Was zeigen Energie- Demonstrationen wirklich?

Was zeigen EnergieDemonstrationen wirklich? Von Ömer Humbaraci Immer wieder sieht man bei Veranstaltungen oder im Internet spektakuläre Demonstratione...
Author: Gert Kästner
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Was zeigen EnergieDemonstrationen wirklich? Von Ömer Humbaraci Immer wieder sieht man bei Veranstaltungen oder im Internet spektakuläre Demonstrationen von »innerer Kraft« oder »Qi-Übertragungen«. Ömer Humbaraci hat viel mit derlei Effekten experimentiert und rät dazu, selbst entsprechende Vorführungen zu inszenieren, um zu erfahren, welche Faktoren für die eindrucksvollen Wirkungen verantwortlich sind. Dabei zeigt sich, dass der Positionierung der Assistenten eine größere Bedeutung zukommt als der aufgewendeten Energie.

abstract

What do energy demonstrations really show? By Ömer Humbaraci Spectacular demonstrations of »inner strength« or »Qi transmission« can frequently be seen at events or in the internet. Ömer Humbaraci has experimented a great deal with these effects and he recommends readers to stage such demonstrations for themselves, and thus to experience which factors lead to these impressive effects. Such experiments show that the positioning of the assistants is more significant than the energy applied by the demonstrator.

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lickt man sich durch die Fülle von Kampfkunstvideos im Internet, stolpert man über mehr oder weniger eindrucksvolle Demonstrationen von Energieeinsatz. Ich benutze hier den umfassenden Begriff Energie für Qi, Innere Kraft oder Stärke, explosive, innere, inhärente, kinetische Energie, Fajin, Yi, Ausstrahlung oder was es sonst noch so gibt. Solche Demonstrationen werden gleichermaßen von Amateuren wie von Meistern vorgeführt. Sie schleudern Leute gegen Wände, werfen sie auf verschiedene Art und Weise, lassen sie in alle Richtungen wild herumspringen, meterweit nach hinten stolpern oder mit einem kurzen Schlag in den Magen sich zusammenkrümmen – und all dies mit ungeheurer Leichtigkeit. Zahlreiche skeptische Zuschauer überall auf der Welt sind allerdings ob des Missverhältnisses der kleinen Bewegungen der Ausführenden und ihrem phänomenalen Effekt höchst irritiert. Ihre Kommentare in Foren und auf Websites reichen von reiner Bewunderung zu Ehrfurcht und von höhnischem Unglauben bis hin zu regelrechter

Aggressivität. Sind diese Energie-Demos reiner Betrug? Das ist die heikle Frage. Um selbst eine sinnvolle Antwort auf diese Frage zu finden, lesen Sie einfach weiter.

Schon 1972 haben solchen »Entwurzelungstechniken« die Öffentlichkeit verblüfft. Foto: Inner Research Institute

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Diese spontane Vorführung fand 1986 in einem Park in Beijing statt. Foto: Juliane Koch

Tat, die Effekte der Techniken des Hauptakteurs aufzubauschen und der Darbietung die Art von Glorie zu verleihen, die das Publikum berauscht. Ein Wissenschaftler würde sagen, dass Sie nun dabei sind ein Untersuchungsverfahren durchzuführen, das er »Verifikation« nennt. Denn Sie versuchen auf diese Weise einen weiteren Beweis zu liefern, dass Ihr Taijiquan-Stil ungewöhnlich starke Energien verleiht. Sie werden dies beweisen, indem Sie Ihre Assistenten in die Luft fliegen lassen wie in den Vorführungen. Aber ich hoffe, dass Sie nach handfestem Wissen streben und nicht nur einfach glauben wollen. Deshalb werden Sie mit der »Falsifikation« des Experiments fortfahren. Das heißt, dass Sie in dieser zweiten Phase versuchen werden, jedwede Hinweise darauf zu liefern, dass die unheimliche Reaktion Ihrer Assistenten nicht nur auf Ihren eigenen Energieeinsatz zurückzuführen ist, sondern außerdem auf anderen Faktoren basiert. Phase 1: Verifikation Hier ist eine einfache Demonstration, die sehr spektakulär sein kann, wenn Sie sie gut machen. Sie ähnelt derjenigen, die 2007 von ITCCA YangStil-Meister Chu King Hung in Hongkong während eines Taijiquan-Turniers vorgeführt wurde. Man kann hierzu ein Video im Internet finden (siehe Kästchen Video Tipps). Diese Demonstration rief übrigens Proteste unter Zuschauern hervor, und ein chinesischer Journalist kritisierte Chu King Hung danach, sich wie ein Gott aufgespielt zu haben. Lassen wir aber Gottheiten und Ruhm beiseite und sehen uns einige Fotos dieser Demonstration an, die Sie gleich danach nachahmen können.

Es ist interessant, solche Demos selbst auszuprobieren. Foto: Yasuko Nakano

Experimente mit dem Dominoeffekt Es macht wenig Sinn, über die Natur der eingesetzten Energien nachzudenken, über ihre traditionellen Definitionen zu grübeln oder die Fähigkeiten oder die Aufrichtigkeit der Meister oder Amateure zu beurteilen. Um eine zufriedenstellende und pragmatische Antwort zu erhalten, experimentieren Sie doch einfach selbst mit solchen Vorführungen. Es macht nicht nur Spaß, sondern ist auch eine gute Möglichkeit, um später auf Details aufmerksam zu werden, die einem meistens entgehen. Das erste, was man für eine eindrucksvolle Energie-Demo braucht, sind Assistenten, die dabei gutwillig mitmachen. Ihre Aufgabe ist es in der

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Man achte auf das unsichere Gleichgewicht in der Haltung der Assistenten, besonders bei dem ersten in der Reihe.

Der erste Mann ist geschoben worden und fällt nach hinten. Sein fallendes Gewicht schiebt den Mann hinter ihm und löst dadurch den Dominoeffekt aus.

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Die folgende Fotoserie zeigt ein Experiment, das ich mit einigen meiner Shayuquan-Schüler gemacht habe, die sehr gerne experimentieren. Ich ließ den ersten in der Reihe die »Sitting Duck«-Haltung einnehmen, als ob er auf einem imaginären Stuhl sitzen würde.

Der finale Hüpftanz ... Fotoreihe: Video – 1st International Taijiquan Invitation Tournament, 28-29 January 2007, Hong Kong

Die Fotoqualität ist gerade gut genug, um ein paar interessante Details zu erkennen. Wenn Sie nur ein wenig vertraut mit Taijiquan sind, werden Sie bemerken, dass am Anfang der Demo der Schwerpunkt des ersten Mannes gerade etwas außerhalb der Fläche zwischen seinen Füßen liegt. Er ist unstabil und kann sein Gleichgewicht nur halten, indem er sich gegen den Mann hinter ihm lehnt. Er ist nun eingeklemmt in einer passiven Position, die sich am besten mit dem englischen »Sitting Duck« ausdrücken lässt. Wörtlich übersetzt heißt dies »sitzende Ente« und bedeutet »leichte Beute« – also nichts für wahre Sportjäger, die nur auf Enten im Flug schießen. Also: Diese Haltung ist die Grundbedingung, ohne die es nicht möglich ist, mit diesem speziellen Setup einen spektakulären Dominoeffekt zu erzielen, bei dem die Assistenten einer nach dem anderen nach hinten fallen und rückwärts stolpern. Der Schwerpunkt des ersten Mannes liegt außerhalb der von seinen Füßen unterstützten Fläche.

Nehmen Sie für dieses Experiment die »Sitting Duck«-Haltung ein. Es erfordert kein genaues Timing und kann genau einstudiert werden.

Nach dem Schub stolpern einige rückwärts oder springen. Dies ist die »Verifikationsphase«.

Phase 2: Falsifikation Kommen wir nun zu etwas ganz anderem, der Falsifikation. In dieser Phase werden Sie nur einen schwachen Dominoeffekt erreichen. Es ist eine unspektakuläre Vorführung, mit der sich niemand rühmen wollen würde. Lassen Sie die Assistenten eine traditionelle zentrierte und vorgeneigte YangStil-Haltung einnehmen, bei der das hintere Bein gestreckt ist.

Hier lagern die Assistenten ihr Gewicht auf das vordere Bein, lehnen sich nach vorne und strecken das hintere Bein in der Verlängerung der Achse ihres Oberkörpers wie einen Strebepfeiler.

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Sie werden nur ihre Oberkörper ein wenig bewegen, da Sie gegen die Struktur des hinteren Beines schieben und außerdem ihr Gewicht von ihren vorderen Beinen anheben müssen. Fotoreihe: Frank Staron

Eine andere Art von Dominoeffekt Lange bevor Youtube im November 2006 seine Website zum Hochladen von Videos öffnete, begann ich mit einigen Demonstrationen von YangStil-Großmeister Chu King Hung zu experimentieren. Diese zwei Fotos, die 1989 aufgenommen wurden, zeigen mich bei der Erforschung einer anderen seiner Demos, zusammen mit italienischen Schülern von mir. Zu der Zeit hieß das «Qi-Demonstration«, aber es ist einfach ein Dominoeffekt wie der erste. Es erfordert jedoch ein genaues Timing, und Sie müssen es möglicherweise einige Male wiederholen, bevor es gut aussieht.

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Lassen Sie uns nun Schritt für Schritt analysieren, was dort geschieht. Der erste Mann in der Reihe drückt gegen meinen Bauch, während die anderen drei den Rücken ihres jeweiligen Vordermanns nach vorne drücken. So müssen sie rückwärts reagieren gegen den Hintermann. Sie sind in der vorgegebenen Haltung zusammengedrückt und verlieren so beinahe ihre ganze natürliche Bewegungsfreiheit. Nebenbei bemerkt: Ein Laie, der darauf wartet, ein großartiges Kunststück von Energieübertragung gezeigt zu bekommen, sieht davon nichts, weil sein Geist von der Illusion eingenommen ist, dass ein ungeheures Ungleichgewicht an Kräften zwischen dem einen Mann und seinen Assistenten besteht. Sobald meine Assistenten nach vorne zu schieben beginnen, gebe ich mit meinem Bauch ein wenig nach hinten und unten nach. Das destabilisiert für einen kurzen Moment den ersten sofort nach vorne und das Gleiche passiert mit den anderen. Gerade bevor sich alle vier wieder stabilisieren können, bewege ich meinen Bauch schnell nach vorne und oben und kann damit leicht den ersten Mann wegschieben. Dieser wiederum schiebt unfreiwillig denjenigen hinter sich mit seinem Rücken, der wiederum den nächsten wegschiebt und so weiter. Daher der Name Dominoeffekt, der nicht länger als drei Sekunden andauert – und lassen Sie sich versichert sein, es hat nichts mit mysteriösen Kräften zu tun.

Alltägliche Reflexe

Wie man »Qi vom Dantian aussendet« – oder nur geschickter Einsatz von Schwerkraft und Reflexen?

Ein höherer Stand könnte die Idee der »QiAussendung« besser wiedergeben. Fotoreihe: Yasuko Nakano

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Es ist zuerst eine Frage von effektiver Organisation der eigenen Körperstruktur und dann von gut getimtem Nachgeben und Zurückschieben. Nur so kann man die alltäglichen Reflexe der Assistenten wirksam nutzen. In dem Moment, in dem ihre Gleichgewichtsorgane (Innenohr, Augen, bestimmte Rezeptoren in der Muskulatur und den Sehnen) einen Verlust des Gleichgewichts wahrnehmen, lösen sie eine Reihe von Reflexen aus. Erstens, wenn sie nach vorne kippen, versteifen sich automatisch ihre Oberkörper, genauso als wenn sie beim Gehen über einen Stein stolpern würden. Zweitens spannen sich durch ihr Körpergewicht abrupt die Sehnen der Knöchel und der Knie an. Genau in diesem Moment schiebe ich den ersten Mann zurück, was er wiederum mit dem Mann hinter sich macht und so weiter. Als Folge davon lassen die Sehnen die kinetische Energie los, die sie gerade gespeichert haben, wie ein Bogen, und sie springen. Aber ein genauer Beobachter wird fragen: »So weit, so gut. Aber was ist mit den Fersen des Vordermanns in dem ersten Foto, die gerade mal ein paar Zentimeter vom Boden abheben?«

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Was zeigen Energie-Demonstrationen wirklich?

Hier ist nur ein minimaler Gleichgewichtsverlust zu sehen. Foto: Yasuko Nakano

Die Antwort ist, dass er auf meinen Bauch schiebt, der viel tiefer liegt als seine Schultern. Dadurch beugt sich anfangs sein Oberkörper weiter vor als bei den anderen. Wenn ich ihn wegschiebe, richtet er sich schnell wieder in eine vertikale Position auf, so dass er nicht viel von seinem Gleichgewicht einbüßt und nicht durch Springen kompensieren muss. Aber durch seine Aufrichtung in die Vertikale lässt er die Oberkörper der anderen plötzlich viel stärker nach hinten kippen als seinen eigenen. Als Folge davon springen sie, um nicht auf ihre Hinterköpfe zu fallen: Dies ist ein machtvoller angeborener Selbstschutzreflex. Es sollte inzwischen deutlich geworden sein, dass die Energie, die ich einsetze, um den ersten Mann zu schieben, sehr viel geringer ist als die Gesamtenergie, die notwendig ist, um die anderen Männer springen zu lassen. Sie wiegen insgesamt zirka 280 Kilogramm: Versuchen Sie so ein Gewicht in die Luft zu werfen und sie werden verstehen. Diese Energie kommt von ihnen, nicht von mir, ich brauche nur eine kleine Menge Energie, um den ganzen Effekt auszulösen.

Einige Personen haben ideale psychische und physische Voraussetzungen für diesen Job, aber diejenigen, die diese nicht mitbringen, können jede Demo verderben, egal wie gut der Meister ist. Tatsächlich kann der Dominoeffekt mit 20 und mehr Leuten funktionieren, vorausgesetzt, dass sie wollen, dass die Demo gelingt! Benutzen Sie eine Digitalkamera, um Ihre Experimente zu filmen, sehen Sie sich Ihre Filme in Zeitlupe an und untersuchen Sie jedes Detail. Denn was nach meiner langjährigen Erfahrung den meisten Menschen fehlt, ist die nüchterne Beobachtung von dem, was vor ihrer Nase passiert.

Video Tipps Dominoeffekt Demo: Gehen Sie auf www.youtube.com und tippen sie »master chu« und schauen Sie sich die Videos mit den meisten Abrufen an. Gratis Videoplayersoftware mit Zeitlupenfunktion: www.chip.de/vlc player/html Herunterladen von Youtube Videos auf Ihren PC: Tippen Sie »Free-YouTube-Download.htm« in die Google Suchleiste. Copyright 2010 Ömer Humbaraci

There’s no business like show business

Ömer Humbaraci wurde 1945 in Istanbul geboren. Er gründete 1993 das European Institute for T’ai Chi Studies e. V. in Hamburg und entwickelte den Shayuquan-Stil. www.shayuquan.de

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Wir wissen jetzt, dass spektakuläre Dominoeffekte von einer Reihe von schnellen Interaktionen zwischen Assistenten und Macher abhängen, die das untrainierte Auge nicht sieht. Die meiste Energie, die benötigt wird, um den Effekt zu realisieren, kommt von den Assistenten selbst. Die Menge an Energie, die auf sie übertragen wird, spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Im Lichte dieser zwei Experimente können wir schlussfolgern, dass die Assistenten eine unstabile sitzende Haltung einnehmen müssen und sich dabei gar nicht bewegen dürfen. Nur so werden sie nach hinten fallen und so den Eindruck erwecken, dass enorme Energie auf sie losgelassen wurde.

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