Wahrheit gibt es im Bereich der

243 © 2008 Das Wahre, Schöne und Gute Ideen, Gehirnforschung und Aufklärung W ahrheit gibt es im Bereich der Wissenschaft und Technik. Sie gilt al...
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Das Wahre, Schöne und Gute

Ideen, Gehirnforschung und Aufklärung

W

ahrheit gibt es im Bereich der Wissenschaft und Technik. Sie gilt allgemein, das heißt, was hier und heute wahr ist, das gilt entsprechend auch morgen und anderswo – so ist zumindest der Anspruch der Idee der Wahrheit. Wahr oder falsch sind Aussagen, und die Geschichte des Abendlandes lässt sich durchaus als Erfolgsgeschichte der Wahrheit begreifen. Nicht zuletzt die Medizin ist voll von Beispielen: Man behandelt nicht mehr nach Müller oder Schulze – also nach einer (Lehr-)Meinung – sondern so, wie es nach dem derzeitigen Erkenntnisstand richtig ist (5, 6). Kriterien dieser Richtigkeit sind allgemein akzeptiert und die Expertenmeinung ist – ebenso allgemein von Experten akzeptiert – das schlechteste Kriterium, mehrfache kontrollierte Überprüfung durch sehr viele Beobachtungen das beste Kriterium (Tab. 1). Schönheit gehört in einen ganz anderen Bereich: „De gustibus non est disputandum“1 meinten schon die alten Römer, die Engländer präzisierten später „Beauty is in the eye of the beholder“2. Schönheit wird nach allgemeiner Auffassung „rein subjek1 2

Über Geschmack lässt sich nicht streiten. Schönheit ist im Auge des Betrachters.

Tab. 1 Grad der Evidenz für die Richtigkeit einer Aussage in der Medizin (modifiziert nach 13).

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Editorial

tiv“ wahrgenommen, ihr entsprechen keine „objektiven“ Tatsachen, weswegen es sich gar nicht lohnt, darüber zu streiten. Man könnte vor dem Hintergrund des gerade zur Wahrheit Gesagten ergänzen, dass es eben keine Kriterien gibt, auf die man sich einigen könnte oder gar schon geeinigt hat. Daher sagt der Deutsche in Ergänzung zu den Römern und Engländern schlicht: „die Geschmäcker sind verschieden“ (und meint die

„Es scheint somit, als habe das Wahre, Schöne und Gute abgedankt.“ ungeschriebene Ergänzung mit): „Ende der Diskussion“. Streitereien über Geschmacksfragen, die jeder kennt, sind also überflüssig, weil Schönheit in den Bereich der privaten Vorlieben und damit des Relativen, eben Subjektiven, gehört. Im direkten Gegensatz zur Wahrheit, könnte man ergänzen. Schön sind Dinge, im weitesten Sinne, Erlebnisse, aber auch Gedanken: Gesichter und Landschaften, ein mathematischer Beweis, die erste warme Frühlingssonne – über den Schneeglöckchen auf dem Feld ebenso wie auf der Haut als sanfte Wärme gespürt. Das Gute ist wieder etwas ganz anderes, denn gut sind Handlungen. Hier geht es nicht darum, was ist, sondern darum, was sein soll. Wer das verwechselt begeht gemäß

Evidenzgrad

Beschreibung

1

Es gibt ausreichende Nachweise für die Wirksamkeit aus systematischen Übersichtsarbeiten (Metaanalysen) über zahlreiche randomisiert-kontrollierte Studien.

2

Es gibt Nachweise für die Wirksamkeit aus zumindest einer randomisierten, kontrollierten Studie.

3

Es gibt Nachweise für die Wirksamkeit aus methodisch gut konzipierten Studien, ohne randomisierte Gruppenzuweisung.

4

Es gibt Nachweise für die Wirksamkeit aus klinischen Berichten.

5

Expertenmeinung, basierend auf klinischen Erfahrungswerten bzw. Berichten von Experten-Komitees („Eminenz-based medicine“).

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dem englischen Philosophen George Edward Moore (1873–1958) den naturalistischen Fehlschluss, verwechselt also den Bereich der Tatsachen mit dem Bereich der Werte. Dass man von dem, was ist (Sein) nicht auf das, was sein soll (das Gute) schließen kann, hatte zuvor schon der schottische Philosoph David Hume (1711–1776) gezeigt: Es gibt keine Regel für die Ableitung von Normen aus Fakten. Mit den drei genannten Ideen verhält es sich – so scheint es zumindest bei erster kritischer Näherung – ähnlich wie mit Sauerkraut, Vanillesoße und der Wurzel aus 2: Das eine hat jeweils nichts mit dem anderen zu tun. (Und wieder kann man die Geschichte der Welt bis heute als einen langen Holzweg verstehen, der zu dieser Einsicht geführt hat.) Das Wahre, Schöne und Gute teilen die Welt in Seinsbereiche ein (was ist, was gefällt, was sein soll); und genau deswegen haben diese Ideen scheinbar nichts miteinander zu tun. Aber andererseits hat man doch als gebildeter Mensch auch vom „Wahren, Schönen und Guten“ gehört, in genau dieser Verbindung. War da nicht irgendetwas? Hängt das nicht vielleicht doch irgendwie zusammen? Ging es da nicht um den Menschen, um das, was ihn bewegt oder ihn sogar am Ende glücklich macht? Fahndet man mithilfe der weltgrößten Suchmaschine nach dem Wahren, Schönen und Guten, so bekommt man immerhin innerhalb einer drittel Sekunde „ungefähr“ 1,8 Millionen Hinweise (4). Geht man diesen dann jedoch nach, ist die Enttäuschung groß: Neben erstens viel Esoterik findet man im Wesentlichen zweitens Angebote zur Kaufberatung („kaufen Sie das Richtige, Gute, was auch noch toll aussieht“) oder drittens zu Wellness („Schönheit tut Ihnen gut“). Erst der „Hit“ mit der Nummer 36 – „kennt ihr schöne Gute-Nacht-Lieder“ für die „wahre Abendruh“ – geht halbwegs in die dem gebildeten Suchenden vorschwebende Richtung, wenn auch die Adresse („Yahoo! Clever“) irgendwie nicht die erwarteten Konnotationen trifft. Es scheint somit, als habe das Wahre, Schöne und Gute abgedankt als Richtschnur menschlichen Strebens und Handelns, als Wegweiser zum Glück, wie es noch der deutsche Dichter und Theologe Friedrich Nervenheilkunde 4/2008

Karl von Gerok (1815–1890,Abb. 1) so treffend formulierte: „Das Wahre suchen und das Schöne lieben und das Gute üben. Kein reiner Glück als dieses kann auf Erden dem Menschen werden.“ Das klingt irgendwie antiquiert, „verstaubt“, obwohl es mindestens zweieinhalb Jahrtausende alt ist: Der Dreiklang „wahr-schön-gut“ geht auf den griechischen Philosophen Platon (427–347 v. Chr.) zurück, der in seiner Ideenlehre der Frage nachging, wie Erkenntnis der Welt überhaupt möglich ist. Ihm zufolge gelingt dies nur, weil unser Erkenntnisvermögen bestimmte allgemeine Strukturen ausweist, die mit den Strukturen des Seins, die er Ideen nennt, übereinstimmt. Als höchste Ideen nennt er in diesem Zusammenhang das Wahre, das Schöne und das Gute, Ideen, über denen selbst Gott nicht stehen (sondern sich allenfalls in ihnen manifestieren) könne. (Zugegeben, „Gott“ ist im Griechischen ein vieldeutiges Wort. Soll es aber das Höchste meinen, dann gilt, dass Gott nicht über dem Guten stehen kann, sondern es selbst ist.) Aber Hand aufs Herz: Für uns Heutige klingt das schon sehr nach Esoterik und man bleibt dann doch bei Wellness und Kaufberatung. So unwahrscheinlich es – vielleicht gerade dem Altphilologen – klingen mag: Zu allen drei Ideen gibt es neue Erkenntnisse aus dem Bereich der Gehirnforschung. – „Ach du Schreck: Jetzt kommt der Spitzer wieder mit dem Gehirn, in dem es dann beim Guten irgendwo leuchtet, und meint, uns hierdurch irgendetwas über das Gute sagen zu kön-

Abb. 1 Karl-Gerok-Gedenkplatte am Aussichtspunkt Geroksruhe in Stuttgart-Ost, Pischekstraße (Quelle: Wikimedia Commons), angebracht vom Verschönerungsverein Stuttgart.

nen“ – so mag jetzt mancher Leser denken. „Allein schon dieses Ansinnen ist völliger Unsinn!“ Statt nun über den Sinn und Unsinn von Gehirnforschung zu komplexen mentalen Sachverhalten (Ideen eben!), über die Tragweite (oder deren Fehlen) von Naturwissenschaft, über Geist und Gehirn oder Geistesund Naturwissenschaft im Allgemeinen zu diskutieren, möchte ich den Leser einladen, sich einige Ergebnisse und Erkenntnisse vor Augen zu führen; und zum offenen Nachdenken. Ich setze hierbei nichts voraus als ein Interesse an Ideen und deren Aufklärung. Motiviert durch die historische Entwicklung der neurobiologischen Erkenntnisse zu den drei großen Ideen seien sie in umgekehrter Reihenfolge kurz diskutiert; beginnen wir also mit dem Guten.

Das Gute Dass „gut“ und „schlecht“ irgendwo im Gehirn repräsentiert sein müssen, folgt im Grunde zwingend aus der Funktion des Gehirns als einem Organ, welches das Überleben des Gesamtorganismus sichert, indem es Verhalten steuert. Bei komplexen Organismen mit entsprechend vielen Handlungsalternativen gehört damit die Auswahl zwischen diesem oder jenem Verhalten zu den wesentlichen Aufgaben des Gehirns. Ein Stein rollt den Berg hinab. Er hat keine Wahl. Ein Bakterium schwimmt zum Licht und eine Zecke lässt sich beim Vorliegen von Buttersäure und Wärme fallen, beide fast wie ein Stein. Uns hüpft das Knie, wenn ein Hammer die Kniesehne kurz dehnt und einem Hund läuft die Spucke, wenn Futter da ist oder sogar (nachdem er gelernt hat) wenn das Glöckchen klingelt. – Im Hinblick auf das Futter und erst recht im Hinblick auf das Glöckchen ist der Hund weiter vom Stein oder Bakterium entfernt als unser Knie. Unterscheiden wir uns wesentlich vom Hund, wenn wir hungrig oder satt im Supermarkt einkaufen und den Unterschied an der Kasse feststellen? – Vielleicht; vielleicht aber auch nicht. Ganz sicher unterscheiden wir uns vom Hund, wenn wir die Saatkartoffeln nicht

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aufessen obwohl wir hungrig sind und uns – wie dem Hund – die Spucke läuft, wenn wir nur daran denken. Wir leben nicht nur im Jetzt, sondern haben Vergangenheit und Zukunft. Unsere Neuronen feuern nicht nur, nein, wir verwenden sie zudem beim Denken, vermittelt durch Sprache, unserem, wie der russische Physiologe Iwan Petrowitsch Pawlow (1849–1936) sagte, zweiten Signalsystem. Wie der Hund haben wir eine Lerngeschichte und darauf basierende Verhaltensdispositionen, die ganz oft vollautomatisch ablaufen (19, 20). Im Unterschied zum Hund können wir mithilfe unseres Denkens zusätzlich aber auch Zukunft entwerfen, planen, uns sorgen und uns Ziele setzen. Unsere Fähigkeit, Geschichten zu erzählen und damit Geschichte zu thematisieren schließt die Fähigkeit zum Entwurf in die Zukunft mit ein und damit die Möglichkeit und Notwendigkeit zur Entscheidung zwischen Handlungsalternativen. Die gegenwärtige Diskussion um das Thema Gehirnforschung und Entscheidungsfindung dreht sich unglücklicherweise oft um die Frage, was genau während einer bestimmten Millisekunde im Gehirn geschieht und ob die Gehirnforschung diese Millisekunde exakt beschreiben kann. Darum geht es jedoch im Grunde nicht. Bereits der Blutegel (22) ist komplexer als ein Reflexautomat (wie beispielsweise unser Knie) und das menschliche Gehirn ist viel komplexer als die zwei Gehirne und 21 Ganglien des Blutegels zusammen genommen. Während der evolutionären Entwicklung des Gehirns entstanden zunehmend „abstrakte“ Repräsentationen, also Neuronen, die nicht bei diesem oder jenem Ereignis bzw. Erlebnis feuern, bei „süß“ oder „sauer“, bei „Berührung“ oder bei „Schmerz“, sondern beispielsweise bei meiner Großmutter oder beim Opernhaus in Sydney, egal, aus welcher Sicht betrachtet, ja, egal sogar, ob ich die Oma oder das Opernhaus (oder ein Bild davon) sehe oder ob ich nur „Marie Kohl“ oder „Opernhaus in Sydney“ lese (18). So eigenartig es klingen mag: Neuronen, die ganz konkretes Einzelnes repräsentieren, gehören zum Abstraktesten, was unser Gehirn zu bieten hat (entsprechend befinden sie sich im Temporalhirn weit vorn, in entwicklungsgeschichtlich Nervenheilkunde 4/2008

Abb. 2 Gehirn des Menschen, von unten betrachtet (vorne ist oben). Schematische Darstellung der Repräsentation positiver (grün) und negativer (rot) Werte im orbitofrontalen Kortex (nach 11).

jungen Arealen), denn sie repräsentieren dieses Einzelne gerade dadurch, dass sie unabhängig von seinem Kontext feuern. Wie auch der Spracherwerb dazu führt, dass man einzelne Wörter und allgemeine Regeln zugleich lernt, so führt unser lernender Umgang mit der Welt zum (Wieder-)Erkennen von Einzelnem und zur Produktion ganz allgemeiner Erfahrungen. Und diese allgemeinen Erfahrungen, Regeln, beziehen sich nicht nur auf die Dinge, sondern auch auf unser Erleben der Dinge: Die sprichwörtliche Hand auf der heißen Herdplatte oder der erste Kuss bezeichnen eben gerade nicht nur ein örtliches Verhältnis zweier Objekte! Hierfür sorgen Bewertungsmodule, das heißt, Bereiche des Gehirns, die Erlebnisse automatisch emotional „einfärben“: Der Mandelkern ändert unseren Puls und Blutdruck sowie unser Denken (schaltet Kreativität ab) bei drohender Gefahr, vollautomatisch, und tut dies leider auch, wenn wir im Mathematikunterricht vorne an der Tafel gerade versagen. Dummerweise haben wir in dieser Situation die Optionen „Kämpfen“ oder „Fortlaufen“ nicht, verknüpfen jedoch das Erlebnis mit seiner (vom Mandelkern bewirkten) negativen Färbung. Beim nächsten ähnlichen Erlebnis sorgt die Verknüpfung automatisch für die Färbung und für unser Versagen. Und so geht es weiter, also der Mechanismus der

positiven Rückkopplung ist in Gang gesetzt und sorgt – bei Millionen von Menschen – dafür, dass der bloße Anblick von Formeln zu einerArt intellektuellerTotenstarre führt. Der Mandelkern sagt uns, was wir nicht tun sollen. Daher kann man mit ihm (mit negativen Emotionen) zwar lernen, aber eben nicht, was – positiv – zu tun ist. Hierfür verfügen wir über ein ganz anderes Modul, die Area A10 im Mittelhirn und den Nucleus accumbens. Dieses System wird bei unerwartet positiven Erlebnissen aktiv und färbt sie entsprechend ein. Ebenso wie unsere Großhirnrinde aus einzelnen Erlebnissen Regeln extrahiert (alle Dinge fallen nach unten; auf „-ieren“ endende Verben bilden ihr Partizip Perfekt ohne „ge“ am Anfang), extrahiert sie aus einzelnen Färbungen ein allgemeines Farbenspektrum: Wir nennen es Werte. Wie wir beim Sprechen – ohne uns dessen bewusst zu sein – dauernd auf die Grammatik zurückgreifen, greifen wir im täglichen Handeln dauernd auf Werte zurück (und verbrennen uns daher nicht dauernd die Finger!). Seit über 150 Jahren wurde begründet vermutet, dass diese Werte im orbitofrontalen Kortex repräsentiert sind, also in dem Bereich der Gehirnrinde, der direkt über den Augen gelegen ist. Und seit einigen Jahren haben wir Grund zur Annahme, dass die Werte dort nicht „irgendwie neuronal herumliegen“, sondern nach Art einer Karte geordnet sind (25, 26), wobei positiv eher mittig (im Bereich links und rechts über der Nase) und negativ eher lateral (Richtung Schläfe) gelegen ist (11, 22; Abb. 2). Diese Werte werden ebenso wie andere Repräsentationen automatisch aktiviert, denn der orbitofrontale Kortex ist mit anderen Bereichen des Gehirns eng verknüpft. Daher erleben wir die Welt nie wertfrei, um sie dann, gleichsam in einem zweiten Schritt, auch noch zu bewerten. Vielmehr sind Werte Teil unseres Erkennens (auch wenn gerade nichts weh tut oder besonders angenehm ist), einfach deswegen, weil unser implizites Wissen nicht nur aus Regeln und Routinen besteht, sondern eben auch aus Werten. Sie gehören damit unmittelbar zu uns und zur Welt. Nur weil wir durch unser analytisches Denken die Werte aus dieser Einheit unterscheiden oder sogar „abtrennen“ und uns die Dinge wertfrei denken kön-

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nen, sind sie es deswegen noch lange nicht. Oder anders: Wir erleben die Welt immer „eingefärbt“, sie kommt nicht nur ausgedehnt in Raum und Zeit daher, sondern auch gut oder schlecht. Man kann daher durchaus im Rahmen eines Diskurses, der mittlerweile auf den Namen Neuroethik hört, über das Gute auch mit Bezug auf das Gehirn als Organ von Bewertungen, Entscheidungen und Handlungen nachdenken. Und man kann natürlich die Dinge uneingefärbt denken. Daraus folgt aber nicht, dass sie es für uns sind. Und noch etwas: Beim Guten geht es wie bereits erwähnt um das Sollen, um Handlung und damit um Zukunft. Die gute Tat ist nicht einfach in der Welt, sie verändert sie. Wieder scheint es hier zunächst einmal um etwas ganz anderes zu gehen und wieder fordert die Gehirnforschung ein Umdenken: Es sind die gleichen Bereiche des Gehirns, die sich mit dem Erinnern der Vergangenheit und dem Planen der Zukunft beschäftigen (14). Bittet man beispielsweise gesunde Versuchspersonen im Rahmen einer Studie mit funktioneller Bildgebung, sich einen vergangenen Geburtstag vorzustellen und vergleicht die Aktivierung mit der während der Aufgabe, sich einen künftigen Geburtstag vorzustellen, so zeigt der Vergleich, dass es keinen Bereich des Gehirns gibt, der beim Erinnern der Vergangenheit aktiver ist als beim Vorstellen der Zukunft; und der umgekehrte Vergleich zeigt an manchen Stellen mehr Aktivierung beim Vorstellen der Zukunft (23). So wundert es auch nicht, dass Patienten mit Amnesie auch Probleme mit demVorstellen der Zukunft haben, wenn man sie dahingehend untersucht (18). Auch für ältere Menschen trifft dies im Vergleich zu jüngeren zu (27). So sind also im Gehirn Vergangenheit und Zukunft eng miteinander verknüpft, oder besser noch, letztlich durch die gleiche Hardware auf gleiche Weise repräsentiert.

nungen des Erlebens geht. Und gerade weil der eine dies und der andere das als schön empfindet, über Schönheit also zunächst rein subjektiv (im Sinne von beliebig) geurteilt wird, erscheint eine naturwissenschaftliche Aufklärung ästhetischer Urteile von vorne herein unmöglich. Dennoch gibt es längst eine Neuroästhetik, in der die (neuro-)biologischen Grundlagen unseres ästhetischen Verhältnisses zur Welt aufgeklärt werden. Vor ihrem Hintergrund bekommt ein Grundproblem der Ästhetik – gibt es allgemeine Kriterien für ästhetische Urteile? Können solche Urteile Allgemeinheit beanspruchen? – neue Nahrung. Es ist eine Tatsache, dass sich viele Menschen in vieler Hinsicht bei dem, was sie schön finden, kaum unterscheiden: Männer auf der ganzen Welt finden Frauen schön, derenTaillenumfang etwa 70% des Hüftumfangs beträgt – unabhängig von jeder Mode und Kultur. Frauen finden Männer schön, die „männliche“ Gesichtszüge aufweisen, also beispielsweise ein breiteres Kinn. Beides liegt daran, dass Eigenschaften letztlich dann als „schön“ empfunden werden, wenn

Das Schöne Ganz anders als um das Gute scheint es um die Schönheit bestellt. Bei ihr scheint gerade völlig klar zu sein, dass es um gar nichts anderes als um subjektive Begleiterschei-

Abb. 3 Klassische Skulptur (der Speerwerfer Doryphoros des griechischen Bildhauers Polykleitos, dem Älteren, aus dem 4. bis 5. vorchristlichen Jahrhundert).

sie der Reproduktion dienlich sind. Unser Sinn für Schönheit unterliegt der Evolution, und genau aus diesem Grunde ist er nicht beliebig. In gleicher Weise erleben alle Menschen bestimmte Charakteristika einer Landschaft als schön (17). Im Gegensatz zur Funktion des Bewertens, die eine entwicklungsgeschichtlich alte ist (Mandelkern und ventrales Striatum gibt es auch bei Mäusen), ist das Empfinden des Schönen in evolutionärer Hinsicht sehr jung und taucht nach heutigem Wissen etwa vor 40 000 Jahren mit den ersten von Menschen geschaffenen Kunstwerken auf (21). Plötzlich machen Menschen kleine Figuren, malen Bilder an die Wände von Höhlen und erfinden Schmuck. Dass dies mit der Entwicklung des Frontalhirns in Verbindung steht, konnte man vermuten, wurde jedoch erst 2004 durch Cela-Conde und Mitarbeiter (1) erstmals gezeigt; insbesondere die Beteiligung des medialen orbitofrontalen Kortex beim Betrachten von subjektiv als schön erlebten Bildern. Interessanterweise waren hierbei die mit ästhetischen Urteilen einhergehenden Aktivierungsunterschiede bei Gesichtern am größten, gefolgt von Landschaften. Am geringsten waren sie bei abstrakter Kunst (10). Hierzu passt der Befund von Jacobsen und Mitarbeitern (9), die den (rechten) orbitofrontalen Kortex bei ästhetischer Betrachtung komplexer Stimuli aktiviert fanden, wobei in dieser Studie stilisierte grafische Muster (nicht jedoch Kunst) zur Anwendung kamen. Stärkste Aktivierung durch komplexe Stimuli wie Gesichter und Landschaften von kortikalen Arealen, die für Bewertungsprozesse zuständig sind, weist darauf hin, dass eher biologisch begründete Mechanismen und weniger kulturell gelernte Ideen im Spiel sind. Die Aktivität des Gehirns beim Betrachten von Skulpturen (Abb. 3) aus der Zeit der Antike und der Renaissance wurde durch eine italienische Arbeitsgruppe (wie könnte es anders sein?) gemessen (2). Diese interpretieren ihre Ergebnisse explizit dahingehend, dass es sowohl „subjektive Schönheit“ im Sinne persönlich-subjektiven Erlebens gibt als auch „objektive Schönheit“ im Sinne von bestimmten messbaren Eigenschaften wie beispielsweise dem goldenen Schnitt, jeweils mit spezifischen hierauf ansprechenden Gehirnregionen.

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Man wird abwarten müssen, was weitere Studien in dieser Hinsicht ergeben. Die bisherigen Ergebnisse sprechen jedoch klar gegen eine in reiner Beliebigkeit verbleibende Auffassung ästhetischen Erlebens. Fassen wir zusammen: Eine Neurobiologie des Guten gibt es seit geraumer Zeit und in recht ausformulierter Weise, eine des Schönen zumindest in vielen interessanten Ansätzen. Die Daten sprechen für eine Überlappung der Verarbeitung von Gut und Schön im Gehirn. Wie aber steht es um die Neurobiologie des Wahren?

Das Wahre Um sich richtig zu verhalten, muss man das Richtige erkennen. Ohne hier eine tiefschürfende Diskussion des Unterschieds von „richtig“ und „wahr“ vom Zaune zu brechen, geht es bei der Erkenntnis des Richtigen nicht anders als bei der Erkenntnis des Guten um eine hochstufige, komplexe geistige Leistung, in deren Rahmen die unterschiedlichsten Sachverhalte in Beziehung gesetzt werden im Hinblick auf eine einzige Dimension: Wahr oder nicht. Für den Alltag ist dies so bedeutsam, dass nicht nur Vertreter eines postmodernen radikalen Erkenntnisrelativismus dies zuweilen gar nicht bemerken: Ist sie schwanger oder nicht? Stürzt das Flugzeug ab oder nicht? Hält die Brücke? Ist der Pilz giftig? Hilft das Schmerzmittel? Ist der Arm gebrochen? Haben wir genug zu essen? Ist das Wasser trinkbar? – Die Liste der Beispiele, in denen es im wirklichen Leben schlicht um „Ja“ oder „Nein“ geht, ist beliebig lang. Das Feststellen von wahr oder falsch ist daher keine triviale Gehirnfunktion. Gibt es hierfür eine funktionelleSpezialisierung,ein„Wahrheitsmodul“? Angesichts der Relevanz der Wahrheit ist es eher verwunderlich, dass dieser Frage bislang kaum nachgegangen wurde. Wahrscheinlich ging es der Wahrheit ähnlich wie der Schönheit: Sie ist zu komplex, zu „hochstufig“, als dass man ihre neuronale Fundierung modular verorten möchte. Man sieht sie viel lieber alsAusdruck eines komplexen „Zusammenspiels“ vieler Module, die, Nervenheilkunde 4/2008

Abb. 4 Gehirnregionen, die selektiv bei wahren Aussagen (grün), falschen Aussagen (rot; die rechte Insel im Bild oben „scheint durch“) und unentscheidbaren Aussagen (hellblau) aktiviert bzw. deaktiviert (Nucleus caudatus, nicht abgebildet) sind (nach 7).

wenn überhaupt, dann im Frontalhirn zu suchen wären. Vor dem Hintergrund dieser Problemlage ist die Studie von Sam Harris und Mitarbeitern (7) mutig. Sie konfrontierten insgesamt 14 Versuchspersonen im Magnetresonanztomografen (MRT) mit Sätzen aus den Bereichen Mathematik, Geografie, Ethik, Religion sowie mit autobiografischen, analytischen und empirischen Urteilen. Die Sätze konnten jeweils richtig

„Das Wahre suchen und das Schöne lieben und das Gute üben“ (K. Gerock) oder falsch oder schwer entscheidbar sein (was die Probanden durch Knopfdruck zu entscheiden hatten), wobei der Wahrheitswert bei den autobiografischen („Sie haben zwei Schwestern“), den ethischen („Man soll Kinder nicht belügen“) und den religiösen („wahrscheinlich gibt es keinen Schöpfergott“) Sätzen durchaus über die Versuchspersonen variieren konnte. Daher wurde Variable „subjektiver Wahrheitswert“ („wahr“, „falsch“, „unentscheidbar“) nach der Prozedur im Scanner eigens erfasst. Die

wesentlichen Ergebnisse der Studie sind in Abbildung 4 zusammengefasst. In der Studie ging es nicht um die Wahrheit oder Falschheit bestimmter Sätze, sondern um die Frage, ob dem zur Kenntnis nehmen eines wahren, falschen oder unentscheidbaren Satzes ganz allgemein unterschiedliche Gehirnzustände entsprechen. Bereits nach den Reaktionszeiten scheint dies der Fall zu sein, denn die Reaktionen auf wahre Sätze wurden etwa eine halbe Sekunde (hochsignifikant) rascher getätigt. In der Tat zeigten sich unterschiedliche Aktivierungen: Bei der Wahrheit ist es der ventromediale präfrontale Kortex (VMPFC), einer Region, die für positive emotionale Bewertung und Handlungsplanung steht. Interessanterweise zeigten weitere kategorienspezifische Analysen, dass die Region beispielsweise sowohl bei mathematischen als auch bei ethischen (jeweils wahren) Urteilen aktiviert wird, was dafür spricht, dass die Aktivierung recht unabhängig vom Inhalt erfolgt. Das Fällen des Urteils „falsch“ aktiviert hingegen den linken inferioren frontalen Kortex, die anteriore Insel (beidseits), den Gyrus cinguli anterior (ACC) sowie den superioren Parietallappen. Falschheit ist damit eher mit genauerer Verarbeitung (linke Gehirnhälfte) und lateraler Aktivierung (im Gegensatz zum „positiven“ medialen frontalen Kortex) assoziiert. Der ACC ist bekanntermaßen mit Fehlerverarbeitung assoziiert und hinzu kommt ein durch die Insel (und den ACC) vermitteltes negatives Körpergefühl, denn diese Bereiche sind bei körperlichem Unwohlsein bzw. bei Schmerzen aktiv. Der Zustand der Unentschiedenheit geht mit der Aktivierung des ACC und mit einer Deaktivierung der Basalganglien einher. Da der ACC in einer Reihe von Studien nicht nur mit demAuftreten von Fehlern, sondern auch mit dem Vorhandensein eines Handlungskonfliktes in Verbindung gebracht wurde, lässt sich dieser Befund zwanglos in die aus der Literatur bekannten Muster einordnen. Nicht anders das Ergebnis der deaktivierten Basalganglien, die für (positive) Bewertung und vor allem Handlungsoutput stehen: Bin ich mir nicht sicher, kann ich nicht handeln.

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Am interessantesten ist aus meiner Sicht die Tatsache, dass das Wahre mit dem Guten und Schönen in Verbindung zu stehen scheint. Wahrheit ist mit positiver Bewertung (und diese wiederum mit Schönheit) verknüpft, Falschheit entsprechend mit negativer Bewertung, bis hin zu körperlichem Unwohlsein. Beide Zustände befähigen – im Gegensatz zur Unentschiedenheit – zur Handlung. Insgesamt ist das Wahre, Schöne und Gute im Gehirn recht nahe beieinander. Platon oder die Romantiker (16) sind damit nicht „neurowissenschaftlich rehabilitiert“, nein, allein dies zu versuchen wäre widersinnig. Sie bemerkten vielmehr diese Zusammenhänge allein schon durch pures Nachdenken über sich selbst. Das Wahre, Schöne und Gute gehören zum Menschen, sind Teil seiner Lebenserfahrung, ebenso wie Hunger und Trauer, Hoffnung und Tod, Liebe und Glück. M. Spitzer, Ulm

Literatur

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Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer Universitätsmedizin, Abteilung für Psychiatrie III Leimgrubenweg 12-14, 89075 Ulm

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