Wien

READER FACHTAGUNG Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration Montag, 3. Juni 2013, – Dienstag, 4. Juni 2013 / Springerschlößl / Wien Das ...
Author: Hansi Holst
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FACHTAGUNG Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration Montag, 3. Juni 2013, – Dienstag, 4. Juni 2013 / Springerschlößl / Wien Das INSTITUT FÜR UMWELT – FRIEDE – ENTWICKLUNG (IUFE) und die Kommunalpolitische Vereinigung (KPV) veranstalteten in Kooperation mit der Politischen Akademie (PolAk) und dem Centre for European Studies (CES) im Springerschlößl in Wien eine zweitägige internationale Fachtagung unter dem Titel „Stadt.Land.Vielfalt. Von der Migration zur Integration“. Vom 3. bis 4. Juni wurden dabei mittels Expert/inneninputs und allgemeiner Diskussion unterschiedliche Zugänge in der Migrations- bzw. Integrationsdebatte präsentiert und besprochen. Durch das Programm führten Peter Danich (KPV) und Johannes Steiner (IUFE).

In einer vernetzten Welt sind Migrationen alltäglich und eine nicht mehr wegzudenkende Realität. Dies bringt für die Aufnahmegesellschaft und für die Menschen, die zu uns nach Österreich kommen zwar Herausforderungen mit sich, aber auch viele Chancen. Gelungene Integration setzt die Teilhabe am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Leben voraus, denn ohne Partizipation ist eine ausgewogene demokratische Gesellschaft nicht möglich. So müssen Zuwanderer einerseits die Möglichkeit bekommen, sich in unsere Gesellschaft einzubinden und andererseits ihre daraus erwachsenen Rechte und Pflichten wahrnehmen. Die aufnehmende Gesellschaft muss aber gleichermaßen das in den zugewanderten Menschen das Potential sehen, fördern und auch nützen, damit beide zu ihrem Vorteil davon profitieren. Das dies nicht immer leicht ist, liegt auf der Hand, aber wer sich gegenseitig mit Respekt begegnet, den Anderen achtet, ohne ihn vorab zu verurteilen, wird nicht weit fehlgehen. Letztlich geht es aber auch darum, für Herausforderungen im Zusammenleben auch rechtzeitig konkrete Lösungen zu finden und eben auch – die Chancen zu nutzen, die uns mobile Gesellschaften bieten. Doch, wie ist der Umgang mit Migrant/innen österreichweit gestaltet bzw. sind überhaupt Voraussetzungen für ein gelungeneres Miteinander in Österreich gegeben? Wie funktioniert beispielsweise Integration auf kommunaler und städtischer Ebene? Um sich den eben skizzierten Themenkomplex anzunähern, veranstaltete das IUFE in Kooperation mit der Kommunalpolitischen Vereinigung (KPV) eine internationale zweitägige Fachtagung, welche sich mit Geschichte und den Status quo in der österreichischen Integrationspolitik, mit Möglichkeiten für Verbesserungen im Integrationsbereich sowie den sich aus Migration erwachsenden Chancen auseinanderzusetzen. Ausgehend vom strukturellen Aufbau der Migrant/innenbetreuung und der laufenden Integrationsmaßnahmen in Österreich wurde in der zweitägigen Veranstaltung mittels Expert/inneninputs der Vergleich der Konzepte des Umganges mit Migrant/innen auf europäischer sowie Bundes- und Länderebene gezogen. In Themenblöcken wurden weiters aktuelle Zugänge zu Integrationsmaßnahmen im kommunalen Bereich vorgestellt und diskutiert. Konkrete Projekte wurden zudem in Rahmen von Arbeitsgruppen präsentiert und kommentiert. Als Abschluss der Tagung wurde die Podiumsdiskussion „Migration und Vielfalt als Entwicklungsfaktor“ abgehalten. ( Veranstaltungsbericht Podiumsdiskussion)

Eine Veranstaltung des

und der

in Kooperation mit:

Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

gefördert durch:

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PROGRAMMÜBERBLICK: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration 3. Juni 2013: Einleitung und gemeinsame Moderation: Peter DANICH, KPV | Johannes STEINER, IUFE Migration in Europa und Österreich Migration & Integration. Zahlen-Daten-Indikatoren | Stephan MARIK-LEBECK, Statistik Austria Integration von Migrant/innen in Österreich | Markus BENESCH, BMI, Staatssekretariat für Integration Ländermodelle zur Integration Migration und Integration in Niederösterreich | Murat DÜZEL Migration und Integration in Oberösterreich | Andrea DE ARAUJO LIRA „Zusammenleben in der Steiermark – der Steirische Weg der Diversitätspolitik“ | Silvia RENHART Projekte mit Migrant/innen in den Bundesländern (Arbeitsgruppen) Mingo Migrant Enterprises | Wirtschaftsagentur Wien | Tülay TUNCEL Interkulturelle MitarbeiterInnen in Niederösterreichischen Bildungseinrichtungen | Integrationsservice NÖ, Landesakademie | Anette SCHAWERDA Zusammen:Österreich | Österreichischer Integrationsfonds | Michaela GRUBMÜLLER CulTrain – Trainings zur kulturellen Orientierung für (ehemalige) unbegleitete minderjährige Flüchtlinge | IOM Wien | Marianne DOBNER) 4. Juni 2013: Gemeinsame Moderation: Peter DANICH, KPV | Johannes STEINER, IUFE Aspekte der Migration/Integration in Österreich und Deutschland Migration, Integration und Staatsbürgerschaft in Österreich | Bernhard PERCHINIG, Universität Wien, Institut für Politikwissenschaft Überlegungen zur „Armutszuwanderungsdebatte“ in deutschen Städten | Stefan LUFT, Universität Bremen, Institut für Politikwissenschaft Bilder von Migration und Integration Migration im öffentlichen Diskurs | Petra HERCZEG, Universität Wien, Institut für Kommunikationswissenschaft Ökonomische Aspekte von Migration und Integration Ökonomische Erwartungen an Migration | Markus PAUSCH, FH Salzburg, Zentrum für Zukunftsstudien Türkischstämmige Unternehmer/innen in Österreich – wirtschaftliche Selbständigkeit und soziale Aspekte | Heiko BERNER, FH Salzburg, Zentrum für Zukunftsstudien Aspekte kommunaler Integration Vortrag/Buchvorstellung: „Integration im ländlichen Raum“ | Nora KIENZER, BMI, Integrationskoordination | Marika GRUBER, FH Kärnten, Wirtschaft und Management

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Migration in Europa und Österreich Migration & Integration. Zahlen-Daten-Indikatoren Stephan MARIK-LEBECK, Statistik Austria ZUSAMMENFASSUNG: Stephan Marik-Lebeck, Leiter des Bereiches Demographie, Gesundheit und Arbeitsmarkt in der Direktion Bevölkerung der Statistik Austria, stellt Ergebnisse aus dem Österreichischen Jahrbuch für Migration & Integration 2011 vor. In seinem Vortrag geht Marik-Lebeck zunächst der Frage nach, wie „Migrationshintergrund“ definiert werde, da die Zuschreibungen von Personen mit Migrationshintergrund unterschiedlich verwendet werden und sich dadurch auch in den Studien unterschiedliche Zahlen ergeben. Daraufhin stellt er verschiedene Zuwanderungsarten dar und analysiert die Zusammensetzung dieser Zuwanderungsformen, wobei er auch auf die gesellschaftspolitischen Auswirkungen eingeht. Daraufhin wendet er sich den „Dimensionen sozioökonomischer Realität“ zu, die sich einerseits im Bildungsstand (als wesentliches Kriterium um auf dem Arbeitsmarkt zu reüssieren), in der Einbindung von Migrant/innen in den Arbeitsmarkt und den Zusammenhang von Einkommen, Armut und Wohnsituation wiederspiegelt. Letztlich kommt Marik-Lebeck auf das Integrationsklima zu sprechen, da eine Analyse desselbigen auch im Jahrbuch für Migration & Integration beinhaltet ist. HINWEIS: Die Powerpointpräsentation des Vortrages kann hier abgerufen werden Österreichisches Jahrbuch für Migration & Integration Das Österreichische Jahrbuch für Migration & Integration erschien erstmals 2008 und wurde mit dem Integrationsfonds konzipiert. Es hat zum Ziel, Daten über Migrant/innen und deren Lebensumfeld zusammenzustellen. Seit 2010 wird dieses Projekt vom Innenministerium und vom europäischen Flüchtlingsfonds kofinanziert. Das Jahrbuch erscheint jährlich und stellt einen „Integrationsbarometer“, mittels dem versucht wird das Lebensumfeld von Migrant/innen in Zahlen darzustellen. Dieses Zahlenmaterial wird in Übereinstimmung mit dem „Nationalen Aktionsplan für Integration“ (NAP.I) anhand von 25 Integrationsindikatoren zusammengestellt, die als Monitoringinstrument für ganz Österreich vergleichbares Zahlenmaterial liefern. Der Bericht für 2012 ist derzeit in Arbeit und wird aller Voraussicht nach im Sommer oder Frühherbst des Jahres 2013 erscheinen. „Personen mit Migrationshintergrund“ Als Personen mit Migrationshintergrund würden Menschen, die entweder selbst im Ausland geboren, oder ihre beiden Eltern im Ausland geboren wurden, gezählt werden. Nach dieser Definition hätten 19% der Österreichischen Bevölkerung einen Migrationshintergrund, was in etwa 1,57 Millionen Menschen entspräche. Davon sind knapp 1,2 Mio. Menschen (=14%) selbst im Ausland geboren, also Zuwanderer erster Generation. Den Kindern von Zuwanderer/innen, also der zweiten Migrationsgeneration, gehören etwas über 400.000 Personen an (5% der österreichischen Bevölkerung). Die Gruppe der zugewanderten Personen sei aber sehr inhomogen, daher wird in der Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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Statistik wieder nach Herkunftsland der Eltern unterschieden, wobei drei große Migrantengruppen in Österreich vorherrschen würden. Die größte Gruppe sind Menschen mit Migrationshintergrund aus anderen EU-Staaten (500.000 Menschen, ca. 33%), was, so Marik-Lebeck, gängigen Bildern von Zuwanderung widerspreche. Vor allem in den letzten 15 Jahren hätte die Zuwanderung aus EULändern stark zugenommen und sei weiter stark im Wachsen begriffen. Die zweite Gruppe sind Migrant/innen aus den Nachfolgestaaten Jugoslawiens („traditionelle Gastarbeiternationen“), welche auch ca. eine halbe Million Menschen umfasse. Die drittgrößte Gruppe sind Personen aus der Türkei, mit etwas mehr als einer viertel Million Menschen. Diese Gruppe würde zwar im öffentlichen Diskurs den größten Niederschlag finden, da hier von der Mehrheitsgesellschaft die meisten Unterschiedlichkeiten wahrgenommen würde, letztlich seien Zuwanderer aus der Türkei aber nur eine kleine Teilgruppe von Menschen mit Migrationshintergrund darstellen (17%). Eine weitere viertel Million Menschen würden Personen aus anderen Ländern und Kontinenten ausmachen (15% der Personen mit Migrationshintergrund). Unterschiedliche Formen der Zuwanderung nach Österreich 2011 gab es 130.000 Zuzüge nach Österreich (demgegenüber standen 90.000 Wegzüge), davon waren mehr als 50% Zuzüge von EU-/EWR-Angehörigen (72.000 Personen), weiters österreichische Staatsangehörige die vom Ausland zurückgekehrt sind (15.000 Personen), Asylwerber/innen (14.000 Personen) und Familiennachzug (13.600 Personen). Zuzüge aus EU/EWR, Rückzüge von Österreichern sowie Familiennachzüge wären nicht steuerbar, da auf alle diese Formen Rechtsanspruch bestehe. Die Zahl von Asylwerber/innen hänge zudem jeweils von den politischen Rahmenbedingungen ab. Politisch steuerbar und gesetzlich regelbar wäre die zahlenmäßig größte Gruppe der Saisonarbeitskräfte (Tourismus, Erntehelfer/innen etc.: max. 6 Monate Aufenthalt). Vergleichsweise gleich groß wäre die Gruppe, welche in der Statistik unter „Sonstige“ zusammengefasst werde und Studierende, Forscher/innen, Privatiers etc. beinhalte. Die Gruppe von Schlüsselarbeitskräften aus nicht EU-Staaten nehme derzeit (2011) noch eine geringe Rolle ein, da diese nur ca. 900 Personen von etwa 130.000 umfasse, die gesetzlichen Änderungen mit der Rot-Weiß-Rot-Karte noch nicht gegriffen hätten. Es sei aber zu erwarten, dass diese Gruppe zunehme, allerdings insgesamt auf einem niedrigen Niveau verblieben. Bildungsstruktur von Zuwanderer/innen In den höheren Bereichen (Matura, Universitätsstudium) zeige sich im Vergleich zwischen Österreichern und Menschen mit Migrationshintergrund kein merklicher Unterschied, wohingegen im Vergleich ein Überhang von Menschen Migrationshintergrund, die nur über einen Pflichtschulabschluss verfügen, vorhanden sei. Innerhalb der zugewanderten Migrant/innen gäbe es aber große Unterschiede, sodass man feststellen könne, dass der Zuzug aus EU-Staaten der von hochqualifizierten Arbeitskräften sei, wobei hier der Anteil an Akademiker/innen sogar höher sei als bei der einheimischen Bevölkerung. Die Arbeitslosenquote wäre bei Migrant/innen um 3% höher, ebenso der Anteil an Menschen in Schulungsmaßnahmen. Auch bei der Jugendarbeitslosigkeit gäbe es Unterschiede, dieser sei aber – im Vergleich zu anderen Ländern –gering. Während im Jahr 2005 Menschen mit Migrationshintergrund noch 88% eines durchschnittlichen Gehalts eines österreichischen Bürgers erhielten waren es 2010 nur mehr 82%. Die Schere gehe also weiter auseinander, wobei sich auch innerhalb der Zuwanderungsgruppen signifikante Unterschiede vorhanden seien. 73% der türkischen Bevölkerung wäre demnach ohne Sozialleistungen armutsReader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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gefährdet, wohingegen nach Erhalt von Sozialleistungen der Anteil immer noch 40% betrage. Vergleiche man die Aufwendungen für Wohnkosten, so mussten bspw. türkische Migrant/innen 2008 37% ihres Einkommens für das Wohnen aufbringen, während es bei Österreicher/innen 16% waren. Subjektive Einschätzung von Integration Eine repräsentative Studie des Fessel-GfK Instituts für Marktforschung (durchgeführt 2012; befragte Personen: Österreicher/innen: 1.000, Migrationshintergrund: 1.100) fragte nach der subjektiven Einschätzung von Integration anhand von vier Themenkomplexen, wobei sich hier deutliche Unterschiede in der Einschätzung zwischen Österreichern und Personen mit Migrationshintergrund ergaben. So bewerteten österreichische Staatsangehörige die Frage, wie gut Integration funktioniere mit: 45,5% eher schlecht, 12% sehr schlecht, 39,2% eher gut und 3,4% mit sehr gut. 2010 waren die Ergebnisse der Umfrage noch deutlich schlechter ausgefallen, was laut Marik-Lebeck auf die in der letzten Zeit stattgefundene politische Arbeit zurückzuführen wäre (Staatssekretariat für Integration etc.). Auf die Frage, ob man eine fremdenskeptische bzw. fremdenfeindliche Einstellung habe, bezeichneten sich 79,2% der Österreicher als neutral, 17,6% als liberal und 3,2% als restriktiv. Demgegenüber fühlen sich 50,5% von Menschen mit Migrationshintergrund als völlig heimisch, 36,6% als eher heimisch, 8,4% als weniger heimisch und 4,5% als gar nicht heimisch. Zudem erklärten sich an die 85% der Zugewanderten mit dem österreichischen Gesellschaftmodell als sehr bzw. eher einverstanden.

Integration von Migrant/innen in Österreich Markus BENESCH, BMI, Staatssekretariat für Integration ZUSAMMENFASSUNG: Markus Benesch, welcher als Referent im Staatssekretariat für Integration tätig ist, gibt einen historischen Überblick über Migration nach Österreich und benennt dabei Zäsuren, welche den Umgang und die Stellung von Migrant/innen in der öffentlichen Wahrnehmung präg(t)en. Beginnend mit der Anwerbung von Gastarbeiter/innen, dem „Ölschock“ verbunden mit einer Wirtschaftskrise oder etwa dem von Jörg Haider initiierten Volksbegehren „Österreich zuerst“ (1992), spannt er den Bogen bis zur Gründung eines eigenen Staatssekretariats für Integration (2011). Benesch fordert eine weitere Versachlichung des Themas und benennt derzeitige Herausforderungen in der Integrationspolitik in den Kernbereichen Bildung, Arbeit, Gesundheit, Pensionsvorsorge und Pflege sowie Wohn- und Raumplanung. Abschließend stellt er Maßnahmen vor, die seitens des Staatssekretariates für Integration gesetzt werden. HINWEIS: Die Powerpointpräsentation des Vortrages kann hier abgerufen werden

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Gastarbeiter/innen: „Arbeiter sind gekommen, Menschen sind geblieben“ Vor 42 Jahren wurden seitens Österreichs Abkommen über Gastarbeiter/innen mit der Türkei und dem ehemaligen Jugoslawien abgeschlossen. Und im Herbst 1961 kamen die ersten sogenannten Gastarbeiter/innenzüge nach Österreich, denn im Zuge des Wirtschaftsbooms und des Wiederaufbaues nach dem zweiten Weltkrieg herrschte in Österreich ein hoher Bedarf an Arbeitskräften, sodass man von anderen Staaten Arbeitskräfte abwarb, jedoch ohne die langfristigen Folgen zu berücksichtigen. Man nahm nämlich an, dass die Gastarbeiter/innen nach einer bestimmten Zeit Österreich wieder verlassen würden, um durch neue Arbeiter/innen ersetzt zu werden. Desweiteren habe man bestimmten Voraussetzungen (Stichwort „Deutschkenntnisse“) keinerlei Bedeutung zugemessen. Benesch zitierte in diesem Zusammenhang Staatssekretär Sebastian Kurz mit: „Arbeiter sind nach Österreich gekommen, die Menschen sind geblieben.“ Die Anwerbung von „Gastarbeiter/innen“ erfolgte sowohl in den Bundesländern branchen- als auch nationalitätenabhängig unterschiedlich, dabei wurden vor allem für Bundesländer mit hohem Industrieanteil niedrig qualifizierte Arbeitskräfte angeworben. In Vorarlberg beispielsweise bevorzugte man türkische Arbeitskräfte, da man in Zuwanderern aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens, salopp formuliert – „Kommunisten“ sah. Daher findet sich heute in Vorarlberg die zweitgrößte Community an türkischen Zuwanderern, welche v.a. in der Textilindustrie eingesetzt wurden. Während sich hingegen in Wien, aufgrund der breit aufgestellten Industrie, verschiedene Gruppen zuzogen. Prinzipiell fehlte aber ein genaues rechtliches, administratives und qualitatives Regelwerk für Zuwanderung und Integration. Dies ist es auch, was uns heute in der politischen Diskussion beschäftigt – was muss in welchen Bereichen alles vorhanden sein, damit Migration und Integration gut funktioniert. Historische Zäsuren Bedingt durch den „Ölschock“ (1973), der zu einem geringerem Wachstum führte, veränderten sich die Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt, niederqualifizierte Arbeitskräfte wurden nicht mehr in dem Ausmaß gebraucht, gleichzeitig wurde auch der Familiennachzug ermöglicht. Die Politik verfolgte zwar die Entwicklungen und erkannte auch die fehlende Begleitung in der gesellschaftlichen Einbindung von Gastarbeiter/innen, jedoch unternahm man nichts dagegen, sodass sich Ende der 70er/Anfang der 80er Jahren verstärkt rassistische Ressentiments ausprägten, die in dem von Jörg Haider und der FPÖ initiierten Volksbegehren „Österreich zuerst“ (1992), welches auch als „Anti Ausländer Volksbegehren“ bekannt ist, gipfelten. Demgegenüber stand eine erstarkte zivilgesellschaftliche Bewegung, die mit dem Lichtermeer am Heldenplatz bzw. mit „Bleiberecht für Alle“ ein Zeichen setzte. Es kam zu verstärkter ideeller Blockbildung und einer Emotionalisierung der Debatte – Asyl, Zuwanderung und Integration wurden in der öffentlichen und politischen Diskussion „zusammengewürfelt“ und nicht differenziert betrachtet und diskutiert. Letztlich wurde vor 2 Jahren (2011) ein eigenes „Staatssekretariat für Integration“ ins Leben gerufen, welches zu einer Versachlichung der Diskussion beitragen soll – u.a. auch mittels der Jahrbücher für Migration & Integration (siehe Beitrag Marik-Lebeck). Es gelte sowohl der Rhetorik vom „Untergang des Abendlandes“ als auch Laissez-faire und ein Denken, welches sich nur durch Opferrollen definiert, auf einer sachlichen und ergebnisorientierten Ebene entgegenzuwirken. Fakten zur Zuwanderung und Integration in Österreich In Österreich leben laut Benesch derzeit ca. 1,5 Mio. Menschen mit Migrationshintergrund (20% Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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der Bevölkerung), wovon ca. 500.000 die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen. Die restliche eine Million besitzt eine rechtsgültige Aufenthaltsbewilligung mit Lebensmittelpunkt in Österreich. Trotzdem gibt es in verschiedenen Bereichen Probleme, die man versachlichen und ohne Emotionen ansprechen müsse, denn es gelte konkrete Maßnahmen für konkrete Probleme vorzunehmen. Zunächst müsse man die verschiedenen Zuwanderungsgruppen differenziert betrachten. Ein Feld umfasst die Asylwerber/innen. Hier werden auf Basis völkerrechtlicher Abkommen pro Jahr um die 15.000 Anträge gestellt. Diese sind zwar medial präsent, aber machen nur eine kleine Gruppe aus. Ein weiteres Feld umfasst die Zuwanderung, die sich einerseits nach den rechtlichen Bedingungen innerhalb der EU richtet („freie Wohnsitzwahl“) als auch über nationale Initiativen wie die RotWeiß-Rot Card geregelt werden soll. Letztlich bleibt übergreifend der Bereich der Integration, der bei 1,5 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund und unterschiedlichsten Biographien eine große Herausforderung darstellt. Nach Nationalitäten gereiht finden sich an erster Stelle der Zuwanderer/innen nach Österreich deutsche Staatsbürger/innen (ca. 220.000 arbeiten in Österreich), danach folgen Zuwanderer/innen aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens und danach Zuwanderer/innen aus der Türkei. In diesem Zusammenhang bemerkte Benesch, dass zwar aus der Türkei ein leichtes plus an Zuwanderung erfolge, dass aber andererseits höher qualifizierte Personen mit türkischen Migrationshintergrund, welche auch hier ausgebildet wurden, aufgrund des dort vorherrschenden Wirtschaftswachstumes wieder in die Türkei zurückkehren, sodass mittlerweile ein brain drain aus Österreich in die Türkei merkbar wäre. Herausforderungen Neben dem statistischen „Jahrbuch für Migration & Integration", welches Analyse und Trends abbildet, wird ebenso jährlich ein „Maßnahmenbericht für Integration“ angefertigt, der von einem Expert/innenrat über Initiative des Staatssekretariates für Integration erstellt wird. Darin sind Vorschläge enthalten, die es nach Möglichkeit umzusetzen gilt. Die Themenbereiche umfassen dabei Sprache und Bildung, Arbeit und Beruf, Rechtsstaat und Werte, Gesundheit und Soziales, Interkultureller Dialog, Sport und Freizeit sowie Wohnen und regionale Dimension. Ein hoher Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund wird für den Arbeitsmarkt als „niedrig bzw. nichtqualifiziert“ eingestuft. Besonders dramatisch ist die Situation bei den sogenannten jugendlichen NEET (Personen zwischen 16 und 24 Jahren, die „Not in Education, Employment and Training“ sind), deren Zahl auf ca. 75.000 geschätzt wird und die quasi „vom Radar“ verschwunden sind. Als Beispiel zur Förderung von Schüler/innen nannte Benesch das Projekt „OMA/OPA“, im Zuge dessen Senioren und Seniorinnen mit Volksschulkindern mit mangelhaften Deutschkenntnissen lernen. Bei Bildung wäre uns jetzt schon einiges verlorengegangen und das darf nicht weiter passieren, so Benesch. Auch die Anerkennung von ausländischen Abschlüssen (Nostrifizierungsverfahren) nähme hin und wieder fast schon kafkaeske Züge an. Hier versucht man durch Beratung etc. zu einer erleichterten Anerkennung beizutragen, da in den letzten Jahren Österreich gewaltige Potentiale verlorengegangen wären. Der zu niedrigen Beschäftigungsquote unter Menschen mit Migrationshintergrund müsse entgegengewirkt werden, ebenso sei nur eine geringe Datenlage hinsichtlich der gesundheitlichen Situation von Migrant/innen vorhanden. Auch in der Pensionsvorsorge und in der Pflege müsse man das System umstellen. Bei der klinischen Versorgung nannte Benesch, als Beispiel, dass es aufgrund von mangelnden Deutschkenntnissen von Patient/innen zu Verständigungsschwierigkeiten kommen Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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kann, da keine standardisierte Form der Übersetzung vorhanden sei. So werde kurzerhand bspw. das Raumpflegepersonal hinzugezogen, welche als Übersetzer fungieren – aber es stelle sich die Frage, was ist, wenn diese falsch übersetzen? Als weitere Herausforderung nannte Benesch die Raumplanung, die reagieren müsste, etwa im Bereich der Benützung von öffentlichen Flächen und Wohnanlagen. Auch hier versuche man Maßnahmen setzen. Staatssekretariat für Integration – Philosophie und Maßnahmen Seitens des Staatssekretariates würde die Philosophie verfolgt werden, dass man lieber früher in die Menschen und ihre Talente investieren solle, anstatt später (teuer) zu reparieren. Integration soll durch Leistung erfolgen. Nicht die Herkunft von Personen solle im Mittelpunkt stehen, sondern das, was diese Person leistet – der Begriff ist breit anzuwenden und individuell gestaltet und orientiert sich an dem, was jemand an Möglichkeiten hat. Nach dem Motto: „Österreich als Land der Chancen wahrzunehmen, wo, wenn man seine Leistung bringt, seinen Weg auch machen kann“. Vor allem Projekte mit Kindern und Jugendliche hätten einen großen Mehrwehrt sowie eine Hebelwirkung für die gesamte Familie, weswegen man hier ansetze. Integration sei eine enorme Querschnittsmaterie wo alles Zusammenspiele, die Schlüsselpunkte wären als Voraussetzung für andere Bereiche Sprache und Bildung. In den letzten beiden Jahren hat man seitens des Staatssekretariates folgende Maßnahmen gesetzt: Bund-Ländervereinbarung für zusätzliche Sprachförderung im Kindergarten (30 Mio. Euro zwischen 2012–2014) Zweites verpflichtendes Kindergartenjahr für jene Kinder die es benötigen (dzt. Modellregionen mit Qualitätsstandards, Controlling) Deutsch als Kriterium für die Feststellung der Schulreife ab Jänner 2014; Mehrsprachigkeit gilt es zu fördern (90% von Schülern mit Migrationshintergrund, welche die 8 Schulstufe in Wien verlassen können nicht richtig Rechnen – zurückzuführen auf Sprachdefizite) Maßnahmen gegen Schulpflichtverletzungen (der Anteil unter Migrant/innen ist 4-5 fach so hoch; hier gibt es auch Lerncafès mit Caritas, die auch eine außerschulische Betreuung bieten) Zusammen:Österreich (mittels Integrationsbotschafter/innen soll Motivation unter Schüler/innen gefördert und Perspektiven eröffnet werden) Erleichterungen bei der Nachholung von Schulabschlüssen (Bund-Länder-Vereinbarung, ein kostenloses Nachholen von Schulabschlüssen ist möglich; zielgerichtete Schulungen anhand von Bedarfserhebungen, da vorher bei AMS ohne Berücksichtigung von Bedürfnissen in Kurse geschickt wurden) Erleichterte Anerkennung von Berufs- und Bildungsabschlüssen (Abkommen mit Wissenschaftsministerium, österreichweite Beratung via AMS; 30% Zuwachs bei Nostrifizierungsansuchen) Staatsbürgerschaftstest NEU (Fast-track – schnellere Erwerbung der Staatsbürgerschaft; Fragekatalog erneuert, Rot-Weiß-Rot-Fibel, Wertekatalog) Dialogforum Islam (Ziel: Entwicklung eines österreichischen Islam mit hier ausgebildeten Imamen, da bis dato keine inländische Ausbildungsmöglichkeit vorhanden war; dzt. sind sehr viele weisungsgebundene Beamte aus anderen Ländern, die nur kurz in Österreich bleiben) Gesundheitsförderung und -prävention bei Migrant/innen (Projekt „Mimi“) Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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Krankenpflege (Projekt: „MigrantsCare“) Freiwillige Feuerwehren – Aufhebung des Migrant/innenbeitrittverbotes 2012 (bislang waren in Kärnten und der Steiermark Migrant/innen von der FF ausgeschlossen – sehr wichtig für Symbolik) Modellregionen / Bürgermeisterhandbuch für Integration im ländlichen Raum Abschließend hielt Benesch fest, dass zwar mit diesen Maßnahmen ein Weg angefangen worden sei, dieser aber konsequent weitergegangen werden müsse um nachhaltig zu sein – es gäbe aber keine „Weltformel“, vor allem da Migration/Integration eine Querschnittsmaterie sei, Extrempositionen niemanden helfen und man für konkrete Probleme auch konkrete Lösungen brauche. Für die Umsetzung der Projekte stellen Vereine und freiwillige Einrichtungen einen Kristallisationspunkt dar. Projekte könnten nur Dank der guten Zusammenarbeit mit Gebietskörperschaften und NGOs umgesetzt werden.

LÄNDERMODELLE ZUR INTEGRATION Integration in Niederösterreich Murat DÜZEL, Integrationsservice, Niederösterreichische Landesakademie ZUSAMMENFASSUNG: Murat Düzel, Leiter des Integrationsservices an der Niederösterreichischen Landesakademie, gibt einen Überblick über die statistischen Daten von Zuwanderung in Niederösterreich, erläutert den Leitbildprozess in Niederösterreich und spricht über das breit gestreute Angebot und die Aktivitäten des niederösterreichischen Integrationsservices, sowie über die Sinnhaftigkeit niederschwelliger Bildungsangebote und der Förderung von Kindern. HINWEIS: Die Powerpointpräsentation des Vortrages kann hier abgerufen werden Ausgangslage In Niederösterreich wohnen 1,6 Millionen Menschen, wobei der Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund 11,6% beträgt (118.348 Personen). Die stärkste Migrant/innegruppe stellen türkische Einwanderer/innen dar mit ca. 25.000 Personen, gefolgt von Deutschland, Serbien und Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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Montenegro sowie Bosnien und Herzegowina. Dann folgen Rumänen, Tschechen, Polen, Ungarn, Slowakei und Kroaten. Die Anzahl der ausländischen Staatsbürger (dies sind natürlich mehr Nationalitäten als die gerade aufgezählten) beträgt 115.881 Personen (7,2%). Der Anteil der Bevölkerung mit ausländischer Herkunft ergibt in den städtischen Bereichen und Industrievierteln (Krems: 15,25%; Wiener Neustadt 21%; St. Pölten 19,1%) sowie in den politischen Bezirken rund um Wien (Bezirk Lilienfeld 10,76%; Bezirk Baden 19,2%) eine signifikant höhere Anzahl, wohingegen in ländlichen Gegenden kaum Zuzug stattfand. Leitbildprozess in Niederösterreich 2006 wurde unter Beteiligung von Vereinen, Abteilungen, Polizei, Rettung etc. (insgesamt über 600 Personen) ein Leitbildprozess gestartet. Unter den Maßnahmen und Empfehlungen dieses Leitbildprozesses befand sich auch die Gründung eines Integrationsservices, welche im Jahr 2008 erfolgte. Seitdem fungiert das Integrationsservice des Landes Niederösterreich als Schnittstelle zwischen BMI, Staatssekretariat für Integration und Landesregierung einerseits und andererseits für Gemeinden, Multiplikator/innen, Vereine und Institutionen. 2012 wurde der Integrationsleitfaden „Niederösterreich ist unser Zuhause. Integrationsleitfaden für die Vielfalt“ veröffentlicht, der Integration als einen „Prozess des Aufeinanderzugehens“ auffasst, welcher auch institutionell gefördert und begleitet werden muss. Für die die 573 niederösterreichischen Gemeinden gibt es daher eine Vielzahl an Angeboten, die durch das Integrationsservice abgedeckt werden: Aktivitäten des Integrationsservices Das Integrationsservice Niederösterreich bietet u.a. eine umfassende Beratung von Gemeinden, Institutionen und Vereinen an, wobei hier auch auf die entsprechende Situation und Bedürfnisse eingegangen werden kann. Neben der Entwicklung von Integrationsmaßnahmen und der Möglichkeit zur Förderberatung, erfolgt auch eine Projektbetreuung ebenso wie die Organisation und Durchführung von Qualifizierungsmaßnahmen. Das Integrationsservice Niederösterreich versteht sich auch als Kooperations- und Vernetzungsplattform, sodass ein gegenseitiger Austausch stattfinden kann – so können auch Veranstaltungen organisiert werden, Moderator/innen und Mediator/innen vermittelt werden. Neben der Entwicklung von spezifischen Bildungsangeboten, besteht seitens des Integrationsservices ein fixes Seminar/Workshopangebot (z.B.: Kurs "Kulturelle Vielfalt in den Gemeinden – Über die Gestaltung des guten Zusammenlebens"; Workshops zu spezifischen Themen wie: Migration, Asyl- und Fremdenrecht, Muttersprache - Zweitsprache etc.) Schwerpunktmäßig fördert man in Kindergärten und Volksschulen Kinder mit Migrationshintergrund, da diese auch gleichzeitig Schnittstelle zu den Eltern sind (Lernpartnerschaften, Märchenerzählrunden, Muttersprachkurse etc.). Es gehe nicht darum Kriterien für den Staatsbürgerschaftstest zu erfüllen, sondern zum Teil nicht alphabetisierten Personen mittels niederschwellig angelegten Angebotes mit den Menschen vor Ort in Kontakt zu treten und Möglichkeiten zu bieten, die deutsche Sprache zu üben bzw. erwerben. So gäbe es zum Beispiel gemeinsame Kochrunden, Fahrradausflüge etc. mit Österreicherinnen und Migrantinnen. Es sei wichtig, so Düzel, nachhaltige Strukturen zu schaffen und nachhaltige Maßnahmen zu setzen, daher seien Initiativen in Kindergärten und Volksschulen so wichtig. Man dürfe Zuwanderung nicht immer nur als Problem sehen, um ein anderes Bild zu vermitteln brauche es daher auch gute Stimmungsfelder der Begegnung.

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Link: „Niederösterreich ist unser Zuhause. Integrationsleitfaden für die Vielfalt“ (2012) Link: Homepage Integrationsservice

Integration ist … was wir daraus machen! Migration und Integration in Oberösterreich Andrea DE ARAUJO LIRA, Integrationsstelle Oberösterreich (istOÖ) ZUSAMMENFASSUNG: Andrea de Araujo Lira, Mitarbeiterin der Integrationsstelle der Landesregierung Oberösterreichs (istOÖ), gibt anfangs einen Überblick über die Entstehung und die Entwicklung der Integrationsstelle und der Erarbeitung und Implementierung des oberösterreichischen Integrationsleitbildes. Daraufhin erläutert sie die Aufgaben der istOÖ, u.a. Implementierung des Leitbildes für Integration in den Maßnahmen des Landes Oberösterreich; Koordination von Projekten; Hilfestellungen für Landesregierung, Kommunen und Vereinen sowie Öffentlichkeitsarbeit- und Vernetzungsarbeit. Den Abschluss des Vortrages bilden Überlegungen zur Integration im kommunalen Bereich. HINWEIS: Die Powerpointpräsentation des Vortrages kann hier abgerufen werden Entwicklung des Integrationsstelle und des Integrationsleitbildes Im Jahre 2001 wurde eine Koordinationsstelle für Integration in der Abteilung Soziales des Amtes der oberösterreichischen Landesregierung eingerichtet. Die „Integrationsstelle“ bzw. „istOÖ“ untersteht dem Sozialreferenten LHStv. Josef Ackerl und besteht mittlerweile aus insgesamt 10 Mitarbeiter/innen (freie Mitarbeiter/innen und Angestellte). 2003 beschloss die OÖ Landesregierung, dass ein Integrationsleitbildprozess für OÖ initiiert werden soll. Dieser fand von 2005 bis 2007 unter breiter Mitwirkung der Politik, Bürger/innen, Vereine etc. statt. 2008 wurde dieses Leitbild, welches unter dem Motto: „Einbeziehen statt Einordnen“ steht, fertiggestellt und von der Landesregierung beschlossen. Die integrationspolitischen Leitlinien, welche auch im Integrationsleitbild festgehalten sind, heißen: „Vielfalt leben“, „Teilhabe sichern“, „Zusammenhalt stärken“ und „Gemeinsam Verantwortung tragen“. Selbstverständnis und Aufgabengebiet der istOÖ Von der istOÖ werden Gemeinden betreut („Integration passiert vor Ort“) und auch die Zusammenarbeit mit Migrant/innencommunities vorangetrieben. Die istOÖ versteht sich auch als Förder-, Wissens- und Kompetenzort. Fußend auf das Integrationsleitbild wurde 2010 die Einrichtung eines „Netzwerkes für Integration und Diversität“ errichtet, welches zum Ziel hat, die Themenfelder Migration/Integration in strategische Prozesse der OÖ Landesregierung zu integrieren. Als eine wichtige Aufgabe der istOÖ nannte de Araujo Lira auch die jährlich stattfindende Landesintegrationskonferenz, in deren Rahmen gesellschaftspolitische Themen aufgegriffen werden. Mobilität – Migration Oberösterreich hat einen kontinuierlichen Bevölkerungsanstieg vorzuweisen (1981 bis 2011: Zuzug von 149.000 Menschen), wobei sich die Zuwächse zwischen den Regionen stark unterscheiden Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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(Randlagen schrumpfen, Zentralraum und Grenzgebiete wachsen). Die Bevölkerung ausländischer Herkunft ist ebenfalls in Ballungsräumen und im Grenzbereich vermehrt anzutreffen (Arbeitsmarktsituation). Die größte Gruppe von Zuwanderer/innen kommt aus der EU und auf Einzelnationen beschränkt aus Deutschland. Aber auch Binnenwanderung innerhalb Oberösterreichs spiele eine immer gewichtigere Rolle. Daher müsse man laut de Araujo Lira mittlerweile eher von Mobilität als von Migration sprechen. Eine Zuwanderung von homogenen Gruppen findet so nicht mehr statt, es sind Menschen aus verschiedenstes Ländern, wobei auch hier die Zuwanderung innerhalb der Regionen unterschiedlich ausfällt. In der täglichen Zusammenarbeit gelte immer wieder zu betonen, dass die größte Zuwanderung aus Ländern aus der EU erfolgt, welche man aber nicht regulieren könne. Weiteres betone man auch in der Zusammenarbeit mit Kommunen, dass die vermeintliche kulturelle Homogenität der 70er und 80er Jahre nicht mehr wiederkomme, sondern vielmehr werde kulturelle und religiöse Vielfalt zunehmend sichtbarer. Man müsse also temporäre Mobilitätsmuster als Realität anerkennen und die Chancen von Mehrsprachigkeit als wirtschaftliches und soziales Kapital (Tourismus) erkennen bzw. als Normalität ansehen. Überlegungen zur kommunalen Integrationsarbeit In der Praxis habe man festgestellt, dass Autoritäten vor Ort einen hohen Vorbildcharakter haben und deren Einstellung zu Migration, Integration, Vielfalt und gesellschaftlichem Zusammenleben den Diskurs vor Ort bestimmen. Wenn lokale Autoritäten also dieses Feld positiv sähen, dann würde dies sehr viel an Mehrwert für die Integrationsarbeit in den Gemeinden bedeuten. Daher sehe de Araujo Lira eine Chance im grundlegenden Haltungswandel, also weg von „Wir brauchen Zuwanderer/innen, wollen sie aber nicht!“ hin zu „gesellschaftlicher Vielfalt ist Realität und Normalität“ und wie man damit umgehen wolle. Dieser Ansatz führe zu Pluralitätskompetenz, man könne also mit Vielfalt zielgruppenadäquat umgehen. In der kommunalen Integrationsarbeit müsse das Thema sowohl in der Verwaltung als auch in der Politik verankert werden. Es werde immer klarer, dass das Gelingen von Integration an der Beantwortung sozialer Fragen gebunden sei. Der öffentliche Raum gewinne immer mehr an Bedeutung und bürgerliches Engagement kann als Motor der Integration angesehen werden, v.a. im Sinne der Partizipation. Generell sei eine neue Willkommenskultur zu beobachten, welche sich aber nicht nur auf Menschen mit Migrationshintergrund beschränke. Zusätzlich gäbe es vermehrte Angebote zur Mediation und Konfliktverarbeitung, vor allem im Wohnbereich. Man wolle seitens des istOÖ aber auch Zeugnis dafür ablegen, dass schon viel passiert sei und wie vielfältig Integrationsarbeit sei. Regional würde man auch Vernetzungstreffen organisieren, bei denen sich Regionen, Bezirke und Gemeinden sich über den Status Quo und über Projekte austauschen und voneinander lernen können. IstOÖ beteiligt sich auch einen kommunalen Begleitprozess in Gemeinden, wo man an die jeweils spezifische Situation der Gemeinde angepasste Konzepte entwickle - hier gehe es auch darum ein Gefühl zu entwickeln, was die spezifischen Chancen und Herausforderungen sind. LINKS:

Integrationsleitbild des Landes Oberösterreich 2ter Umsetzungsbericht des Integrationsleitbildes Oberösterreich (2013)

Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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Zusammenleben in der Steiermark – der Steirische Weg der Diversitätspolitik Silvia RENHART, Referat Diversität, Abteilung Integration und Diversität, Land Steiermark ZUSAMMENFASSUNG: Im Mittelpunkt der Ausführungen von Silvia Renhart, steht die „Charta des Zusammenlebens in Vielfalt in der Steiermark“ welche 2011 von Landtag und Landesregierung beschlossen wurde und die bei zukünftigen Planungen und Maßnahmen Anwendung findet. In dieser Charta findet sich auch die Verabschiedung einer homogenen Mehrheitsgesellschaft hin zur gesellschaftlichen Vielfalt. Charta des Zusammenlebens in Vielfalt in der Steiermark Eingangs hielt Silvia Renhart fest, dass das Referat Diversität im Gegensatz zu Niederösterreich oder Oberösterreich zwar keine eigenen Projekte zur Integration entwickle, aber die Umsetzung von konkreten Projekten unterstütze und fördere. Seit 2011 gibt es in der Steiermark die sogenannte „Charta des Zusammenlebens in Vielfalt in der Steiermark“, deren strategische Umsetzung die Abteilung überwiegend betreue. Die Charta wurde durch eine ressortübergreifende Steuergruppe erarbeitet und ist im Regierungsübereinkommen zwischen SPÖ und ÖVP (2010–2015) grundgelegt, in dem man beschloss, eine gemeinsame steirische Position zum Themenkreis „Integration, Umgang mit Vielfalt und Diversitätsmanagement“ zu erarbeiten und einen zentralen Stellenwert in der steirischen Landesregierung zu geben. In der „Charta des Zusammenlebens in Vielfalt in der Steiermark“, welche vom Landtag und von der Steiermärkischen Landesregierung beschlossen wurde, bekennt sich das Land Steiermark zu folgenden Grundsätzen: Menschenrechte; gleiche Rechte und Pflichten auf Basis der Rechtsordnung; Deutsch als gemeinsame Sprache (Vielfalt der Sprachen als wertvolle Ressource); vielfältige Gesellschaft, der in der Planung Beachtung geschenkt werden muss (Geschlechter, Hautfarben, Religionen, Erstsprachen, Traditionen, Weltanschauungen, sexuelle Orientierungen, Alter, unterschiedliche finanzielle Ressourcen, Behinderungen, unterschiedliche Sichtweisen, Talente und Potentiale); gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten, aber auch Eigenverantwortung; Integration als Gemeinschaftsaufgabe; wertschätzende Haltung der Unterschiedlichkeit sowie der Gemeinsamkeit, Respekt; gegen Diskriminierung; Zuwanderung als dauerhafte Normalität; gemeinsame Bedürfnisse (Frieden, Freiheit, Nahrung und Wohnraum, Sicherheit, Gesundheit etc.); Steiermark als Lebensraum, der „Heimat“ bietet. Gemeinsam mit federführenden Organisationen werde die Charta laufend umgesetzt und in die strategischen Planungen des Landes Steiermark und der Politik mit einbezogen. Dabei spielen auch Träger/innen wie Universitäten, Städte, Gemeinden etc. eine große Rolle, gemeinsam wolle man daher im Sinne der Charte gemeinsam gestalten. Als ein offizielles Zeichen für diesen steirischen Weg, fände einmal im Jahr die „Konferenz des Zusammenlebens“ statt, welche sich 2014 beispielsweise mit „Zusammen.Wohnen“ beschäftige; in den Bereichen Wohnen und Bildung gäbe es auch eine Ressortkooperation. Die Begriffe „Vielfalt“ und „Divers“ beträfen aber nicht nur Ausländer/innen, so Renhart, sondern sei im Sinne der Charta viel weiter gefasst. Vielfalt wäre den Menschen in der Steiermark zumutbar, man wäre daher vom Bild einer homogenen „Mehrheitsgesellschaft“ abgekommen, welches ohnedies nicht mehr der Realität entspräche. An Projekten die seitens des Landes Steiermark unterstützt werden nannte sie: „Zusammensprechen“, Antidiskriminierungsstelle Steiermark; Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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„Anerkannt“ – Anerkennung von Berufsqualifikationen“ und den noch zusätzlich eingerichteten Kleinprojektefonds, wo man Projekte beantragen kann. Beispielsweise wurde ein Projekt, welches die Biographien von Taxifahrern dem Fahrgast sichtbar macht, gefördert. Link: Charta des Zusammenlebens in Vielfalt in der Steiermark Link: Zusammenleben in Vielfalt. Der steirische Weg der Integrationspolitik

PROJEKTE MIT MIGRANT/INNEN IN DEN BUNDESLÄNDERN Ablauf: Die Projekte mit Migrant/innen in den Bundesländern wurden von den Referent/innen in Arbeitsgruppen vorgestellt und mit den Teilnehmer/innen der Fachtagung besprochen. Nach ca. 30 Minuten erfolgte ein Wechsel zur nächsten Projekt-Station, sodass den Besucher/innen die Möglichkeit gegeben wurde, die verschiedenen Projekte aus dem Bereichen Asylbetreuung, Arbeitsmarkt, Schule und Bewusstseinsbildung für Integration kennenzulernen. Je nach Zusammensetzung der Kleingruppen ergaben sich in der Besprechung der Projekte andere Themenschwerpunkte in den Fragestellungen. Mingo Migrant Enterprises | Wirtschaftsagentur Wien | Tülay TUNCEL Mingo ist ein Serviceprogramm der Wirtschaftsagentur Wien zur gezielten Unterstützung von Gründer/innen, Jungunternehmer/innen, Ein-Personen-Unternehmen, Kleinstunternehmen und neuen Selbstständigen mit Migrationshintergrund. Die Serviceleistungen umfassen dabei kostenlose Workshops, Coachingund Beratungstätigkeiten in den jeweiligen Muttersprachen, sowie geförderte Büroräumlichkeiten. Mehr Informationen zu „Mingo Migrant Enterprises“ finden Sie hier. Interkulturelle MitarbeiterInnen in Niederösterreichischen Bildungseinrichtungen | Integrationsservice NÖ, Landesakademie | Anette SCHAWERDA Das Integrationsservice NÖ versteht sich als Drehscheibe für integrationsrelevante Fragen in Niederösterreich, die ihre Hauptaufgaben vor allem in der Beratung und Vernetzung von Bürger/innen, Politik, Vereinen und Verwaltung sehen. Unter anderem werden interkulturelle Mitarbeiter/innen für Niederösterreichische Bildungseinrichtungen ausgebildet und unterstützten in der Folge den Lehrbetrieb. Mehr Informationen zum Integrationsservice NÖ finden Sie hier. CulTrain – Trainings zur kulturellen Orientierung für (ehemalige) unbegleitete minderjährige Flüchtlinge | IOM Wien | Marianne DOBNER Das Projekt „CultTrain“ wurde 2012 von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Wien gestartet. Es handelt sich um ein kulturelles Orientierungstraining für (ehemalige) unbegleitete Minderjährige. Dadurch soll ein Willkommenszeichen gesetzt werden in dem interaktiv Wissen um Kultur, Sprache und Land der Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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Aufnahmegesellschaft erworben werden kann. Über kulturelle Differenzen hinweg kann damit – ohne Berührungsängste – eine Orientierung geboten werden und das gesellschaftliche Zusammenleben positiv beeinflusst werden. Mehr Informationen zu CulTrain finden Sie hier. Zusammen:Österreich | Österreichischer Integrationsfonds | Michaela GRUBMÜLLER Die Initiative „ZUSAMMEN:ÖSTERREICH“ wurde 2011 von Integrationsstaatssekretär Sebastian Kurz ins Leben gerufen, um Vorurteile rund um die Themen Integration und Zusammenleben abzubauen. Rund 300 ehrenamtliche Integrationsbotschafterinnen und Integrationsbotschafter sind Österreich unterwegs und haben mehr als 15.000 Kinder und Jugendliche erreicht. Mehr Informationen zu ZUSAMMEN:ÖSTERREICH finden Sie hier

ASPEKTE DER MIGRATION / INTEGRATION IN ÖSTERREICH & DEUTSCHLAND Migration, Integration und Staatsbürgerschaft in Österreich Bernhard PERCHINIG, Universität Wien, Institut für Politikwissenschaft ZUSAMMENFASSUNG: Der Soziologie und Politikwissenschaftler Bernhard Perchinig, der zahlreiche (inter)nationale Forschungstätigkeiten und Publikationen im Bereich Migrations-, Staatsbürgerschafts- und Diversitätspolitik vorweisen kann, und derzeit als Senior Research Officer bei ICMPD tätig ist, liefert einen Überblick über die historischen Entwicklungen seit der Nachkriegszeit in den österreichischen Migrationspolitiken. Dabei analysiert er den politisch-historischen Kontext und die Auswirkungen auf Arbeitsmarkt, Politik und Gesellschaft. Desweiteren setzt er sich mit Migrationsstatistiken auseinander und erläutert die jüngsten Verschiebungen in der Zuwanderung. Letztlich kommt er auf die in Österreich vorherrschende Einbürgerungspraxis zu sprechen. HINWEIS: Die Powerpointpräsentation des Vortrages kann hier abgerufen werden HINWEIS: Dies ist nur eine kursorische Zusammenfassung des Beitrages – hören Sie den gesamten Vortrag auf dem IUFE-Podcast-Portal: Jederzeit – Spannend – Kostenlos! Ausgangslage Üblicherweise verbinde man in der zweiten Republik, so Perchinig, den Beginn von Migrationssteuerung und Integrationsmaßnahmen mit Rekrutierung von Gastarbeiter/innen. Laut Perchinig werde dabei aber oft übersehen, dass es schon früher Integrationsmaßnahmen gegeben habe. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges waren auf dem österreichischen Gebiet zwischen 1,4–1,6 Millionen Flüchtlinge (ca. 20% der damaligen Bevölkerung). Hierbei betrieb man eine relativ klare Teilung der Politiken. Einerseits versuchte man – in Übereinstimmung mit den Vereinten Nationen Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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– die möglichst schnelle Repatriierung von „displaced persons“ (400.000 Personen), und andererseits trieb man die Einbürgerung von „ethnisch-deutschen Volksdeutschen“ aus der damaligen Tschechoslowakei voran, die zwar nicht als Österreicher/innen angesehen wurden, aber denen man mittels eines ersten österreichischen Integrationsmodelles, welches erleichterten Zugang zum Arbeitsmarkt und einer erleichterten Einbürgerung gewährte, entgegenkam, sodass es zwischen 1952 und 1960 daher ca. 300.000 Einbürgerungen gab (davon ca. 250.000 sogenannte Volksdeutsche). Die Einbürgerung konnte man per Deklaration am Gemeindeamt machen. Das Modell des erleichterten Arbeitsmarktzuganges und der erleichterten Einbürgerung wurde auch in anderen Einwanderungsländern angewandt, geriet aber in Vergessenheit. Durch den Arbeitskräftezuwachs in den 50er Jahren wurden erst später als in anderen Ländern Migrant/innen, die sogenannten „Gastarbeiter/innen“, in Österreich benötigt. Zudem wies Perchinig darauf hin, dass Österreich selbst eine Tradition als Auswanderungsland hatte, die man oft übersehe. Es gäbe dazu nur sehr wenige Studien, wobei die letzte 1995 schätzte, dass etwa zwischen 1945–1995 eine Nettoauswanderung von 300.000–350.000 Personen aus Österreich anfiel. Man rekrutierte also später als andere Länder Arbeitskräfte aus den angrenzenden Ländern im Süden Europas, mit dem Ziel kurzfristig die dann im „Rotationsprinzip“ zurückkehren und neuen Arbeitskräften Platz machen sollten. Sozialpartnerschaft und Migrationssteuerung Österreich habe hier ein Spezifikum entwickelt, da die Errichtung des Gastarbeiter/innentums mit der Entwicklung der Sozialpartnerschaft parallel einherging. Die Bundeswirtschaftskammer wollte aufgrund von Arbeitskräftemangel Ausländer/innen anwerben, seitens der Gewerkschaft und der AK hätte es ein klares „Nein“ gegeben. Nun trat man in Verhandlungen. Hier trafen auch zwei politische Ideen um die Gestaltung des Arbeitsmarktes aufeinander. Einerseits sah man diesen als Markt in dem Angebot und Nachfrage aufeinandertreffen und den man auf Betriebsebene regeln könne. Andererseits sah man den Arbeitsmarkt als politisch gestaltbaren Raum, der dementsprechend zu organisieren und zu verwalten wäre. Im Raab-Olah-Abkommen (1961) ging es neben der Zahl der Anzuwerbenden auch darum, welche Rolle die Gewerkschaften und die Arbeiterkammer bei der Organisation und Verwaltung des Arbeitsmarktes spielen. Somit wurde in Österreich im Gegensatz zu anderen Ländern (z.B. Deutschland, Schweiz) die gesamte Migrationspolitik im sozialpartnerschaftlichen Bereich gestaltet und nicht im parlamentarischen Bereich. Inhaltlich würde sich aber die Einrichtung des Gastarbeiter/innentums wenig von anderen Ländern unterscheiden, mit der Idee des „Rotationsprinzips“. In Österreich wäre der Arbeitsmarkt in dieser Zeit vor allem von der verstaatlichten Industrie geprägt, die politisch gesteuert worden war. Die Nachfrage von Arbeitskräften in Österreich sei vor allem auf Tourismus, Reinigung und Bauwirtschaft konzentriert, nicht so sehr auf die Großindustrie. Gleichzeitig gab es eine Abwanderung von vielen Österreichern nach Deutschland oder der Schweiz, wo man mehr verdienen konnte, d.h. Österreich war nicht so sehr das attraktive Einwanderungsland. Daher musste Österreich aktiv rekrutieren und beschloss Abwerbungsabkommen mit Spanien, was aber nicht funktionierte. Gastarbeiter/innenanwerbung 1964 beschloss man ein Abwerbungsabkommen mit der Türkei und 1966 mit Jugoslawien und trifft in diesen Anwerbeländern auf Konkurrenz durch Deutschland. Beide haben dort Anwerbestellen Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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und daher bestand eine Kooperation mit Deutschland, die auf qualifizierte Arbeitnehmer/innen aus waren. Österreich rekrutierte deutlich schlechter ausgebildete Menschen, tendenziell aus dem ländlichen Bereich, eher mit weniger industrieller Erfahrung, daher bekamen sie auch Jobs, die deutlich schlechter bezahlt werden, als in Deutschland, wo man besser qualifizierte Arbeitskräfte etwa für die Automobilbranche brauchte. Die Idee des Gastarbeiter/innentums sah einen kurzfristigen Aufenthalt, bei der Besetzung von Arbeitsplätzen die Bevorzugung von Österreichern (Inländerprimat), keinen Familiennachzug, gleiche Arbeitsbedingungen und Bezahlung und kein oder nur einen eingeschränkten Zugang zum Wohlfahrtsstaat sowie bei Arbeitsplatzverlust auch Aufenthaltsverlust vor. In der Praxis aber hatten die Unternehmer/innen aber kein Interesse an „Rotation“, da sie bereits eingeschulte Personen hatten. Zudem blieben die Arbeitnehmer/innen auch länger, als ursprünglich gedacht. Daher kam es zu einer Zunahme des Familiennachzuges, die vor allem 1974, durch die Sperre der Anwerbung, gefördert wurde. Gesetzgebung, Menschenrechte, historische Umbrüche Ende der 70er/80er entwickelte sich in den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes bzgl. Menschenrechte eine Neuinterpretation des Rechts auf Familie. Die ersten Urteile besagten, dass das Recht auf Familienleben stärker sei, als das Recht des Staates darüber zu entscheiden, wer Aufenthaltsrecht habe oder nicht. Das wirkte sich auch auf die innerstaatliche Gesetzgebung aus, sodass 1985 der Verfassungsgerichtshof das bestehende Fremdenpolizeigesetz aufhob. Gleichzeitig kam es auch zur Aufhebung von Teilen des Ausländerbeschäftigungsgesetzes. Ende der 80er Jahre ergaben sich auch geopolitische Veränderungen in Europa: Fall des „Eisernen Vorhangs“, Ende des Ostblocks, Zerfall Jugoslawiens und damit einhergehende Zunahme von Flüchtlingen. Daher ging man zu einer Umgestaltung der Handlungsagenda und das Innenministerium übernahm die Gestaltung von Einwanderung und Migrationsprozessen, was zuvor im Bereich des Arbeits- und Sozialministeriums gelegen war. 1991 gab eine Fremdenrechtsreform (Fremdenrechtspaket – Asylrecht, Aufenthaltsrecht), mit der Idee festgeschrieben wurde, die Migration über eine Gesamtzahl zu lenken, aber gleichzeitig verknüpfte man diese migrationspolitische Steuerung nicht mit einer Aufhebung des Gastarbeiter/innensystems. Innenpolitische Umbrüche Dazu kamen andere Änderungen: Österreich hatte bis in die 90er Jahre als Beispiel für ein extrem starres Zweiparteiensystem gegolten (ÖVP/SPÖ dominieren mit Mehrheit von 90+%), die FPÖ war irrelevant (7–9%). Diese Stabilität änderte sich mit dem Auftreten Jörg Haiders, der die FPÖ als Massenpartei aufstellte und für sich das Thema der Migration als neues politisches Betätigungsfeld entdeckte. Die FPÖ knüpfte an eine deutschnationale Orientierung an und stilisiert sich zu einer österreichisch-nationalen Bewegung, die ganz massiv das Thema Migration politisierte. Demgegenüber stand in den 90er Jahren eine starke zivilgesellschaftliche Bewegung, die z.B. im „Lichtermeer“, welches die bisher größte Demonstration der Zweiten Republik gegen das FPÖVolksbegehren „Österreich zuerst“ war, ihren Ausdruck fand. Gleichzeitig entstand auch die neue Bewegung der Grünen, welche ins Parlament einzog. Sowohl FPÖ als auch Grüne waren aber nicht im Sozialpartnerkartell eingebunden. Beide Parteien politisieren das Thema Migration aus verschiedenen Blickwinkeln und holten es damit in die innenpolitische Diskussion ins Parlament, Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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was vorher im sozialpartnerschaftlichen Kontext abgehandelt wurde. Fremdenrechtsnovelle, EU-Gesetzgebung Auch das neue Fremdenrecht wurde unter einem stärkeren menschenrechtlichen Ansatz thematisiert. Der Verfassungsgerichtshof hob Teile des Fremdenrechts zwischen 1992 und 1996 als verfassungswidrig auf. Dies führte zu einer Fremdenrechtsnovelle 1997, wo Verbesserungen eingeführt wurden, wie eine Aufenthaltsverfestigung zum Schutz der zweiten Generation etc. Damit beeinflusste die Verfassungsjudikatur und nicht nur die Politik sehr stark die Entwicklungen. 1999 führte ein Entscheid des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Fall: „Gaygusuz gegen Österreich“ zu einer Gleichstellung im Arbeitslosenversicherungsrecht. Damit brach eine weitere Grenze des Gastarbeiter/innensystems weg, nämlich die Trennung zwischen Gastarbeiter/innen und Österreicher/innen beim Zugang zum Wohlfahrtssystem. Eine weitere entscheidende Rolle spielten der EU-Beitritt Österreichs und die EU-Erweiterungen 2004, 2007 – aus den ehemaligen Ausländer/innen wurden europäische Mitbürger/innen. Auch der Status von Drittstaatangehörigen wurde gebessert. Es kam zu einem Konflikt zwischen den Ansätzen der EU bzgl. offener Marktwirtschaft und der österreichischen Gastarbeiter/innen-Politik mit unterschiedlichen Rechten. Länder und Bund als Akteur/innen der Integration In Österreich wird vor allem die Diskussion auf kommunalpolitischer Ebene vorangetrieben. Der Wiener Integrationsfonds wurde bspw. 1992 gegründet, ab 1998 gab es die ersten Ausländer/innenbeiräte in Graz und Linz. Hierbei konzentrierte man sich aber vor allem auf rechtliche Gleichstellung, vernachlässigte aber den Bereich Kompetenzen. Der Wiener Integrationsfonds hatte erst 1998 Sprachkurse eingeführt. Auf der Bundesebene wurde der erste Vorschlag einer Integrationsvereinbarung im Regierungsprogramm 2003 festgelegt und zwar mit einem 100 Stunden Deutschkurs. Obwohl dieser sehr kurz gewesen sei, mussten ca. 90% diesen nicht besuchten, weil aufgrund von langwierigen politischen Debatten viele Ausnahmeregelungen geschaffen worden waren. Die Initiative dafür ging ursprünglich v.a. von FPÖ/BZÖ aus, um „Integrationsunwillige“ auszusortieren. Dies habe aber nicht so gut funktioniert. 2005 richtete sich Österreich nach den Entwicklungen in Deutschland und den Niederlanden und führte ein verpflichtendes Sprachkurssystem unter dem Motto „Fordern und Fördern“ ein: (A2 Niveau; 2012: B1 Niveau), damit Migrant/innen ein längerfristiges Aufenthaltsrecht bekommen. Gleichzeitig passierte auf Landesebene einiges, so entstanden erste Integrationsleitbilder 2003/04 und 2012 hatten bereits 19 Städte Integrationsbilder. Zwischen 2005 und 2012 entstanden erste Integrationsleitbilder auf Landesebene in den meisten Bundesländern. Auf Bundesebene wurde 2007 die Integrationsplattform eingerichtet, 2009 folgte der „Nationale Aktionsplan“ und 2011 wurde schließlich das „Staatssekretariat für Integration“ gegründet. Somit sei in diesem Zeitrahmen erstmals auf Landes- als auch auf Bundesebene eine Beschäftigung mit dem Thema zu sehen, wobei der Bund den Ländern nachgezogen sei. Länder und Bund hätten aber nicht immer die gleiche Ausrichtung gehabt. Während beim Bund Integration als Verpflichtung zum Spracherwerb gesehen wurde, zielten Länder eher auf Partizipation und Gleichstellung aus. Ende der Gastarbeiter/innenpolitik Ein weiterer Systemwechsel, der das Ende der Gastarbeiter/innenpolitik darstelle, war mit der Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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Abkehr von einer Quotensteuerung, hin zu einem Punktesystem nach kanadischem Vorbild verbunden. Diese schlug eine kriteriengesteuerte Einwanderung vor, welches ursprünglich 2005 von den Grünen im Wahlkampf vorgestellt wurde. Die Industriellenvereinigung legte 2008 einen ähnlichen Vorschlag vor, der aber marktgeleitet war und 2011 wurde dann als Kompromiss mit der Sozialpartnerschaft, welche hier wieder aktiv wurde, die „Rot-Weiß-Rot-Karte“ vorgestellt. Damit habe Österreich nun „die Türe zum Gastarbeitertum zugemacht“, so Perchinig. Aber nicht nur bei gut qualifizierten Kräften, sondern auch bei der Familiennachzugsmigration wollte hier der Staat Kriterien setzen im Bereich von Bildung und Sprache. Wandel bei Migrant/innengruppen In der Migrationsentwicklung gab es in den letzten Jahren große Veränderungen gegenüber den 80ern und 90ern. Einerseits habe man mit den Deutschen nun die stärkste Zuwanderungsgruppe und andererseits gäbe es eine Wiederbelebung der Zuwanderung aus den Ländern des ehemaligen Habsburgerreiches aus Osteuropa. Ein weiteres Phänomen wäre, dass die Aufenthalte von Migrant/innen in Österreich immer kurzfristiger würden. Seit 2003/04 habe Österreich eine relativ stabile und kontinuierlich relativ hohe Neuzuwanderung. Wenn man sich die Statistik ansehe, so würden mittlerweile die Zuwanderer aus der ehemaligen Gastarbeiterphase mengenmäßig an Bedeutung verlieren. Die insgesamt größte zugewanderte Gruppe stamme noch aus den 90er Jahren wobei es sich um Kriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien handle. Eine Veränderung der zuwandernden Ländergruppen wäre in den letzten Jahren signifikant. So würden mittlerweile deutsche Staatsbürger die größte Zuwanderungsgruppe stellen. 2002 kamen zwei Drittel aller Zuwanderer aus Drittstaaten (also Ländern außerhalb der EU) und 18% aus der alten EU bzw. ca. 10% aus den neuen EU-Ländern. Bis 2011 hätte sich das verschoben: nur mehr knapp ein Drittel kam aus Drittländern, etwa 20% aus der alten EU und ca. 25% aus der neuen EU. Aus Rumänien und Bulgarien die noch nicht in der EU vollberechtigt seien kamen ca. weitere 20%. Aufgrund der Personenfreizügigkeit innerhalb der EU habe nun eine innereuropäische Dynamik, wo der der Staat nicht mehr die Migrationskontingente umfassend kontrollieren könne. Nur ein Drittel unterliege tatsächlich einer Zuwanderungskontrolle und davon wären noch ca. 20-25% wegen Rechtsansprüche nach Familiennachzug abzuziehen. Somit sei die Zeit der klassischen staatlichen Zuwanderungssteuerung und Quoten vorbei, so Perchinig. Staatsbügerschaft – ius sanguinis In Österreich wären heute ca. 40% der Zuwanderer/innen in anderen EU-Ländern geboren (davon ca. 30% im ehemaligen Jugoslawien), ca. 12% in der Türkei und der ca. 17% in anderen Ländern. In den 80er Jahren lag man bei insgesamt ca. 80% aus der Türkei und dem damaligen Jugoslawien. Etwa 1,75 Millionen Menschen haben in Österreich „Migrationshintergrund“. Wenn man in Wien die Bevölkerung nach Alter ansehe, dann hätte die Gruppe der unter 40-jährigen mehrheitlich Migrationshintergrund. Generell sei festzuhalten, so Perchinig, dass die Gruppe der Zugewanderten und die Gruppe der Ausländer/innen nicht mehr ident seien, daher könne man nicht mehr Ausländer/innen als Migrant/innen gleichsetzen und umgekehrt. Warum? Von den 1,4 Millionen im Ausland geborenen Menschen wurden mittlerweile ca. 500.000 in Österreich eingebürgert, was ca. 40% entspräche. Im Gegenzug dazu hätten aber auch um die 145.000 Menschen, die in Österreich geborenen wurden, keine österreichische Staatsangehörigkeit. Dies wäre ein Effekt des in Österreich vorherrschenden Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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„ius sanguinis“, wo nach Staatsangehörigkeit der Eltern entschieden wird. Damit sei eine Gruppe von in Österreich aufwachsenden Menschen von der politischen Mitbestimmung ausgeschlossen. Deutschland habe dieses Problem mit einer Reform im Jahr 2000 gelöst, indem es dem „ius soli“, also das Recht auf Verleihung der Staatsbürgerschaft bei Geburt im Land, folgte. Generell wäre in Österreich die Einbürgerungsrate sehr gering, daher müsse man sich fragen, warum dies so sei. In Österreich würde die Einbürgerung von Personen, die mehr als 10 Jahre im Land lebten und sich somit einbürgern lassen könnten, bei ca. 1,5%-1,8% liegen, während bei den übrigen europäischen Staaten die Quote im Schnitt bei ca. 16% liegen würde. Warum dies so sei, wisse man nicht genau, aber seit 2005/2006 gäbe es ein extremes Auseinanderklaffen zwischen Einbürgerung und Ausländer/innenanteil in der Bevölkerung. Einerseits könne dies damit zu tun haben, dass finanzielle Voraussetzungen zum Erhalt der Staatsbürgerschaft nicht erfüllt werden können (so könnten z.B. bis zu 70% der Arbeiter/innen diese nicht erfüllen), da man hier ein sehr restriktives Einkommenssystem geschaffen habe. Zudem gäbe es aber auch keine Studien über Integrationswilligkeit. Hier habe man auch ein Problem bezüglich der politischen Inklusion, da mittlerweile 11% der in Österreich lebenden Personen, welche im Wahlalter seien, keine Staatsbürgerschaft besitzen und somit nicht an den Wahlen teilnehmen und daher nicht mitentscheiden könnten. Dies wäre, so Perchinig, eine Herausforderung die über die Migrationssteuerung hinausgehe und in Richtung von Teilnahme und Demokratie weise. Link: Publikationsliste Bernhard Perchinig

Überlegungen zur „Armutszuwanderungsdebatte“ in deutschen Städten Stefan LUFT, Universität Bremen ZUSAMMENFASSUNG: Stefan Luft, Privatdozent am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Bremen und u.a. seit 2010 ständiger Sachverständiger der Enquete-Kommission „Migration und Integration“ des Hessischen Landtags, gibt zunächst einen Überblick zu Migrations- und Integrationsdebatten in Deutschland. Danach setzt er sich mit der Armutssegregation und damit verbundenen Auswirkungen in (deutschen) Städten, sowie der Thematik von sogenannter „Armutszuwanderung“ von Personen wie aus den EU-Staaten Bulgarien und Rumänien, auseinander. Basierend auf einem Positionspapier des Deutschen Städtetages (2013) erläutert er die Sichtweise von Kommunen auf dieses Phänomen und zeigt Problemfelder auf, die es zu lösen gelte.

Migrations- und Integrationspolitik in Deutschland Bei der Debatte um „Armutszuwanderung in deutschen Städten“ würde man sich vor allem auf rumänische und bulgarische Staatsangehörige konzentrieren, also auf Gruppen jener Staatsbürger, die 2007 im Rahmen der fünften Erweiterungsrunde in die EU aufgenommen wurden und daher innerhalb der EU freies Niederlassungsrecht genießen. Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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In der Bundesrepublik Deutschland hatte es im Zuge der „Wiedervereinigung“ einen Schub im Integrationsbereich gegeben. Anfang der 1990er Jahre wurden erhebliche Änderungen im Ausländer/innen- und Einbürgerungsrecht durchgeführt, u.a. wurde ein Rechtsanspruch auf Einbürgerung für große Gruppen von ausländischen Staatsangehörigen eingeführt. Ein weiterer Meilenstein war die Debatte um das Staatsangehörigkeitsrecht mit Amtsantritt der Rot-Grünen Koalition (1999), da das ius soli eingeführt wurde, was bedeutet, dass Kraft der Geburt in Deutschland die deutsche Staatsangehörigkeit für Kinder ausländischer Staatsangehöriger vergeben werden kann. Zwischen dem 18. und 23. Lebensjahr müssten sie sich dann entscheiden, ob sie die deutsche oder die Staatszugehörigkeit ihrer Eltern annehmen wollen („Optionspflicht“). Wenn sie die andere Staatsangehörigkeit nicht abgeben wollen, dann wird automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt, wobei diese Vorgehensweise aber umstritten ist. Laut Studien optieren zurzeit ca. 90% derjenigen, die in das Alter der „Optionspflicht“ kommen, für die deutsche Staatsbürgerschaft. Trotzdem wird seit 2000 aber in mehr als 50% der Fälle die deutsche Staatsbürgerschaft unter Hinnahme der Mehrstaatlichkeit verliehen. Der eigentliche Anspruch, durch die „Optionspflicht“ Mehrstaatlichkeit zu vermeiden, muss, so Luft, deswegen relativiert werden. 2005 gab es das umstrittene Aufenthaltsgesetz, sowie Integrationspläne und -gipfel. Die Thematik rückte dadurch in das Zentrum von Regierungshandlungen. Auch die deutsche Islamkonferenz welche vom Bundesinnenminister geleitet wird und vom jetzigen Finanzminister Schäuble initiiert wurde, versucht diese Thematik unter Einbeziehung von Vertreter/innen aus Religionsgemeinschaften zu besprechen. Mediale Anlassberichterstattung Vor allem aus dem Grund, dass seit den Attentaten 2001 in den USA die öffentliche Diskussion sehr stark „Islam-zentriert“ geführt wird. So gab es Debatten anlässlich der Ermordung von Theo van Gogh (2004) in den Niederlanden oder der Unruhen in den Pariser Banlieues (2005) und der sogenannten Ehrenmorde in Berlin und anderen Städten. Auch die sogenannte „Sarrazin-Debatte“, welche durch Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ entstand, hatte die Diskussion in Deutschland sehr stark und über lange Zeit geprägt, wobei laut Luft hier nicht der Inhalt des Buches entscheidend war, sondern die von den Medien getragene Kampagne (v.a. Bild-Zeitung, Spiegel). Die Bild-Zeitung förderte das Buch sogar in einem Rahmen, der einem Inseratenwert im zweistelligen Millionenbetrag entspräche. Markterfordernisse und „Willkommenskultur“ Durch die demographische Entwicklung hat sich zudem die Debatte um Zuwanderung gewandelt. In der Wirtschaft, wurden zwar mittlerweile „Greencards“ für IT-Spezialist/innen eingeführt, jedoch gehen die Meinungen auseinander. Einerseits wird die Diskussion geprägt von diejenigen, die Fachkräftemangel diagnostizieren, und andererseits, von jenen, die sagen, dass es zwar einen branchenspezifischen Mangel gäbe, aber man besser das brachliegende einheimische Potential aktivieren müsse. Oder anders formuliert: „Protektionisten“, die sich auf das einheimische Arbeitskräftepotential konzentrieren, und „Globalisierer“, die die Idee eines internationalen Arbeitsmarktes unter dem Aspekt des demographischen Wandels vertreten. Im Zuge der Wahrnehmung des Bevölkerungswandels würde vor allem seitens staatlicher Stellen vermehrt eine „Willkommenskultur“ gefordert. Genau genommen sei dies aber nur ein „Topos“, da sich die „Willkommenskultur“ letztlich nicht auf alle Zuwanderer/innen beziehe, sondern auf die Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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„Qualifizierten“ („…weniger, die uns ausnützen, und mehr, die uns nützen“, Günther Beckstein). Daher gelte die „Willkommenskultur“ nicht für jene Migrant/innen, die aufgrund von Perspektivenlosigkeit in ihren Herkunftsländern nach Deutschland zuwandern und nun hoffen, perspektivenschaffende Lebensverhältnisse, vorfinden zu können. „Migrationshintergrund“ Definiere man „Migrationshintergrund“ so, dass sowohl Zugewanderte, als auch Nachkommen von Zuwanderern und diejenigen, deren Eltern eine andere Staatsangehörigkeit haben, dann sei der Begriff sehr weit gefasst und daher eigentlich nicht aussagekräftig. Diese Gruppe wäre nämlich extrem heterogen und weise zum Teil sogar bessere Integrationsindikatoren auf, als die einheimische Bevölkerung. Bei Personen mit Migrationshintergrund läge der Anteil in Städten wie Stuttgart und Frankfurt am Main bei je 42%, in 5 Städten läge der Anteil von den unter 5 jährigen mit Migrationshintergrund bei ca. 60% (Nürnberg: 67%, Frankfurt am Main: 65%). Ethische und soziale Segregation in Städten Wenn man die soziale und sozialräumliche Situation in urbanen Gebieten betrachte, so müsse man feststellen, dass die sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten in den Städten sowohl zwischen als auch innerhalb der Städte sehr stark zunehmen. Auf der einen Seite hätte man wirtschaftlich stark prosperierende Städte wie Stuttgart, und auf der anderen Seite Städte, die sich in einer Abwärts-Entwicklung befinden. Letztere sind gekennzeichnet durch wachsende Ausgaben (v.a. Sozialausgaben) bei gleichzeitig dauerhaft erodierenden Einnahmen. Dazu komme auch eine starke innerstädtische sozialräumliche Polarisierung. Mehr als 50% aller ausländischen Staatsangehörigen wohnen in Städten mit mehr als 500.000 Einwohnern. Historisch gesehen waren soziale und ethnische Gruppen nicht gleichmäßig über die Städte verteilt. Bis Ende der 70er Jahre konzentrierte sich die Segregation auf soziale und demographische Aspekte (arm – reich / alt – jung). In den 1980er Jahren kam eine ethnische Komponente hinzu, sodass man heute sagen könne, dass eine ethnische Konzentration in Stadtvierteln meist gleichbedeutend mit Armut und Kinderreichtum wäre. Man könne daher beobachten, dass in Stadtvierteln, wo die meisten ausländischen Staatsangehörigen leben, auch die meisten armen Inländer und die meisten Kinder leben. Auch das Bildungsniveau und das Einkommen spielen hier eine Rolle. Dieser Befund habe sich auch in den letzten Jahrzehnten verfestigt und zu sogenannter „Armutssegregation“ in Stadtteilen geführt. Man spräche mittlerweile schon von einer „gespaltenen Kindheit“, da immer mehr Kinder in einer Umgebung mit immer größeren Problemen leben, während immer weniger Kinder dies in einer Umgebung mit immer weniger Problemen tun. Das zentrale Problem sei die Überlappung von ethischer und sozialer Segregation, die zu Armutsvierteln mit starken ethnischen Komponenten geführt habe. Dies wäre in erster Linie auf sozialselektive Ab- und Zuwanderung zurückzuführen, da sozial Starke oder Aufsteiger/innen die finanziellen Mittel für „Exit-Optionen“ besäßen, das heißt, für einen Wechsel der Wohnsituation hätten. Ähnlich wäre es auch bei Schulen, wobei hier die schulische Segregation stärker ausgeprägt sei als die sozialräumliche. Armutssegregation – Auswirkungen Luft zitierte die Sozialwissenschaftler Heinrich Strohmeyer und Joachim Kersten, welche das daraus entstehende Problem derart beschrieben: „Der größere Teil der nachwachsenden Generation wächst in den großen Städten unter Lebensbedingungen auf, die die alltägliche Erfahrung der Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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Normalität von Armut, Arbeitslosigkeit, sozialer Ausgrenzung und Apathie, gesundheitliche Beeinträchtigung, gescheiterten Familien, möglicherweise auch Gewalt und Vernachlässigung beinhalten. Kinder in den Armutsstadteilen erfahren eine abweichende gesellschaftliche Normalität, die Mehrheit der Kinder in den großen Städten wird künftig unter solchen Voraussetzungen aufwachsen, sie werden, wenn es gut geht, vielleicht Fähigkeiten erwerben, die ihnen das Überleben in dieser abweichenden Normalität ermöglichen, sie haben jedoch kaum eine Chance die Nützlichkeit jener Kompetenzen, die das sogenannte Humanvermögen ausmachen – Solidarität, Empathie, Vertrauensfähigkeit und Vertrauenswürdigkeit – zu erfahren. In der Verfügung über dieses kulturelle Kapital und in der Verfügung über das soziale Kapital und bei Bedarf hilfreicher sozialer Beziehungen und weniger im Mehrbesitz ökonomischen Kapitals liegt der entscheidende Startvorteil von Kindern aus bürgerlichen Mittelschichten.“ Diese Überlegungen zeigen, so Luft, die eigentlichen Herausforderungen für die Kommunen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten. Migration aus Bulgarien und Rumänien nach Deutschland Anfang 2013 stellte der Deutsche Städtetag zu der Frage der Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien ein Positionspapier vor, welches für erhebliche Aufmerksamkeit sorgte. Mehrere Städte (u.a. Dortmund, Berlin und Offenburg am Main) haben darin Erfahrungsberichte veröffentlicht. Insgesamt gibt es aber keine bundesweiten Erhebungen die sich mit einem Migrationsmonitoring dieser Gruppen beschäftigen. 2007 bis 2012 stiegen die Zuwanderungszahlen bei Menschen aus Bulgarien von 21.000 im Jahr 2007 auf 59.000 Personen im Jahre 2012. Abzüglich der Abwanderungszahlen reduziert sich der Wanderungssaldo auf 12.000 (2007) bzw. 25.000 (2012). Bei Personen aus Rumänien belief sich die Zuwanderung 2007 auf 44.000 Personen und 2012 auf 117.000 Personen; bei einem Wanderungssaldo von 19.000 (2007) bzw. 43.000 Personen (2012). Bei der Gruppe der Staatsangehörigen aus diesen EU-Herkunftsländern gibt es einen relativ hohen Anteil an Personen mit niederer und mittlerer Qualifikation. Es wäre aber zu berücksichtigen, dass die Mehrheit über mittlere Qualifikation und/oder hohes Qualifikationsniveau verfüge. Daher könne man nicht sagen, dass die Mehrheit unqualifiziert sei. Es müsse auch davon ausgegangen werden, dass ein erheblicher Teil der Zuwanderer/innen bei den Behörden nicht gemeldet sei. In BerlinNeuköln gehe man aufgrund verschiedener Indikatoren (etwa Gewerbeanmeldungen, Anmeldungen von Schüler/innen) z.B. davon aus, dass anstelle der 5.000 registrierten Personen aus Rumänien und Bulgarien, doppelt so viele aufhältig sind. Die Arbeitslosenquote von Rumän/innen und Bulgar/innen lag im Dezember 2012 in Deutschland bei insgesamt 9,6%, was deutlich niedriger sei, als bei ausländischen Staatsangehörigen insgesamt, wo die Arbeitslosenquote bei 16,4% lag. Dieser Befund sei also primär nicht von negativen oder Defizitindikatoren gekennzeichnet. Hauptzielländer in der EU von Auswanderer/innen aus Bulgarien und Rumänien wären Spanien und Italien. „Armutsmigration“ in deutschen Städten „Nicht die Zuwanderung aus den beiden Beitrittsländern der 5. EU-Erweiterungsrunde als solche wirft dringende Probleme auf, sondern jener Teil der Migrant/innen aus Bulgaren und Rumänen, die als Armutsmigranten bezeichnet werden müssen“, so Luft. Darunter fielen viele, die sich in den Herkunftsländern zu der Gruppe der Roma zählen, die in den Herkunftsländern unter Slum ähnlichen Verhältnissen, diskriminiert und perspektivlos leben. Bezogen auf die gesamte Bundesrepublik Deutschland, sei aber die Zuwanderungsrate nicht außergewöhnlich hoch, wiewohl Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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sich der Personenkreis nicht gleichmäßig auf die Städte verteile. Durch Geschäfte von Schleusern oder Kettenmigration konzentrieren sich diese Gruppen in Schwerpunktstädten (Berlin, Offenbach am Main, Mannheim, Dortmund, Duisburg). In Dortmund hätte sich die Zahl der gemeldeten rumänischen und bulgarischen Staatsangehörigen seit 2006 verfünffacht (nun 3.000 Personen), wobei sich diese Personengruppe in einzelnen Stadtteilen konzentrieren. In Offenbach am Main hat sich die Zahl der gemeldeten Bulgar/innen von 2007 von 350 Personen auf 1.900 Personen 2011 erhöht und der Rumän/innen von 750 auf 2.100. Dies sei zwar keine große Zahl, so Luft, stelle jedoch die Städte aufgrund der zahlreichen komplexen Problemstrukturen vor Herausforderungen. In Nordrhein-Westfahlen hat sich insgesamt die Zahl der bulgarisch-rumänischen Zuwanderer/innen von 18.000 (2006) auf 59.000 (2012) Personen gesteigert. Problemfelder aus der Sicht von Kommunen Lebensunterhalt und Arbeit: Bis Ende 2013 gelten in Deutschland noch Einschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Deshalb wird eine Regelungslücke genützt, indem man ein Gewerbe anmeldet, das nur anzeigepflichtig ist, um einen legalen Status zu sichern – diese Personen sind dann entweder als Scheinselbstständige oder als Subunternehmer/innen einzustufen und geraten in Verhältnisse in denen sie häufig ausgebeutet werden. (Scheinselbstständigkeit liegt dann vor, wenn eine erwerbstätige Person als selbständiger Unternehmer auftritt, obwohl sie von der Art der Tätigkeit Arbeitnehmer/in ist; es wird also ein Arbeitsverhältnis verschleiert und als Tätigkeit selbstständige/r Auftragnehmer/in deklariert, um Abgabenrestriktionen und Formalien zu vermeiden, die das Arbeitsrecht, Sozialversicherungsrecht und Steuerrecht vorschreiben würde.) Das Einkommen setzt sich dann im Regelfall nur aus dem Einkommen als Selbstständige/r und dem Kindergeld zusammen – sofern gemeldet, ansonsten besteht auch keine Möglichkeit zur Krankenversicherung. Wohnungsmarkt: „Armutszuwanderer“, insbesondere der Gruppe der Roma zugehörige haben nur einen eingeschränkten Zugang auf den Wohnungsmarkt, was am fehlenden Einkommen, dem Mangel an bezahlbaren Wohnraum und der mangelnden Bereitschaft an diese Personen zu vermieten (Diskriminierung), liege. Diese Lage wird gezielt ausgenützt, sodass beispielsweise überteuert Schlafplätze untervermietet werden oder sogenannte „Shortimmobilien“ vermietet werden. Die mangelnde Vermietungsbereitschaft wäre aber auch darauf zurückzuführen, dass, wie es in einem Bericht der Stadt Offenbach heiße, diesen Personen die „Mietfähigkeit“, also ein verantwortungsvoller Umgang mit dem Mietgegenstand nicht zugetraut würde und seitens der Vermieter die Angst bestünde, dass Immobilien verwahrlosen würden. Wenn dies einträfe, so Luft, dann wäre es aber häufig von Seiten der Besitzer/innen und Verwalter/innen, als auch von Seiten der Bewohner/innen zu verantworten. Zudem gäbe es Fälle von Wohnungslosigkeit, wo im Freien campiert würde (bspw. Görlitzer Park, Berlin), was zu Vermüllung etc. führe und wiederum Konflikte mit der Nachbarschaft herbeiführe. Schule: Kinder unterliegen der Schulpflicht, auch dann wenn die Eltern diese nicht angemeldet haben. Nun wurden Schulen von der Verpflichtung, illegal aufhältige Kinder an die Behörden zu melden, entbunden. Wenn die Kinder gemeldet sind, haben sie Anspruch auf das sogenannte „Bildungs- und Teilhabepaket“ der Bundesregierung. Schulen haben aber häufig keine Kapazitäten um Kinder ohne ausreichende Deutschkenntnisse bzw. Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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Analphabet/innen zu betreuen, es müssen daher zusätzliche Klassen eingerichtet werden und auch zusätzliches Lehrpersonal zur Verfügung gestellt werden, daher komme es zu längeren Wartezeiten. Aufgrund dieser Ausgangslage bedürfe es vermehrter Anstrengungen aller Beteiligten um den Kindern einen Schulabschluss ermöglichen zu können. Die Motivation die entsprechenden Leistungen in der Schule zu erbringen, sei aber bei weiten Teilen vorhanden. Kriminalität: Sowohl in der Gruppe der Täter als auch in der Gruppe der Opfer wären diese Migrant/innen überrepräsentiert (Wucher; Ausbeutung durch Scheinselbstständigkeit). Gesundheit: Wenn kein deutscher Krankenversicherungsschutz vorhanden ist bzw. über eine EU-Arbeitsgenehmigung oder als „Aufstocker“ über das Jobcenter, dann müssen die Herkunftsstaaten für die Gesundheitskosten seiner Staatsangehörigen aufkommen. Dazu wären die rumänischen und bulgarischen Krankenkassen aber nicht in der Lage, da das heimische System die Mehrkosten nicht tragen könne. Der Sachverständigenrat Deutscher Stiftungen hat Anfang 2013 zur Armutsmigration Stellung bezogen und festgehalten, dass das System der sozialen Wohlfahrt zwar nationalstaatlich geregelt und daher nationalstaatlich finanziert, aber europäisch beansprucht werde. Das Auseinanderfallen von Finanzierung und Inanspruchnahme wäre daher nicht unproblematisch, da es zu asymmetrischen Belastungen in einem symmetrischen Migrationsraum führen würde. Es müsse daher viel stärker darauf geachtet werden, dass Gesetze und Regelungen auch im Bereich von Wanderungen europatauglich seien (Bsp. Krankenversicherungsschutz grundlegend unterschiedlich). Situation der Kommunen Laut Luft sei „Armutszuwanderung“ ein Phänomen, das zwar nicht überraschend kam, dennoch habe man offensichtlich im EU-Aufnahmeverfahren diese Frage nicht adäquat eingeschätzt. Auch viele deutsche Städte weisen systemische Finanzierungsschwächen vor, zudem habe man bei vielen kommunalen Einrichtungen einen erheblichen Sanierungsstau. Daher träfe es Städte die mit der Arbeitsmigration zu tun haben, besonders, da man durch die beschränkten finanziellen Mitteln nur sehr schwer auf Problemstellungen reagieren könne. Man dürfe die Probleme zwar nicht hochspielen, aber man müsse die Herausforderungen mit denen Kommunen vor Ort konfrontiert seien, wahrnehmen. Weiters hätten die Kommunen kein institutionalisiertes Mitwirkungsrecht auf Bundesebene, damit ist ihr Gewicht schwach und sie sind von den Entscheidungen anderer Akteur/innen abhängig. So waren Kommunen nicht im Bereich der „Migration“ eingebunden und unterliegen als Ergebnis der Föderalismuskommission II massiven Ausgabenrestriktionen (Schuldenbremse). Dies setzt die Gebietskörperschaften unter erheblichen finanziellen Druck, da sie zu weiteren Sparmaßnahmen angewiesen sind. Um die Vorgaben einhalten zu können, kämen aber nur „Zukunftsausgaben“ in Betracht, also Kindergärten Schulen, Hochschulen und Kultur. Dadurch öffne sich die Schere zwischen Handlungsmöglichkeiten und -erfordernissen noch weiter, was einer der Gründe wäre, warum die Kommunen und ihre Vertretung wie der Deutsche Städtetag im Bereich der „Armutszuwanderung“ Alarm geschlagen hätten. Wenn man Desintegration und Verteilungskonflikten entgegenwirken wolle, so stelle das Auseinanderklaffen zwischen Handlungsnotwendigkeiten und den vorhandenen Möglichkeiten keine gute Ausgangssituation dar. Link: Positionspapier des Deutschen Städtetages zu den Fragen der Zuwanderung aus Rumänien Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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und Bulgarien (22.1.2013) Link: Mira Gajevic, Mythos Armutseinwanderung (Frankfurter Rundschau, 28.10.2013) Link: N.n., Armutseinwanderung: Empörung in Deutschland über EU Studie (FAZ, 7.10.2013) Link: bbp, "Grenzenloses Europa. Europas Grenzen. Migration, Flucht, Asyl" (= Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 63. Jahrgang, H. 47/2013) --> u.a. mit einem Beitrag von Stefan Luft.

BILDER VON MIGRATION UND INTEGRATION Migration im öffentlichen Diskurs Petra HERCZEG, Universität Wien, Institut für Kommunikationswissenschaft

ZUSAMMENFASSUNG: Petra Herczeg, Senior Lecturer am Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaften der Universität Wien, untersucht die mediale Kommunikation österreichischer Medien zum Thema Migration. Einleitend schärft sie Schlüsselbegriffe der Thematik und kritisiert, dass von Migrant/innen oft die Rede sei, als wären diese eine homogene Gruppe. Anschließend beleuchtet sie das durch mediale Kommunikation geschaffene Image von Migrant/innen in Österreich, erklärt die Methoden von Boulevard-Zeitungen und die tatsächlichen Aufgaben von Journalismus. Anhand von Beispielen veranschaulicht Herczeg, wann es zulässig sei, die Herkunft einer Person in einem Medienartikel zu nennen und wann nicht. Ebenso widmen sich Beispiele den Möglichkeiten von Migrant/innen aktiv an der Berichterstattung teilzuhaben. HINWEIS: Die Powerpointpräsentation des Vortrages kann hier abgerufen werden. HINWEIS: Dies ist nur eine kursorische Zusammenfassung des Beitrages – hören Sie den gesamten Vortrag auf dem IUFE-Podcast-Portal: Jederzeit – Spannend – Kostenlos! Migrationshintergrund – eine Definitionssache Wie wichtig und gleichermaßen schwierig die Definition des häufig verwendeten Begriffs „Migrationshintergrund“ ist, erklärt Herczeg zu Beginn ihrer Ausführungen anhand eines von ihr geleiteten Seminars zur Fragestellung „Gibt es einen Zusammenhang zwischen Migration, Einsamkeit und Medien?“ Bei diesem waren teilnehmende, deutsche Studierende anfangs beleidigt, als man auch sie als Migranten bezeichnete. Im Englischen spricht man überhaupt nur von (Im)Migrant/innen. Nach einem „Migrationshintergrund“ zu fragen, ergebe in dieser Sprache keinen Sinn. Selbst von Journalist/innen werden „Migrant/innen“ oft als homogene Gruppe betrachtet. Migration wird außerdem häufig mit Integration oder Assimilation gleichgesetzt und fälschlicherweise ident verwendet. Herczeg ortet hier mangelndes Bewusstsein, da in diesem Zusammenhang stets unterschiedliche Menschen, mit unterschiedlichen Problemlagen und Lösungsmöglichkeiten beschrieben werden. Im Begriff „Ausländer/in“ sammeln sich überhaupt zahlreiche Gruppen, wie jene der Flüchtlinge, Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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Tourist/innen, Europäer/innen, sich illegal aufhaltende Menschen, Arbeitende mit oder ohne Aufenthaltsgenehmigung, Einwander/innen der 1., 2., 3. Generation, aus der westlichen oder nichtwestlichen Hemisphäre. Wer in Österreich überhaupt zu welcher Gruppe zugezählt werden kann, ist für Herczeg auch eine Frage der Betrachtung, wie in Österreich über Migrant/innen berichtet wurde und wird und welche Zusammenhänge damit in der Politik diskutiert wurden und werden. Image wird über Kommunikation vermittelt Für den Wiederaufbau nach dem zweiten Weltkrieg holte man viele Gastarbeiter/innen nach Österreich, die eine willkommene Arbeitskraft darstellten. Nachdem die Zuwanderungspolitik anfangs nicht ausreichend reflektiert wurde und die Gastarbeiter/innen mit ihren Familien häufig in Österreich blieben, stellte sich bald auch im öffentlichen Diskurs die Frage: Wer ist die/der andere? In den 80er und 90er-Jahren wurde in deutschsprachigen Medien zunehmend von einem „Türkenproblem“ berichtet. Ab Ende der 1990er konnte man den Fokus auf ein „Asylantenproblem“ feststellen. Zuvor wurde Mitte der 90er verstärkt über ein „Flüchtlingsproblem“ berichtet. Die jeweilige Gruppe wurde zunehmend als Problem für Sozialsystem, Sicherheit und ökonomische Stabilität bezeichnet. Herczeg hebt an dieser Stelle hervor, dass Image von Personen immer über Kommunikation konstruiert, vermittelt, oder auch zerstört wird. Als sich die mediale Kommunikation auch unter dem Aufkommen der FPÖ und Aufgreifen der Kronen Zeitung veränderte, starteten mehrere Bundes- und Landesregierungen aktive Kampagnen um gegenzusteuern. Herczeg nennt hier die „Aktion Mitmensch“, die auf die gemeinsame Vergangenheit der österreichischen Völker unter der Habsburger Monarchie und deren verschiedene Migrationshintergründe hinwies; Oder die Kampagne „Sag noch amal Tschusch“ aus 1991, die unter Migrant/innen ein neues Selbstverständnis und -vertrauen fördern wollte. Als jüngeres Beispiel wird die Plakataktion „Ich hab’s auf eure Kinder abgesehen“ von Black Austria in 2007 genannt, bei der eine Tagesmutter mit Migrationshintergrund abgebildet ist. Diese zeigt, wie bestimmte Bilder weitertradiert werden, aber zugleich auch geeignet sein können, um Vorurteile und Klischees aufzubrechen. Dies sei aber stets ein „schwieriges Spiel“, wie Herczeg betont und mit folgendem Beispiel unterstrich: Ebenfalls 2007 thematisierte die Stadt Wien Chancengleichheit für Migrant/innen. Dabei wurde die typische Österreicherin als blondes Mädchen plakatiert, die typische Migrantin als dunkelhaarig. Migrant/innen in den Medien Diskurse finden in den Medien stellvertretend für gesellschaftliche Themen statt. Der massenmedial vermittelte Diskurs wird als wichtiger Teil gesehen, wie Politik und andere wesentliche Akteur/innen wie etwa Betroffene oder NGOs in einer Gesellschaft partizipieren. Dabei geht es stark um die Forschungsfrage: „Welche Möglichkeiten haben Migrant/innen selbst aktiv am Diskurs teilzuhaben?“ Wenn man permanent als „Problem“ und „unerwünschte Gruppe“ hingestellt wird, dann entsteht daraus eine nicht zu vernachlässigende Dynamik. Von einem „Medienghetto“, in das sich Migrant/innen zurückziehen würden, in dem sie vorzugsweise Ethnomedien oder Medien aus ihren Heimatländern konsumieren, könne man trotzdem nicht sprechen. Zwar gebe es natürlich einen signifikanten Zusammenhang zwischen Sprachkompetenz und Mediennutzung der Mehrheitsmedien, die Frage der Zugehörigkeit und Identität sei aber sehr heterogen. Herczeg stellt Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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die Frage, inwiefern durch die mediale Aufarbeitung von Problemperspektiven Möglichkeiten zu Lösungsansätzen im täglichen Leben geschaffen werden können. Agenda Setting – ein Problem der gesellschaftlichen Minoritäten? Journalist/innen wählen ihre Themen nach Nachrichtenfaktoren wie Status, Aktualität, geographische Nähe, Image, Negativismus, etc. aus. Je mehr Faktoren zutreffen, desto größer ist der Nachrichtenwert – auch „bad news are good news“. Daher stellt Herczeg zudem die Reflektionsentscheidungen von Journalist/innen in Hinblick auf die Themenwahl in Frage. Untersuchungen belegen, dass 65% der Nachrichten(fernseh)zuschauer/innen die täglichen Nachrichten mit ihren vielen unterschiedlichen Begriffen, auf die in der Kürze der Schlagzeilen nicht näher eingegangen wird, gar nicht verstehen würden. In einem Experiment fand Herczeg heraus, dass Leser/innen Nachrichten, die in märchenähnlicher Erzählweise geschrieben sind, besser verstehen als in klassischer Berichterstattung. Herczeg erklärt dies mit einem soziologischen Theorem: „Wenn Menschen Situationen als real definieren, dann sind auch Konsequenzen real“. Trotzdem befanden die Leser die klassische Berichterstattung als vertrauenswürdiger und professioneller. Außerdem sei die Vermeidung kognitiver Dissonanzen ein weitverbreitetes Phänomen. Menschen wollen sich oft nicht mit Meinungen und Einstellungen beschäftigen, die ihren Vorlieben nicht entsprechen. Lieber sucht man Einstellungen, die der eigenen nicht widersprechen, da die Welt sowieso bereits komplex genug ist, was sich auch in der Wahl des Informationsmediums widerspiegelt. Demnach hätten es gesellschaftliche Minoritäten auch in Massenmedien schwer eine vorherrschende Meinung über diese Gesellschaftgruppe abzulegen. Funktionierendes, alltägliches Zusammenleben sei eben kein Thema mit Nachrichtenwert. In Österreich seien tendenziell unerwünschte Gruppen, wie Migrant/innen aus dem arabischen Raum in der öffentlichen Meinung überrepräsentiert. Wenn über diese Migrant/innen berichtet wird, dann oft in emotionaler Weise, die negative Bewertungen und ebensolches Image tradiert. Besonders in Boulevard-Medien wird oft mit Metaphern aus dem Katastrophenbereich gearbeitet. „Flüchtlingsfluten“ ist ein prominentes Beispiel, mit dem das Zielpublikum auch sogleich eine Katastrophe verbindet. Allgemein arbeiten Boulevard-Medien oft mit starken Vereinfachungen, „Schwarz-Weiß-Malerei“ und stellen die „Fremden“ oft als unvertraut und stark überzeichnet dar. Dem gegenüber werden asiatische Migrant/innen medial kaum thematisiert, wahrscheinlich, da sie gemeinhin als angepasst und fleißig gelten. Da die Aufgabe von seriösem Journalismus aber weder das Verschönern noch das Verschlimmern von Tatsachen ist, fehle im massenmedialen Diskurs vielleicht ein ausgleichender Gegenpart zur oft negativen Berichterstattung. Diese Problematik unterstreicht die Wichtigkeit der Themensetzung der Medien auch hin zur Bewusstseinsbildung. Zugleich müsse man aber aufpassen, dass man sich medial nicht zu stark auf Migrant/innen fokussiert. Nur eine ausbalancierte Berichterstattung, die unterschiedliche Perspektiven und Meinungen einbezieht, könne zu einer fairen Meinungsbildung führen. Beispiele für die medialen Berichterstattung über Migrant/innen in Österreich Integration sei ein Dauerthema in modernen Gesellschaften. Die Frage nach Integrationsdienstleistungen von Medien könne man einerseits nach der Integration der unterrepräsentierten Gruppen in den Medien selbst, andererseits nach der Möglichkeit zur Partizipation und Teilhabe am medialen Diskurs, stellen. Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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Herczeg nannte als Beispiel die Gratis-Zeitung „heute“, der Zeitung mit der höchsten Reichweite in Wien. Diese habe über den tragischen Fall eines Mordes an einer Ehefrau berichtet. Der Täter sei ein Mann vom „Typ, der zum Glück vermehrt hinter dem Halbmond wohne und das Gesäß beim Beten höher halte, als seinen Kopf“ gewesen. Da die Zeitung in Wien im öffentlichen Raum überall verfügbar ist und „heute“ sogar eine Kooperation mit Ethnomedien, wie z.B. Cosmos, pflegt, erreichte dieser Bericht zahlreiche Migrant/innen. In der nächsten Ausgabe entschuldigte sich die Zeitung und nannte den Bericht einen „einmaligen Ausrutscher“. Man holte Integrationsstaatssekretär Sebastian Kurz an Board, der der Zeitung noch ein Lob für die rasche Klarstellung attestierte. Für Herczeg ist das ein schönes Beispiel von Medienlogik. Ein weiteres Negativbeispiel stammt aus der „Kronen-Zeitung“ und beschreibt die Fahndung nach einem unbekannten Täter, der einen Taxifahrer überfallen hat. „Kurz vor dem Ziel zückte der Südländer (einer von Hunderten kriminellen Ausländern, die unsere Heimat unsicher machen) ein Messer…“, zitiert Herczeg. Doch selbst bei nicht-feindlichen Berichterstattungen wie „Migrant[Inn]en holen [in der Bildung] auf“, wird unbeabsichtigt das Bild von pauschal weniger gebildeten Migrant/innen vermittelt. Als weitere Beispiele werden „Jungtürkenbanden“ (Zitat: Kronen-Zeitung), oder „Ausländerbanden abschieben“ (FPÖ-Forderung) genannt. Da in den österreichischen Medien nur selten auf die österreichische Landesherkunft einer Täterin oder eines Täters hingewiesen wird, stellt sich die Frage: Wann ist es angebracht, auf die migrantische Herkunft von Personen hinzuweisen? Herczeg nennt hier einen Bericht im „Kurier“, der flüchtige Täter als „mit Akzent sprechend“ beschreibt. Dies sei legitim, da Journalisten zwar nicht erziehen, aber wohl über Konflikte berichten sollen und ein solcher Hinweis für die laufende Fahndung von Vorteil ist. Ein außergewöhnliches Beispiel für mediale Berichterstattung sei jenes von Arigona Zogaj, bei der eine scheinbar integrierte, kosovarische Familie aus Österreich abgeschoben werden sollte, sich das Mädchen – Arigona – aber versteckte und eine Medienbotschaft versendete, dass sie nicht verstehe, warum sie Österreich, ihre Heimat, verlassen müsse. Herczeg ortete hier einen Anknüpfungspunkt für Journalismus, der über den Anlassfall hinaus gehen könnte oder sollte. Damit meine man ein Fallbeispiel, dass über die eigentliche Berichterstattung einen medialen Diskurs zum Hintergrundthema – hier Integration und Asylpolitik – anstoßen könne. Die erwartete Anschlusskommunikation blieb allerdings aus. Eine Vollerhebung von ca. 1.900 Beiträgen aus nationalen Printmedien und ausgewählten Informationsbeiträgen zu Arigona Zogaj ergab, dass stattdessen ein sehr elitendominierter Diskurs stattfand. Die Medienpräsenz wurde zu 35% von Sprecher/innen der Innenpolitik ausgefüllt, wonach bereits die Leserbriefschreiber/innen der „Kronen-Zeitung“ folgten. Selbst Betroffene und NGOs kamen nur auf eine Präsenz von 11%. Besonders interessant sei, dass die „Kronen-Zeitung“ redaktionell für ein Bleiberecht warb („Gnade vor Recht“), während die Leserbriefe völlig konträr von einer „Staatserpressung durch ein junges Mädchen“ sprachen. Eine solche Doppelstrategie sei oft bei Boulevard-Medien zu beobachten. Geradezu schockierend sei die Vorgehensweise der „Kronen-Zeitung“-Redaktion, Bleiberecht zu einem personenabhängigen Gnadenakt zu degradieren, anstatt eine politische Debatte zu eröffnen. In einem weiteren Fallbeispiel untersuchte Herczeg die Integrationsleistung der unterschiedlichen Sender im Österreichischen Hörfunk. In einer Vollerhebung wurden 2.190 Beiträge untersucht. Davon thematisierten 1.138 inländische Anliegen, aber nur 130 das Thema Migration. Die Hauptinlandsthemen waren Ausländerpolitik und Integration. Die Artikulationschancen von Migrant/innen beschränkten sich auf 16%, wovon die Betroffenen allerdings nur in 2% der Fälle Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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direkt zur Sprache kamen. In 84% der Fälle wurden die Migrant/innen selbst nicht einmal indirekt zitiert. Vergleichsweise kamen Österreicher nur in 26% der Berichterstattungen nicht zur Sprache. 37% wurden direkt zitiert, 38% indirekt. Allerdings sei hier festzuhalten, dass angesichts des Nachrichten-Hintergrundes oft nur begrenzt Zeit zur Verfügung stand. Beim Thema „Objektivität“ hat Herczeg keinen signifikanten Unterschied zwischen öffentlichem und privatem Raum feststellen können. Generell sei die journalistische Qualität in Österreich „gut, objektiv und fair“. Abschließend nannte Herczeg, als Positivbeispiel für objektive Berichterstattung in BoulevardMedien, ein Zitat aus der „Bild-Zeitung“. In diesem knappen Beitrag über einen Flüchtling, der mit €500 aus Italien nach Deutschland geschickt wurde, wurde trotz der Stereotypisierungen auch auf vielschichtige Problemperspektiven, politische Verantwortlichkeiten, und über den Versuch der Personalisierung auf Flüchtlingsproblematiken hingewiesen. Diskussionsbeiträge In der anschließenden Diskussion wurde u.a. noch die Fragmentierung der Gesellschaft thematisiert. Die „Generation 30+“ erreiche man noch gut mit Printmedien. Doch hätte sich das Informationsverhalten in jüngeren Generationen fundamental verändert. Herczeg zitierte eine junge Frau, die in einem Interview auf die Wahl ihrer Informationsquellen angesprochen nur antwortete, „dass die wichtigen Information sie schon finden würden“. Soziale Netzwerke seien vor allem in der jüngeren Generation durchaus als alternative Gegenöffentlichkeiten wahrnehmbar. So werde heutzutage rasch und schnell über soziale Netzwerke mobilisiert, sobald z.B. einem/r gut vernetzten Migrant/in die Abschiebung drohe. Auf die Diversität in Redaktionen angesprochen, stellt Herczeg fest, dass man deshalb nicht den Rückschluss ziehen dürfe, dass gehäuft über Migrant/innenthemen berichtet werde. Außerdem gebe es erhebliche Unterschiede in Selbst- und Fremdzuschreibung über migrantischen Hintergrund. In den österreichischen Redaktionsleitungen herrsche durchaus Bewusstsein für die Minderrepräsentanz von Migrant/innen.

ÖKONOMISCHE ERWARTUNGEN AN MIGRATION Ökonomische Erwartungen an Migration Markus PAUSCH, FH Salzburg, Zentrum für Zukunftsstudien ZUSAMMENFASSUNG: Markus Pausch, wissenschaftlicher Leiter am Zentrum für Zukunftsstudien der FH Salzburg, erörtert in seinem Vortrag die Notwendigkeit einer Verschiebung weg von einer Leistungsdebatte für Migration. Der jüngere österreichische, wie europäische Migrationsdiskurs, beschränke sich auf den ökonomischen Nutzen und blende wesentliche Fragen für eine erfolgreiche Migrationssteuerung aus. Diese konzentriere sich in zwei verschiedene Europaideen, die sich aktuell gegenseitig behindern. Schlussendlich nennt Pausch pragmatische, demokratisch-menschenrechtliche, europapolitische, sowie soziale Gründe, warum eine reine Leistungsdebatte nicht zielführend sei und wirft wesentliche Fragen auf, deren Beantwortung für eine gesteuerte Migration notwendig wäre. Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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HINWEIS: Dies ist nur eine kursorische Zusammenfassung des Beitrages – hören Sie den gesamten Vortrag auf dem IUFE-Podcast-Portal: Jederzeit – Spannend – Kostenlos!

Die letzte Phase des österreichischen Politdiskurses über Integration Nachdem sich die Politik der Zweiten Republik häufig positive Effekte von Zuwanderung auf die österreichische Nationalökonomie erwartete, wurde der öffentliche Diskurs ab den 1980er-Jahren zunehmend von Sicherheits- und Identitätsdebatten abgelöst. Ein neuerlicher Kurswechsel zeichnete sich erst 2011 mit der Ernennung von Sebastian Kurz als Staatssekretär für Integration ab. Dieser sieht in Migrant/innen per Definition wieder potentielle Leistungsbringer. Nicht die Herkunft, sondern die Leistung zähle („Integration durch Leistung“). In diesem Konzept finde sich sowohl ein einfacherer Zugang zur österreichischen Staatsbürgerschaft für „integrierte“ Ausländer/innen, während für jene Ausländer/innen, die die von der Regierung erwartete Leistung nicht erbringen könnten, der Zugang erschwert werde. Diese letzte Phase des österreichischen Politdiskurses habe, so Pausch, große Ähnlichkeiten mit dem gesamteuropäischen Trend und mit Strategiepapieren der EU. Ökonomische Erwartungen an Migration in der EU Auf der EU-Website für Integration der EU-Kommission finden sich in der „Agenda für Integration“ folgende Leitsätze: „Gut integrierte Migrant/innen sind eine wirtschaftliche und kulturelle Bereicherung für die EU. Wird die Vielfalt, die die Zuwanderung fördert, gut gesteuert, so kann sie ein Wettbewerbsvorteil und Kraftquelle in den europäischen Ländern sein.“ Weiters sei das EU-Ziel der Beschäftigungsquote von 75% nur erreichbar, wenn Hindernisse für die Einbindung von Migrant/innen in den Arbeitsmarkt beseitigt werden. Dies sei wichtig, da die Erwerbsbevölkerung in Folge von rückläufiger Bevölkerungsentwicklung schrumpft. 2060 werde es laut Prognosen in der EU rund 50 Millionen Menschen weniger Erwerbstätige geben als 2008. Pausch identifizierte daraus zwei wesentliche Informationen: 1.) Die Nutzung von Migration für Wettbewerbsvorteil und den Erhalt von Sozialsystemen steht für die EU im Vordergrund. 2.) Die EU geht von einem nicht näher definierten europäischen „Wir“ aus, dass bereichert werden könne. Derselbe Fokus lasse sich auch in einer 2011 erschienenen Mitteilung der EU-Kommission zum Gesamtansatz in Migrationsfragen feststellen. Im Kontext der Strategie EU 2020 sollen Migration und Mobilität die EU wettbewerbsfähiger und dynamischer machen. Priorität hätte demzufolge, dass flexible Arbeitskräfte mit benötigten Qualifikationen verfügbar sind, um die Folgen des demographischen Wandels und eine wirtschaftliche Entwicklung erfolgreich bewältigt zu können. Dringend erforderlich sei es wiederum die Migrant/inneneingliederung in den Arbeitsmarkt einfacher zu gestalten. Auch in der Forschungsförderung erkennt Pausch eine ähnliche Haltung, wie etwa bei dem großangelegten EU-Projekt „Making Migration work for development“, an dem auch das Zentrum für Zukunftsstudien involviert ist. Steuerungsprobleme in der Migrationspolitik Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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Generell sei Zuwanderung schwer steuerbar, besonders in Zeiten einer supranationalen Union mit offenen Binnengrenzen. Dies hätte aber auch mit der Verfasstheit der EU zu tun, die auf den Konflikt unterschiedlicher Europa-Ideen basiere. Aber auch schon auf nationaler Ebene ist es schwierig Migration gezielt zu steuern, wie etwa die Gastarbeiter/innenpolitik, die Flüchtlingspolitik in der Jugoslawienkrise der 1990er, oder in jüngster Vergangenheit auch die RotWeiß-Rot-Card, die vorerst nicht den erwarteten Zugang erbracht hätte, gezeigt habe. In der gegenwärtigen Gesetzeslage sei aber nicht damit zu rechnen, dass Steuerung zukünftig nationalstaatlich umfassend gelingen könne. Grundsätzlich unterscheide man hier zwischen harten und weichen Steuerungsinstrumenten. Harte sind Einwanderungsgesetze, weiche etwa die aktive Anwerbung von Arbeitnehmer/innen, oder ein einfacherer Zugang zu Staatsbürgerschaft. Die in Österreich zahlenmäßig wichtigste Migration, nämlich die EU-Binnenwanderung, wäre aufgrund der Arbeitnehmer/innenfreizügigkeit mittel- bis langfristig nicht mit harten Steuerungsinstrumenten zu kontrollieren. Anders sei dies im Bereich der weichen Steuerung. Durch die Schaffung von Anreizen und aktiver Anwerbung von Menschen aus EU-Krisenstaaten könne man durchaus Impulse setzen. In Österreich sei dies aber noch nicht zufriedenstellend gelungen. Dies hänge unter anderem mit zwei aufeinander prallenden Europaideen zusammen. Das Problem der zwei gegenläufigen Europaideen Derzeit stehe in Europa ein freier, gesamteuropäischer Binnenmarkt mit Arbeitnehmer/innenfreizügigkeit nationalstaatlich begrenzten Bildungs-, Berufsanerkennungs-, Sozial- und Steuersystemen, und damit 28 in sich geschlossenen Solidargemeinschaften, gegenüber. Während die EU-Kommission die Mobilität der Menschen mit EU-Pass und -Bürgerschaft innerhalb Europas erhöhen will, stellen Mitgliedsländer mit Beharren auf Hoheit in Steuer-, sozialpolitischen- und Bildungsfragen und damit einer Aufrechterhaltung innereuropäischer Konkurrenz, große Hindernisse in den Weg. Deshalb laute die große Frage der europäischer Politik: Soll sich die EU zu einer europäischen Föderation, also Vereinigte Staaten von Europa mit europäischer Währung, Wirtschaftspolitik, Regierung, Opposition, Sozialpartnerschaft, Umverteilung, Solidargemeinschaft, etc. entwickeln und auch nationale Staatsbürgerschaften in ihrer Bedeutung zu Gunsten einer europäischen Staatsbürgerschaft zurückdrängen? Oder soll die EU ein mehr oder weniger loser Zusammenschluss ihrer Mitgliedsstaaten sein, die pragmatisch kooperieren, bei denen aber alle Rechte an nationale Staatsbürgerschaften gebunden bleiben? Vereinfacht gesagt: Geht es um ein Europa der Bürger/innen oder ein Europa der Nationalstaaten? Oder möchte man in der derzeitigen, ungeklärten Situation als dritte Variante dauerhaft verweilen? Jedenfalls sei evident, dass Migration in der jetzigen EU-Verfasstheit kaum steuerbar ist und die angestrebten Arbeitsmarkt- und Wirtschaftsziele ebenso wenig erreichbar scheinen. Auch die europäische Blue Card zeige dies, die manche Länder bis heute nicht umgesetzt hätten. Derzeit erschweren sich die EU und ihre Mitgliedstaaten die Steuerung von Migration gegenseitig. Binnenmarkt und Freizügigkeiten verhindern eine autonome Steuerung durch die Mitgliedstaaten, deren Zugangsbeschränkungen zu verschiedenen Berufen und mangelnde Umsetzung der Blue Card wiederum den Binnenmarkt verhindern. Daher sei die Abkehr von einer nicht erfüllbaren Steuerungssituation notwendig. Andernfalls werde der Wunsch nach wirtschaftlicher Migration nur ein Wunsch bleiben, den die Politik nicht erfüllen könne. Vorrangig müsse man mit jenen Migrant/innen umgehen, die man sich nicht selbst ausgesucht hätte. Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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Normative Forderung nach Diskursverlagerung Die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung, weg von ökonomischer Leistungsdebatte hin zu einer Gerechtigkeits- und Demokratiedebatte des politischen Integrations- und Migrationskurses, ist für Pausch aus folgenden Gründen sinnvoll: Aus pragmatischen Überlegungen, da die Steuerung der größten Gruppe schwierig bleibt. Aus demokratisch-menschenrechtlichen Überlegungen, da die Reduktion von Migrant/innen auf wirtschaftlichen Nutzen oder potentielle Leistung nicht tragbar ist. Aus europapolitischen Überlegungen heraus, da die EU schon heute eine EU-Bürgerschaft beinhaltet. Aus sozialen Überlegungen heraus, da pluralistische Gesellschaften nicht von einem endogenen „Wir“ ausgehen können, in das hinein sich Zuwanderer erst integrieren müssen. Vielmehr seien unsere heutigen Gesellschaften dynamisch und entwickeln sich mit jedem neuen Mitglied anders. Der zukünftige Diskurs müsse Migrant/innen jedenfalls mit einbeziehen und ihnen eine Stimme geben. Die genannte Verlagerung des Diskurses erfordere zudem Antwort auf folgende Fragen: Haben wir ein universales Verständnis von Menschen/BürgerInnen, ein Europäisches oder ein Nationalstaatliches? Wer ist Teil des Gerechtigkeitsdiskurses? Österreich, die EU, oder auch Drittstaaten? Welche Maßstäbe sind für gelungene Integration von Bedeutung? Woran werden diese von wem gemessen? Sind Leistungen der Migrant/innen an Sprachkenntnissen, Lebensqualität, BIP, oder Arbeitslosigkeit zu messen? Abschließend betonte Pausch, dass es oft die kleinräumlich organisierten Einheiten, wie Kommunen, Städte, Stadtteile oder Bezirke sind, von wo aus sich Veränderung von Diskursen, wie des Migrationsdiskurses, zuerst vollzieht und Ausgang nehmen kann.

Türkischstämmige Unternehmer/innen in Österreich – wirtschaftliche Selbständigkeit und soziale Aspekte Heiko BERNER, FH Salzburg, Zentrum für Zukunftsstudien ZUSAMMENFASSUNG: „Vorteil Vielfalt“ nennt sich eine Kampagne der Wiener Wirtschaftskammer, Wirtschaftsagentur und der Stadt Wien, die darauf abzielt die Selbstständigkeit von Migrant/innen zu unterstützen und zu fördern. Migrantische Unternehmer/innen sichern nach vorsichtigen Schätzungen min. 25.000 Arbeitsplätze in Wien. Sie verbessern die Angebotsvielfalt, sichern Versorgungsstrukturen und stärken mit grenzübersteigenden Kontakten den Wirtschaftsstandort. Rund 39% planen weitere Angestellte einzustellen. Doch welche Begleiterscheinungen von Vielfalt gibt es in einer Stadt? In welcher Weise ist die soziale Kohäsion betroffen? Welche Auswirkungen hat kulturelle Vielfalt auf das Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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soziale Miteinander innerhalb heterogener Gesellschaften? In den folgenden Ausführungen konzentriert sich Mag. Heiko Berner, wissenschaftlicher Mitarbeiter mit Forschungsschwerpunkt Migration und Lebensstilforschung am Zentrum für Zukunftsstudien der FH Salzburg, auf die Stadt Wien. Einleitend nennt Berner einige Zahlen und Definitionen, um die Größenordnung der untersuchten Gruppe zu skizzieren. Danach bezieht er sich auf die Folgen der Durchmischung der Quartiere sowie daraus resultierender Desintegration, mit denen auf den ersten Blick nicht unbedingt zu rechnen ist. HINWEIS: Die Powerpointpräsentation des Vortrages kann hier abgerufen werden. HINWEIS: Dies ist nur eine kursorische Zusammenfassung des Beitrages – hören Sie den gesamten Vortrag auf dem IUFE-Podcast-Portal: Jederzeit – Spannend – Kostenlos!

Definition und Abgrenzung der untersuchten Gruppe Der Begriff der „ethnischen Ökonomien“ wird in der Wissenschaft verwendet, wenn Unternehmer/innen mit Migrationshintergrund wissenschaftlich thematisiert werden. Zentral für die Betrachtung jener, ist für Berner aber der Blickwinkel der Lebenswelten, das Wohnumfeld in den Quartieren und Bezirken. An seriöses Zahlenmaterial zu kommen gestalte sich dabei oft als schwierig, da Migrant/innen in verschiedenen Quellen oft unterschiedlich definiert werden. Auch Selbstständige sind nicht immer einheitlich definiert, da Freiberufler und neue Selbstständige, wie etwa Übersetzer, oft nicht mit eingerechnet werden. Daher seien die genannten Einschränkungen bei den folgenden Zahlen mitzudenken. Als „türkischstämmig“ verstehe Berner im Kontext alle von der Türkei immigrierten Personen bis zu den Nachkommen der 2. Generation. Zahlen über und Motive von türkischstämmigen Selbstständigen in Wien Laut Statistik Austria lebten 1982 21.000 Personen mit türkischer Staatsbürgerschaft in Wien. 1993 waren dies fast 46.000. Seither nahm die Zahl immer wieder leicht zu und ab, sodass in Wien 2012 44.256 türkische Staatsbürger/innen lebten, was 2,6% der Wiener Bevölkerung entspricht. Personen mit türkischer Herkunft lebten ca. 56.000 (3,9%), mit türkischem Migrationshintergrund, knapp über 100.000 (ca. 6%) in Wien. Laut abgestimmter Erwerbsstatistik waren in Wien 2010 etwa 800.000 Menschen erwerbstätig. Davon waren knapp 39.000 von türkischer Herkunft. Selbstständige gab es in Wien 2010 etwa 75.500, wovon 2.500 von türkischer Herkunft waren. Laut der Wiener Soziologin Regina Haberfellner gab es 1971 in Österreich 156 Selbstständige mit türkischer Herkunft, 2008 wären es 1.878 gewesen, wovon Wien den größten Teil aufweise. Die Hauptbranchen der türkischen Unternehmergruppe finden sich im Handel und der Gastronomie wieder. Hauptgründe für türkische Selbstständige seien die Selbstverwirklichung sowie das Streben nach Unabhängigkeit und mehr Einkommen. In der Selbstständigkeit sehen viele die Chance ihre soziale Position zu verbessern. Gegenläufige Muster bei Berufsaufsteigern In der Studie „Soziale Brücken und Grenzziehungen in der Stadt – türkeistämmiger Mittelstand in Migrantenviertel“ stellten die Geographinnen Hanhörster und Barwick folgende Hypothese auf: Im Falle eines sozialen Aufstiegs ziehen Bewohner/innen einer Stadt in ein besseres Wohnviertel Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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innerhalb der Stadt („besser“ wurde hier nicht näher definiert). Diese Beobachtung bestätigte sich aber gerade bei Migrant/innen nicht immer. Auch eine niederländische Studie unter „nichtwestlichen“ Migrant/innen von Mittel- und Besserverdienern zeigte, dass das erwartete, unter der autochthonen, also „eingesessenen“, Bevölkerung erkennbare, Muster bei der „nicht-westlichen“ Bevölkerung genau umgekehrt sei. Gerade der migrantische Mittelstand zog oft in sozioökonomisch benachteiligte Gebiete. Die Korrelation zwischen Selbstständigkeit, Einkommensentwicklung und möglichen Wohnortwechsel der betroffenen Personengruppe in Wien ist noch nicht untersucht. Berner stellte daher nur die Vermutung auf, dass das angesprochene Phänomen des räumlichen Verbleibs von beruflichen Aufsteigern auch in Wien anzutreffen ist. Dies könnte man mit gängigen Nischengeschäftsmodellen erklären, deren Käuferschaft oft in sozial schwächeren Bezirken ansässig ist. Weitere Hauptgründe seien laut den Autorinnen familiäre Ressourcen, der gute Ruf sowie die Nähe zu den Eltern – ob aus familiären oder pragmatischen Gründen, oder auch Diskriminierungserfahrungen. Prinzipiell sei die beschriebene Entwicklung sicherlich wünschenswert. In der Regel sei höhere Diversität auch mit einem höheren Zusammenhalt im Quartier verbunden. Mitnahmeeffekte höher Positionierter und der Austausch zwischen unterschiedlichen sozialen Klassen, werden auch in Wien im Zuge sozialer Nachhaltigkeit aktiv beworben und politisch gewollt. Klassifikationen generieren Gruppengrenzen In seiner großangelegten Feldstudie „Sippenhaft“ untersuchte der Soziologe Ferdinand Sutterlüty 2009 negative Klassifikationen in ethnischen Konflikten, also verbale Abwertungen, die Gruppenmitglieder gegenüber anderen Gruppen verwenden, wie diskriminierende Klischees. Untersuchungsgebiete waren der südliche Stadtteil der deutschen Kleinstadt Recklinghausen (Migrant/innenanteil von 10,6%, etwa Hälfte davon türkischer Migrationshintergrund), sowie der Mannheimer Stadtteil Neckarstadt West (Migrant/innenanteil von rund 46 %, etwa ein Viertel davon türkischen Migrationshintergrund). Eine wesentliche Erkenntnis war, dass Gruppengrenzen oft nicht vertikal, also entlang der sozialen Positionierung, sondern horizontal, entlang der ethnischen Zugehörigkeit, verlaufen. In der Stadt Mannheim seien die autochtonen Deutschen und Türken die beiden stärksten Gruppen. Ein kultureller „Masterstatus“ wirke dabei aber stärker als die Gruppengrenzen zwischen den sozialen Klassen und lege eine übergeordnete Zugehörigkeit fest. Entlang dieser können negative Klassifikationen auf zwei Arten erfolgen. Graduelle Klassifikationen werten ab, ohne kategorisch auszuschließen, während distinktive Klassifikationen markieren und Gruppengrenzen produzieren. Mit gradueller Klassifikation sei etwa die besondere Leistungsbereitschaft türkischer Familien gemeint, Kleinunternehmen im Familienverbund zu betreiben. Diese werden von alteingesessenen Unternehmer/innen – meist auch Ladeninhaber/innen – gemein als besonders starke Konkurrenz wahrgenommen, da sie ihren Betrieb mit besonders niedrigen Lohnkosten führen. Ein Beispiel für eine distinktive Klassifikation sei die Bezichtigung, türkische Gewerbetreibende seien „kriminell“, da diese generalisierend wirke. Bei allen Klassifikationen sei es inhaltlich nicht wichtig, ob die erhobene Behauptung tatsächlich stimme, viel mehr werden Vorurteile, erst einmal formuliert, immer wieder selektiv wahrgenommen oder nur vermutet. Das zweite wichtige Kriterium sei die symbolische Funktion, die kategoriale Klassifikationen besitzen. Sie funktionieren als Distinktionsmerkmal, das Gruppengrenzen markiert. In der Folge werden erfolgreiche Geschäftsleute, die ökonomisch gut integriert sind, gerade durch ihren Erfolg Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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eine neue Form der Diskriminierung erfahren, die aus Angst vor vermeintlich Fremden resultiert, deren zentrales Element die Versicherung der eigenen ethnischen Gruppe und Ablehnung der stets fremden und fremd bleiben sollenden Gruppen resultiert. Integration eine Frage der Größe der Community? In Recklinghausen, wo die türkische Gruppe weniger stark vertreten ist, bestehe größeres Interesse am kulturellen Austausch mit Autochthonen. Die besagte Gruppe engagiere sich um politische und materielle Teilhabe, die Anerkennung von kulturellen und religiösen Gewohnheiten und vertritt ihre Interessen offensiv. Offene Klassifikationskämpfe haben hier, so paradox es auch scheint, eine integrative Wirkung. Durch offenen Austausch können Interessen formuliert, Kompromisse angestrebt und Vorurteile abgebaut werden („Integrationsmodus der konfliktvermittelten Integration“). Im Mannheimer Stadtteil, wo die türkischstämmige Gruppe stärker vertreten ist, könnten dagegen beide große Gruppen unabhängig voneinander existieren, d.h. türkische Migrant/innen müssten nicht um ökonomische Integration ringen, da sie autark bestehen könnten. Hier könne man vom „Integrationsmodus der Indifferenz“ reden, dieser funktioniere aber im untersuchten Stadtteil nur begrenzt, da kaum Austausch zwischen den Gruppen stattfinden würde. Sie bleiben einander fremd. Auch das Miteinander der Einzelnen funktioniere nur auf ersten Blick gut, dennoch werden negative Klassifikationen innerhalb der Gruppe verhandelt, ohne sie an betroffene Adressaten zu richten. Dieser Umstand verhindere ein tolerantes gemeinsames Leben im Stadtteil und fördere viel mehr Indifferenz. Fazit: Auch wenn türkische Unternehmer/innen zahlenmäßig in Wien noch unterdurchschnittlich vertreten sind, bilden sie einen stabilen Faktor im Wirtschaftsleben der Stadt. Sie belegen auch, dass Vielfalt in diesem ökonomischen Bereich gelebt wird und, dass Vielfalt im besten Sinne der Normalfall ist. Aus Perspektive der Lebenswelten sind jedoch einige nicht unbedingt zu erwartende Konsequenzen zu beobachten. Soziale Desintegration kann als Folgewirkung durch ökonomische Integration kommen, die ein Miteinander der Gruppen in ihren gemeinsamen Lebenswelten verhindert. Wie genau Integrationsmodi für betroffene Wiener Bezirke aussehen, müsste extra untersucht werden, da Wien sicherlich eine ganz spezifische Lage hat, gekennzeichnet von ausgeprägten Sozialwohnungsbau, verhältnismäßig wenig Eigentumsbesitz und einem hohen Anteil an Personen mit Migrationshintergrund. Abschließend nennt Berner noch zwei Arten von integrativen Interventionen: Interventionen, die versuchen ethnische Gruppen aufzulösen, wie etwa anonymisierte Bewerbungsverfahren, gezieltes Anwerben von Mitarbeiter/innen in öffentlichen Positionen, oder auch die Initiative der Wiener Wirtschaftskammer. Interventionen, die nicht unmittelbares Ziel haben, Gruppen aufzulösen und bestehende spezifische Gruppenprobleme zum Anlass genommen werden, um Rederäume zu organisieren, in denen die ethnischen Gruppen zueinander finden können. Beide Arten von Interventionen – und das scheint Berner besonders wichtig – sollen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern je nach konkreter Situation und Problematik bedacht werden können. Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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ASPEKTE KOMMUNALER INTEGRATION „Integration im ländlichen Raum“ Nora KIENZER, BMI, Integrationskoordination ZUSAMMENFASSUNG: Nora Kienzer war zuständige Referentin für „Wohnen und die regionale Dimension für Integration“ im Bundesministerium für Inneres (BMI) und ist dort nun für den Bereich „Sprache und Bildung“ zuständig. In ihrem Vortrag erklärt sie den Aufbau des Nationalen Aktionsplans für Integration (NAP.I) und nennt inhaltliche Maßnahmen im Bereich „Wohnen und die regionale Dimension“. HINWEIS: Die Powerpointpräsentation des Vortrages kann hier abgerufen werden. HINWEIS: Dies ist nur eine kursorische Zusammenfassung des Beitrages – hören Sie den gesamten Vortrag auf dem IUFE-Podcast-Portal: Jederzeit – Spannend – Kostenlos!

Aufbau des Nationalen Aktionsplans für Integration 2010 wurde in der österreichischen Bundesregierung erstmals ein Nationaler Aktionsplan für Integration (NAP.I) beschlossen. In sieben Handlungsfeldern soll ein 20-Punkte-Programm darin alle Bereiche des täglichen Lebens abdecken. Diese Handlungsfelder werden von einem fünfzehnköpfigen unabhängigen Expertenrat für Integration inhaltlich bearbeitet, wobei jeweils zwei Experten für einen Bereich verantwortlich sind. In der Verwaltung gibt es je einEn ZuständigEn pro Bereich. In einem jährlichen Bericht werden der aktuelle Stand der Projekte sowie deren Ergebnisse dokumentiert. Integration findet vor Ort statt In Österreich leben etwa 1,5 Millionen Menschen mit ausländischer Herkunft. Das sind etwa 18% der Gesamtbevölkerung. Rund 40% davon leben in Wien. Integration ist für Kienzer deshalb aber kein Thema, dass sich auf Ballungsräume beschränkt. Auch kleinere Gemeinden stehen zunehmend vor der Herausforderung, wie man mit dem Thema Integration umgehe. Bildung und alle anderen Bereiche des täglichen Lebens haben ihre Wurzeln vor Ort, oder nach neuerer Definition „in der Lebenswelt“ der Menschen, da Schule oder Arbeitsplatz einer Person nicht immer im Wohnbereich liegen. In Gemeinden ergäbe sich zudem eine spezielle Situation, da dort auch das Vereinsleben, in dem man sich engagiert, stark zur Integration beiträgt. Gerade dort mangle es aber oft am nötigen Bewusstsein um mit dem Thema Integration umzugehen. Auch im österreichischen Raumordnungskonzept berücksichtige man vermehrt die Bedürfnisse einer vielfältigen Gesellschaft. In der Umsetzungspartnerschaft „Vielfalt und Migration im Raum“ mit der FH Kärnten untersuchte man den Zusammenhang von Raumplanung und Integration. Wo liegen die Chancen? Wie könne man reagieren, um mit gesellschaftlicher Vielfalt umzugehen? In diesem Bereich wurde die Wissensbasis gestärkt und wurden Empfehlungen erarbeitet.

Maßnahmen im Bereich „Wohnen und regionale Dimension“ Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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Mit dem Ziel Bewusstsein und, darauf aufbauend, Wissen um Integration in ländlichen Regionen zu fördern, identifizierte das BMI für das Handlungsfeld „Wohnen und die regionale Dimension“ folgende drei Bereiche, in denen man gezielt Maßnahmen setzen wolle: Besiedlungs- und Vergabemanagement Integrationsfördernde, diversitätssensible Haushalte Förderung der Integrationskompetenz auf kommunale Ebene In einem ersten Schritt führte man 2011 die Stakeholder, in diesem Falle die Landesintegrationsreferent/innen der Bundesländer, Vertreter/innen von Gemeindebund, Städtebund und dem Bundeskanzleramt, die sich mit Raumplanung beschäftigen, zusammen. Das gemeinsam entwickelte 3-Säulen-Modell wurde offen genug gehalten, damit es auf alle Bundesländer anwendbar sei. Die erste Säule bilde die Promotion und Kommunikation des Themas. Diese soll vor allem über den Gemeindebund und durch die regelmäßige Berichterstattung aktueller Themen im Kommunalmagazin verstärkt werden. Dabei versuche sich das BMI, bzw. das Staatssekretariat für Integration, verstärkt als Ansprechpartner zu positionieren. Die zweite Säule bilde die Bundesländer übergreifende Zusammenarbeit. Sofern Interesse besteht, könne jedes Bundesland selbst Schwerpunktregionen sowie aktuelle Themen definieren. In Salzburg, Vorarlberg, Tirol, Niederösterreich und der Steiermark wurde diese Möglichkeit auch angenommen. Niederösterreich beschloss beispielsweise im Jugendbereich, Salzburg bei der Bewusstseinsbildung, anzusetzen. Wichtig ist dem BMI als Partner auch eine nachhaltige, längerfristige Komponente in die Projekte einzubringen. Dies wird in einem ersten Projektabschnitt durch eine zumindest einjährige Zusammenarbeit mit dem im BMI angesiedelten Integrationsfonds gewährleistet. Im zweiten Jahr sind die Länder aufgefordert ein gemeinsames, Landesgrenzen übergreifendes Projekt zu definieren. Die dritte Säule widme sich der praktischen Umsetzung. Die Leitprojekte werden mit den jeweiligen Bundesländern beschlossen. Den Gemeinden komme dabei eine wichtige Rolle zu. Da die Anonymität geringer ist, somit das „Fremdbleiben“ länger dauere, und Vereine bereits sehr stark ausgeprägt sind, versuchen die Projektkoordinatoren die Bürgermeister/innen zu motivieren, damit diese ihre persönliche, integrierende Rolle nützen. Um Gemeinden bei der Umsetzung von Integration zu unterstützen wurde gemeinsam mit der FH Kärnten ein Handbuch entwickelt. Dieses richte sich sowohl an Gemeinden, die in die Integrationsarbeit einsteigen wollen, als auch an solche die bereits begonnen haben, aber sich über die nächsten Schritte unklar sind. Dieses Handbuch wurde im Februar 2013 präsentiert. Großer Stellenwert wurde in der Erstellung auf die praktische Anwendung in den Gemeinden gelegt.

Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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Buchvorstellung: Praxishandbuch „Integration im ländlichen Raum“ Marika GRUBER, FH Kärnten, Wirtschaft und Management ZUSAMMENFASSUNG: Marika Gruber, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der FH Kärnten im Team Wirtschaft & Management, stellt in ihrem Vortrag das Praxishandbuch „Integration im ländlichen Raum“ vor, welches durch den Nationalen Aktionsplan für Integration angestoßen wurde. Dieses richtet sich praxisorientiert an Gemeinden, die weniger als 15.000 Einwohner, aber einen Anteil von Personen mit ausländischer Herkunft haben, der über dem österreichweiten Durchschnitt von 10% liegt. Das Handbuch erläutert Grundlagen, präsentiert „best practice“-Beispiele anderer Gemeinden und vermittelt Werkzeuge und Methoden zur Umsetzung von integrationspolitischen Projekten in sieben Handlungsfeldern. HINWEIS: Die Powerpointpräsentation des Vortrages kann hier abgerufen werden. HINWEIS: Dies ist nur eine kursorische Zusammenfassung des Beitrages – hören Sie den gesamten Vortrag auf dem IUFE-Podcast-Portal: Jederzeit – Spannend – Kostenlos! Aufbau, Methodik und Zielgruppe Das Handbuch „Integration im ländlichen Raum“ richtet sich an Gemeinden, die weniger als 15.000 Einwohner, aber einen Anteil von Personen mit ausländischer Herkunft haben, der über dem österreichweiten Durchschnitt von 10% liegt. Es versucht Anwendungswissen im Integrationsbereich zu vermitteln, einzelne Anwendungsfelder zu identifizieren und Ansprechmöglichkeiten anzubieten. Dabei soll auch auf die Finanzierungsfrage kleinerer Gemeinden eingegangen werden und Fördermöglichkeiten oder mögliche Synergien für die Region aufgezeigt werden. In Zusammenarbeit mit freiwillig teilnehmenden Gemeinden in ganz Österreich wurde das Handbuch mit vielen Ausfüllfeldern möglichst praktisch gestaltet, damit Gemeinden unkompliziert eigene Herausforderungen in der Integrationsarbeit identifizieren und umsetzen können. Zur Anwendung des Handbuches seien jedoch eine vertiefte Beschäftigung mit der Gemeinde sowie eine hohe Kenntnis der geographischen und demographischen Gegebenheiten notwendig. Das Buch möchte aber nicht nur Herausforderungen darstellen, sondern Akteur/innen auch am Beispiel ähnlich großer Gemeinden zeigen, wie Integration erfolgreich gelebt werden kann. „Good practice“-Beispiele sollen dabei als Anregung für andere Gemeinden dienen, integrationspolitisch aktiv zu werden und zudem als Hilfestellung dienen. Grundsätzlich gliedert sich das Handbuch in die folgenden drei Hauptteile: Grundlagen: Was ist Integration? Welche Kompetenzen sind erforderlich? Praxis: Welche gut funktionierenden Beispiele gibt es bereits? Methoden: Analyse und Werkzeuge zur Umsetzung für die eigene Gemeinde Integration als breites Feld begreifen Der erste Teil des Handbuches möchte das Integrationsverständnis der Anwendenden fördern. Da Integrationsprozesse unterschiedlich verlaufen können und sich im ländlichen Raum grundsätzlich andere Strukturen als im städtischen Bereich befinden, hat sich eine Gemeinde grundsätzlich zuerst die Fragen nach den Zugängen zum gesellschaftlichen Leben sowie den Gemeinsamkeiten und Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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Unterschieden ihrer Bewohner/innen zu stellen. Gerade in ländlichen Regionen bilden Bürgermeister/innen oft die erste Ansprechstelle für Migrant/innen. Spezialisierte Ansprechstellen, wie in Städten fehlen aufgrund der Kleinstrukturiertheit am Land häufig. Außerdem verlaufe die Anonymität anders, was sowohl positiv sein, aber gleichzeitig Migrant/innen das Einfinden in den neuen Ort erschweren kann. Das Handbuch skizziert sowohl den gesetzlichen Rahmen als auch Möglichkeiten, wie man Maßnahmen auch privatwirtschaftlich, ohne Hoheitsverwaltung, organisieren kann. Jedenfalls versuche es Integration als Querschnittsmaterie zu verankern. Wichtig sei, dass das Thema auch in Kindergärten, Schulen, Vereinen, der Gemeindeverwaltung und auch bei örtlich ansässigen Ärzten Einzug findet. Gleichzeitig wird für Gemeinden veranschaulicht, dass sie einen breiten Handlungsspielraum haben. Daher werden sieben einzelne Handlungsfelder, mitsamt ihrer Herausforderungen, Möglichkeiten und Ansprechstellen vorgestellt. Die Handlungsfelder Gruber hält es für besser, funktionierende Gemeindepraxis aufzuzeigen, statt aus theoretischen Überlegungen heraus Handeln anstoßen zu wollen. Häufige Herausforderung einer Gemeinde sei es die eigentliche Zielgruppe bei Veranstaltungen auch zu erreichen. Eine weitere Schwierigkeit sei die Wohnungsvergabe, an jene die Förderbedarf haben, ohne eine Benachteiligung der örtlich Ansässigen. Daher versuche das Handbuch möglichst praktische Tipps von Gemeinden für andere Gemeinden weiterzugeben. In sieben breit gefassten Handlungsfeldern widmet man sich den Themen des gesellschaftlichen Lebens, wie Zusammenleben und Wohnen, also Nachbarschaft, Arbeit, Sprache, Gesundheit, oder Rechtstaat und Werte. Ein wichtiges Thema für Integration ist bspw. Kommunalpolitik und Mitbestimmung. Kommunales Wahlrecht gilt aktuell nur für EU-Bürger/innen. Welche anderen Möglichkeiten der Mitbestimmung gibt es, um Drittstaatsangehörige, die in der Gemeinde wohnen, so gut als möglich mit einzubeziehen? Jedes Handlungsfeld wird in einem Gegenstands- und einem Herausforderungsbereich beschrieben. Im Bereich Sport und Freizeit könnte es etwa ein Herausforderungsbereich sein, ein unterschiedliches Freizeitangebot für Frauen zu schaffen, um ihnen mehr Aktivität und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Weiters ist es wichtig zu analysieren, welche Handlungsmöglichkeiten es in der Gemeinde für welche besonderen Zielgruppen gibt. Auch bereits lang Ansässige sind als eine Zielgruppe zu beachten, eine andere sind bspw. Verwaltungsmitarbeiter. Best practice-Beispiele Die praktische Relevanz versucht das Handbuch anhand von Impulsstatements, warum Integrationsarbeit notwendig ist, einzuleiten. Diese wurden sowohl von Gemeindepolitiker/innen selbst, als auch von Expert/innen aus der Wissenschaft verfasst. Auch hier lässt das Handbuch Platz für eigene Gedanken, die die Gemeindebeauftragten selbst notieren können. Danach werden bereits erfolgreich durchgeführte Projekte von klein- bis mittel-strukturierten Gemeinden vorgestellt, die als Vorbild für andere gelten können. Diese Projekte wurden entweder von den Gemeinden finanziert, organisiert oder selbst entwickelt, öfters sogar ohne das Bewusstsein hier integrationspolitisch aktiv zu werden. Gruber stellt exemplarisch einige Projekte kurz vor: Die Marktgemeinde Frankenburg am Hausruck konnte berichten, wie sich das Verhältnis zu Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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Migration und Integration vor und nach der öffentlich-medialen Berichterstattung um den Fall Arigona Zogaj, verändert hat. Zudem vergab man Wohnungen nach Dauer des Aufenthalts, und nicht nach Staatsbürgerschaft. In der Stadtgemeinde Knittelfeld gestaltete ein eigener, ehrenamtlicher Integrationsbeirat, für Neuankömmlinge eine Willkommensmappe, sowohl auf Deutsch, als auch in den meistgesprochenen Sprachen für Migrant/innen. In Neunkirchen (NÖ) unterstützten Integrationsmitarbeiter/innen Kindergartenkinder bei ihrem Übergang zur Schule. Dieses Angebot richtete sich nicht explizit an Migrant/innen. In Altach bietet der interkulturelle Eltern-Kind-Treff „Pinoccio“ spielerischen Platz zum Austausch und Kennenlernen. Die Gemeinde Telfs, hat in ihrem „Weißbuch“ begonnen systematisch zu erfassen, wer in der Gemeinde lebt. Diese Wissensgrundlage wird innerhalb der Verwaltung weitertransportiert, Zahlen werden öffentlich präsentiert und in der Gemeindezeitung gedruckt, um einen sachlichen Diskurs, auch beim Thema Integration, zu ermöglichen. In Wörgl möchte das Integrationsnetzwerk für interkulturellen Dialog Integrationsakteure vernetzen, um Austausch zu fördern und Synergien zu ermöglichen. Die niederösterreichische Caritas ermöglichte im Projekt „Zusammenleben“ Treffen von Expert/innen, örtlichen Gesprächspartner/innen sowie der Bevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund, um sachlich aber auch sensibel über Migration und Integration zu diskutieren und Anliegen und Bedürfnisse auf- und wahrzunehmen. Eigene Gemeindeprojekte entwickeln Im Handbuch finden sich viele Hinweise zu den einzelnen Gemeinden, wer, welches Projekt wie, wann umgesetzt hat und um zu überprüfen, ob die eigenen örtlichen Gegebenheiten ähnlich der, der Projektgemeinde sind. Ebenso beinhaltet es eine Übersicht, wer in welcher Region und welchem Land bereits integrationspolitisch aktiv wurde und wo es somit mögliche Ansprechstellen gibt. Außerdem wird auf Fördermöglichkeiten von Ländern, Bund und EU hingewiesen. Abschließend finden sich einzelne Felder für jedes Handlungsfeld, die von der eigenen Gemeinde auszufüllen sind. In einer „Toolbox“ werden 11 Instrumente vermittelt, die dabei helfen eigene integrationspolitische Arbeit zu analysieren und weiterzuentwickeln. Diese Tools sind sowohl für den Einstieg als auch die Vertiefung in die integrationspolitische Arbeit tauglich und wurden in der Praxis von den mitwirkenden Gemeinden erprobt und bewertet. Gruber hält es zwar für gut, wenn sich Bürgermeister/innen oder Gemeinderät/innen mit dem Handbuch und dem Thema Integration beschäftigten, ein echter Mehrwert für die Gemeinde entstehe aber erst bei der Gründung einer eigenen Arbeitsgruppe. BUCHTIPP: Das Praxishandbuch „Integration im ländlichen Raum“ ist im Studienverlag erschienen und auch als E-book erhältlich. Nähere Informationen finden Sie hier.

Eine Veranstaltung des Instituts für Umwelt – Friede – Entwicklung (IUFE) in Kooperation mit der Kommunalpolitischen Vereinigung (KPV), der Politischen Akademie (PolAK) und dem Centre for European Studies (CES). Gefördert von der Austrian Development Agency (ADA) und vom Bundesministerium für Wirtschaft, Familie und Jugend (BMWFJ).

Reader, IUFE/KPV-Fachtagung: Land.Stadt.Vielfalt. Von der Migration zur Integration (F. Leregger / C. Reithofer / J. Steiner)

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