die durchschnittlich 28 Lebensläufe in jeder ihrer Klassen aus und fordern Respekt vor ihrer Autorität, ohne zu wissen, was dies Wort eigentlich meint: dass dieses Wort mit Wagemut zu tun hat, mit Echtheit, unermüdlicher Arbeit an sich selbst, mit Aufrichtigkeit und Verantwortung, nicht nur der Institution Schule oder dem Kultusministerium gegenüber, sondern auch im Sinne jener von meinem Lehrer Richard Wisser so bezeichneten situationellen Verantwortung, die verlangt, in jeder Situation jedem Schüler aufrichtig Rede und Antwort zu stehen. Kinder und Jugendliche bemerken und achten natürliche Autorität und rebellieren gegen angemaßte Autorität, sofern sie noch nicht völlig pestilent verbogen sind. Sie stehen in ihrer Rebellion ungeschützt, denn noch existiert keinerlei Verpflichtung für Lehrer, kompromisslos gegen die Mächte der Unterdrückung des Lebendigen, das man sogar zuweilen im Licht des Destruktionstriebes völlig uminterpretieren kann, vorzugehen. Im Gegenteil, ein Lehrer, der dies aus eigenem Antrieb tut, wird sich von Kollegen, dies habe ich am eigenen Leib erfahren, heftigsten Angriffen ausgesetzt sehen. Als solchen Angriff verstehe ich auch die eingangs zitierten Worte des deutschen Bundespräsidenten; es ist ein Angriff auf jene milden Ansätze von Menschlichkeit und emotionaler Wärme im Schulalltag, die selbst schwer neurotische Lehrer und Lehrerinnen durchaus entfalten können, Ansätze, die aber von dem, was Reich für Kinder als angemessen und orgonomisch und psychisch gesund erachtete, weit entfernt sind. Auch die umfangreiche und durchaus einfühlsame Sexualaufklärung, wie sie im Biologieunterricht und in vielen Jugendzeitschriften betrieben wird, ist allenfalls im Detail das, was Reich unter „Förderung des Lebendigen“ als Ziel seiner Pädagogik begriff. Denn Reich begreift unter Sexualität bekanntlich, was indes auch viele, viele Reichianer vergessen haben, weit mehr als Sextechniken und Lustgestöhn oder die erektive und ejakulative Potenz beim Mann. Nicht umsonst spricht Reich in dem zitierten Abschnitt aus der „Rede an den kleinen Mann“ davon, dass der Pädagoge, der den Namen verdient, selbst die Liebe erlebt haben muss, um die Sexualität der Jugendlichen korrekt zu handhaben. Reich wurde nicht müde zu betonen, dass die genitale Umarmung und der Orgasmusreflex nur bei völliger emotionaler Offenheit und vertrauensvoller Hingabe an den Partner möglich ist. Während aber Kinder und Jugendliche heute in Bezug auf die „technische“ Ausführung des Sexualaktes weitaus aufgeklärter

sind als zu Reichs Zeiten und auch bei immer liberaleren und aufgeklärten Eltern immer freiere Möglichkeiten finden, jugendliche Sexualität ohne Scham und Scheu zu leben, während Lehrer bei Klassenfahrten, statt nächtliche Zimmerkontrollen durchzuführen, Kondome verteilen, jedes Kinderzimmer und jede Jugendherberge also auf dem besten Wege ist, zu einer abendländischen Bukumatula im Sinne der Trobriander zu werden, währenddessen findet eine emotionale Verarmung und Vernachlässigung der Jugend statt, die in der Geschichte ihres Gleichen sucht. Cool sein gilt als chic, von der Palette der Gefühle sind der Hass und die Sentimentalität, allenfalls die Sehnsucht übrig geblieben und die nur deshalb, weil die Spice-Girls sie besingen und die Protagonisten von „Gute Zeiten-Schlechte Zeiten“ sie vorspielen. Ich überzeichne hier bewusst, denn ich beobachte in der Tat eine enorme Verrohung unter Jugendlichen im Alltag, eine mehr und mehr zunehmende Gefühlslosigkeit und Gleichgültigkeit oder Sprachlosigkeit gegenüber Gefühlen. Ein Leser, der Jugendliche bittet, ihm spontan ein Dutzend Gefühle nur mit den entsprechenden Begriffen wie Angst, Zorn, Zärtlichkeit, Freude, Liebe, Trauer etc. zu nennen, wird sein blaues Wunder erleben. Damit korreliert der zunehmende Alkohol-, Cannabis- und Extacykonsum unter Jugendlichen, von härteren Drogen ganz zu schweigen. Unsere Gesellschaft ist zur Suchtgesellschaft geworden, diese Entwicklung hat Reich in ihrem ganzen Ausmaß noch gar nicht absehen können. Und „positive“ Leitbilder, an denen Jugendliche sich heute orientieren, sind auch zumeist solche, die das coole Image des Narzissten pflegen und dahinter ihre Gefühlsarmut verstecken. Der antrainierte Waschbrettbauch und der knackige Po zeigen an, dass der Penis wohl ebenso hartgesotten ist wie die Bauch- und Backenmuskulatur, der Muskeleigner jedoch starke Gefühle ebenso effektvoll abzuschmettern vermag wie ein Waschbrett einen Tennisball. Sprechen Sie einmal mit solch gut gebauten, durchtrainierten Leitbildern über das Wort Hingabe. Es war für Reich ein zentraler Begriff. Sehe ich nicht allzu schwarz? Ist, wenn schon nicht der Schulalltag menschenfreundlicher geworden ist als zu Zeiten Reichs, wenn schon die Sexualaufklärung an Schulen am Kern dessen vorbeigeht, was Reich darunter verstand, aber nun doch immerhin frei und ungehindert stattfindet, ist nicht zumindest ein drittes großes Anliegen Reichs verwirklicht, das der Selbstregulation des natürlichen Organismus? Werden nicht Jugendliche mit Montessori-Pädagogik oder dem seit kurzem schwer in Mode gekommenen konstruktivistischen Ansatz nach Watzlawick zu immer mehr Selbständigkeit und Mündigkeit geradezu spielerisch hingeführt? Lernen Jugendliche nicht mehr als je zuvor, ihr Lernen selbst zu organisieren, wie Reich dies vom freien, lustvoll lebenden Menschen beschrieb? Hat nicht die „antiautoritäre“ Erziehung seit den Achtundsechzigern einiges in dieser Hinsicht verändert? Nein, auch da mag ich alle Illusionen dämpfen, denn Reich selbst forderte in puncto Selbstregulierung schon zu Lebzeiten dazu auf, weil er spürte, dass sich „fortschrittliche“ Pädagogen auf diesen Begriff stürzen würden wie auf die Perle in der Auster, um die Schale, in die sie eingebettet ist, nämlich die orgonomische Theorie, dann achtlos wegzuwerfen. Am 29.02.1956 schreibt Reich an Neill: „Es wäre sehr nützlich, wenn Du die Begeisterung über die gegenwärtigen Möglichkeiten der Selbstregulierung...etwas dämpfen könntest. ... Andernfalls wird daraus eine neue, verhängnisvolle Religion der `Selbstregulierung´ OHNE echte VERÄNDERUNG der TIEFENSTRUKTUR DES MENSCHEN, die dann weitere 2000 Jahre ihre tödlichen Wirkungen ausüben wird.“ (Zeugnisse einer Freundschaft S. 574; Majuskel-Hervorhebungen von Reich selbst.)

Die gesellschaftlichen Bedingungen sind eher ungünstiger geworden als zu Reichs Lebzeiten. Die Massenseuche der Suchterkrankungen etwa war noch gar nicht absehbar, obwohl sich bereits 1935 wenige hundert Meilen von Reichs späterem Wirkungsort Rangeley, Maine in Akron, Ohio die Anonymen Alkoholiker formierten. Reich nennt im „Christusmord“ die Umkrempelung der Pädagogik zur Neurosenprophylaxe eine „Jahrhundertaufgabe“. Die angeführte Briefstelle zeigt, dass das Ausweichen vor der pädagogischen Hauptaufgabe, der Veränderung der Tiefenstruktur des Menschen, die Fehler von Jahrhunderten auf Jahrtausende hin projiziert. Was also ist zu tun, was kann JETZT getan werden, um den mühsamen und langwierigen Prozess der Entpanzerung der Menschheit endlich in Gang zu setzen? Zu allererst: anfangen müssen WIR, die wir noch mit dem Panzer und sämtlichen darin eingezwängten neurotischen Charakterstrukturen groß geworden sind. Wer sonst soll es tun? Wer je als Pädagoge die Gnade erfahren durfte, durch eine körperorientierte Therapie oder Fortbildung auch nur den Hauch einer Ahnung davon zu erhalten, was Befreiung der Lebensenergie und des Gefühlsausdrucks aus körperlichen Muskelverspannungen und pseudomoralischen Verkrustungen bedeutet oder bedeuten kann, ist aufgerufen, dieses Wissen, diese Erfahrung in praktisches Handeln umzusetzen, kompromisslos das Lebendige und dessen freie Entfaltung zu beschützen. Er wird dies gerne tun und den Mächten der Unterdrückung des Lebendigen rücksichtslos entgegentreten, nicht nur obwohl, sondern gerade weil er die Narben der eigenen Verkrustungen, den krumm gewachsenen Stamm des Baumes noch spürt, wenngleich die Krone nun dem Licht entgegenstrebt. Der krumm gewachsene Baum muss die zarten, jungen Bäumchen beschützen, damit sie nun gerade heranwachsen können und er wird sich neidlos an diesem Anblick erfreuen können. Der orgonomisch orientierte Pädagoge von heute ist in derselben Position wie Moses, der das gelobte Land, wo Milch und Honig fließt, zwar sieht und den Weg dorthin in etwa kennt, es selbst aber nicht mehr betreten wird, denn der Weg ist länger als ein Menschenleben. Aus dieser Lagebeschreibung heraus möchte ich, der ich mich Reichs Forderungen und Folgerungen ganz und gar verpflichtet weiß, sieben Nahziele für die pädagogische Praxis von heute formulieren, quasi als anfängliche Wegweiser für die ersten Schritte auf dem jahrhundertelangen Weg:

1) Ich unterstütze nachdrücklich die Anregung von Dr. Eva Reich (in: Meine Erinnerungen an W.R. a.a.O. S. 147): „Jedes Kind sollte einen Kurs in Orgonomie haben.“ Ein solcher Kurs muss ausgearbeitet werden und an Schulen gelehrt werden können, so wie es etwa an den High-Schools in den Philippinen das Fach „menthal health“ gibt. 2) Das oberste Ziel, die Entelechie dieses Orgonomiekurses, ist klar zu formulieren und im Auge und im Bewusstsein zu behalten, auch wenn es Jahrhunderte dauern wird, es zu erreichen. DAS Ziel der pädagogischen Orgonomie ist die Veränderung der Tiefenstruktur des Menschen, die Befreiung des Lebenskerns von falschen Normen des Sozialverhaltens, die Befreiung der unterdrückten, verdrängten und fast abgetöteten Gefühle. Als Präventionskurs hat orgonomische Pädagogik jedem neuen Versuch einer wie immer gearteten neuen Verpanzerung entgegenzuwirken.

3) Es müssen Wilhelm-Reich-Privatschulen gegründet werden, die sich diesem Erziehungsziel verschreiben und an denen die Orgonomiekurse gelehrt werden, denn staatliche Schulen werden damit mit Sicherheit nicht beginnen. 4) An diesen Schulen müssen Lehrerinnen und Lehrer unterrichten, die über körpertherapeutische Selbsterfahrung verfügen und so in die Lage versetzt wurden, ihre Lebensenergie und ihren Gefühlsausdruck frei zu setzen. Die deshalb über persönliche Autorität verfügen und sich nicht auf irgendeine Amtsautorität berufen müssen. Die über freie, emotionale, menschliche Ausstrahlung, über Echtheit, Geradlinigkeit und Mitgefühl ihre Schülerinnen und Schüler auch auf emotionaler Ebene erreichen. Die deshalb Freund, Helfer, Ratgeber, Beschützer, Wissensvermittler sein können und keine Drillmeister sein müssen. Die sich und auch ihren Schülern ihre Charakterstrukturen und Charakterverbiegungen offen eingestehen und dazu stehen können und ihr Verhalten somit immer wieder kritisch hinterfragen und hinterfragen lassen. Die aber aus dieser Ehrlichkeit und Selbstachtung heraus auch in Liebe Grenzen setzen. Die durch ihr praktisches Vorbild und durch Selbstdisziplin wirken und damit praktische Anleitung zur Selbstregulierung geben. Die mehr mitteilen als urteilen, die Beziehungen schaffen, um erziehen zu können. Die nicht neidisch darauf sind, dass durch dieses, ihr Wirken, ihren Schülerinnen und Schülern ein freieres Leben ermöglicht wird, als sie selbst es führen konnten. Dies alles ist nur durch permanente körpertherapeutische Supervision möglich. 5) Solange die Massenneurose und die emotionale Pest noch weiter um sich greifen und das Hauptziel in weiter Ferne liegt, ist darauf zu achten, nicht ohne Not Kompromisse einzugehen. Damit meine ich folgendes: die Veränderung der Tiefenstruktur ist ein schmerzhafter therapeutischer Prozess, der nicht ohne Mühsal, Schweiß und Tränen verläuft. Es wäre eine Lüge, die sich bitter rächen würde, Selbstregulierung ohne Körpertherapie, sexuelle Befreiung ohne emotionale Öffnung als Heilmittel gegen die Neurose zu proklamieren. Im Gegenteil: solange Jugendliche durch Politik, TV, die Drogenmafia und in erster Linie durch rat- und hilflose Eltern und Lehrer, die sich an keinerlei metaphysischen Werten mehr orientieren, immer mehr emotional verpestet werden, ist Arbeit an den äußeren Strukturen gefordert. Das bedeutet: pädagogisches Arbeiten mit die Selbstwahrnehmung, den Selbstausdruck, die dem Nahziel, Selbstbeherrschung, das Selbstwertgefühl der Schülerinnen und Schüler zu stärken. An dieser Stelle greift das Motto eines Buchtitels von Alexander Neill: „Herzen, nicht Köpfe in die Schulen“. Schule muss, meines Erachtens, auch pädagogische Kuschelecke sein, die ermutigt, Herzgefühle zu äußern. Und zum Ja in der Liebe gehört auch das Nein in Liebe, also die pädagogische Fähigkeit, liebevoll Grenzen zu setzen und Grenzen spüren zu lassen, klar zu sein, von Schülern auch Disziplin zu fordern, um ihre Selbstdisziplin zu fördern. Denn ohne solche Disziplin und innere Stärke kommen sie nicht in die Lage, sich gegen Einflüsse der emotionalen Pest abzugrenzen. Auf den ersten Blick mag meine Forderung nach emotionaler Öffnung und gleichzeitig struktureller Disziplin paradox wirken, vielleicht mag sogar der Verdacht aufkommen, damit würde einer weiteren Verpanzerung Vorschub geleistet. Wenn ich Reichs letzte Briefe an Neill richtig verstehe, ist das Gegenteil der Fall. 6) Auch in einer Reichianischen Schule wird es Fachunterricht geben, aber unter einem orgonomischen Gesichtspunkt. Der Fachunterricht darf nicht in einer unzusammenhängenden Anhäufung und Vermittlung von Detailwissen bestehen,

sondern wird Wissen als eine Grundfunktion unseres Lebens betrachten, als dessen dritten Quell; vor dem Wissen steht die Arbeit, vor der Arbeit die Liebe. 7) Aus allen Berichten über Reichs letzte Lebensmonate im Gefängnis geht hervor, dass er in jener Zeit nach „Häfen für das Leben“ verlangte und seinem Sohn Peter die Kraft des Gebetes nahe zu bringen versuchte, also ganz im Gegensatz zu seinen Erziehungsgrundsätzen seiner Tochter Eva zwanzig Jahre früher gegenüber. Dieser Wandel in Reichs Leben vom kommunistischen Atheisten über den agnostizistischen Wissenschaftler zu einem Mann des Glaubens, der sich, wie im „Christusmord“ erkennbar ist, in der Gestalt Christi geborgen und erkannt fand, ist meines Erachtens noch nicht genügend gesehen worden. Auch Eva Reich berichtet in ihrem schon erwähnten Vortrag sowie in ihrem neuen Buch „Lebensenergie durch sanfte Bioenergetik“ (München 1997) von der Kraft, die sie, insbesondere für ihre therapeutische Arbeit, aus ihrem Glauben an Jesus Christus und aus dem Gebet bezieht. Ich sehe an dieser Haltung Reichs selbst, sowie seiner Tochter, die sein Werk fortführte, die mit ihrer für Kinder und Säuglinge so besonders geeignete Form der Schmetterlingsmassage ein elementares pädagogisches Mittel der Neurosenprophylaxe entwickelt hat, dass ohne die Verankerung im Glauben und in den Werten eines diese Welt und ihre emotionale Verwüstung transzendierenden Glaubens als des Vertrauens auf den Gott, der „Weg, Wahrheit und Leben“ ist, eine so schwere Arbeit wie die an der pädagogischen Umstrukturierung der Menschheit menschenunmöglich ist.

SCHLUSS

Was wir tun, ist immer Stückwerk. Der Reichianische Pädagoge von heute ist vergleichbar dem Maurer, der siebzig Jahre nach Grundsteinlegung des Kölner Doms Stein auf Stein fügte, wissend, den Bau, dessen Bild er aus den Konstruktionsplänen erschließen konnte, nie vollendet in der Wirklichkeit vor sich zu sehen. Er baute auf einer Schutthalde römischer Relikte. Erst 524 Jahre später stand die Kathedrale in der Pracht da, in der wir sie seit 150 Jahren wahrnehmen. Die Dombauhütte ist unermüdlich beschäftigt, immer wieder Details auszubessern und zu erneuern. Der Dom wird nie wirklich vollendet sein. Ich wünsche uns diesen Mut, diese Vision, diese Unverdrossenheit, unter dem Wirrwarr aus Ziegeln, Brettern, Nägeln und Seilen, im Schweiß unseres Angesichts, oft auch einsam und unter dem Gelächter derer, die da höhnen „wozu das Ganze, ist doch eh´ wurscht!“ dennoch lust- und vertrauensvoll Stein auf Stein zufügen und immer wieder zu prüfen, ob das Fundament noch steht: Die Funktion des Orgasmus, wie Reich sie bestimmt hat. Und, da die Lebenenergie, einem Wort Alexander Lowens zu Folge, der Schwerkraft entgegenwirkt, immer wieder zu prüfen, ob die Richtung des Baues für die Kinder der Zukunft, deren Zukunft so ungewiss ist, noch stimmt: entgegen dem Zeitgeist, der das Flache liebt, schlank, gotisch, schwerelos und elegant - nach oben! ___________________

Biographische Notiz: Eberhard Krumm * 07.03.1959 arbeitet als Lehrer für Philosophie und Geschichte an einer Privatschule in Bonn. Er hat sich als Beratungslehrer bei der psychoanalytischen Kinder- und Jugendlichentherapeutin Annette von Mühlendahl, Köln, und dem Reichianischen Körpertherapeuten Rudolf Wondrejc, Wien, aus- und weitergebildet. Er betreibt eine private Lebens- und Erziehungsberatungspraxis für Jugendliche und deren Eltern in Bonn. In Bukumatula 4 und 5/97 erschien vom selben Autor der Aufsatz „Wilhelm Reich und die Philosophie“. Der Autor dankt an dieser Stelle herzlich Christiane und Manuela Keßelheim für die aufmerksame Lektüre des Manuskripts und wertvolle Anregungen für die Textgestaltung, sowie Wolfram Ratz für die geduldige und interessierte Begleitung in der Entstehung und Endfassung des Essays.