Wie ist es, eine Farbe zu sein

„Wie ist es, eine Farbe zu sein“ Die ästhetische Wahrnehmung als Erkenntniszugang in der Kunsttherapie Peter Sinapius Zusammenfassung: Wenn wir uns wi...
Author: Hetty Weiß
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„Wie ist es, eine Farbe zu sein“ Die ästhetische Wahrnehmung als Erkenntniszugang in der Kunsttherapie Peter Sinapius Zusammenfassung: Wenn wir uns wissenschaftlich mit dem Wesen eines Phänomens wie beispielsweise dem Wesen einer Farbe beschäftigen, können wir mit naturwissenschaftlichen Erkenntnismethoden kaum die Frage beantworten, was ihr Wesen ist. Wir stoßen an die Grenze zwischen einer reflexiven Wahrnehmung, die sich mit der äußeren, sinnlichen und begrifflich bestimmbaren Erscheinung des Phänomens beschäftigt und einer ästhetischen Wahrnehmung, durch die das Phänomen in seiner phänomenalen Präsenz zur Sprache kommt. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich daher mit der für die Kunsttherapie nicht unwichtigen Frage, wie sich ästhetische Phänomene (wie beispielsweise das Wesen einer spezifischen Farbe) erkenntnistheoretisch erschließen lassen. In der Philosophie der Ästhetik finden wir Wahrnehmungsmodelle, die geeignet sind, wissenschaftstheoretische Zugänge zu ontologischen oder ästhetischen Fragen zu eröffnen und so zwischen einer naturwissenschaftlichen und einer ästhetischen Forschungspraxis zu differenzieren. Eine wesentliche Differenz ist, dass sich bei einer ästhetischen Forschungspraxis Erkenntnisse nicht durch sprachlich- empirische Reflektionen erschließen, sondern in actu, im Vollzug. Schlüsselworte: Kunsttherapie, kunsttherapeutische Forschung, ästhetische Forschung, Phänomenologie, Geisteswissenschaft, Wahrnehmung, Ästhetik

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1911 verfasste Kandinsky (2004) seine Schrift „Über das Geistige in der Kunst“. Er verfolgt darin die Idee, Bilder aus der inneren Notwendigkeit von Farbe und Form zu schaffen (66 f), ohne eine „äußerliche oder äußerlich geliehene Wirkung hervorzurufen“ (123). „Dann“, so schreibt er, „wird mit der Zeit die Möglichkeit sich entwickeln, durch reine künstlerische Mittel zu sprechen, dann wird es überflüssig werden, Formen aus der äußerlichen Welt zum innerlichen Sprechen zu leihen, die uns heute die Gelegenheit geben, Form und Farbe verwendend, dieselben im inneren Werte zu vermindern oder zu steigern.“ (121) Was in der Kunst möglich ist, ist für einen wissenschaftlichen Erkenntniszugang ein Problem: Ist es möglich, die innere Notwendigkeit einer Sache dadurch zu erfassen, dass wir sie selbst zum Sprechen bringen? 1. „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“ fragte 1974 der amerikanische Philosoph Thomas Nagel in einem vieldiskutierten Aufsatz, um darauf aufmerksam zu machen, dass wir mit naturwissenschaftlichen Erkenntnismethoden kaum die Frage beantworten können, wie es ist, ein anderes Wesen zu sein (Nagel, 1974). Der australische Philosoph Frank Jackson machte unter dem Titel „Was Mary nicht wusste“ 1982 ein Gedankenexperiment, das den Gedanken Nagels fortführte, indem er sich fragte, wie es mit unserem Wissen um die uns sinnlich gegebene Wirklichkeit bestellt ist. Als Beispiel wählte wie er unseren Erkenntniszugang zum Wesen der Farben (Jackson 1982), indem er folgendes Gedankenexperiment heranzog: Mary, so sein Gedankenexperiment, ist eine hoch qualifizierte Wissenschaftlerin, die aus irgendeinem Grunde ihr Leben in einem Raum verbringt, in dem es nur schwarze, weiße und graue Farben gibt. Ihr Spezialgebiet ist die Neurophysiologie des Sehens. Sie eignet sich „alle physikalischen Informationen an, die verfügbar sind, über das, was passiert, wenn wir reife Tomaten oder den Himmel sehen, und Begriffe wie 56

‚rot’, ‚blau’, usw. benutzen.“ Nun fragt Frank Jackson, was passieren wird, „wenn Mary aus ihrem schwarzweißen Raum gelassen wird oder wenn man ihr einen Farbfernseher gibt? Wird sie etwas lernen oder nicht?“ Ohne auf die philosophische Diskussion über das Verhältnis zwischen Körper und Geist eingehen zu wollen, die mindestens seit Descartes heftig geführt wird, ist vermutlich unstrittig, dass Mary neue Erfahrungen machen wird. Sicher bleibt das Erlebnis auch nicht ohne psychische oder sogar psychophysiologische Auswirkungen, die man untersuchen und beschreiben könnte. Vielleicht wird sie ihrem Erstaunen angesichts der Farben um sie herum mit einem „Wow!“ Ausdruck verleihen (Jackson 2006). Der eigentliche Erfahrungsinhalt aber, was eine Farbe ist, ist weder auf diese Weise noch mit den physikalischen Informationen, die Mary zur Verfügung stehen, ohne weiteres darzustellen. In der Wissenschaft hat man ihn einfach jenen Phänomenen zugeschlagen, die man „Qualia“ nennt. Weder der Begriff „Qualia“ noch die Tatsache, dass Mary „Wow“ macht, als sie das erste Mal Farben erblickt, hat erkenntnistheoretisch einen allzu großen Nutzen. Wie also lässt sich das, was Ursache ihres erstaunten Ausrufens ist, eine Farbe, erkenntnistheoretisch erschließen? Verknüpft man die Frage „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“ mit dem Gedankenexperiment von Jackson, gelangt man zu der Frage: „Wie ist es eine Farbe zu sein?“. Das hat Orham Pamuk in seinem Roman „Rot ist mein Name“ getan, indem er die Farbe Rot mit der Fähigkeit ausstattet, selber zur Sprache zu kommen. Was in der Literatur möglich ist, ist wissenschaftsmethodisch ein Problem - wir müssten gleichsam die Sache selber zum Sprechen bringen können. Zumindest stehen sich an diesem Punkt naturwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Erkenntniszugänge gegenüber. Es ist ein erheblicher Unterschied, ob wir uns mit der Frage beschäftigen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein oder mit der Frage, was eine Fledermaus ist. Über letzteres lie-

ße sich sehr spezifisch und wissenschaftlich nachvollziehbar etwas sagen, dagegen sind ontologische Fragen wie die über das Wesen einer Fledermaus oder über das Wesen der Farben etwas, über das weder biologische Untersuchungen noch empirische Daten, die sich aus der sinnlichen Anschauung erschließen lassen, Aufschluss geben können. Ich möchte in meinem Beitrag versuchen einen Zugang zu dem hier skizzierten Problem zu gewinnen, indem ich die damit verbundene Frage der Wahrnehmung aus dem Blick der Philosophie der Ästhetik beleuchte. „Der Wissenschaftler wird, wenn er mehr als nur sachkundig ist, - mit seinen Gefühlen und seinem Intellekt – „in seiner Arbeit“ sein und von Erfahrungen, die er im Forschungsprozess gemacht hat, tief beeinflusst werden.“ (Anselm L. Strauss 1998)

2. Wenn wir uns in der Kunsttherapie wissenschaftlich mit ästhetischen Gestaltungen beschäftigen, stehen wir ziemlich schnell vor einem ähnlichen Problem, wie in den Gedankenexperimenten von Nagel und Jackson. Wir können zwar unsere Erfahrungen beschreiben, die wir machen, wenn wir ein Bild sehen, was aber das Bild ist, lässt sich nicht ohne weiteres in eine diskursive Darstellung überführen. Vor zwei Jahren haben wir am Institut für Kunsttherapie und Forschung der Fachhochschule Ottersberg die Ergebnisse einer Forschungsstudie vorgelegt, die sich mit den künstlerischen Gestaltungen einer an Krebs erkranken Frau beschäftigt hat, die in der Kunsttherapie entstanden waren. Kurz vor ihrem Tod hatte sie den Wunsch geäußert, ihre Bilder einer größeren Anzahl anderen betroffenen Frauen zugänglich zu machen. Der Titel unserer Studie war „Möglichkeiten der Krankheitsbewältigung bei Krebs und bildnerisches Gestalten“ (Sinapius 2009). Wir waren mit einer Fülle von Bildern konfrontiert, in denen sich die Patientin in ganz unterschiedlicher Weise fundamentalen Fra-

gen ihres Lebens zugewandt hatte. Zunächst haben wir das Bildmaterial gesichtet und in Gruppen geordnet, um uns angesichts der Fülle der unterschiedlichen Bildphänomene einen Zugang zu dem uns vorliegenden Material zu erschließen. Ziemlich schnell stellten wir jedoch fest, dass sich die Bilder nicht von selbst verstanden, als sei in ihnen eine Bedeutung oder ein Sinn eingeschrieben. Es war an uns, ihnen einen Raum zu geben, in dem sie zur Sprache kamen. Wir begannen damit, unsere unmittelbaren Eindrücke, Reaktionen, Einfälle und Geschichten in die Untersuchung einzubeziehen. Um auf unsere subjektive Rolle in der Forschungsarbeit reflektieren zu können, beschlossen wir ein Forschungstagebuch zu führen. Darin befand sich ein Eintrag, der als Brief an die Patientin formuliert war und der folgende Aussagen enthielt: „…[ich] suche nach Worten für das, was mich in so unterschiedlicher Weise berührt hat. Ich finde mich konfrontiert mit meinen eigenen Ängsten, meiner eigenen Ratlosigkeit und meiner eigenen Hoffnung…“ „…Ihre Farben, Ihre Figuren und Motive habe ich aufgenommen, als hätten sie zu mir gesprochen. Nun suche ich nach einer Antwort, die Ihren Bildern ein Zuhause sein kann. Ich weiß, dass alles, was ich dazu sagen kann, nur eine mögliche Version einer anderen Geschichte ist. Darin aber, dass Ihre Bilder sich in solche Geschichten eingliedern, erfüllt sich für mich ihr Sinn...“1 Nun mag die Aussage, dass die Bilder in den Geschichten des Forschers erst ihren Sinn gewinnen, im Zusammenhang mit einem Forschungsprojekt befremdlich erscheinen, das es sich zur Aufgabe gemacht hat etwas herauszufinden darüber, welche Rolle die Bilder im Zusammenhang mit der ganz spezifischen Krankheitsgeschichte der krebskranken Patientin gespielt hatten. Die Umstände unter denen wir in eine Beziehung zu den Bildern 1) Ungeschriebene Briefe an Clara Meves/ Aus dem Tagebuch eines Forschers am 20.2.2009 in: Sinapius 2009, 44

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traten waren ja nun deutlich anders als die Situation derjenigen, die sie gemalt hatte. Welche wissenschaftlich verwertbaren Erkenntnisse kann man unter diesen Bedingungen gewinnen? Dass sich der Forscher zum Teilnehmer in seiner Forschung macht, ist in der qualitativen Forschung nicht neu. Das Besondere an unserer Situation war, dass wir es mit ästhetischen Erzeugnissen zu tun hatten, die wir nicht wie anderes empirisches Material verwenden konnten. Bildnerische Darstellungen verlangen eine besondere Art der Wahrnehmung, durch die sie sich in ihrer sinnlichen Fülle vernehmen lassen. Die Frage ist also: Was unterscheidet eine solche Wahrnehmung von einer „normalen“ Wahrnehmung und wie lässt sie sich methodisch in eine wissenschaftliche Forschungspraxis integrieren, in der es um das Wesen der Dinge, ihrer inneren Notwendigkeit und damit um teleologische Fragen geht? 3. Die Naturwissenschaft geht – grob vereinfacht – davon aus, dass sich unser Bewusstsein bildet durch die empirisch vorfindbaren Tatsachen, die uns in ihrer sinnlichen Erscheinung zugänglich sind. Wenn wir uns beispielsweise das grüne Blatt eines Baumes ansehen, ist unsere Vorstellung von diesem Blatt Resultat der Tatsache, dass es an seiner Oberfläche Lichtstrahlen reflektiert, über die wir durch unser Sehorgan dann ein Bild von diesem Blatt gewinnen können. Das grüne Blatt selber kommt in unserem Bewusstsein gar nicht vor, sondern nur die Wirkung, die von ihm ausgeht und zu einer mit dem Wahrnehmungseindruck verbundenen Repräsentation eines Blattes führt. Wovon wir ein Bewusstsein erlangen, ist die Wirkung und nicht die Ursache dieses Vorgangs. Die Frage ist also, wie wir zu dem Wesen einer Sache gelangen können, die uns zunächst durch ihre sinnliche Erscheinung eher verborgen bleibt. Das uns sinnlich gegebene grüne Blatt müsste uns in anderer Weise zu58

gänglich sein, als nur als Repräsentation eines gewöhnlichen Wahrnehmungseindrucks in unser Bewusstsein zu treten. In der Kunsttherapie stoßen wir ständig an diese Grenze zwischen einer reflexiven Wahrnehmung, die mit unserem diskursiven Erkenntnisvermögen verbunden ist und einer ästhetischen Wahrnehmung, durch die die Dinge in ihrer phänomenalen Präsenz zur Sprache kommen. Ein Beispiel aus der kunsttherapeutischen Praxis (Sinapius 2010, 198): Eine Therapeutin erzählte mir im Rahmen einer Studie von einem etwa sieben Jahre alten Mädchen, das wegen extremer Zwänge in die Therapie kam. Das Mädchen monologisierte ununterbrochen, begann damit bereits auf der Treppe bevor sie in die Praxis kam, und dann redete sie in einem fort bis die Stunde vorüber war. Die Therapeutin sah sich vor die Herausforderung gestellt, dem nicht enden wollenden Redefluss ihrer Patientin zu folgen. So sehr sie sich auch bemühte, konnte sie den Sinn ihrer Worte nicht entschlüsseln. „…ich habe immer versucht zu verstehen, was sie sagt, aber ich konnte das nicht verstehen, weil es so schnell war. …ich durfte nichts sagen und ich habe nur tiefer geatmet und dann hat sie sofort … gesagt: „Nicht atmen!“ Und dann hat sie weitergeredet. …ich fand die Stunde mit ihr furchtbar anstrengend, weil ich mich total kontrolliert fühlte, weil sie mich so fixiert hat, dass ich mich um Himmels willen nicht bewegte und nichts sagte. So habe ich irgendwann gedacht: Das kann so nicht weitergehen.“ „Und dann habe ich mir gedacht, man [muss] … nicht versuchen, dieser Sprache hinterher zu rennen und dem Verständnis, was ich nicht schaffen konnte, sondern ich nehme ihre Worte wie Musik, als würde sie singen, ohne Sprache. Und das habe ich gemacht: Und dann schwoll es an und ab! Und dann machte es … ganz verschiedene Formen - und ich habe gemerkt, wie sie immer ruhiger wurde.“ Damit kehrte sich die Wahrnehmungsrichtung um: Anstatt ihre Wahrnehmung auf die

Bedeutung der Worte zu richten, tauchte die Therapeutin nun in den Redestrom ein und ließ ihn auf sich „wirken“. Wie aus dem Nichts tauchten dann Bilder in ihr auf, die sie aufmalte und mit ihrer Patientin teilen konnte. „Und dann [habe ich] … eine Fülle von absurden Bilder gehabt, die ich dann aufgemalt habe. … Sie sagte: „So war es: Genau dass ist mein Bild.“ … Denn auf so ein Bild wäre ich nie gekommen. … alle diese Bilder habe ich zunächst überhaupt nicht verstanden. Aber [sie haben] mir dann ganz viel Ausschluss über ihre Erfahrung gegeben.“ In diesem Beispiel konkurrieren verschiedene Wahrnehmungen miteinander, die mit unterschiedlichen Erfahrungen verbunden sind. Zunächst versucht die Therapeutin vergeblich dem Redefluss zu folgen und zu verstehen, was das Mädchen sagt. Sie fühlt sich kontrolliert und die Stunden fürchterlich anstrengend. Nachdem sie ihre Wahrnehmung auf die Stimme und nicht mehr auf die Sprache richtet, steigen in ihr Bilder auf, die sich an ihr entzünden. Jetzt hat sie es nicht mehr mit eigenen Gefühlen der Abwehr und Vermeidung zu tun, sondern mit Bildern, die sich zwischen ihr und dem Mädchen einstellen. Das Interessante daran ist, das sie gestaltend an dem mitwirkt, was in ihre Wahrnehmung tritt. Was dann geschieht, ist Folge eines dialogischen Geschehens an dem sowohl das Mädchen als auch sie beteiligt ist. In der Philosophie der Ästhetik finden wir Wahrnehmungsmodelle, die geeignet sind zu beschreiben, was in dem angeführten Beispiel passiert. Die entsprechende historische Entwicklung einer Theorie der Wahrnehmung ließe sich bis in die jüngste Zeit nachzeichnen. Ich will mich hier darauf beschränken, einige ihrer wesentlichen Aspekte anzudeuten. 4. Zunächst macht die jüngere Philosophie der Ästhetik einen Unterschied zwischen einer sinnlichen und einer ästhetischen Wahrnehmung. Was uns ein grünes Blatt vergegenwärtigt, hängt davon ab, wie wir darauf blicken.

Wenn wir ein grünes Blatt ansehen, können wir zunächst feststellen, dass es so oder ähnlich aussieht wie andere Blätter auch und wir können es z.B. mit der Vorstellung verbinden, dass es die Aufgabe hat, durch photosynthetische Prozesse Sauerstoff zu erzeugen. Ein ästhetisches Sehen würde dagegen von seiner allgemeinen Erscheinung, seiner funktionalen Bestimmung und den damit verbundenen Vorstellungen absehen und es erfassen in seinen spezifischen Proportionen, seiner ganz individuellen Erscheinung, die es von anderen Blättern unterscheidet, seiner von Licht und Schatten unterschiedlich bestimmten Farbigkeit, seiner materiellen Beschaffenheit usw. usf. An die Stelle des eindeutig bestimmbaren Blattes würde es in der Vielfalt seiner phänomenal zugänglichen Gegebenheiten in unser Bewusstsein treten. Das ästhetische Sehen unterscheidet sich so erheblich von einem alltäglichen Gegenstandssehen. An die Stelle eines begrifflich eindeutig identifizierbaren Objektes tritt ein zunächst diffuser Wahrnehmungseindruck. Statt unseren Blick auf etwas zu richten, müssen wir uns von dem Ding und der Fülle der Eindrücke, die es ausmachen, ergreifen lassen. So, wie Adorno in Zusammenhang mit einer solchen Wahrnehmung von einem Lauschen im Gegensatz zu einem Lokalisieren spricht (vgl. Seel 2003, 52), so könnte man von einem Schauen anstelle eines fixierenden Sehens oder von einem Spüren anstelle eines Begreifens sprechen. Ein solches Wahrnehmen ist eher diffus und vollzieht sich in dem Zusammenspiel aller Sinne durch unser Erleben hindurch (Lippe 1987, 356). An das hiermit sich entwickelnde Verständnis von Aisthesis, dass nicht nur auf die Kunst sondern allgemein auf das Feld sinnlicher Wahrnehmungen bezogen wird, knüpfen aktuelle philosophische Entwürfe zu einer Theorie der Ästhetik an. Sie erweitern das Feld ästhetischer Phänomene, indem sie die Bedingungen ästhetischer Wahrnehmung als „Ästhetik des Erscheinens“ (Seel 2003) untersuchen und die „Atmosphäre“ oder „Aura“ 59

als Grundbegriffe einer neuen Ästhetik einführen. In Anknüpfung an den von Benjamin (1969) eingeführten Begriff „Aura“ definiert Böhme (1995) die „Atmosphäre“ als eine gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen und verwendet ihn für künstlerische Werke ebenso, wie für Menschen, Räume oder die Natur. Die Atmosphäre ist uns, so Böhme, in ähnlicher Weise zugänglich, wie andere Wahrnehmungen. Wenn wir ein Blatt als „grün“ bezeichnen, ist das eine Wirklichkeit, die wir mit dem Blatt teilen. Ebenso wie die Atmosphäre einer Landschaft als heiter oder dramatisch wahrgenommen werden kann, können wir auch die Grünheit eines Blattes als etwas erfahren, das in unsere Wahrnehmung spricht. Eine so verstandene Ästhetik stellt die traditionelle Werkästhetik gewissermaßen auf den Kopf, in dem sie dem Wahrnehmenden nicht mehr das Unterscheiden oder Identifizieren von Merkmalen oder Bedingungen an Objekten zuweist („Das Blatt ist grün“), sondern die Ästhetik vom anderen Ende her untersucht: das Sich - Zeigende, das Sich Entbergende, das, zu dem ich nicht ausgehe, sondern das mich in seinen Bann zieht. Ihr Ausgangspunkt ist nicht der Gegenstand oder die Situation der Anschauung, sondern das Ereignis als Erfahrbarmachung von Sprüngen und Plötzlichkeiten (Mersch 2002, 11), die mehr mit einem Gewahrwerden denn mit einem „normalen“ Wahrnehmen zu tun haben. Mehr als das, was sichtbar, hörbar, riechbar ist, geht es dabei um das, was als Sprung, als Leerstelle, als Differenzerfahrung in unsere Wahrnehmung tritt: die Atmosphäre oder Aura. Gernot Böhme beschreibt die ästhetische Wahrnehmung als Anregungsprozess. Durch ihn gelangt man in ein quasi dialogisches Verhältnis zur Welt: „…wahrnehmend wird man seiner selbst als anwesend in einer Umgebung inne. Wahrnehmung ist eine geteilte Wirklichkeit. Sie ist Subjekt und Objekt, dem Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen gemeinsam. Das wahrnehmende Subjekt 60

ist wirklich in der Teilnahme an der Gegenwart der Dinge, das wahrgenommene Objekt ist wirklich in der wahrnehmenden Präsenz des Subjekts.“ (Böhme 1995, 177) Eine solche Wahrnehmung wird durch ein Anderes berührt. Das Auratische eines Kunstwerkes, wie es Benjamin (1969) nennt, tritt dem Betrachter entgegen. Diese Aura zeigt sich nicht einem prüfenden, bestimmenden und identifizierenden Sehen, sondern blickt mich an. Die auratische Erfahrung folgt einer Wahrnehmung, die sich der Ankunft dessen überlässt, was als Ereignis in das Gewahrsein tritt, sich aber einem bloßen Hinsehen auf das Sichtbare entzieht. Die Wahrnehmung, die sich einer Sache hingibt, übernimmt für das Andere, das Sich -Ereignende Ver- Antwortung. Dieses Antworten, das wir auf uns nehmen, nennt Mersch mit Bezug auf Waldenfels (1999) „Responsivität“. In dem Wort Responsivität steckt der Begriff „Response“, das Antworten, dem im Englischen das „to respond“ entspricht, im Unterschied zu dem Erteilen einer Antwort („to answer“), das auf eine Frage erfolgt, die in Erfahrung bringen will, was ein anderer weiß. Ein Antworten kann also etwas reproduzieren, das bereits gewusst wird. Es kann sich aber auch auf Fremdes, Unbekanntes beziehen. Im diesem Fall handelt es sich, so schreibt Waldenfels (1994, 76), „um eine mehr oder weniger produktive, kreative Antwort, die sich auf eine Sache bezieht, auf die Wittgensteins Bemerkung zutrifft: «Ich kenne mich nicht aus.»“ Wer so antwortet, gibt etwas, „was er nicht hat, sondern im Geben der Antwort erfindet.“ 5. Unsere Wahrnehmung steht so gesehen nicht unbedingt in einem monokausalen Zusammenhang zu dem, was wir wahrnehmen. Das grüne Blatt, das ich in den Augenschein nehme, kann mir auf ganz unterschiedliche Weise gegenwärtig werden. Je nachdem, wie sich meine Wahrnehmung auf einen Gegenstand oder eine Situation richtet, so antworten sie mir.

Wenn ein ästhetisches Wahrnehmen erkenntnisbildend ist, müsste es in eine Forschungspraxis einbezogen werden können, die sich mit ontologischen oder ästhetischen Fragen beschäftigt. Erkenntnisse erschließen sich dann nicht reflexiv, indem eine Situation ausgewertet wird, sondern in actu, im Vollzug. Eine wissenschaftliche Forschung kann in diesem Sinne nur als aktiv gestaltender Vorgang verstanden werden, bei dem der Forscher die Aufgabe hat, dem, zu dem er eine Beziehung aufnimmt, einen Raum zu geben, in dem es zur Sprache kommen kann. Eine solche wissenschaftliche Praxis muss selber ästhetisch sein. Thomas Nagel hat für sein Gedankenexperiment „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“ übrigens mit Bedacht die Fledermaus und nicht den Dackel oder die Schildkröte gewählt. Fledermäuse verfügen, so die Überlegung, scheinbar über einen vollkommen anderen sensorischen Apparat als der Mensch und damit über andere Wahrnehmungsmöglichkeiten. Das aber ist nicht ganz richtig (Rojas 2009): Der blinde Kalifornier Dan Kish trainiert andere Blinde darin, sich ähnlich wie die Fledermaus zu orientieren (Dworschak 2004). Er ortet die Dinge über das feine Echo, das sie zurückwerfen. Um sich sicher fortzubewegen, schnalzt er etwa zweimal pro Sekunde mit der Zunge und die Dinge um ihn herum - antworten.

– Kandinsky, Wassily (2004). Über das Geistige in der Kunst. Insbesondere in der Malerei. Originalausgabe von 1912. Bern: Benteli Verlag. – Lippe, Rudolf zur (1987). Sinnenbewußtsein. Grundlegung einer anthropologischen Ästhetik. Hamburg: Rowohlt. – Mersch, Dieter (2002). Ereignis und Aura – Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. – Nagel, Thomas (1974). What Is It Like to Be a Bat? In: The Philosophical Review. Vol. 83, No. 4. (1974), S. 435450. – Rojas et al. (2009). Physical Analysis of Several Organic Signals for Human Echolocation: Oral Vacuum Pulses. Acta Acustica united with Acustica, 2009; 95 (2): 325. – Sinapius, Peter (Hg.) (2009). “So will ich sein” / Krankheitsbewältigung bei Krebs - Bilder aus der Kunsttherapie. Köln: Claus Richter Verlag. – Sinapius, Peter (2010). Ästhetik therapeutischer Beziehungen – Therapie als ästhetische Praxis. Aachen: Shaker Verlag. – Seel, Martin (2003). Ästhetik des Erscheinens. Frankfurt am Main: Suhrkamp. – Strauss, A. L. (1998). Grundlagen qualitativer Sozialforschung. 2. Auflage. München. – Waldenfels, Bernhard (1999). Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden. Frankfurt am Main: Suhrkamp. – Waldenfels, Bernhard (1994). Response und Responsivität in der Psychologie. In: Journal für Psychologie, 2 (2). Lengerich: Pabst Science Publishers. 71-80

Peter Sinapius [email protected]

Literatur – Benjamin, Walter (1969). Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt: Suhrkamp. – Böhme, Gernot (1995). Atmosphäre – Essays zur neuen Ästhetik. Frankfurt am Main: Suhrkamp. – Dworschak, Manfred (2004). Der Fledermausmann. In: Der Spiegel 22/2004. 156-161. – Jackson, Frank (1982). Epiphenomenal Qualia. In: Philosophical Quarterly 32, 1982, S. 127-136. – Jackson, Frank (2006). Mind and Illusion. German translation: Bewußtsein und Illusion. (together with H.D. Heckmann). In: H.-D. Heckmann & S. Walter (Hrsg.), Qualia - Ausgewählte Beiträge. Paderborn: mentis, 2. 2. revised and expanded edition 2006, 327-353.

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