Wer hat Angst vorm Netz?

  Wer hat Angst vorm Netz?  Was an der Debatte über die Frage, ob „das Buch“ eine Zukunft hat,  schief läuft, und die elitäre Missachtung der Netzkul...
Author: Waltraud Böhm
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Wer hat Angst vorm Netz?  Was an der Debatte über die Frage, ob „das Buch“ eine Zukunft hat,  schief läuft, und die elitäre Missachtung der Netzkultur fortführt.  Von Frank Hartmann    Printversion in VOLLTEXT 2/2010 (Beitrag Rauriser Literaturtage)  Online abrufbar unter http://datadirt.net/buchzukunft 

    Die Rauriser Literaturtage sind nun also 40 Jahre alt, und es ist nur  mäßig originell zu fragen, was in weiteren vier Jahrzehnten sein wird: ob  es dann noch Bücher und Bibliotheken gibt. Es ist so ein Problem mit  Prognosen – die Wahrscheinlichkeit, sich mit ihnen zu blamieren, ist  auch schon das einzige, was an ihnen sicher ist. Aber es gibt  Möglichkeiten, die Frage anders zu stellen. Zum Beispiel so: werden im  Jahr 2050 Apple, Amazon und Google die Verlage abgeschafft haben?  Werden dank neuer Medientechnologien dann vielleicht die Autoren  den Hauptteil an ihrem Werk verdienen, und nicht ihre Verleger und die  Buchhändler? Und was ist überhaupt noch ein Buch, angesichts neuer  multimedialer Narrative? Was wäre die Bibliothek der Zukunft?   Das sind Fragen, die an den Grundfesten der westlichen Kultur rühren.  Kultur aber ist kein Wert ohne Kontext, sie hängt immer auch von den  Medien ab, Kultur bedeutet immer auch Kulturtechnik. In den letzten vier  Jahrzehnten hat sich genau das verändert, und zwar ebenso radikal wie  unvorhersehbar: als Medium des Erzählens erwuchs dem Buch die  mächtige Konkurrenz Fernsehen, und der Bibliothek als Medium des  Wissens die übermächtige Konkurrenz des Internets. 

Um den Kulturwandel begreiflich zu machen, der dieser  Medienrevolution zugrunde liegt, gilt es historisch ein wenig  auszuholen. Die neuen Technologien sind schließlich kein Virus aus dem  All, der unvermittelt auf diese Erde fällt und sich hier rücksichtslos  ausbreitet. Auch wirkt das Internet nicht kausal auf unsere Kultur,  sondern diese Technologie reagiert auf einen Bedarf, der sich von langer  Hand entwickelt hat und vor dem die Drucktechnik, und mit ihr Bücher  und Bibliotheken, sich in vielen Belangen als dysfunktional erwiesen  haben. Medienentwicklungen sind ebenso Ausdruck und nicht allein  Folge eines kulturellen Erfahrungswandels.  Bereits gegen Ende des 17. Jahrhundert klagte ein berühmter  Zeitgenosse, dass die Menge alles Gedruckten nicht mehr zu bewältigen  sei: „Die schreckenerregende Vielzahl von Büchern, die ständig  zunimmt“, stürzte den Gelehrten in „unheilvolle Verzweiflung“. Bei der  anschwellenden Zahl der Dispute und den vielen Untersuchungen ohne  nennenswerten Nutzen drohe heilloses Chaos und Rückfall in die  Barbarei. Diese Klage brachte Gottfried Wilhelm Leibniz vor, Philosoph  und Bibliothekar in Hannover und Wolfenbüttel.  Leibniz glaubte daran, dass die Zukunft der Gelehrsamkeit nicht im  Lesen und Schreiben liegt, sondern in der Berechenbarkeit von  Problemen – genau das bestimmt heute unsere Lage, wenn man es genau  nimmt. Zugleich aber schlug er ein neues Orientierungssystem vor, eine  „Kunst des Auffindens“, die durch Exzerpieren von Büchern und durch  Kategorisieren von Wissensbereichen erreicht werden soll, denn  Information braucht Dokumentation und zu diesem Zwecke das, was  informationstechnisch als „Metadaten“ bezeichnet wird, also bestimmte  Zusatzinformationen. Tatsächlich tauchte in der ersten Hälfte des 18.  Jahrhunderts ein entsprechend neues Medienformat auf: es war die Zeit  der Wörterbücher und Dictionnaires, der Lexika und Enzyklopädien.   Als dann im 19. Jahrhundert mit der Schnelldruckpresse, dem  Holzschliffpapier und der Linotype‐Setzmaschine das Druckwesen 

industrialisiert wurde, schwoll die Masse an Publikationen exponentiell  an. Abermals kam es zu Vorschlägen der Neuorganisation von  Dokumentation und Wissensorganisation – am eindrücklichsten  vorgebracht vom heute vergessenen belgischen Privatgelehrten Paul  Otlet, der auf Mikrofilmtechnik setzte und auf Telekommunikation,  womit sich die Bibliothek auflöse in Richtung einer weltweiten  Datenbank und das Buch in Richtung vernetzter Wissensbestände. Otlet  sprach bereits von einer technikgestützten „Hyper‐Intelligenz“.  Jahrzehnte vor dem Internet war also klar, dass das Buch nicht das  Leitmedium für die Wissensgesellschaft bleiben kann, und die Bibliothek  in ihrer Funktion der Verwaltung von Wissensbeständen beschränkt ist.  Ohne diesen kulturell lang angekündigten Bedarf an neuen medialen  Formen hätte sich das Internet niemals allgemein durchsetzen können.  Es wäre geblieben, wofür es am Anfang geplant war – eine Anwendung  für Expertensysteme.  Bücher sind nicht nur für die, die sie geschrieben haben, immer noch  Mittel sozialen Distinktionsgewinns. In der Moderne wurden Bücher  und Bibliotheken zu Insignien des Bürgertums. Das gediegene Buchregal  gehört unmittelbar zur bürgerlichen Existenz und in den  Bibliotheksbauten manifestiert sich neben den Kathedralen des Klerus  und den Palästen des Adels das neue bürgerliche Selbstbewusstsein.  Zudem errichtete die Aufklärung ein ganz eigenes Wissensideal, das  Ideal einer Lesbarkeit der Welt.  Hans Blumenberg hat mit dieser  Metapher die Tatsache umschrieben, dass das Paradigma der  Verschriftung menschlicher Erfahrungen – sei es in den Monographien  von Gelehrten, sei es in den Berichten von Reisenden und in den  Protokollen von Bürokraten – den Eigensinn einer Epoche prägte, der  durch Einblicke, wie sie wissenschaftliche Instrumente und  entsprechende Experimente ermöglichten, radikal herausgefordert  wurde.  

Dass die Wissenschaft damit begonnen hat, im sogenannten Buch der  Natur andere  Ausdrucksmodalitäten zu entziffern als die der  alphanumerischen Form, ist eine Seite der Medaille. Auf der anderen  wird erkennbar, dass das Ideal der Lesbarkeit durch eine neue  Bildlichkeit angekratzt wurde. Genauer gesagt wurde sie durch neue  Aufzeichnungsmedien erschüttert, durch die analoge Medientechnik der  Fotografie und der Phonographie. Von der direkten Art, mit der jenseits  des umständlichen Buchstabenlesens bereits eine Daguerreotypie die  Wahrnehmung anzusprechen vermag, berichtete aus Paris der erstaunte  Alexander von Humboldt 1839 an den preußischen König: die  Unmittelbarkeit, mit der sie die menschliche Einbildungskraft anspricht,  faszinierte ihn besonders.  Eben davor hatte die deutsche Aufklärung immer Angst gehabt, wie ein  Blick in Kants Kritik der Urteilskraft belegt, die für das alttestamentarische  Bilderverbot plädiert. Bilder verwende, wer die Einbildungskraft der  Menschen einschränken und manipulieren will; für die Aufklärung  bleibt nur die Via negativa des abstrakten Buchstabenlesens. Diese  Haltung verkennt natürlich das menschliche Bedürfnis nach  Unterhaltung und Entspannung. Aber je komplexer codiert eine  Botschaft ist, desto anstrengender wird jene Gratifikation zu erreichen  sein, die der Konsum kultureller Güter verspricht. Aus diesem Grund  besteht ein sozialer Distinktionsmechanismus, nach dem höher prämiert  wird, was abstrakter codiert ist, beispielsweise eben Texte gegenüber  Bildern.  Nun ist das Buch nicht allein Träger von Wissen, es dient im fiktiven  Umgang mit Wirklichkeit ebenso der Erbauung und Unterhaltung. Das  war nicht immer so, denn der moderne Roman entstand erst etwa im 17.  Jahrhundert. Derzeit entstehen nicht nur neue Distributionsformen für  Inhalte, sondern auch neue Narrative. Sie entsprechen einem alten  Wunsch – auch der Literaten, erinnert sei an Hugo von Hofmannsthals  Chandos‐Brief – nach einer neuen Sprache oder einem Medium, das  „unmittelbarer, glühender ist als Worte“. Und dies nicht zufällig zu einer 

Zeit, da die Moderne neue künstlerische und technische  Ausdrucksmodalitäten entwickelte, wie die Kinematographie. Das  bewegte Bild wird zum der größten Konkurrenten des erzählenden  Wortes. Die Sichtbarmachung von Vorstellungen als direkte  Visualisierung – das ist jener phänomenale Schritt, den das Kino über die  Literatur hinaus macht. Es wird nicht der letzt gewesen sein.  Grundsätzlich, so sieht es einer der angesehensten Schriftsteller der  Gegenwart, kann das Buch nicht mit dem Computer konkurrieren, wie  schon zuvor nicht mit Kino und Fernsehen. Natürlich verschwindet das  Buch in dieser Medienkonkurrenz nicht ganz, aber es ändert seine Form  wie auch seine Funktion. Ist ein E‐Book noch ein Buch? Gegenfrage: sind  die geleimten Papierstapel der Handelsketten tatsächlich noch Bücher?  Gefragt, ob man in 25 Jahren noch Bücher lesen werde, antwortete Philip  Roth, dass es diese kulturelle Praktik dann wohl nur noch als „Kult“  geben werde, so wie es heute noch Anhänger lateinischer Dichtung gibt.   The book can’t compete with the screen – and the Kindle  won’t change that. […] I think always people will be reading  them but it will be a small group of people. Maybe more  people than now read Latin poetry, but somewhere in that  range. – Philip Roth, Interview (thedailybeast.com, Okt. 2009)  Ein Narrativ, das ein hohes Maß an Konzentration und Aufmerksamkeit  verlangt, verliert für ein großes Publikum zusehends an Attraktivität.  Zwei Motive prägen die Überwindung der Gutenberg‐Galaxis: zum  einen der unermesslich gesteigerte Mehrwert der Bilder, seit ihre  beschleunigte technische Reproduzierbarkeit sie die Unmittelbarkeit der  Sprache einholen ließ. Zum anderen die Verlagerung der menschlichen  Sinnesorganisation von der Visualität des Lesens und Schreibens hin zur  Taktilität, wie McLuhan es nannte, zu jener posttypografischen  Medienkultur eben, die mit Radio und Fernsehen begonnen hat. 

Zur „posttypographischen“ Kultur (Michael Giesecke) gehört ein Motiv,  das sich in der westlichen Kultur nicht erst mit dem Internet bemerkbar  macht: die Erosion der bürgerlichen Ideologie des Individuums. Das  Bürgertum privilegierte zudem eine mit Produktion und Verteilung von  Druckwerken befasste Elite, die neue Klasse der Literaten.  Es schuf mit  der kulturellen Prämierung der Lektüre von Druckwerken zudem die  ideale kulturtechnische Entsprechung zur relativ neuen Vorstellung von  intimer Individualität, die von der Massenkommunikation im 20.  Jahrhundert in Frage gestellt wird.  Schon die Nationalsozialisten übernahmen mit ihrer Forcierung von  Radio und Fernsehen jenen zutiefst antibürgerlichen Impuls, der den  modernen Formen von Propaganda (nach Edward Bernays)  zugrundeliegt. Demnach ist eine Massenbeeinflussung vor allem dann  möglich, wenn die Rezeption von Inhalten nicht individuell erfolgt,  sondern in der Gruppe. Denn das Massenpublikum verhält sich nicht  reflexiv, wie der einzelne Leser, sondern reaktiv, und da ist es leichter,  die Mechanismen zur Übernahme  gewünschter Interpretationen zu  forcieren.   In der sich nun formierenden Netzkultur (und wie viel Veränderung  wurde manifest, in gerade einmal zwei Jahrzehnten!) werden Tugenden  des bürgerlichen Individuums immer weniger prämiert, verbunden mit  einer tendenziellen Abwertung traditioneller publizistischer Formen der  Printmedienkultur. Dieses Ende der Privatheit kennt viele Formen.  Schon die Erfolgsgeschichte der Massenmedien und jetzt die der Social  Networks weist auf eine tiefgreifende Veränderung der kulturellen  Codes. Es ist kein Zufall, dass nach der Epoche bürgerlicher  Individualisierung, in der das Bücherlesen zum Habitus sozialer  Distinktion geriet, Wirklichkeit immer weniger durch den gebildeten  Intellekt und immer stärker durch Medien synthetisiert wird: „Was wir  über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen,  wissen wir durch die Massenmedien.“ (Niklas Luhmann) 

Das definitive Ende des Buches und der Literatur wird das  wahrscheinlich nicht sein, aber deren Funktionswandel. Das Buch stand  einst für die Gleichzeitigkeit der Verfügbarkeit von Wissen. Es schuf die  Gelehrtenrepublik, als den gemeinsamen Raum vorhandener  Informationen zu einen Thema oder Forschungsgegenstand. Diese  Organisationsgrundlage des Wissens bildete eine wesentliche Bedingung  der Möglichkeit wissenschaftlichen Fortschritts.   Die Computernetze – das war gerade auch vor 40 Jahren nicht nur  ArpaNet in den Vereinigten Staaten, sondern auch Cyclades in Frankreich  und andere europäischen Datennetze – sollten den medientechnischen  Stand der Dinge bald neu definieren, obwohl keiner der Entwickler auch  nur im Traum daran gedacht hatte, damit eine neue kulturelle  Ausdrucksmodalität zu schaffen. Zuerst löst Programmieren das  Schreiben ab, nimmt ihm die Exklusivität des Weltentwurfs. Aber  nachdem die technische Komplexität der vernetzten Computer hinter  der grafischen Oberfläche des Web verschwunden ist und niemand mehr  programmieren können muss, um Präsenz im Netz zu schaffen, sieht  diese Sache bekanntlich ganz anders aus. Widerstand gegen die  „Diktatur des schönen Scheins“ (Neal Stephenson) und die angebliche  Entmündigung der Computernutzer blieb zwar nicht aus, erwies sich  letztlich aber als zwecklos. Die Kulturtechnik des WIMP (Windows,  Menues, Icons, Pointing) setzt sich langsam aber sicher gegen die des  Buchstabierens durch.  Und mit zunehmendem Anteil wird das, was wir  über die Welt, in der wir leben, wissen, durch Google und Wikipedia  vermittelt. Dass die Demokratisierung des Wissens durch  Oberflächlichkeit erzeugt wird, erzeugt noch keine „Unbildung“, wie die  Unkenrufe aus der „Generation Adorno“ nahelegen.   Die Technologie der Netzwerke ist dabei, den Stand der Dinge neu zu  verhandeln und die Kultur der Gatekeeper (Verleger, Redakteure,  Zeitungsherausgeber) durch eine Kultur der Teilhabe zu ersetzen. Was  tut sich nun konkret: ist Literatur im Netz einfach Literatur geblieben,  nur eben an anderen Orten auf anderen Datenspeichern als eben in 

Büchern, die in Bibliotheken stehen? Nein, zumindest tendenziell ist sie  das nicht mehr. Den Hinweis auf Weblogs wollen wir uns schenken, er  ist ebenso billig wie das, was die meisten „Blogs“ inhaltlich produzieren.  Wichtig an ihnen ist eigentlich nur die technische Form, die radikale  Öffnung des Rückkanals und das Prinzip der Präsentierung. Aus der  Logik der Datenbanken und der Online‐Verfügbarkeit tendenziell  sämtlicher Inhalte des kulturellen Archivs folgt, dass das Konzept der  Kommunikation sich grundsätzlich ändert zugunsten dieser ungeheuren  Präsentierungsleistung der Medientechnik.  Nun kann, wer will, innerhalb weniger Minuten ohne jegliches eigenes  Produktionsmittel (Internet‐Zugang vorausgesetzt) schriftlich oder in  multimedialer Form publizieren und damit ein lokales, nationales und  potenziell sogar weltweites Publikum adressieren. Es entstehen neue  Formen nicht nur des Publizierens jenseits des Buches, sondern auch  jenseits der herkömmlichen Formen des Schreibens, das sich technisch  anders organisiert. Eigentlich ist ja schon jede lokale oder nationale  Literaturszene eine Art kollaborative Plattform, auf der Texte entstehen,  die auf andere Texte antworten: Thomas Galvinic hat den kalten Klotz  des Erfolgs von Daniel Kehlmann zu verdauen und kennt keinen  Genierer, sein Elaborat dazu („Das bin doch ich“) einen Roman zu  nennen. Frau Hegemann verwurstet „Strobo“, den Text eines  unbekannten Techno‐Bloggers, und findet nichts dabei, doch: sie hat  sogar noch recht damit, denn Literatur bestand immer schon darin,  andere Aussagen, andere Texte zu verarbeiten und zu interpretieren.  Dieser Aspekt bedürfte ausführlicherer Diskussion, hier nur soviel: ohne  all die bestehende Literatur wäre der einzelne Literat gar nichts. Und  natürlich auch nicht ohne sein Publikum. Schriftsteller sind  einigermaßen pathetische Figuren. Sie werden nicht gleich alle, wie  derzeit der Bestsellerautor Frank Schätzing, mit einer Multimedia‐Show  durch die Lande ziehen müssen. Sie werden sich aber mit den neuen  medialen Formen auseinandersetzen müssen, die nicht allein die  Publikations‐, sondern diese Kommunikationsverhältnisse auf neue Art 

und Weise interpretieren: sie verzichten auf das Medium Buch (und auf  seinen Verleger) als „Mittler“.   Eine neue Generation von Autoren publiziert ihre Texte selbst längst  online. Natürlich wird es eine ganze Weile noch so sein, dass die besten  Produkte aus dem Netz in die Wertschöpfungskette der Verlagsindustrie  eingehen werden. Aber deren viel beschworene Qualitätskontrolle findet  längst schon anderswo statt: im Vorfeld jener Leserinnen und Leser, die  in Blogs von Autoren Kommentare hinterlassen und in dieser oder jener  Form an deren Geschichten mitschreiben. Oder gleich selbst zu Autoren  werden – Web‐Plattformen dazu gibt es zuhauf. Man wird als Autor von  Online‐Verlagen auf allen Ebenen abgeholt: „from inspiration to  distribution: connect, write, publish, sell“ (so die Werbung von  fastpencil.com).   Wenn nun neben den kleinen Start‐ups für Autoren Giganten wie etwa  Amazon einen Verlagsservice für Autoren anbietet, muss man sich  wirklich fragen, was hier die Publikationskultur betreffend im Gange ist.  Irgendwann wird vielleicht noch der rückständigste Autor erkennen,  dass mit all dem Geschwätz vom „geistigen Eigentum“ er oder sie  gemeint ist, und nicht sein Verleger und sein Buchhändler. Er wird sich  dann wahrscheinlich jenen Agenten zuwenden, die ihm 60 bis 70 Prozent  des Verkaufspreises ausbezahlen, und nicht wie derzeit üblich 6 bis 10   Prozent, weil Produktions‐ und Distributionskosten im traditionellen  Verlagsbusiness derart zu Buche schlagen.  Auch wenn dann, wenn der Verkaufspreis weit niedriger sein wird, weil  der Text als Produkt eine neue, elektronische Präsentationsform  annimmt – den Verlegern, den Druckern und den Buchhändlern sollten  die Autoren keine allzu dicken Tränen nachweinen. Immer seltener  nämlich erfüllen sie ihre Funktion der Qualitätskontrolle, nachdem sie in  den vergangenen Jahrzehnten gelernt haben, wie sich auch ganz ohne  Marketing und Verkauf von Druckkostenzuschüssen und anderen  Förderungen gut leben lässt. In vielerlei Hinsicht ist das Buch nurmehr 

Business, mit vielen unsichtbaren Stützen, das von einer unheimlichen  Betriebsamkeit aufrechterhalten wird.  Das Buch ist zum Fetisch einer Kultur geworden, die ihre Ideale in dieser  medialen Form materialisiert sah. Texte, die sich in Buchform  niederschlugen, können nun auch als E‐Book weiter existieren. Doch  darum geht es weniger. Nach einer anfänglichen Euphorie hinsichtlich  der Möglichkeiten von Hypertext als neuer literarischer Form lässt sich  erkennen, dass es nicht die Faszination für technische Möglichkeiten an  sich ist, die die Veränderung bringt. Die neue digitale Kultur hat ihre  eigene Gesetzlichkeit, zu der vor allem ein Umstand zählt: die  Netzkultur ist weniger hierarchisch und stärker relational bestimmt, was  eine Ästhetik der Verteilung mit sich bringt, deren Form noch längst  nicht feststeht – kleine Phänomene, die morgen vielleicht schon vorbei  sein werden (man denke an Dienste wie Twitter) bestimmen sie, durch  die Akzeptanz und den Gebrauch, den die Masse davon macht.