Wider den Unsinn im Umgang mit der ­Milieuperspektive Eberhard Hauschildt, Eike Kohler und Claudia Schulz

Zusammenfassung: Ideologisierung, Instrumentalisierung, Kommerzialisierung und Trivialisierung – bei der Verwendung der Milieutheorie können sich viele Probleme einstellen, sowohl in der Praktischen Theologie wie in der kirchlichen Arbeit. Wer mit Milieus arbeitet, sollte niemals vergessen, dass es sich dabei um Konstrukte handelt, und erstaunlicherweise ermöglicht ihre Dekonstruktion wiederum, die Einsichten der Milieutheorie auch in Feldern stark zu machen, in denen eine Differenzierung nach Milieus wenig austrägt. Abstract: The authors of this article, who have worked in popularizing the milieu theory in practical theology and church practice, feel that it is now time to point to the dangers of its use in an ideologizing, instrumentalizing, commercializing, and trivializing manner. If you work with the concept of milieus, never forget that they are only a theoretical construction. However, understanding from which “dimensions” they are constructed helps in the analysis of social behaviour even in areas where the constructed milieus cannot be identified.

Um falsche Erwartungen gleich anfangs zu enttäuschen: Dieser Artikel handelt nicht davon, dass wir nun plötzlich eine Kehrtwende vorgenommen hätten und uns – eines Anderen belehrt – neuerdings gegen die Nutzung der Milieuperspektive für eine praktisch-theologische Reflexion oder kirchliches Handeln wenden würden, gewissermaßen ins „gegnerische Lager“ übergewechselt seien. Aber wir halten es für an der Zeit, deutlich zu machen, welche problematischen Umgänge mit der Milieutheorie es mittlerweile in der Praktischen Theologie und den Texten der kirchlichen Praxis (die wiederum eine Praxis der Kirche spiegeln) gibt. Wir wollen zum Ausdruck bringen, was die Milieutheorie nicht sein sollte und nicht leistet, um so weiter zu klären, was sie sein kann und leistet – und unter welchen Bedingungen sie ausgesprochen sinnvoll genutzt werden kann. Die Anwendung der Milieuperspektive in der Praktischen Theologie haben wir selbst mit als erste vor bald 15 Jahren gefordert,1 uns dann an der Auswertung ihrer Umsetzung in der Kirchenmitgliedschaftsstudie zur Umfrage von 2002 beteiligt2 und haben uns schließlich für ihre Verbreitung in der 1 Eberhard Hauschildt, Milieus in der Kirche. Erste Ansätze zu einer neuen Perspektive und ein Plädoyer für vertiefte Studien, in: Pastoraltheologie 87 (1998), 392–404. 2 Claudia Schulz, Wie Lebensstile die Kirchenmitgliedschaft bestimmen. Das Bedürfnis nach Gemeinschaft und das Interesse an Mitarbeit als Beispiele für lebensstilspezifische Differenzen, in: Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge. Die vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, hg. von Wolfgang Huber / Johannes Friedrich / Peter Steinacker, Gütersloh (2006), 263–272; dies., Ehrenamt und Lebensstil. Neue Daten zur Mitarbeit und Beteiligung in Kirche und Diakonie, in: PTh 95 (2006), 369–379. Wege zum Menschen, 64. Jg., 65–82, ISSN 0043-2040 © 2012 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

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Kirche eingesetzt.3 Wir sind froh, dass durch den Einsatz vieler engagierter Menschen die Milieuperspektive angekommen ist in Praktischer Theologie und Kirche. In fast allen gegenwärtigen Gesamtdarstellungen der Praktischen Theologie oder Lehrbüchern etwa zur Seelsorge wird die Milieuperspektive wenigstens im Nebensatz genannt; in manchen Debatten wie etwa zu Kirchenmitgliedschaft und Kirchenaustritt, zu den kirchlichen Angeboten insgesamt und zum Gottesdienst im Besonderen kommt man nicht mehr an ihr vorbei. In kirchlichen Aktionen wird sie zum Hauptgesichtspunkt erhoben, vor allem mit dem Milieuprojekt der Katholischen Kirche auf der Basis der Sinus-Milieus,4 aber auch beispielhaft bei einer Kirchenwahl.5 Dass bei einer solch breiten Rezeption auch vermehrt „Fehler“ passieren, je mehr Menschen mit der Milieuperspektive arbeiten, ist zu erwarten. Wir wollen nicht darüber klagen, dass die Milieuperspektive so populär geworden ist. Darum wollen wir im Folgenden auch nicht versuchen nachzuweisen, wo im Einzelnen in welchen Texten unseres Erachtens Unsinn mit der Milieuperspektive getrieben wird. Wenn wir an einzelnen Stellen dennoch Zitate verwenden, dient dies nur dem besseren Verständnis der Argumentation. Vielmehr gestalten wir den vorliegenden Artikel so, dass wir uns auf bestimmte Grundargumentationsmuster konzentrieren, die wir für problematisch halten. Wir nehmen also unsererseits eine Typisierung des vorhandenen Unsinns mit der Milieuperspektive vor. Die Typen sind so angeordnet, dass wir damit gewissermaßen von dem die Milieuperspektive stärker äußerlich treffenden Unsinn bis in die Interna der Milieuperspektive voranschreiten. 1  Wider die Ideologisierung der Milieuperspektive Dieser unsinnige Umgang mit der Milieuperspektive findet sich in zwei gegenläufigen Erscheinungsformen. Zum einen ist er häufig dort wahrzunehmen, wo die Nutzung der Milieutheorie kritisiert wird. Dann lautet das Argument: Die Milieuperspektive ist deswegen abzulehnen, weil sie nicht theologisch ist. Als soziologische Perspektive könne sie eben gar nicht angemessen die Wirklichkeit von Kirche erfassen und lenke die Aufmerksamkeit von den Inhalten auf die Äußerlichkeiten kirchlicher Arbeit, etwa von Glaubensfragen zu Stilfragen. Die Kirche vollziehe sich ja als Gemeinschaft der Glaubenden in Wahrheit „jenseits der Milieus“ oder sie sei ein „Milieu ganz eigener Art“, in dem die Milieus der Milieutheorien doch keine Rolle mehr spielen – spielen dürfen. Darum sei auch die Beschäftigung mit der Milieuperspektive über3 Claudia Schulz / Eberhard Hauschildt / Eike Kohler, Milieus praktisch. Analyse- und Planungshilfen für Kirche und Gemeinde, Göttingen 2008 (3. Aufl. 2010); dies., Milieus praktisch II. Konkretionen für helfendes Handeln in Kirche und Diakonie, Göttingen 2010. 4 http://www.sinus-institut.de/loesungen/sinus-milieus.html. 5 So etwa im Rahmen der Vorbereitung der Kirchenvorstandswahl 2007 in der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW).



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flüssig, ja gefährlich, weil sie einer Aufteilung der einen Kirche in einander fremde Milieus gerade Vorschub leiste. Damit wird die Milieuperspektive als Überbringerin der schlechten Nachricht gescholten. Und man greift dann auf das bekannte Mittel denkerischer Abschottung zurück, Theologie als von nicht-theologischen Erkenntnissen unberührte Reflexionsform zu stilisieren. Das ist ein alter Hut, denn längst hat die Debatte über das Verhältnis von Theologie und Philosophie, spätestens aber doch die über das Verhältnis von Theologie und Psychologie das Ergebnis erbracht, dass sich Theologie und Humanwissenschaften nicht gegeneinander ausspielen lassen. Vielmehr ist es gegenwärtig weitgehend Konsens, dass im Dialog der Wissenschaften miteinander und in der Bezugnahme aufeinander wichtige Erkenntnisfortschritte stattfinden. Dies ist auch bei der Theologie und ihrem Dialog mit anderen Wissenschaften nicht anders. So weit, so selbstverständlich eigentlich. Interessanter ist darum die zweite Erscheinungsform einer Ideologisierung der Milieuperspektive auf Kirche, Gemeinde und Glauben: Die genannte Abschottungsfigur findet sich nicht nur bei dem Versuch, die Herausforderungen der Milieuperspektive abzuweisen. Sie kann auch da begegnen, wo man sich die Milieuperspektive auf die Fahnen schreibt und sie als neue Sicht feiert, die vermeintlich theologische Konflikte als Stilfragen entlarvt: Ist es denn nicht erfreulich, dass man mit der Milieuperspektive nachweisen kann, dass etwa viele Konflikte in der Kirche und gerade auch in den Kirchengemeinden (z. B. um die richtige Musik in der Kirche, um Kunst in der Kirche) als theologische Konflikte geführt werden, obwohl sich hinter ihnen in Wahrheit nichts als Milieukonflikte verbergen, Konflikte zwischen Mentalitäten, Kulturen, Stilen? Liefert die Milieuperspektive nicht auch eine plausible Erklärung dafür, warum welche Menschen mehrheitlich kirchennah oder kirchenfern sind? Diese aufklärerische und entmystifizierende Wirkung hat die Milieuper­ spektive in der Tat. Sie lenkt die Aufmerksamkeit zunächst auf die „äußeren Dinge“ und entfaltet darin einen gewaltigen Nutzen, wenn es darum geht, neue und hilfreiche Perspektiven auf die Gegebenheiten zu entwickeln. Aber wer dabei stehen bleibt, wer die Milieuperspektive so erscheinen lässt, als könne sie anstelle der Theologie entscheidungsleitend werden bzw. als sei mit dem Einsatz der Milieuperspektive schon alles getan, als müsse man nur anerkennen, dass es verschiedene Milieus gibt mit verschiedenen Bedürfnissen, und nun entsprechend den Bedürfnissen der Milieus die jeweilige kirchliche Arbeit strukturieren, der begeht de facto Verrat an der Theologie. Er überdeckt mit den Milieubeschreibungen die Frage nach der Einheit der Kirche und der Grenzen überwindenden Kraft des Evangeliums. Solch ein Umgang mit der Milieuperspektive tut aber auch dieser selbst unrecht. Die Ausbildung einer Milieuspezifik hat – in der Kirche wie in der Gesellschaft ganz allgemein – die wichtige Funktion, durch markante Unterschiede zwischen dem Eigenen und dem Fremden soziale Zugehörigkeit zu stärken und zum Ausdruck zu bringen. So ist der Mensch, genau das braucht

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er, könnte man vereinfacht sagen. Er umgibt sich mit Seinesgleichen und hält sich die Zumutung anderer Stile und Einstellungen in vielen Lebensbereichen gern vom Leib. Wenn in der Analyse der Gesellschaft Milieutypen sichtbar werden, sind diese zunächst weder gut noch schlecht, sie bilden soziale Realität ab. Diese wahrzunehmen hilft, die Folgen einzuschätzen und die Chancen im Umgang mit der Verschiedenheit zu erkennen. Wird nun die Milieuanalyse positiv ideologisiert, werden damit leicht die Aversionen und Aggressionen der Milieus gegeneinander und der Machtkampf zwischen ihnen ausgeblendet – das Bild vom angeblich freundlichen Nebeneinander wird zur selbstverständlichen Leitfigur eines (praktisch möglichen) kirchlichen Lebens. Das ist aber schlicht unrealistisch, gerade angesichts der kirchlichen Entscheidungszwänge aufgrund von knapper werdenden Ressourcen. So beschreibt eine derart verstandene Milieuperspektive ein Trugbild von der kirchlichen Realität. Der wesentliche Gewinn, den die Anwendung der Milieutheorie für die Kirche bringt, liegt nicht darin, dass mit ihr nun gefordert werden kann, neben den typischerweise kirchennahen Milieus doch auch mehr Menschen aus anderen, kirchenfernen Milieus in die Kirche zu bringen. Dass bestimmte Altersgruppen und soziale Schichten von der Kirche schlecht erreicht wurden, ist seit bald 200 Jahren bekannt. Auf welchen Merkmalen aber im Einzelnen die Abstoßungseffekte beruhen und wie sie systematisch Ausschlüsse wieder reproduzieren – das lässt sich durch die Milieuperspektive besonders gut verstehen. Und umgekehrt lassen sich Bedürfnisse und Interessen identifizieren, in denen Menschen verschiedener Milieus punktuell übereinstimmen und die damit Begegnungen ermöglichen. Auf dieser Basis wird die Haupt-Herausforderung der Milieuperspektive überhaupt erst sichtbar: Wie kann Kirche angesichts dieser Sachlage noch ein Ort sein bzw. werden, an dem die Angehörigen der unterschiedlichen Milieus sich begegnen und gemeinsam Gott begegnen können? Eine dritte Form der Rezeption der Milieuperspektive stellt sich ebenfalls als verdeckte Ideologisierung dar: Wir erreichen mit unserem Angebot, so wie es ist, momentan nur einen Teil unserer Mitglieder.6 Wer die Ergebnisse der Milieuperspektive auf diese gängige Weise zusammenfasst, nimmt damit bereits verdeckt eine spezifisch kirchliche Wertung vor und lässt sich ebenfalls nicht wirklich von der Milieuperspektive herausfordern. Missachtet werden mit dieser Haltung die Millionen von Kirchenmitgliedern in den angeblich 6 In diesem Tenor wurden in der katholischen und evangelischen Kirche vielerorts die Ergebnisse von Milieustudien aufgenommen, beispielhaft im Erzbistum Köln, wo die Milieuperspektive inzwischen ein zentrales Instrument der Kirchenentwicklung geworden ist. Hier heißt es: „Katholische Kirche ist in der Gesellschaft immer weniger präsent. Sie ist nur noch in maximal drei von zehn lebensweltlichen Milieus in Deutschland beheimatet; in Pfarrgemeinden lassen sich nur noch in [sic!] zwei, maximal zweieinhalb identifizieren.“ Vgl. http:// www.erzbistum-koeln.de/seelsorgebereiche/wir_fuer_sie/fachbereich_pastoral/konzeptenwicklung/sinus_milieu_studie/sinus_milieus_deutschland.html (27.4.2011).



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„nicht erreichten“ Milieus. Unterschlagen wird, dass diese ja doch auch ihre offensichtlich ziemlich stabilen Gründe haben, Kirchenmitglieder zu sein, und dass sie sich bei aller Halbdistanz in bestimmter Weise durchaus als Menschen erleben, die in einer sinnvollen Beziehung zur Kirche stehen und sie finanziell unterstützen. Diese haben aber ein Recht darauf, dass die Kirche ihre Beweggründe ernst nimmt und daraus Konsequenzen ableitet. Stattdessen werden die Zahlen der Milieuzugehörigkeiten wahrgenommen unter der stillschweigenden Voraussetzung, dass nur in bestimmter Weise aktive Kirchenmitglieder als Kirche zählen, als hätte es die vergangenen Jahrzehnte religionssoziologischer Forschung und die Entdeckung der „Treuen Kirchenfernen“ nie gegeben. Allen drei Formen der Ideologisierung der Milieuperspektive ist gemeinsam, dass sie ihre theologischen Leitbilder nicht auf die Milieutheorie beziehen, sondern entweder die Milieuperspektive an die Stelle eines theologischen Leitbilds setzen (und sie dann ablehnen) oder die eigenen theologischen Leitbilder (von Vielfalt oder Einheitlichkeit der Kirche) hinter ihr verstecken. Theologische Idealbilder und theologische Einsichten aber sind als solche zu behandeln und zu diskutieren. So ist dann auch die theologische Leitvorstellung von der einen Kirche und die theologisch begründete Erwartung auf Überwindung der Milieuspaltung durch das Evangelium gerade nicht aufzugeben. Erst wenn solche Leitvorstellungen in den Diskurs eingebracht werden, wird die mehr oder weniger neutrale soziologische Theorie von der scheinbar neutralen Beschreibung der Realität zum theologischen Argument, aus dem sich handlungsleitende Folgerungen entwickeln lassen. Unterbleibt diese Verknüpfung, so wird die Milieuperspektive als pseudo-theologisches Argument zum Trugbild. Und, auch das sei noch einmal gesagt, ihrerseits verhilft die Milieuperspektive der Theologie dazu, gerade die Frage schärfer zu stellen, wie sich denn das Ziel der Milieuüberwindung und deren Realität in Christus schon jetzt zu den faktischen sozialen Unterschieden und Gruppenbildungen verhalten. 2  Wider die Instrumentalisierung der Milieuperspektive Es ist also ein Unsinn, die Beschreibungsleistung der Milieuperspektive mit einem kirchlichen Ideal gleichzusetzen. Die Milieuperspektive ist weder Heilsbotschaft noch Irrlehre. Sie ist eben, so haben auch wir seinerzeit betont, nicht mehr als eine Sehhilfe, ein „Instrument“, und stellt deshalb weder schon selbst eine bestimmte Theologie dar noch schreibt sie eine solche vor.7 Und in der Tat wurde die Milieuperspektive ja auch breit rezipiert, von Liberalen wie Konservativen, in Kirchenleitungen wie durch evangelikale Gruppen. Dabei wurde ihre Reichweite im Blick auf theologische Konsequenzen allerdings 7 Schulz / Hauschildt / Kohler, Milieus praktisch, 9 f., 13–15.

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nicht nur wie in den gerade genannten Fällen überschätzt, sondern oft auch unterschätzt. Für diejenigen Kreise, die an Mission interessiert sind, liefert die Milieutheorie eine willkommene genauere Beschreibung derer, die missioniert werden sollen. Sie führt vor: Das sind die Menschen, die wir zu Christus führen wollen. Wir müssen dazu aber ihre Sprache sprechen und uns in ihren Netzwerken aufhalten. So wird die Milieutheorie in diesen Gruppen dazu benutzt, um eine Anpassung in den Formen kirchlicher Verkündigung zu fordern.8 Missionarische Gemeindearbeit soll das Problem der volkskirchlichen Milieuverengung überwinden. An der Rezeption der Milieutheorie fällt hier außerdem auf, dass sie besonders dazu eingesetzt wurde, um herauszuarbeiten: Wir brauchen und wollen eine plurale Mission, die Pluralität verschiedener missionarischer Angebote und missionarischer Gemeinden nebeneinander. Auch Mission muss plural sein. Es hat sich in diesem kirchlichen Bereich ein Wandel in der Bewertung von Pluralität vollzogen: Während sie vorher als gefährliche Beliebigkeit beargwöhnt worden war, wird sie nun als milieuspezifische Differenzierung willkommen geheißen. Aber bei genauerem Hinsehen zeigt sich: Vom Wandel in den Sozial- und Kommunikationsformen scheint der Inhalt dann doch nicht tiefer berührt zu sein. Die Theologie kann im Grund genau das bleiben, was sie vor Auftreten der Milieutheorie war, nämlich die eine, unwandelbare Botschaft des Evangeliums, die lediglich sekundär in die Sprache der Milieus zu übersetzen sei. Die Milieutheorie ist – so verstanden – eben doch schlicht ein Hilfsmittel ohne wirklichen theologischen Belang; das wechselseitige Bedingungsgeflecht zwischen Form und Inhalt in den Lebensstilen der verschiedenen Milieus wird nicht hinreichend wahrgenommen. Ein solcher – wie wir meinen: unangemessen instrumenteller – Umgang mit der Milieuperspektive findet sich freilich nicht nur im „konservativen“ kirchlichen Spektrum. Auch bei denen, die mehr dem Ideal einer „liberalen“ Volkskirche folgen, wird die Milieudarstellung teilweise in die eigenen Handlungsinteressen eingebaut. Mit den Milieus lässt sich dann zeigen, dass vielfältige Grade an Kirchlichkeit und damit an verschiedenen Beteiligungsinteressen und Distanzen quasi natürlich sind und also die Milieus in ihren Unterschieden alle zusammen eben doch die Volkskirche ausmachen. Die Milieuperspektive zeigt aber auch, dass kirchennahe Mitglieder typischerweise aus bestimmten Milieus stammen und umgekehrt Kirchenferne typischerweise aus anderen. Dementsprechend wird auf Pfarrkonventen immer von der Milieutheorie erwartet, dass sie Anregungen dafür liefern solle, wie die 8 Dies findet sich vor allem in evangelikaler Literatur, beispielhaft mitreißend bei Michael Frost / Alan Hirsch, Die Zukunft gestalten. Innovation und Evangelisation in der Kirche des 21. Jahrhunderts, Glashütten 2008, v. a. 79–86. Hier geht es darum, nicht mehr „attraktionale“ Kirche zu sein und Menschen in die eigene Logik des Glaubenslebens einzuladen, sondern „inkarnierend“ zu wirken, sich in Netzwerke fremder Lebenswirklichkeiten einzuflechten und das Evangelium von dort aus zu verkündigen und konsequent in den dort üblichen Strukturen zu leben.



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Kirche in den Gemeinden mit diesen Milieus „in Kontakt kommen“ kann, mit welchen Angeboten man dieses oder jenes Milieu „erreichen“ kann, wie sich verhindern lässt, dass die Menschen dieser Milieus austreten. Milieutheorie wird also rezipiert als empirische Basis einer Strategie, volkskirchliche Bindung zu erhalten. In ähnlicher Weise gilt dies für die neben den gemeindlichen Formen kirchlicher Arbeit seit den 1950er Jahren entstandenen funktionalen Dienste. Die Milieuperspektive hat gezeigt, dass diese Arbeit in einigen Milieus eine größere Reichweite hat als gemeindliche Aktivitäten; dementsprechend findet die Milieuperspektive hier derzeit ein erhöhtes Interesse. Solche instrumentelle Nutzung der Milieutheorie ist möglich. Sie blendet aber in mancher Hinsicht aus, worin die Herausforderungen an die eigene Arbeit und deren Theologie bestehen. Denn eine Analyse von Milieus liefert nicht in erster Linie die Hilfsmittel dafür, die kirchliche Arbeit für die verschiedenen Milieus einfach gekonnt verschieden zu gestalten und damit Erfolge zu erzielen. Sondern sie bietet zuerst die Zumutung der Erkenntnis, dass manche Milieus aufgrund ihrer Binnenlogik grundsätzlich eine größere oder geringere lebensweltliche Nähe zur Kirche haben, etwa weil sie bestimmte Geselligkeitsformen und Kommunikationsformen nicht schätzen. Vorträge, Kreise und regelmäßige Gruppen z. B. sind in extremer Weise nur für bestimmte Milieus attraktive Sozialformen. Und die dadurch erreichten Abstoßungseffekte lassen sich durch milieuspezifische Methodik nur ganz begrenzt und nur langfristig und mit sehr viel Engagement bewältigen. Die Milieutheorie stellt darum unsere Vorstellungen von geselliger Gemeinschaft als Ideal und Norm gelungener Kirchenbindung ganz grundsätzlich in Frage. Sie stellt auch die Zentralstellung des Sonntagsgottesdienstes in Frage. Und sie lässt ahnen, dass manche Milieus auch durch ein von funktionalen Diensten entworfenes Angebot nicht so leicht „erreicht“ werden können, sondern dass es dafür tatsächlich einer Anerkennung und Förderung anderer Sozialformen bedarf, jenseits von Geselligkeit und Bildungszentriertheit. Die Überwindung der Geselligkeitsfalle gibt es – sogar im Raum der Kirche – auch schon teilweise, z. B. in Form von Netzwerken, situativen Interessengruppen, Chats und Foren. Studien aus den vergangenen Jahren zeigen, wie es sich um dieses „Dilemma“ der Funktionalisierung der Milieuperspektive verhält, beispielsweise ein Projekt des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD:9 Zwischen 2005 bis 2007 wurden hier mit viel Sorgfalt, unter Aufbietung starker kreativer Kräfte und mit Hilfe prominenter Gäste in vielen Veranstaltungen milieuspezifische Angebotsformen gestaltet und ausgewertet. In einer großstädtischen Kirchenruine wurden zur späten Abendstunde experimentelle Musik und Lyrik geboten, vor allem mit Blick auf das stark an Komplexität interessierte, oft 9 Petra-Angela Ahrens / Gerhard Wegner, „Hier ist nicht Sklave noch Freier“. Erkundungen der Affinität sozialer Milieus zu Kirche und Religion in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, Hannover 2008, besonders 65–101.

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intellektuelle „kritische“ Publikum. Oder es wurde „gefühlsbetonte Musik“ im Wechsel mit „Lesungen lebensbejahender Herbstgedichte“ in einer alten Dorfkirche für die „Bodenständigen“ oder „Traditionellen“ dargeboten. Die Reihe dieser Versuche ist lang. Die Auswertung ergab: Diese Versuche milieuspezifischer Angebote waren fast immer sehr erfolgreich, die Zufriedenheit der Teilnehmenden war ungeheuer hoch. Es konnten mit dem Instrument kultureller Angebote auch Menschen angesprochen werden, die Angebote ihrer Kirchengemeinde üblicherweise eher nicht wahrnehmen. Dieser Erfolg wurde allerdings relativiert durch eines der wichtigsten Ergebnisse des Projekts: Es wurden durch diese Angebote vor allem solche Menschen erreicht, die überdurchschnittlich gebildet und bereits zuvor überdurchschnittlich stark der Kirche verbunden waren sowie ein grundlegendes Interesse an kirchlichen, religiösen Angeboten hatten. So zeigt sich, dass eine milieusensible Arbeit in der Kirche sehr effektiv die bestehende Arbeit für ganz bestimmte Gruppen von Menschen noch attraktiver machen kann. Der Zugang zur Gesamtheit der Kirchenmitglieder oder sogar zu Menschen, die bisher mit Kirche und Religion wenig Berührung hatten, lässt sich auf diesem Weg jedenfalls kurzfristig kaum verbessern. Denn ein zentrales Zugangshemmnis zu kirchlichen Angeboten ist die bisherige mangelnde Nähe zu solchen Angeboten: Man mag vielleicht noch die Einladung zur Kenntnis nehmen, wenn es gelungen ist, an Orten zu werben, wo sich Menschen mit einer geringen Nähe zur Kirche aufhalten. Aber um die negativen Vorerwartungen zu verändern, dass kirchliche Angebote nicht zum eigenen Lebensstil passen, braucht es eine langfristige, kontinuierliche Kommunikations- und Angebotsstrategie, die mit hohem Ressourceneinsatz verbunden ist. Einen anderen Effekt und damit ein weiteres gutes Beispiel für eine mäßig wirksame Anwendung des Instruments „Milieuperspektive“ zeigt ein Versuch, den (wie zahlreiche andere) eine Kieler Gemeinde unternommen hat, indem sie ihr gottesdienstliches Angebot rotierend für verschiedene Interessengruppen (noch nicht: Milieus) entwickelt und an jedem Sonntag des Monats einen anderen Schwerpunkt gesetzt hat.10 Auch hier war die Zufriedenheit groß, allerdings fiel auf, dass ein großer Teil der „klassischen Gottesdienstgemeinde“ einfach zu allen Veranstaltungen gleichermaßen ging, ob sie nun klassisch gestaltet, meditativ ausgerichtet oder auf Jugend oder Familien zugeschnitten waren. Zwar gab es einen spezifischen Gewinn v. a. in den Angeboten für Jugendliche und Familien auch im Bereich wenig kirchenverbundener Menschen, was die Verantwortlichen auf die umfangreiche Werbung und Kooperationen zurückführen. Dieser Effekt hätte aber durchaus auch durch das (vielerorts bereits etablierte) Angebot von Jugend- oder Familiengottesdiensten erreicht werden können. Von einer deutlichen Verbreiterung 10 Thomas Lienau-Becker, Nur die Vielfalt ist normal. Verschiedene Gottesdienstformen in festem Rhythmus – Erfahrungen aus der Kieler Michaeliskirche, in: Arbeitsstelle Gottesdienst, Zeitschrift der Gemeinsamen Arbeitsstelle für gottesdienstliche Fragen der EKD, 03/2007, 75–80.



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des Interesses am regelmäßigen Gottesdienst kann hier insgesamt nicht die Rede sein. Vielmehr war trotz umfangreicher Öffentlichkeitsarbeit für das Modell über mehr als ein Jahr hinweg einem Großteil der Gemeinde gar nicht bekannt, welche Auswahl sich ihnen bot. Dieses Resultat ist milieutheoretisch interessant, denn es sollte doch zunächst zu erwarten sein, dass milieuspezifische Angebote auch milieuspezifische Attraktivität und Abstoßungseffekte entwickeln. Mit Sicherheit hat sich eine solche Attraktivität auch entfaltet und haben Menschen auf den Besuch eines Gottesdienstes mitunter verzichtet, wenn dessen Stil dem bevorzugten Stil zu wenig entsprach. Aber die Faktoren „Bekanntheit eines Angebots“ (die bei der „Kerngemeinde“ üblicherweise am größten ist) und „Nähe zum Format Gottesdienst“ (die bei solchen Menschen, die ihn regelmäßig besuchen, entsprechend überdurchschnittlich groß ist) waren offenbar stärker als milieuspezifische Anziehungs- und Abstoßungseffekte. Auch in diesem Prozess ist die Aufmerksamkeit für unterschiedliche Milieus und Lebensstile am Ort ein großer Gewinn, wenn so die Gemeinde die innere Vielfalt würdigen und bewusst auszudrücken lernt. Das Projekt war eine große Bereicherung für alle Beteiligten, eine Erlösung von den erheblichen Bindungs- und Beteiligungsproblemen der Gemeinden erbrachte es aber so einfach nicht. Das Instrument Milieuperspektive erweist sich also gerade nicht als eines, mit dem sich die Kommunikationsschwierigkeiten der Kirche schnell beheben lassen. Stattdessen lässt die Milieuperspektive ein grundlegendes Kommunikationsdilemma der Großkirchen hervortreten: Was immer die Kirche tut, so wird sie damit, wenn es den einen Milieus gefällt, die Feindbilder anderer Milieus bedienen. Sie kann es nicht allen gleichzeitig recht machen. Auf den Pfarrkonventen gibt es dann darum regelmäßig die besorgten Rückfragen: Was ist dann aber mit unserem Gottesdienst? Gibt es denn nicht doch einen Gottesdienst, wenn nicht für alle, so doch wenigstens für möglichst viele? Und muss ich als Pfarrer/in nicht doch für alle gleichermaßen da sein? An dieser Stelle wird es theologisch spannend, in den Diskurs mit der Logik der Milieutheorie zu treten: Aus deren Perspektive kann man sehr wohl verschiedene Strategien entwerfen, unter welchen Bedingungen und mit welchen Mitteln ein Gottesdienst verschiedene Milieus miteinander verknüpfen kann.11 Und es stellt sich aus theologischer Perspektive die Frage, wie sich die schon nach Gal 3, 28 in Christus verwirklichte Gemeinschaft ohne die Unterschiede von Sklave und Herr, Jude und Grieche und auch Mann und Frau (!) zu den vorhandenen sozialen Unterschieden verhält, eben auch denen der Milieus?12 Und was bedeutet es für das theologische Verständnis des Pfarramtes, wenn man einsieht, dass Pfarrer und Pfarrerinnen sich beim besten 11 Eberhard Hauschildt, „Gottesdienst für alle unter einem Dach?“ – Gottesdienstplanung zwischen Zielgruppenorientierung und Integration, in: Jochen Arnold / Fritz Baltruweit / Christian Brandy / Stefanie Wöhrle (Hg.), Brannte nicht unser Herz? Auf dem Weg zu lebendigen Gottesdiensten (gemeinsam Gottesdienst gestalten 13), Hannover 2010, 37–59. 12 Vgl. Schulz / Hauschildt / Kohler, Milieus praktisch I, 278–280.

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Willen nicht allen Milieus in gleicher Weise verständlich machen können? Und wenn die akademische Ausbildung de facto die Distanz zu bestimmten Milieus erhöht? Und noch eine Herausforderung – speziell für die evangelische Kirche: Was bedeutet es für das evangelische Selbstverständnis, wenn die Gemeinsamkeit der Milieus am stärksten ausgedrückt ist im Ritual und durch den Pfarrer, die Pfarrerin als die das Ritual durchführende Person, weil hier symbolisiert wird, dass in Christus alle gleich behandelt werden und von den Christen dazu nur ein kinderleicht erlernbares Handeln gefordert ist? Die Milieutheorie enthebt nicht der eigenen theologischen Reflexion und Verantwortung, sie ersetzt sie nicht, sondern fordert sie im Gegenteil dadurch heraus, dass sie Einsichten eröffnet, die für die Theologie recht unbequem sein können. 3  Wider die Kommerzialisierung der Milieuperspektive Milieuforschung bietet Beschreibungen der Gesellschaft und ihrer Milieus, wie sie sich auch in den Kirchen wiederfinden. Sie gehört zur empirisch-soziologischen Wissenschaft. Diese steht, darin gar nicht so anders als Theologie, durchaus mit ihren Forschungen auch in einem Kontext, in dem Interessen von unterschiedlichen Kräften in der Gesellschaft eine wichtige Rolle spielen. Milieuforschung reagierte auf den Bedarf, einerseits das Bröckeln der Institution der Volksparteien zu klären und andererseits potentielle Kundenkreise exakt zu beschreiben, um passgenauere Produkte anbieten zu können (also auf Fragestellungen der Werbewirtschaft und des Marketing).13 Auf diesen Bedarf spezialisierte sich ein Angebot, das Milieuforschung als kommerzielle Dienstleistung anbietet. Das Modell der „Sinus-Milieus“ hat weite Verbreitung gefunden, auch in den beiden großen Volkskirchen. Hier wird ein ausgereiftes fertiges Produkt vertrieben. Es enthält eine vergleichsweise große Zahl an analytisch ausdifferenzierten Milieus. Veränderungen und Verschiebungen der Milieus und Submilieus, wie sie sich nach einigen Jahren jeweils ergeben, werden darin abgebildet. Bis auf Straßenzüge genau wird in der Werbewirtschaft mit entsprechenden Kartographierungen von Wohnvierteln gearbeitet. Auch manche Kirchen haben daran Interesse und scheuen die Investitionen in solches Karten- und Datenmaterial nicht. In kommerziellem Interesse wird dabei von diesen Anbietern von Milieuforschung aber auch eine Produktabhängigkeit geschaffen, bei der das Tiefenwissen bei den Forschern des Unternehmens verbleibt. Die Herstellung der dementsprechenden Milieueinteilung wird als Geheimnis gehütet, vom Prinzip her nicht anders als das Geheimrezept von Coca Cola. Damit ist die 13 Auch in diesem Blickwinkel erstaunt es nicht, dass die Milieuperspektive in der Kirche bei denen auf Interesse stößt, die den Wandel der Institution Volkskirche beachten, und denen, die die Kirche als missionarische Organisation erfolgreicher machen wollen.



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Milieueinteilung der Kontrolle durch unabhängige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler entzogen. Weder die Merkmale, die zur Bildung der Milieutypen herangezogen werden, noch die der Berechnung zugrundeliegenden Datensätze stehen der interessierten Allgemeinheit zur Verfügung, anders als das bei wissenschaftlichen Studien üblich ist. Und wer die Milieueinteilungen in der Praxis nutzen möchte, kann nur das Produkt kaufen, bestenfalls mit einer modifizierten Aufgabenstellung in Auftrag geben und muss dann die Ergebnisse so hinnehmen, wie sie geliefert werden. Solche Milieuforschung entzieht somit – verständlich für Unternehmen, die mit ihren Leistungen Gewinne erzielen möchten – ihre Ergebnisse dem wissenschaftlichen Diskurs und ist mit hohen, regelmäßig wieder notwendigen finanziellen Aufwendungen verbunden. Sie tendiert außerdem zur Standardisierung der Forschungslogik, weil die Produktlinie den verschiedenen Kundenkreisen aus Wirtschaft, Politik (und Kirche) zum Kauf angeboten werden soll. Zu kritisieren ist daran nicht das Vorgehen der kommerziell Forschenden selbst, denn es geschieht in ihrer eigenen, grundsätzlich transparenten Logik. Problematisch ist in unseren Augen, dass die Implikationen so manches Kaufs von sozialräumlich aufbereiteten Milieuinformationen den Nutzenden nicht bewusst sind. Sie werden – wiederum verständlich – von den Unternehmen nicht explizit ins Bewusstsein gerufen. Aber auch innerhalb der Kirche wird der Prozess der Datennutzung oft nur sporadisch und meist laienhaft gesteuert und selten von Menschen begleitet, die Daten nicht nur lesen, sondern auch interpretieren und die Anwendung der Ergebnisse begleiten können. Anhand der Erkenntnisse, die die Kirche durch Milieuinformationen gewinnt, werden auf unterschiedlichen Ebenen vielerorts zentrale strategische Entscheidungen getroffen, ohne dass es dafür eine konstante methodisch kundige Begleitung gibt. In einer Firma, die sich neuer Steuerungsmechanismen bedient, ohne die für die Implementierung nötigen Fachkräfte hinzuzuziehen, würde ein solches Vorgehen zumindest als bedenklich eingestuft. Insgesamt bieten kommerzielle Angebote einen hohen Service und häufig eine gute Aufbereitung der Daten und ersparen damit den Nutzenden den hohen Aufwand der Sammlung und Aufbereitung eigener Daten. Damit erspart sich aber auch so manche Gemeinde und so mancher Kirchenbezirk das genaue Hinsehen und kontroverse Interpretieren des Gesehenen. Denn mit dem reinen Wissen um die vor Ort mehr oder weniger zahlreich ansässigen Menschen aus den unterschiedlichen Milieus ist noch nichts gewonnen. Wer Gemeinde gestalten will, braucht das echte Wahrnehmen der sozialen Wirklichkeit „hinter“ den Milieus, der Tiefenschichten von Differenzen, Abstoßungseffekte und Passungen von Interessen, Stilen und Haltungen. Dies führt, ernst genommen und mit etwas Zeit betrieben, unweigerlich in den schmerzhaften Erkenntnisprozess in Bezug auf die eigenen Spielräume und Beschränktheiten von Angeboten und kirchlichen Sozialformen. So erscheint so mancher Gemeinde ein ausgiebiger (mindestens gedanklicher) Gang von Gemeindemitgliedern durch die Parochie mitsamt der Wahr-

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nehmung befremdlicher Lebensformen und Lebensstile und der Auswertung anhand von Milieutypen und trennenden Dimensionen der sozialen Wirklichkeit als allzu mühsames Vorgehen. Wer diesen Gang jedoch unternimmt, dem eröffnen sich nicht nur die „Daten“ über die Verschiedenheit der Menschen, sondern dem erschließen sich auch die eigentlich heiklen Fragen: Für wen wollen wir denn da sein? Was bedeuten solche Unterschiede für uns als Einheit der Christen? Wen wollen wir denn „erreichen“ und was bedeutet dieses „Erreichen“ eigentlich? Und wo sich eine Gemeinde, ein Kirchenkreis, eine Landeskirche solche Fragen stellt, ist sie auf dem Weg zu einer wirklich fruchtbaren Nutzung dessen, was die Milieuperspektive leisten kann. Zu einem geringeren Preis gibt es keine wirklichen Gewinn bringenden Daten über Milieus in der Kirche! Eine besondere Versuchung und zugleich Gefahr liegt darin, die nach Straßen und Häusergruppen differenzierten, kommerziell verfügbaren Daten nun als Basis für eine milieuspezifische Ansprache einzelner Gemeindeglieder zu verwenden. Die Gefahr besteht vor allem darin, auf diese Weise quasi „hinten herum“, ohne Kenntnis der Betroffenen, Informationen über sie zu erlangen, die dann im direkten Kontakt eingesetzt werden. Wie groß der dadurch verursachte Schaden sein könnte, zeigt das Beispiel der Hamburger Sparkasse, die ihren Kunden Geldanlagen je nach angenommener Milieuzugehörigkeit mit unterschiedlichen Argumenten als genau zu den eigenen Bedürfnissen passende Investition verkaufen wollte und diesen Versuch nach einem durch die Veröffentlichung dieser Praxis ausgelösten Skandal schleunigst wieder eingestellt hat. Unsere eigenen Erfahrungen aus Fortbildungen lassen uns vermuten, dass in etlichen kirchlichen Kreisen die Vorstellung, dass die Kirche kommerziell bereitgestellte Daten über ihre Mitglieder kauft und im größeren Stil für die Kommunikation nutzt, zu einem echten Entsetzen führt – einem Entsetzen, das nicht identisch ist mit Weltfremdheit oder einer plumpen Ablehnung gegenüber modernen Instrumenten des Organisationshandelns. Verantwortliche in Kirchengemeinden und auf regionaler Ebene sollten sich gut überlegen, welches Risiko sie eingehen, wenn sie solche Daten für die individuelle Ansprache von Gemeindegliedern nutzen. Niemand hat es gern, wenn er in eine Schublade gesteckt wird – schon gar nicht, wenn diese Schublade nicht auf persönlichen Eindrücken beruht, sondern auf Daten, die von Dritten bereitgestellt wurden und deren Zustandekommen keineswegs transparent ist. Kirche steht hier in der Gefahr, ihre wichtigste Ressource, das Vertrauen der Menschen, leichtfertig zu verspielen. Milieuzugehörigkeit ist kein Personenmerkmal, sondern eine Konstruktion, eine statistische Größe, die für die Differenzierung großer Gruppen wertvoll ist, aber in der Begegnung mit Individuen den Blick auf deren Besonderheiten verstellt. Nicht jede Bodenständige liebt den Gottesdienst nach Agende I und ärgert sich über Jugendgottesdienste, so wie nicht jeder Mobile Gottesdienste nach Agende I langweilig findet. Wer glaubt, dass sich die Gemeindeglieder in ihrer ganzen Vielfalt in Milieuschubladen aufteilen lassen, wer darüber hinaus noch glaubt, dass die kommerziell verfügbaren Daten zur Milieuzugehörigkeit ihm



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oder ihr ein zusätzliches, geheimes Wissen darüber vermittelt, wie bestimmte Menschen „wirklich“ ticken, trivialisiert und instrumentalisiert die Milieuperspektive in einer Weise, durch die sie ihren Sinn völlig verliert. 4  Wider die Trivialisierung der Milieuperspektive Das Thema „Milieus“ erfreut sich im Bereich der Kirchen in den letzten Jahren großer Beliebtheit. Dabei hat es – im Grunde eine Seltenheit – ein anspruchsvolles wissenschaftliches Analyseverfahren, noch dazu eines, das mit hohem empirischen Aufwand und statistischen Berechnungen arbeitet, geschafft, für eine sehr große Zahl von Engagierten reizvoll zu erscheinen. Das Milieumodell von Gerhard Schulze14, mit dem die Milieuperspektive zuerst Eingang in den Bereich der evangelischen Kirche gefunden hatte, bot nur fünf Milieutypen. Die Typologie, die mit der Umfrage im Rahmen der Vierten EKD-Erhebung zur Kirchenmitgliedschaft 2002 erstellt wurde15, bietet sechs Lebensstiltypen. Unsere Arbeitsgruppe hat dann bekanntlich diese Lebensstiltypologie mit Erkenntnissen aus anderen Milieutypologien angereichert, den Typen neue, eingängigere Namen beigelegt16 und so zur Popularisierung der Milieutypologie beigetragen. Diese Popularisierung war genau auch unsere Intention. Und das bedeutete ganz pragmatisch: Sechs Milieus mit einprägsamen Namen lassen sich leicht merken und sie sind leichter wiedererkennbar im Alltag als umfangreichere Milieumodelle. Darin liegt aber auch ein Problem. Die Milieueinteilung in Hochkulturelle, Bodenständige, Kritische, Gesellige, Mobile und Zurückgezogene verbindet sich mit Typisierungen, die es im Alltag schon längst gibt. So verstärkt sie diese. Je einfacher eine Typologie ist, desto mehr lädt sie dazu ein, auch umlaufende Vorurteile einzubeziehen. Der Übergang zur Karikatur wird fließend. So könnte eine solche Milieuperspektive zu einer bloßen Verdoppelung der Alltagsvorurteile werden. Sie bedient die Tendenz, Menschen in einfache Schemata einzuteilen und sie, gerade die Fremderen, damit für sich selbst erledigt zu haben. Statt Milieus genauer zu verstehen, werden dann vor allem Vorurteile gepflegt. Hier zeigt sich ein Problem, das auch aus der Rezeption von psychologischen Typenbildungen bekannt ist, man denke etwa an Fritz Riemanns „Grundformen der Angst“:17 Sie bedienen die Lust am Zuordnen von Individuen. Das 14 Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a. M. 1992. 15 Vgl. Friederike Benthaus-Apel, Lebensstilspezifische Zugänge zur Kirchenmitgliedschaft, in: Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge. Die vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, hg. von Wolfgang Huber / Johannes Friedrich / Peter Steinacker, Gütersloh (2006), 205–236. 16 Hier wurde in unserer Publikation „Milieus praktisch“ (1. Auflage 2008) beispielsweise aus dem analytisch korrekt bezeichneten „hochkulturell-traditionsorientierten Lebensstil“ das Milieu der „Hochkulturellen“, aus dem „jugendkulturell-modernen Lebensstil“ das Milieu der „Mobilen“. 17 Fritz Riemann, Grundformen der Angst und die Antinomien des Lebens, Basel/München 1961; 392009.

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soziologische Verfahren der Milieuanalyse arbeitet ja genau umgekehrt und hat darin seinen Gewinn – es führt weg vom Einzelfall hin zur Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit. Wer Milieus in der trivialen Form eines Wiedererkennungs-Schemas nutzt, meint dann als scheinbar Wissender, andere Menschen schnell dem einen oder anderen Typ zuordnen zu können. Aber so ergibt sich gerade kein genaueres empirisches Bild, aus dem sich dann Einzelfälle und Einzelpersonen, ebenso Einzelangebote einer Kirchengemeinde und Situationen vor Ort verstehen lassen, indem die Logik eines Typs darin ersichtlich wird. Und entlarvender Weise nimmt man dann – in einer solchen trivialen Verwendung – sich selbst immer von der Typisierung aus, weil bei einem selbst die Sache viel komplizierter sei. So ist das vermeintliche Halbwissen nicht besser als die Abhängigkeit von der Expertise anderer. Die Milieus werden trivialisiert zu Klischees, die gerade nichts mehr entdecken lassen. Man meint, man hätte ein Passepartout für die Wirklichkeit gefunden. So ist in manchen Regionen Deutschlands, in der katholischen wie der evangelischen Kirche, das Interesse von Gemeinden und Einrichtungen an einem „Milieu-Infotainment“18 enorm gewachsen. Damit soll ein grundlegendes Verständnis für Milieus in der Breite der kirchlichen Landschaft vermittelt werden, so dass möglichst viele von diesen Erkenntnissen Gebrauch machen können. Das ist zunächst durchaus zu begrüßen. Leider bleibt allerdings in vielen dieser Angebote die eigentliche Komplexität der sozialen Wirklichkeit unerkannt, einschließlich der immensen Herausforderungen, die sich, wie oben dargestellt, für das konkrete Handeln daraus ergeben. Die Begeisterung ist groß. Die Ernüchterung folgt auf dem Fuße. Die Wirklichkeit erweist sich als viel komplizierter als sechs oder auch zehn Milieus.19 Denn wenn man diese erkannt und in der eigenen Gemeinde oder in den Zielgruppen der eigenen Einrichtung wiedererkannt hat, stellt sich die eigentliche Aufgabe: Was tun in der konkreten Situation? Die Versuche, den Bodenständigen eine Bodenständige, den Hochkulturellen ein Hochkultureller, den Kritischen eine Kritische usw. zu sein, werden meist allzuschnell als das entlarvt, was sie sind: plumpe Versuche der Anbiederung mit der Hoffnung, andere damit zur Unterstützung der eigenen Interessen (eine volle Kirche am Sonntagvormittag, Spenden für bestimmte Projekte etc.) gewinnen zu können. Alles andere als trivial ist es dem gegenüber, als Kritischer 18 So bietet etwa die Evangelische Landeskirche in Baden ein für Kirchengemeinden zu buchendes „Milieu-Infotainment“, eine etwa zweistündige Veranstaltung, in der Gemeinden auf unterhaltsame Weise in die Milieuperspektive eingeführt werden – ganz unabhängig von einer möglichen Weiterarbeit der Gemeinde an der Frage nach theologischen und kirchentheoretischen Implikationen oder Konsequenzen für die Gemeindeentwicklung konzipiert. 19 Umgekehrt lässt sich aber auch mit dem Argument, dass im Seelsorgegespräch es doch immer um das Individuum gehe, die Milieuperspektive nicht als unbedeutend für die Seelsorge beiseite schieben. Vielmehr finden sich in der Seelsorge, und zwar von beiden Seiten her und sowohl in den Idealvorstellungen wie in den Kommunikationsstilen, milieuspezifische Typen wieder. Vgl. Eberhard Hauschildt, Interkulturelle Seelsorge unter Einheimischen. Vom blinden Fleck der Seelsorgetheorie, in: Schulz / Hauschildt / Kohler, Milieus praktisch II, 263–282.



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oder als Mobile z. B. den Bodenständigen vor Ort, die jeweils besondere Interessen vertreten, mit Wertschätzung gegenüber zu treten und nach Anknüpfungspunkten für gemeinsame Aktivitäten, für übergreifende Interessen zu suchen. 5  Wider die Reifizierung der Milieus Hier summieren sich die Beobachtungen zum Unsinn. Der Grundfehler in der Ideologisierung wie Instrumentalisierung, der Kommerzialisierung wie Trivialisierung der Milieuperspektive liegt darin, dass die Milieus für bare Münze genommen werden. Bei der Ideologisierung werden die scheinbaren Realitäten der Milieus zum Ideal erklärt, bei der Instrumentalisierung als scheinbar objektive Gegenstände verstanden, die sich wie Dinge in Gebrauch nehmen lassen. Bei der Kommerzialisierung erscheinen sie als ein Objekt unter dem Mikroskop der Wissenschaft, bei der Trivialisierung als eine Sache, der man im Alltag schon längst begegnet ist. In allen Fällen wird verdeckt: Milieus sind eine Konstruktion. Sie sind ein Theoriegebilde – das Ergebnis von empirischer Forschung über die soziale Wirklichkeit anhand einer großen Zahl von Befragten – weit weg vom Einzelfall. Milieus sind Idealtypen, keine Menschen, die sich „im richtigen Leben“ finden lassen. Man könnte überspitzt sagen: Es gibt keine Milieus. Die Reifizierung der Milieus erscheint fast unausweichlich bei der Verbreitung der Milieuperspektive. Jedenfalls hat unsere Arbeitsgruppe es auch nicht ganz vermeiden können, davon zu sprechen, dass „die Milieus“ dieses und jenes „tun“ und dass Menschen einem bestimmten Milieu „angehören“. Das ist aber nur verkürzte Rede dafür, dass Menschen mit bestimmten Merkmalen typischerweise (also mehrheitlich) dieses oder jenes tun und dass Menschen mit bestimmten Merkmalen mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit eine größere Zahl der Merkmale mit anderen Menschen teilen. Dabei ist besonders zu beachten, dass Alter, Bildungsabschluss, Reichtum/ Armut Merkmale sind, die (zumindest in der von uns verwendeten Typologie) gerade nicht den Ausgangspunkt für die Typenbildung darstellen, sondern mit denen am Ende die zunächst streng durch Clusterbildung zu den abgefragten Merkmalen der Lebensführung gebildeten Milieus weiter charakterisiert werden. Nicht wer arm ist und die Hauptschule besucht, gehört darum dem einen Milieu an, und wer reich ist und einen Universitätsabschluss in der Tasche hat, einem anderen, oder wer jung ist dem einen und wer alt dem anderen, sondern es finden sich in bestimmten Milieus deutlich häufiger Menschen mit einem bestimmten Merkmal – und wer die Hintergründe dessen verstanden hat, kann über konkrete Merkmale hinaus sehen und verstehen, wie sich das Leben von Menschen gestaltet, zu denen man üblicherweise wenig Kontakt hat. Die Milieuperspektive fragt nach bestimmten Merkmalen wie Musikgeschmack, Freizeitverhalten, Normen (Werte, Geselligkeitsformen) und errechnet dann Typen von Menschen, in denen die Einzelfälle eine relativ hohe

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Übereinstimmung der Werte (seien es solche der Zustimmung oder Abneigung gegenüber bestimmten Fragen) zeigen. Wie viele Gruppen letztlich gebildet werden, wann man gewissermaßen die Maschine anhält, die einem hundert Typen oder auch nur zwei bieten könnte, ist eine Frage der Interpretation, der Deutung, des Frage- und Nutzungsinteresses. Also: Es gibt nicht einfach Milieus, seien es die aus der Kirchenmitgliedschaftsstudie der EKD, von Sinus oder solche aus anderen Typologien, sondern es gibt wissenschaftliche und gesellschaftliche Konstruktionen im Kontext jeweiliger Erkenntnis- und Handlungsinteressen. Und diese Interessen und die daraus resultierenden Konstruktionen sind offenzulegen. Sie wirken schon auf die Fragen ein, die in den Fragebögen gestellt wurden, und ebenso auf die Bildung von Milieus, mit denen man sich dann wissenschaftlich weiterzuarbeiten entscheidet. Wenn man beachtet, wie Milieus „gebaut“ sind, dann ergibt sich auch ein Weg, über eine Schwachstelle der Milieubeschreibungen hinauszukommen. Die Milieuperspektive erfasst in der Konstruktion klar auszumachender Typen nur diejenigen, die an der Erlebnisgesellschaft teilnehmen, bei denen ästhetische Vorlieben eine Rolle für Wahl- und Selbstverständnis spielen können, weil sie sie ausprägen und pflegen können, während sie vom Kampf ums Überleben und die Sicherung der elementaren Bedürfnisse nicht in Beschlag genommen sind. In den Typologien, die üblicherweise aber die Gesamtheit der Befragten zu Grunde legen, erscheinen dementsprechend die übrigen Menschen nur als Randfiguren der Milieus – oder in Typen mit geringer Aussagekraft. So zeigt etwa die im Rahmen der EKD-Studie erstellte Typologie, die unseren Publikationen „Milieus praktisch“ zugrunde liegt, wie es im rechnerisch „zuletzt“ erstellten Milieutyp der „Zurückgezogenen“ kaum noch Merkmale gibt, die dieses Milieu klar kennzeichnen. Die Menschen dieses Milieus, die (vermutlich aufgrund sehr knapper Ressourcen) viel weniger deutlich als andere ihr Leben gestalten und ihre Sicht auf die Welt kaum durch messbare Meinungen äußern, bleiben, wie es im ursprünglichen Namen dieses Lebensstiltypus aus der EKDUmfrage hieß, „unauffällig“ und in der soziologischen Analyse kaum greifbar. Wir wollen aber über diese Beschränkung der Milieuperspektive hinaus. Mit der Konstruktion einer größeren Zahl von Milieus kann man eine gewisse Verkleinerung des „Restbereichs“ erreichen. Für jeweilige spezielle Arbeitsfelder(z. B. etwa die Arbeit mit Senioren, Jugendlichen oder Menschen mit Migrationshintergrund) eine neue Milieueinteilung vorzunehmen, ist ebenfalls möglich und wird denen, die auf ein solches Arbeitsfeld spezialisiert sind, auch hoch willkommen sein.20 Dabei entsteht dann freilich eine immer größere Zahl von neuen (Sub)Typen für gesellschaftliche Teilbereiche. Jedoch behebt dieses Verfahren nicht das Grundproblem: Unter bestimmten veränderten Bedingungen wie chronischer Krankheit, kognitiven Einschränkungen, fehlender 20 So geschehen etwa in der Sinus-Jugendstudie (Carsten Wippermann / Marc Calmbach, Wie ticken Jugendliche? Sinus-Milieustudie U 27, Düsseldorf 2008) oder in der Milieu-Analyse zur Migration (Carsten Wippermann / Berthold Bodo Flaig, Lebenswelten von Migrantinnen und Migranten, ApuZ 5/2009, 3–11).



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Sprachkompetenz usw. lässt sich die Lebensweise nicht mehr als ästhetisches Wahlverhalten fassen. Wenn die Konzentration der Aufmerksamkeit auf die unterschiedlichen Milieus aber dazu führt, dass die Schwächsten und Ärmsten zur quantité négligeable werden, halten wir das für inakzeptabel. Hier kommt man deutlich weiter, wenn man eine Dekonstruktion der Milieus vornimmt und auf die Ebene der entscheidenden Merkmalstypen („Dimensionen“) bei der Konstruktion der Milieus heruntergeht.21 Für die KMUMilieus etwa lässt sich zeigen, dass die Oppositionen von hoher vs. geringer Bildungsaffinität, Geselligkeit vs. geringe Geselligkeit und Tradition vs. Modernität sich ganz entscheidend auf die Gestaltung der Beziehung zur Kirche auswirken; andere Oppositionen kommen hinzu. Das Augenmerk richtet sich also auf diejenigen Oppositionen, die den Unterschied ausmachen innerhalb der Gruppe der Menschen, die man genauer betrachten will. Will man etwa aus der Milieuperspektive Gruppen von Migrantinnen und Migranten genauer erfassen, so erscheinen unter ihnen fast alle so traditionell wie in Deutschland nur die Bodenständigen oder auch die Zurückgezogenen, und auch junge Menschen erweisen sich fast alle so stark in Familien- und Gruppenkontakte einbezogen wie die Geselligen. Lenkt man das Augenmerk aber auf die Dimensionen, so zeigen sich doch die deutlichen relativen Unterschiede sowie entsprechende Anziehungs- und Abstoßungseffekte innerhalb dieser Gruppe und zu „den Deutschen“. Uns scheint, dass die für kirchliche Arbeit entscheidenden Merkmale sich auf diese Weise über die Dimensionen erschließen lassen und die deutlich aufwendigere Klärung, zu welchem Milieu diese Gruppe nun genau gehört, damit weniger wichtig wird. Ein Weiteres wird deutlich: Man hat den Milieus nicht Individuen zuzuordnen, sondern es geht darum, für ein Feld der Wirklichkeit die jeweiligen Vernetzungen von milieubedingten Handlungssystemen zu beschreiben, die sich aufbauen zwischen Erwartungen und Gegenerwartungen der Beteiligten in ihren jeweiligen sozialen Rollen und den dementsprechenden Handlungs- und Reaktionsmustern aufeinander. Deren Rekonstruktion bildet den Erkenntnisfortschritt, lässt das jeweilige Feld mit anderen Augen sehen und eröffnet die Sicht auf die Grenzen und Möglichkeiten des Handelns in diesem Feld. So ist es eher irrelevant, ob sich in einem Milieu mehr oder weniger viele Menschen in schwierigen sozialen Lagen, in einer Überschuldungssituation oder mit einer deutlichen Hilfsbedürftigkeit finden. Dass es ein „Armutsmilieu“ oder grundsätzlich „problematische Milieus“ nicht gibt, sondern für die praktische Arbeit vor allem die immensen Unterschiede in den Perspektiven der Betroffenen auf Hilfsbedürftigkeit, professionelle Hilfe und mögliche Veränderungen relevant werden, ist der eigentliche Gewinn der Milieuperspektive.22 Diesen Gewinn gilt es gegen den hier beschriebenen Milieu-Unsinn zu schützen. 21 Vgl. Schulz / Hauschildt / Kohler, Milieus praktisch II, 14–23, außerdem in der Anwendung bes. 3 ff., 153 ff., 177 ff., 215 ff., 242 ff., 283 ff. 22 Vgl. Claudia Schulz, Jedes Milieu hat sein Problem. Perspektiven auf Hilfsbedürftigkeit, christliches helfendes Handeln und das Helfen als Beruf, in: Schulz / Hauschildt / Kohler, Milieus praktisch II, 35–67.

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Das Verfahren der Dekonstruktion in Dimensionen macht die Milieuperspektive gut anpassungsfähig an verschiedene Situationen. Sie erweist sich auf diese Weise als bedeutsam auch für die Teilgruppen in den europäischen Gesellschaften, die von den Rastern der üblichen Milieueinteilungen nicht hinreichend erfasst werden. Ja, sie wird sogar übertragbar auf Gesellschaften jenseits des abendländischen Kulturkreises, in denen z. B. die Zugehörigkeit zu Ethnien und Klassen (noch?) dominiert und eine dem Individuum zugeschriebene freie Wahl unter Lebensstilen als bedeutsamen sozialen Größen gar nicht gegeben ist.23 Nimmt man die Milieus also nicht für ganz so bare Münze, dann kommt man mit ihnen noch viel weiter. Die Dekonstruktion der Milieutheorie erhöht ihren Sinn und verringert ihren Unsinn. Zum Sinn der Milieuperspektive kann (oder sollte) es dann gehören, die Herausforderungen an die Kirche und ihre Gemeinden, Einrichtungen und funktionalen Dienste auf den Punkt zu bringen: Im Kern geht es nicht um eine milieuspezifische Ansprache der Menschen, um das Auswechseln von Gardinen, das Reduzieren von Abstoßungseffekten oder das Entwickeln neuer Angebote für noch unentdeckte Zielgruppen oder „kirchenferne Milieus“. Es geht um den ungeheuren Anspruch des Evangeliums, tatsächlich für Menschen aller Hörgewohnheiten verständlich kommuniziert und für Menschen aller Lebensstile erfahrbar zu werden. Dabei die Möglichkeiten der Kirchen zu vervielfältigen, die Wege für Ungewohntes zu ebnen und für Gerechtigkeit in den Zugängen zu sorgen – und dabei manche schmerzhafte Entscheidung zu treffen – vor allem darum muss es in der Anwendung der Milieuperspektive gehen. Dr. theol. Eberhard Hauschildt, Professor für Praktische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn, Abt. Prakt. Theologie, An der Schlosskirche 2–4, 53113 Bonn; E-Mail: [email protected] Dr. theol. Eike Kohler, wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl von Professor Hauschildt, Studiendekan der Evangelisch-Theologischen Fakultät Bonn, Abt. Prakt. Theologie, An der Schlosskirche 2–4, 53113 Bonn; E-Mail: [email protected] Dr. phil. Claudia Schulz, Professorin für Soziale Arbeit und Diakoniewissenschaft an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg, Paulusweg 6, 71638 Ludwigsburg; E-Mail: [email protected]

23 Eine Seminareinheit von Eberhard Hauschildt mit Teilnehmenden aus Afrika und Asien erbrachte, dass diese sehr wohl die im Blick auf die Dimensionen dekonstruierte Milieutheorie auf die Verhältnisse in ihren Heimatländern übertragen können. Denn Differenzen etwa in Bildung, Vertrautheit mit sozialer Distanz und Nähe sowie Modernisierungsgrade bzw. Traditionsverhaftung entschlüsseln auch hier Dynamiken sozialer Abstoßung und Anziehung.